Zum
Interpretieren von Architektur Konkrete Interpretationen 13. Jg., Heft 1, Mai 2009 |
___Sven
Martensen & Anne Gelderblom Hamburg, London |
Architektur als das Einschreiben sozialer Choreographien in den Raum |
"First we shape our buildings, thereafter they shape us.“ (Winston Churchill) |
||
Was
ist der Vorgang des Interpretierens von Architektur, oder, anders gefragt,
wie lässt sich der Vorgang des Interpretierens von Architektur beschreiben?
Dies ist die zentrale Frage des Call for Papers für die vorliegende
Ausgabe.[1] Dem
gegenüber steht
die Übersetzung von Architektur mit „Baukunst“,[14]
wie sie beispielsweise Dreyer verwendet.[15]
Ähnlich argumentieren Karsten Harries und Hans Kollhoff, die Architektur
als (ästhetische) Praxis[16]
oder Metier[17]
sehen, wie sie zum Beispiel die HOAI beschreibt.[18] |
||
Abbildung 1: Rekonstruktion einer Frankfurter Küche im MAK Wien (Bild: C. Vittoratos, 2008) |
Die Entwicklung
der „Frankfurter Küche“ (1926) (Abbildung
1)[23]
zeigt beispielhaft, wie Bewegungsabläufe des menschlichen Körpers bei typischen
und ausgewählten Tätigkeiten Richtmaß für die Gestaltung der Küche werden,
deren räumliche und funktionale Gestaltung spezifische Bewegungsradien reflektiert.
Umgekehrt übernimmt die Architektur der Küche jedoch auch eine ordnende
Funktion und trägt zu einer Routinisierung der Lebensbewältigung bei: Die
Bewegungsabläufe der Küchenarbeit werden durch die Anordnung der verschiedenen
Arbeitsplätze in der Küche vorstrukturiert und teilweise vorgegeben. Die
Beziehung zwischen den Praxen und Architektur ist damit reziprok: Ebenso
wie Architektur in Vorgängen wie Platzierung/Anordnung und Dimensionierung
auf Körperpraxen Bezug nimmt und durch diese geformt wird, werden auch die
Körperpraxen durch die Architektur geformt. Das Spektrum der Verquickung leiblicher Praxen mit dem gebauten Raum beläuft sich dabei nicht allein auf häusliche oder individuelle Bewegungsabläufe. Wohnungen, aber auch alle anderen Gebäudetypen, wie zum Beispiel Büros, gastronomische Einrichtungen, Werkstätten oder Arztpraxen, umfassen eine Vielzahl unterschiedlicher Abläufe „unter einem Dach“. In einem weiteren Rahmen gilt dies auch für die Bewegungen gebräuchlicher Transportmittel. Art und Kombination dieser Abläufe sind jeweils typisch und konstituieren reproduzierbare Modelle der Abwicklung sozialer Vorgänge. Walther Ruttmanns Berlin-Hommage „Berlin: Die Sinfonie der Großstadt“ (1927) veranschaulicht, wie sich diese zunächst individuellen Bewegungen in der Stadt verdichten, überlagern und zu einer kollektiven Aktivität vermischen. Durch die Nebeneinanderstellung verschiedener Bewohnergruppen (nach Beruf, Alter, Geschlecht) bei jeweils verschiedenen Tätigkeiten zu verschiedenen Tageszeiten und die Charakterisierung der Bewegungen als regelmäßige Abläufe beschreibt er die Stadt Berlin als Struktur, die die Überlagerung dieser verschiedenen Bewegungen räumlich organisiert: Die Stadt hält für alle Bewegungsabläufe einen „passenden“ Raum bereit. Indem diese Räume den jeweiligen Abläufen und Tätigkeiten angepasst ist, kann die Stadt als ein „Negativ“ der Bewegungen verstanden werden.[24] Die Bewegungen der Stadtbewohnerinnen und -bewohner folgen den Strukturen der gebauten Umgebung, die die Bewegung in bestimmte Richtungen ermöglicht oder verhindert, jeder Tätigkeit einen Ort für ihre Verrichtung zuweist und somit den Alltag der Stadt und ihrer Bewohnerinnen und Bewohner „choreographiert“. 3. Die Interpretation der gebauten Umwelt durch die Körperpraxen Der Gestaltung von Gebäuden sind somit immer bereits spezifische soziale Normen und Strukturen immanent,[25] die wiederum auf grundlegende soziale Prozesse wie beispielsweise der Repräsentation, Identifikation und Distinktion verweisen. Die durch die Architektur vorgegebenen Strukturen schreiben sich dabei in den menschlichen Bewegungspraxen fort und werden durch die Bewegungen ausgedeutet und interpretiert. |
|
Abbildung 2: Das Foyer im zweiten Bonner Plenarbau des Deutschen Bundestags. Blick vom Steg in Richtung Gebäudeeingang). Rechts vorne die Galerie für Presse/Besucher, links die Abgeordnetentreppe. (Bild: S. Martensen, 2006) |
Im Foyer
des 1992 in Bonn fertig gestellten Plenarbereichs des Deutschen Bundestags
zum Beispiel (Abbildung 2) wurde die Unterscheidung zwischen Besuchern und
Abgeordneten architektonisch in der Trennung ihres Weges von und zum Plenarsaal
umgesetzt. Dieser führte für beide Gruppen durch ein und dasselbe Foyer.
Dabei fungierte die Abgeordnetentreppe als Medium der Transition vom „Bürger“
zum „Abgeordneten“, während ein Steg auf der anderen Seite des Foyers Besucher
des Plenarsaals zur Besuchertribüne leitete. Die Akteure verleiben sich hier jeweils die ihnen zugedachte Rolle ein, indem sie das Foyer durchqueren und dabei ihre Unterscheidung von anderen erkennen. Heinrich Wefing hat hierzu sinnfällig beschrieben, wie ihre Bewegung durch das Foyer die Akteure auf ihre Rolle im Plenarsaal vorbereitet und die Bürgerinnen und Bürger auf dem Weg in den Plenarsaal ihre Mündigkeit verlieren und diese quasi zusammen mit dem Mantel „an der Garderobe abgeben“,[26] bevor sie auf der Besuchertribüne Platz nehmen. 4. Formatierung des Raums durch soziale Prozesse Die Gestaltung architektonischer Räume führt vor Augen, inwieweit sich spezifische soziale Ordnungen nicht nur in den ihr zugeschriebenen Bewegungen, sondern vielmehr auch in den diesen zugrunde liegenden Räumen abbilden. Beispielsweise nimmt die oftmals lineare Gestaltung von Kirchenräumen, Monumentalalleen sozialistischer und/oder faschistischer Stadtentwürfe, aber auch früher Parlamentsbauten[27] Bezug auf die Prozession und schreibt diese materialiter in den – sozialen – Raum ein. |
|
Abbildung 3: Die Rampen verlaufen an der Innenseite der Fassade und verbinden die öffentlich zugängliche Dachterrasse mit der oberen Plattform in der Kuppel (Bild: T. Lehnhardt 2007) |
Ein Beispiel
für eine Prozession aus neuerer Zeit ist das Vorüberziehen der Kuppelbesucher
auf der Wendel in der Glaskuppel des umgebauten Berliner Reichstagsgebäudes
(Abbildung 3). Die Rampenführung unmittelbar entlang der Innenseite der
Kuppelhülle ermöglicht den Besuchern ein besonderes visuelles Erleben. Indem
der An- und Abstieg einen 360°-Panorama-Ausblick aus der Kuppel in den Berliner
Stadtraum mit dem Blick auf die vertikale Raumfolge im Gebäude sowie die
integrierte Licht- und Klimatechnik kombiniert, sind Innen- und Außenraum
eindrucksvoll miteinander in Beziehung gesetzt. Die Bewegung der Besucher in der Kuppel ist aufgrund der exponierten Lage und des geringen Reflexionsgrades der Glasfassade aus der Umgebung gut sichtbar und dadurch zu einem markanten Charakteristikum in der Außenwahrnehmung des umgebauten Reichstagsgebäudes geworden. 5. Schluss Wie lautet nun die Antwort auf unsere eingangs gestellte Frage? Wir haben gesehen, dass Architektur auf unsere Bewegungen und Aktivitäten Bezug nimmt: Durch unsere Bewegungen setzen wir uns mit Architektur auseinander und deuten und verlebendigen die ihr immanenten sozialen Zuschreibungen und Strukturen. Die zu vollziehenden Bewegungen werden dabei durch die Architektur beeinflusst: „An den Elementen, aus denen (das Haus) besteht, drückt sich aus, was mit ihnen zu tun sei“,[28] die „materiellen Gestaltungen (der) Räume (wirken) auf die Formung, aber auch auf die Wahrnehmung und Deutung der Bewegungen ein.“[29] Gleichwohl kommt den Subjekten eine aktive Rolle zu. Durch ihre Bewegungen stellen sie die Beziehung zu ihrer Umgebung her[30] und verleiben sich die „Strukturen der sozialen Ordnung [...] vermittels der Verlagerungen und Bewegungen des Körpers“ ein.[31] Aufgrund der Reziprozität der Form der menschlichen Bewegungen und der diese umhüllenden Architektur sowie der Materialisierung und Dauerhaftigkeit von Architektur können wir von den auf diese Weise in den Raum eingeschriebenen Bewegungen als „Choreographien“ sprechen. Ebenso wie der zugrunde liegende Raum sind auch die Bewegungen sowie die daran geknüpften Zuschreibungen soziale Entitäten und damit veränderbar: Die Choreographien werden erst performativ in ihrer Ausführung konstituiert. Sie sind dadurch abhängig von der jeweiligen Interpretation und ebenso wie die architektonischen Mittel der Raumgestaltung an die schöpferische Kompetenz der Subjekte gebunden.[32] Durch deren innovatives Potenzial können Konventionen in bestehenden öffentlichen und privaten Räumen nicht nur reproduziert, sondern immer auch wieder hinterfragt und umgedeutet werden. Denn auch in der Frankfurter Küche kann man ein Rad schlagen...
Alkemeyer,
Thomas: Körper, Bewegung und Gesellschaft. Aufführung und ästhetische
Erfahrung der sozialen Praxis im Spiel. Vortrag auf dem Symposion
„Ästhetische Erfahrung und kulturelle Praxis“ am FB 16 der Universität
Dortmund, 2001; Alkemeyer,
Thomas: Bewegen als Kulturtechnik, in: Neue Sammlung. Vierteljahres-Zeitschrift
für Erziehung und Gesellschaft, Heft 3 (2003), S. 331-347; Bonta, Juan P.: Architecture and its interpretation. London 1979. Bourdieu, Pierre: Physischer Raum, sozialer und angeeigneter physischer Raum, in: Stadt-Räume, hg. von Wentz, Martin. Frankfurt am Main/New York 1991, S. 25-34. Danto, Arthur C.: Die Verklärung des Gewöhnlichen. Eine Philosophie der Kunst. Frankfurt am Main 1979. Dauss,
Markus: Architektur als Schrift, Dresden 2002; Delitz,
Heike: Tagungsbericht „Die Architektur der Gesellschaft. Architektur
der Moderne im Blick soziologischer Theorien. 28.04.2006-29.04.2006“,
Dresden, in: H-Soz-u-Kult, 30.07.2006; Delitz, Heike: Architektur als Medium des Sozialen. Zur Materialität der Architektur aus lebenssoziologischer Perpsektive. Vortrag auf dem Workshop „ Materialität und Bildlichkeit der Architektur“ der AG Architektursoziologie, TU Darmstadt, 8.-9.2.2008. Dreyer,
Claus: Über das Interpretieren von Architektur, in: Wolkenkuckucksheim
– Cloud-Cuckoo-Land – Vozdushnyi zamok, Heft 2 (1997); Dreyer,
Claus: Semiotische Aspekte der Architekturvermittlung, in:
Wolkenkuckucksheim – Cloud-Cuckoo-Land – Vozdushnyi zamok, Heft 1-2
(2007); Dreyer,
Claus; Führ, Eduard; Gebauer, Gunter; Werner, Frank: Urban bodies.
Fragestellung, in: Wolkenkuckucksheim – Cloud-Cuckoo-Land – Vozdushnyi
zamok, Heft 1 (2002); Eco, Umberto: Einführung in die Semiotik. (Dt. Übersetzung von Jürgen Trabant). München 1972. Fischer, Joachim: Architektur als „schweres Kommunikationsmedium“ der Gesellschaft. Vortrag auf dem Workshop „ Materialität und Bildlichkeit der Architektur“ der AG Architektursoziologie, TU Darmstadt, 8.-9.2.2008. Franck,
Georg: Was ist Architektur? in: "Hintergrund 14" (2002),
hg. von A. Architekturzentrum Wien, S. 49-60; Gebauer,
Gunter: Taktitlität und Raumerfahrung bei Wittgenstein, in:
Wolkenkuckucksheim – Cloud-Cuckoo-Land – Vozdushnyi zamok, Heft 1
(2001); Gella,
Alena: Architektur als Kommunikation, in: Wolkenkuckucksheim
– Cloud-Cuckoo-Land – Vozdushnyi zamok, Heft 2 (1997); Götze, Wolfram: Das Parlamentsgebäude. Historische und ikonologische Studien zu einer Bauaufgabe, Leipzig 1960. HOAI Textausgabe (Honorarordnung für Architekten und Ingenieure). Wiesbaden 2004. Harries,
Karsten: Architektur als ästhetische Praxis? Vom Unbehagen an der
Baukunst, in: Wolkenkuckucksheim – Cloud-Cuckoo-Land – Vozdushnyi
zamok, Heft 1 (2001); Jahraus,
Oliver: Analyse und Interpretation. Zu Grenzen und Grenzüberschreitungen
im struktural-literaturwissenschaftlichen Theorienkonzept, In: IASL,
1994, 19. Bd., H. 2, S. 1-51, wieder abgedruckt bei IASL Online, 2000; Kollhoff,
Hans: „Was ist heute Architektur?“, in: DIE WELT, 14.06.2004; Kuhn,
Gerd: Die Frankfurter Küche, in: Wohnkultur und kommunale Wohnungspolitik
in Frankfurt am Main 1880-1930. Auf dem Weg zu einer pluralen Gesellschaft
der Individuen, hg. von Kuhn, Gerd, Bonn 1998, S. 142-176; Le Corbusier: Der Modulor. Stuttgart 1978. Mick,
Jürgen: Körper und urbane Identität, in: Wolkenkuckucksheim
– Cloud-Cuckoo-Land – Vozdushnyi zamok Heft 1 (2002); Neufert, Ernst: Bauentwurfslehre. Wiesbaden 2005 Wefing, Heinrich: Draußen vor der Glastür? Zuschauer-Wähler-Machthaber: Das Volk als Adressat architektonischer Selbstdarstellung des Parlamentes, in: Das Volk. Abbild, Konstruktion, Phantasma, hg. von Graczyk, Annette, Berlin 1996, S. 167-184.
Wolkenkuckucksheim
– Cloud-Cuckoo-Land – Vozdushnyi zamok:
Zum Interpretieren von Architektur. Call
for Papers; Wolff-Plottegg, Manfred: Architektur Algorithmen, Wien 1996. Woltron,
Ute: Die Grammatik des Bauens, in: Der Standard, 20.10.2001;
Abbildungsverzeichnis:
[1] Wolkenkuckucksheim – Cloud-Cuckoo-Land – Vozdushnyi zamok 2008 [2] Dreyer 2007 [3] Dreyer 1997: 7 [4] Dreyer 1997: 1 [5] Danto 1991 [6] Eco 1972 [7] Bonta 1979 [8] Dreyer 1997: 7 [9] Fischer 2008 [10] Delitz 2008 [11] Gella 1997 [12] Dreyer 2007 [13] Dauss 2004 [14] vgl. dazu ausführlicher Franck 2002 [15] z. B. Dreyer 1997 [16] Harries 2001 [17] Kollhoff 2004 [18] vgl. § 15 HOAI [19] vgl. dazu auch Woltron 2001 [20] Dreyer, Führ, Gebauer, Werner 2002 [21] vgl. Neufert 2005: 37f. [22] vgl. Wolff-Plottegg 1996:12ff. [23] vgl. z. B. Kuhn 1998 [24] Mick 2002 [25] Alkemeyer 2003: 332 [26] Wefing 1996: 172f. [27] Götze 1960: 7 [28] vgl. auch Gebauer 2001 [29] Alkemeyer 2001: 4 [30] Alkemeyer 2003: 331 [31] Bourdieu 1991: 27
[32]
Jahraus 2000:
3 |
|
|
||
|