Thema
2. Jg., Heft 2
November 1997

Claus Dreyer

Über das Interpretieren von Architektur

1.
1Die Begegnung und die Erfahrung mit wichtiger und bedeutungsvoller Architektur kommt vorwiegend auf indirektem Wege zustande; sie wird in Texten, Bildern und Filmen vermittelt, die an die Stelle des realen Objekts seine Darstellung setzen. Dabei kommt den Texten, also der geschriebenen oder gesprochenen Sprache, eine besondere Rolle zu: Sie beschreiben, analysieren, kritisieren, evaluieren und interpretieren das Werk, das für sich selbst nicht "sprechen" kann, weil es nicht präsent ist, und weil die jeweiligen bildhaften oder filmischen Darstellungen nur ausschnitthafte oder perspektivisch verkürzte Ansichten vermitteln können. Aufgrund der räumlichen oder zeitlichen Distanz können auch die meisten fachlich involvierten Betrachter die Mehrzahl der künstlerisch oder historisch wichtigen Bauten nur in ihrer sprachlich und bildhaft vermittelten Form kennen und würdigen lernen.
Diese Situation ist im Hinblick auf die Bildende Kunst und die Literatur oft beklagt worden: Gegen die wuchernde Kommentierung und Informationsüberflutung in der zeitgenössischen Kultur wurde die "reale Gegenwart" des Kunstwerks zur unmittelbaren Sinnenthüllung eingefordert (Steiner 1990). Aber was bei der allgegenwärtigen Verfügbarkeit von Literatur und dem überbordenden Museums- und Ausstellungsbetrieb möglich sein mag, ist im Bereich der Architektur unmöglich: Aufgrund ihrer Ortsbindung und ihrer nicht seltenen Exklusivität kann sie nur eingeschränkt unmittelbar erlebt werden und ist damit auf ihre mediale Vermittlung angewiesen. Zugleich muß auf das Dilemma hingewiesen werden, dem nach Adorno alle moderne Kunst einschließlich der Architektur unterliegt: Ohne fundierende Theorie und kommentierende Erläuterung kann sie nicht mehr verstanden und begriffen werden, weil es in der Gegenwart keine "naive" oder "auratische" Kunst mehr geben kann, die dem Anspruch auf Selbstverständlichkeit gerecht werden könnte (Adorno 1973; vgl. auch Politics - Poetics 1997).
Sofern Architektur als künstlerische oder kulturelle Manifestation gewürdigt werden soll, ist ihre sprachliche Vermittlung unvermeidlich. Eine besondere Rolle nimmt dabei die Interpretation ein: Sie beschreibt und analysiert nicht nur das jeweilige Werk, sondern sie versucht vor allem, die Frage nach der "Bedeutung" zu beantworten.

2.
2Wenn wir im folgenden Architektur als Kunst ("Baukunst") betrachten, muß eine Eigenschaft festgehalten werden, die die Architektur von anderen Kunstgattungen unterscheidet (und gelegentlich dazu geführt hat, Architektur von den Künsten überhaupt auszuschließen oder ihren künstlerischen Status sehr tief anzusetzen): Jedes architektonische Werk muß eine Funktion erfüllen, es dient also einem bestimmten Zweck. Dieser ergibt sich im allgemeinen aus der Bauaufgabe, die Anlaß und Verursachung des Zustandekommens eines Bauwerks ist (Norberg-Schulz 1968). Wenn man nun sagen kann, daß die architektonische Form das Ergebnis der Übersetzung der Bauaufgabe in ein gebautes Objekt ist, läßt sich die Aufgabe der Interpretation so festlegen: Sie beschreibt nicht die Beziehung zwischen Form und Aufgabe (Funktion), sondern sie versucht zu erläutern und zu kommentieren, wie und mit welchen Mitteln diese Beziehung hergestellt wird, welche zusätzlichen Informationen und Imaginationen die gewählte Lösung vermittelt und in welchen kulturellen Kontext das Werk einzufügen wäre. In diesem Sinne wird "Bedeutung" in unserem Zusammenhang verstanden und es sollen drei neuere unterschiedliche Ansätze zu ihrer Freilegung betrachtet werden.

2.1
3In einem viel beachteten Buch hat Arthur C. Danto vor einiger Zeit die These vertreten, daß es zur Konstitution eines Objekts als Kunstwerk erforderlich sei, daß es als interpretierbar und als interpretationsbedürftig angesehen wird (Danto 1991). Die Interpretationsbedürftigkeit eines Objekts ergibt sich dadurch, daß es in einem institutionellen kunstgemäßen Rahmen als Teil der "Kunstwelt" auftaucht und damit als potentielles Kunstwerk identifiziert (oder auch falsifiziert) werden kann. Mit der künstlerischen Identifikation ist zunächst die Unterstellung verbunden, daß ein Objekt nicht das oder nicht nur das ist, was es "buchstäblich" ist, sondern daß es anscheinend mehr oder vielleicht sogar etwas ganz anderes ist, als was es erscheint. Damit ist nun weiterhin die Aufforderung an den Betrachter oder Benutzer verbunden, durch Interpretation herauszufinden oder zu "erfinden", was die Bedeutung des Objekts als Kunstwerk sein könnte. Erst mit diesem interpretatorischen Akt wird ein Objekt in ein Kunstwerk verwandelt ("transfiguriert"), sein "esse" ist ein "interpretari" (Danto 1991: 193).
Damit die Interpretation eines Werkes nicht völlig willkürlich verfahren kann, schränkt Danto sie dadurch ein, daß er fordert, sie müsse sowohl die Absichten des Künstlers sowie Entwicklungen der Kunstgeschichte und Positionen der Kunsttheorie berücksichtigen. Die Grenzen der Kenntnisse auf diesen Gebieten sind auch die Grenzen der Interpretation.
Ein zentrales Problem ergibt sich aus der Frage, wodurch die Interpretation eines Objekts, die ja vielfältige Orientierungen haben kann, zu einer künstlerischen Interpretation wird, durch die das Objekt zu einem Kunstwerk "transfiguriert" wird. Dantos Antwort darauf ist der Begriff der "Metapher" (neben "Ausdruck" und "Stil", die ich hier vernachlässige): Die Struktur eines Kunstwerks ist demnach die Struktur einer Metapher, und ein Kunstwerk verstehen heißt, diese Metapher zu erfassen (Danto 1991: 262 ff). Ein Objekt wird zum Kunstwerk, wenn es als Metapher, die aufgrund einer schöpferischen "Transfiguration" ("Verklärung" in der dt. Übersetzung) zustande gekommen ist, interpretiert werden kann. Ein Bild, eine Skulptur, eine räumliche Komposition muß als Metapher (z.B. für die Zeit, die Natur, den Kosmos oder das "eigene Leben", das Danto besonders am Herz liegt; vgl. Danto 1991: 263) interpretiert werden können, um als Kunstwerk zu gelten. Dabei soll die Interpretation der Metapher das Werk nicht ersetzen: "Es ist vielmehr die Kraft des Werkes, die in der Metapher enthalten ist, und die Kraft ist etwas, das empfunden werden muß" (Danto 1991: 265). Die Funktion der Kunstkritik im weiteren Sinne besteht darin, "den Leser oder Betrachter mit der Information auszurüsten, die notwendig ist, um auf die Kraft des Werkes zu antworten" (Danto 1991: 265) und eine angemessene Interpretation zu entwickeln, die sich in Konkurrenz mit den Interpretationen anderer kompetenter Betrachter und in Bezug zur jeweiligen "künstlerischen Umwelt" bewähren muß.
Ich möchte nun noch zwei weitere Interpretationsansätze skizzieren, die stärker architekturbezogen sind, um sie dann vergleichend an einem Beispiel zu betrachten.

2.2
4Schon vor längerer Zeit hat Umberto Eco einen Ansatz zur Interpretation von Kunst und Architektur entwickelt, den er zwar zwischenzeitlich immer wieder verändert und weiterentwickelt hat, der aber in seinen Grundzügen, besonders soweit es die Architektur betrifft, bestehen geblieben ist (Eco 1972). Das Kunstwerk wird von ihm als eine mehrdeutige offene Struktur vorgestellt, die erst im Vollzug der Interpretation ihre Bedeutung erhält und sich dabei zugleich selbst weiterentwickelt und dann zu weiteren neuen Interpretationen auffordert. Im fortlaufenden Prozeß der sich ergänzenden und überlagernden Interpretationen verliert die künstlerische Struktur sogar ihre ontologische Qualität und wird zu einem methodischen Verfahrensinstrument, das immer wieder neu konstruiert und dekonstruiert werden muß.
Der Prozeß der Interpretation ist im Prinzip unendlich, findet seine Grenzen aber einmal durch seine Einbettung in die Arbeit einer kompetenten Interpretationsgemeinschaft der Kunstkenner, –wissenschaftler und -liebhaber, zum anderen, mit Rückgriff auf Peirce's Wahrheitskriterium (vgl. Peirce 1967: 185), im Ideal eines letzten Konvergenzpunktes der konkurrierenden Interpretationen, an dem sich die gelungenste als "Siegerin" wird durchgesetzt haben (Eco 1995).
Der zentrale Begriff für die Konstituierung von Kunstwerken ist der "Code": Dabei handelt es sich um Zeichensysteme, mit deren Hilfe die ästhetische Botschaft ausgedrückt und vermittelt werden kann. Die Aufgabe des Lesers, Betrachters oder Nutzers ist es, die codierte Botschaft zu lesen und zu interpretieren. Künstlerische Botschaften sind grundsätzlich mehrdeutig und lassen viele Interpretationen zu; ebenso sind die künstlerischen Codes vieldeutig und werden oft selektiv, exklusiv oder inklusiv gebraucht. Die Aufgabe der Interpretation von Kunst liegt darin, diesen Spielraum der Vieldeutigkeiten immer wieder neu auszuloten, und große Kunst zeichnet sich dadurch aus, daß sie immer neue Interpretationsmöglichkeiten anbietet.
Die architektonischen Codes haben nach Eco zwei Bezugsrichtungen: Sie "denotieren erste Funktionen", die den Gebrauch und die praktische Verwendung betreffen, und sie "konnotieren zweite Funktionen", die sich auf verschiedene Auffassungen des Gebrauchs im kulturellen oder ideologischen Kontext beziehen. Eco unterscheidet genauer zwischen "syntaktischen Codes", die vorwiegend konstruktive oder organisatorische Aspekte der Architektur betreffen, und "semantischen Codes", die sowohl "erste Funktionen denotieren", wie Dach, Treppe, Fenster usw., aber auch " symbolische zweite Funktionen konnotieren" können, wie Giebel, Säule, Tympanon, aber auch ganze Raumprogramme und "Ideologien des Wohnens" wie Gemeinschaftssaal, Aufenthaltsraum, Repräsentationszone usw. (vgl. Eco 1972: 329).

5Für unser Verständnis von Interpretation ist vorwiegend diese zweite Lesart der architektonischen Codes interessant, da sie sich mit der Bedeutung der Werke im engeren Sinne beschäftigen. Ein Hauptproblem dabei ist die konventionelle oder kreative Anwendung dieser Codes in der Architektur: Sie können nicht einfach erfunden werden, sondern beziehen ihre Kraft gerade daraus, daß sie historisch, traditionell, regional, schichtenspezifisch, typologisch o.ä. begründet sind. In der kontrollierten und raffinierten Regelverletzung oder Vermischung liegt eine Chance zur kreativen Innovation, die zur Bereicherung der künstlerischen Umwelt beiträgt und die ständige Neuinterpretation herausfordert.

2.3
6Auf einem eher strukturalistischen Ansatz beruht die Interpretationstheorie von Juan Pablo Bonta (1979). Dabei geht auch er von der Annahme aus, daß die architektonischen Formen als ein System von Zeichen aufgefaßt werden können, die als Vermittler von teils beabsichtigten, teils unbeabsichtigten Botschaften aufgefaßt und entsprechend interpretiert werden können. In der Kultur einer jeweiligen Zeit und Gesellschaft existieren bestimmte architektonische Zeichensysteme, in denen sich der "Geist" einer Epoche ausdrückt, und die von den jeweiligen Zeitgenossen verwendet und verstanden werden können. Im Laufe der Zeit ändern sich die Bedeutungen einzelner Zeichen und damit schließlich auch die semantischen Zusammenhänge ganzer Systeme. Dadurch werden Neuinterpretationen erforderlich, die sowohl kritische wie analytische wie auch kreative Funktionen haben können.
Bonta untersucht in seinem Buch hauptsächlich, wie Interpretationen von Architektur überhaupt zustande kommen und wie sie sich verbreiten, verändern oder auch wieder verschwinden. Dazu entwickelt er das Konzept der "Expressiven Systeme", die darin bestehen, daß sie charakteristische, für bedeutungsvoll erachtete Eigenschaften von Architektur einer bestimmten Zeit, eines bestimmten Bautyps oder eines bestimmten Architekten, in einer fixierten systematischen Position in Zusammenhang mit anderen charakteristischen Eigenschaften gegenüberstellen, und diese Eigenschaften mit bestimmten interpretierenden Begriffen kombinieren, aus denen sich Aussagen über die Bedeutung von Architektur ableiten lassen. "Forms only speak because of their position within a certain system - in other terms, because of relations of opposition or similarity established with other forms. Taken out of context, forms convey no meaning. Placed in a different context, they may convey a different meaning" (Bonta 1979: 80).
Die Bedeutung einer Form resultiert also aus einer Position in einem System von semantischen Gegensätzen. Bonta vermeidet den Entwurf von "Expressiven Gesamtsystemen" der Architektur, aber schon aus der Gegenüberstellung von einfachen Eigenschaften wie "horizontal - vertikal", "ornamentiert - unornamentiert", "leicht - schwer", "dicht - transparent", "fließend - ruhend" usw., kann er in der vergleichenden Textanalyse von einflußreichen architekturgeschichtlichen Interpretationen erhellende Einsichten über dogmatisch oder klischeehaft fixierte Positionen zutage fördern. Am Beispiel des Barcelona - Pavillons von Mies van der Rohe (1929) kann er beeindruckend das Zustandekommen einer geradezu "kanonischen" Interpretation belegen und zeigen, wie schwer dagegen aus einer veränderten Sichtweise anzugehen ist. Die Interpretation von Architektur kann also immer abhängen von der Position des Objekts oder seiner charakteristischen Eigenschaften in einem System von Vergleichseigenschaften oder - objekten bzw. deren semantischen Korrelaten.

7Damit haben wir drei unterschiedliche Modelle zur Interpretation von Kunst und Architektur kennengelernt:
- Architektur als künstlerische Metapher (Danto);
- Architektur als mehrdeutig und vielfältig codierte Botschaft (Eco);
- Architektur als "Expressives System" (Bonta).
Im folgenden soll an einem Beispiel untersucht werden, ob diese Modelle in der aktuellen Interpretation von Architektur in den Massenmedien wiederzuerkennen sind und uns zu einem besseren Verständnis helfen, bzw. ob mit ihrer Hilfe den vorliegenden Interpretationen ein neuer oder wichtiger Aspekt hinzuzufügen wäre.
Das Beispiel ist Frank O. Gherys Bau für das Guggenheim - Museum in Bilbao, das soeben eröffnet worden ist und in der Presse mit großer Aufmerksamkeit rezipiert wurde. Dazu habe ich die Berichte und Kommentare aus den Feuilletons wichtiger Tages- und Wochenzeitungen ausgewertet
- Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ)
- Frankfurter Rundschau (FR)
- Süddeutsche Zeitung (SZ)
- Lippische Landeszeitung (LZ)
- DIE ZEIT (ZEIT)
- DER SPIEGEL (SPIEGEL)
- und zusätzlich das jüngste Heft der englischen Zeitschrift "Architectural Design" (AD), in dem   Charles Jencks Gherys Bau umfassend würdigt.

3.
8Frank O. Gherys neues Guggenheim-Museum in Bilbao, das zwischen 1993 - 97 entstand, stellt den Betrachter vor eine ungewöhnliche Herausforderung: Es unterscheidet sich in seiner Erscheinung von allen Gebäuden, die bisher gebaut wurden (bis auf die von Ghery selbst); es kontrastiert auf schockierende Weise mit seiner banalen Umgebung (Industriebrache); es strahlt eine physiognomische Kraft aus, der sich niemand entziehen kann. Hier scheint es so, als wäre der Interpretationsbedarf unmittelbar gegeben und bedürfte keiner weiteren theoretischen Rechtfertigung, und in der Tat verfährt so die Mehrzahl der Kommentatoren (bis auf die Ausnahme des Theoretikers Charles Jencks). Allerdings wird mehrfach darauf hingewiesen, daß dieses Gebäude eigentlich "jeder Beschreibung spotte" (FR) und es "keinen Wortschatz (gebe), mit dem man es einfangen " könne (ZEIT).

3.1
9Wie zu erwarten, ist die metaphorische Interpretation besonders stark ausgeprägt. Einige typische Bilder tauchen in nahezu jeder Schilderung auf: das Gebäude erinnert an ein "Schiff" (ZEIT, FR, LZ), "das im alten Flußhafen der Stadt gestrandet ist" (FAZ) und dort "wie ein angedockter Ozeandampfer" liegt (SPIEGEL). Da zum Schiff die wogenden Wellen gehören, werden auch diese sehr bald wahrgenommen: "Über der Cafeteria sitzt ein großer, schimmernder Schiffsbug ..", und ".. unter der Brücke .. schwappt eine glänzende Raumwelle hindurch .., zwei andere Wogen brechen sich, übereinandergetürmt, am Brückengeländer. An der gegenüberliegenden Seite der Brücke setzt ein gespaltener Turm, der keine Funktion hat, ein aufgeklapptes Ausrufezeichen hinter die Achterbahnfahrt der Formen" (ZEIT). Daß hier "Architektur als Achterbahnfahrt fürs Auge" erscheint, wird übrigens auch vom SPIEGEL vermerkt. Mit dem Schiffsmotiv wird ein altes Thema der Baukunst der klassischen Moderne angesprochen: Das könnte als erster Hinweis darauf gelten, wie weit Ghery mit seiner Architektursprache doch einer Tradition verpflichtet ist .

10Ein weiteres oft genanntes Bild ist der "Fisch", der als Lieblingssymbol Gherys identifiziert wird (LZ) und dem Jencks sogar eine morphologische Reihe widmet (Jencks 1997: 36). In der FAZ wird der Fisch als "Walfisch" spezifiziert, aber dann noch einmal in Frage gestellt: "Ein Reptil ? Silbrig bis aprikosenfarben, auch in feurigem Orange glänzen die Schuppen aus Titanzinkblech. Nein, doch ein Fisch. Seinen Hinterleib hat er unter eine Brücke, die Puente de la Salve, gesteckt. Die Schwanzflosse reckt sich jeweils als Turm empor" (FAZ). Doch eher für ein "Reptil" - und zwar ein gewaltiges: ein "Kunstkrake" (SPIEGEL) - entscheidet sich die SZ: "Ghery macht die schrille Himmels - Diagonale (der o.a. Brücke, Verf.) zum dramatischen Gipfel seiner Komposition. Er läßt sein Ungetüm einen Drachenschweif von 130 Meter Länge und 30 Meter Breite bis unter die Brücke werfen, preßt, als müsse er den ausgestreckten Tierleib mit Krallen im Boden verankern, zwei zehenartige Gebilde seitlich zwischen die Pfeiler hinein und läßt jenseits der Brücke sogar noch einen Turm in die Höhe schießen, der, wie vom Blitz gespalten, in zwei Hälften auseinander klafft. Mit diesem vertikalen Element verschraubt er die harten Konturen des Viadukts geschickt mit seinem organisch wuchernden Gebilde .." (SZ).

11Vom Reptil ist es kein weiter Schritt zu einer anderen Art von Drachen, etwa zu einer "Hollywood - Diva mitten im Stadtschmuddel" (SPIEGEL). Ein ungenannter amerikanischer Kritiker "dachte beim Anblick des Gebäudes an Marilyn Monroe, wie sie im 'Verflixten Siebten Jahr' ihr Kleid über dem U - Bahn - Schacht hochwehen läßt" (SPIEGEL). Dem schließt sich der SPIEGEL an und stellt fest, daß "der Bau das Sinnliche, Irrlichternde und Sattgerundete Marilyns, auch ihren Sex - Appeal" hat, und er fährt fort, daß " der Bau tanzt, lockt, lacht und .. sich zur Schau (stellt); er bebt vor Vitalität" (SPIEGEL). An dieses Bild knüpft eine weitere verbreitete Interpretation an, die das Gebäude als Blume auffaßt (ZEIT, Jencks): wie eine "phantastisch zum Himmel sich spreizende Rose aus silbrig glänzenden Wülsten .. kann sich der Bau fast wollüstig in Szene setzen" (SZ). Etwas zurückhaltender spricht die FR von der ersten Assoziation "großer, schlanker, silbriger Blätter, die wirken wie aufgefächert, herausgezogen aufsteigend aus den ineinander verschachtelten Rundungen eines breiten Sockels". Die ZEIT fährt fort mit den "üppigen, titanverkleideten elliptischen Formen .., die sich nach oben verjüngen und zu jener leicht aus dem Gleichgewicht geratenen 'metallischen Blume' fügen, die Ghery hier zum Blühen bringen will".

12Insbesondere die riesige 50 Meter hohe Atriumshalle mit ihrer Blätter- und Blumencharakteristik und den "spinnwebenartigen Stahlstreben" (ZEIT) evoziert ein anderes naheliegendes Bild: das der Kathedrale (ZEIT, FR, LZ), oder zumindest das eines "bizarren Tempels" (SZ), der allerdings eher naturhaft wie eine "gigantische Gletscherspalte" oder eine riesige "Tropfsteinhöhle" erlebt wird. Die sakrale Interpretation führt zu kräftigen Kommentaren: Das Gebäude erscheint als eine "zeitgenössische Kathedrale der Kunst", die eine "dynamische Vision einer glänzenden Welt des (plastischen) Reichtums" verkörpert (LZ). Gherys Leistung wird so gewürdigt: "Der Unbehaustheit des modernen Menschen hat er eine Kathedrale errichtet, die im Innern von der Multiperspektivität der Kabinette, Nischen, Höhlen, Atrien .. lebt und der modernen Kunst gleichberechtigt eine Heimstatt gibt" (LZ). Noch weiter geht Jencks und vereinigt dabei verschiedene der hier vorgestellten Bilder: " It is the image of Gaia overcoming the harsh city hardscape ... Overpowering, resplendend, exuberant - a cathedral caught like Laokoon in the embrace of a slippery snake, trying to sqeeze out. Metaphorical excess ? Inevitable, when confronted by theese glowing, exploding curves - a supernova of museum as cathedral, looking for worshippers who love the new science" (Jencks 1997: 28).

13Die "new science" von den komplexen, selbstorganisierenden Systemen bildet den theoretischen Hintergrund für Jencks' Interpretation, deren neues Weltbild in Gherys Gebäude eine fulminante architektonische Metapher bekommt.

3.2
14In allen vorliegenden Kommentaren und Interpretationen kommt das Eco - Modell, das Architektur als eine vielfach codierte Botschaft versteht, kaum zum Tragen. Lediglich eine Beobachtung, die nach diesem Modell zu verstehen ist, taucht in nahezu allen Texten auf: daß es neben den vielfach gekurvten und gewellten Räumen in einigen Gebäudeteilen jeweils eine "Enfilade" klassischer rechteckiger Galerieräume gibt, die man vom äußeren Bild her gar nicht erwartet hätte (ZEIT, FAZ, FR, SZ). "In den beiden Obergeschossen gibt es jeweils eine Abfolge von drei klassisch dimensionierten Rechteckräumen .., diese vergleichsweise konventionellen Räume hat Ghery im Bauch seines fülligen Ungetüms so zwischen nieren- und blasenförmigen Ausstülpungen versteckt, daß sie von außen nicht zu erahnen sind" (SZ).

15Damit hätte es zumindest nahegelegen, zu untersuchen, ob so etwas wie geometrische oder organische Codes in der Formensprache zu entziffern sind und ihre Mischung genauer bestimmt werden kann. Immerhin bemerkt die FR: "Die Besonderheit der Säle ist das Prinzip des Wechsels" zwischen konventionell und frei geformten. Möglicherweise wären nach genauer Analyse weitere architektonische Codes zu identifizieren: Neben dem organischen und dem geometrischen ein High - Tech - Code gegenüber einem archaischen Code; ein klassizistischer gegenüber einem maniristischen; ein konstruktivistischer gegenüber einem dekonstruktivistischen; ein Metall - Glas - Code gegenüber einem Massivbau - Code; ein regionaler Code gegenüber einem internationalen usw. Aus dem partiellen Vorkommen und der spezifischen Mischung dieser Codes könnte eine komplexe Aussage des Werks gedeutet werden. Hier scheint die Interpretation noch am wenigsten abgeschlossen.

3.3
16Sehr viel mehr Befunde lassen sich für unser drittes Interpretationsmodell anführen, das mit Bonta die Bedeutung eines Werks aus der Position in einem "Expressiven System" zu entwickeln versucht. Natürlich sind in den eher feuilletonistischen Texten, die hier zugrunde liegen, keine umfassenden Systeme zur Architekturinterpretation aufgebaut worden, aber es finden sich genügend Ansätze und Hinweise dazu.
Immer wieder wird Bezug genommen auf die Entwicklung in Gherys Werk selbst und auf die Position hingewiesen, die das Guggenheim - Museum in Bilbao darin einnimmt (ZEIT, FR, SZ, LZ). Die SZ lobt den Fortschritt gegenüber den "anderen teigig gekneteten Architekturen des Weltstars Ghery ..", denn "viele sehen so aus, als seien ihre Arbeitsmodelle vom Meister in einer langwierigen Sitzung auf ein Backbrett geschissen worden" (SZ). Etwas distinguierter schreibt Jencks, der in einem Bildessay die Entwicklung der letzten Projekte Gherys dokumentiert (Jencks 1997: 38): "Where before at Vitra the units were distorted boxes, they are now more linear, smooth and continous. The grammar has an all - over .." (Jencks 1997: 28).
Sodann wird versucht, Gherys Bau in Beziehung zu setzen zu anderen großen Museumsbauten der jüngsten Zeit und ihn als "Kontrastprogramm" zu bestimmen, z.B. zu den Bauten von Rafael Moneo, Alvaro Siza und Allessandro Mendini (FAZ). Immer wieder wird dabei auf die Keimzelle des Guggenheim - Museums in New York und das Gebäude von Frank Lloyd Wright Bezug genommen (FAZ, FR, SZ). Wrights Bau sei "ein Tellergeschoß von außerirdischer Anmutung, eine helle Spirale sitzt am Boden, nach oben sich dehnend" und ins Stadtgefüge eingebettet (ZEIT). Dagegen Gherys Bau: "Eine bewegte aus schimmernden Flächen und Formen gefügte und zur Mitte in die Höhe getürmte Gebäudeskulptur steht, einen überirdisch silbrigen Glanz verbreitend, am Rand der Stadt, vor dem Fluß und den grünen Hügeln" (ZEIT).

17Von dieser Betrachtungsweise aus liegt es nahe, Ghery in einem stilistische System zu verorten und daraus seine Bedeutung abzuleiten. So wird seine Architektur angesehen als "ein Architekturexpressionismus, wie ihn die Brüder Luckhardt oder Finsterlin nur erträumen konnten", sein Bau erscheint "Scharounesker als jemals Hans Scharoun, Fritz Lang aber auch Thea von Harbou, Kunst und Kolportage (sind) unentrinnbar vereint" (FAZ, im gleichen Sinne auch ZEIT und FR). Mit dem Namen Fritz Lang wird auf einen weiteren Zusammenhang verwiesen, in dem Gherys Bau zu deuten ist: die Filmarchitekturen der zwanziger Jahre, besonders Langs "Metropolis", von denen sich Ghery nach eigenem Bekunden hat anregen lassen (ZEIT, FAZ).
Einen weiteren Systemzusammenhang bildet die neue Architektur in Bilbao, die derzeit die Stadt kräftig verändert: Norman Fosters Um- und Neugestaltung der Metrostationen, Santiago Calatravas Flughafengebäude und Fußgängerbrücke, Michael Wilfords (und James Stirlings) neuer Bahnhof, Cesar Pellis Projekt für ein Geschäftsviertel (FAZ, SZ). In diesem Kontext verliert Gherys Bau seinen Solitärcharakter.

18Charles Jencks bezieht aus dem System städtebaulich besonders exponierter Gebäude eine weitere Facette zur Interpretation. "Does any other building command an urban setting with such presence, indeed capture the landscape with such power ? Chartres ? The Acropolis ? Ronchamp ? The three sacral structures come to mind because they, too, stand out from the context and at the same time give the landscape a direction, even supporting role" (Jencks 1997: 28). Darüber hinaus weist er Ghery eine dominante Rolle bei der Entwicklung der "Nonlinear Architecture" zu, die zu einem Leitbild für die zukünftige Architektur werden könnte (AD). Als weitere Hauptexponenten in diesem "generativen System" zur Entwicklung einer neuen Architektur nennt er Peter Eisenman mit seinem "Aronoff - Center" in Cincinnatti und Daniel Liebeskind mit dem "Jüdischen Museum" in Berlin. Nach Jencks versuchen alle drei Architekten das Komplexitäts - Paradigma der neuen Naturwissenschaft in Raum und Architektur zu übersetzen: Ghery durch das Prinzip des Biegens, Eisenman durch das Prinzip des Faltens, Liebeskind durch das Prinzip des Knickens (Jencks 1997: 7 ff). Auch in diesem Sinne wird Ghery schon jetzt von anderer Seite interpretiert: ".. diese Museumsskulptur (ist) auch ein glänzende Verwirrung schaffendes Monument von Gherys Überzeugung, daß .. 'die wirkliche Ordnung die Unordnung' sei und angesichts der sozialen Verwerfungen jede Demonstration einer stabilen Ordnung ein Selbstbetrug" (ZEIT).

19Ob mit den hier vorgestellten Interpretationen schon überzeugende und längerfristig zustimmungsfähige Aussagen gemacht sind, mag zweifelhaft bleiben. Sicher ist damit aber eine Richtung angegeben, in die sich die zukünftige Arbeit der Interpreten entwickeln kann.

4.
20Als Resumé möchte ich feststellen, daß die drei von uns skizzierten Interpretationsmodelle geeignet erscheinen, Wichtiges und Sinnvolles für das Verständnis dieses Gebäudes und von Architektur überhaupt an den Tag zu bringen:
- die Interpretation von Architektur als Metapher, die vielleicht den spekulativsten Charakter hat,  kann gerade deshalb unsere tiefsten Imaginationen freisetzen und bewußt machen;
- die Interpretation von Architektur als mehrdeutig codierte Botschaft kann uns das Verhältnis    von Tradition, Konvention und Innovation deutlich machen;
- die Interpretation von Architektur als "Expressives System" kann uns die vielfältigen  "synchronischen" und "diachronischen" Kontexte und Referenzen aufzeigen, aus denen ein  kulturelles Faktum seine Bedeutung erhält.

21Ich will nicht behaupten, daß diese drei Modelle ausreichen, um Architektur "vollständig" zu verstehen; schon gar nicht kann ich feststellen, daß sie hinreichend deutlich und differenziert genug ausgearbeitet wären, um damit jederzeit arbeiten zu können. Hieran wäre erheblich zu arbeiten, und dabei könten sich die bisherigen Ansätze völlig verändern und es könnten bessere Modelle entstehen. Das aber wäre notwendig, denn ohne eingehende Interpretation können wir Architektur nicht verstehen und begreifen.
Am Ende kann jedoch nicht die "richtige" oder "falsche" Interpretation stehen, weil es sie aufgrund der Abhängigkeit von Interpretationsmodellen, wie den gezeigten, und der Kompetenz des Interpreten in Bezug auf den oben mit Danto angeführten "institutionellen Rahmen" der Kunst und Architektur nicht geben kann. Stattdessen wird man von einer mehr oder weniger "geglückten" oder "gelungenen" Interpretation reden können, die dann erreicht ist, wenn ein Höchstmaß an Zustimmung oder Übereinkunft unter den fachlich zuständigen und entsprechend ausgewiesenen Experten besteht.
In diesem Sinne ist die Interpretation von Kunst ein gemeinschaftlicher Prozeß, der die Bedingungen einer ungehinderten wissenschaftlichen Kommunikation und den Willen zur Verständigung voraussetzt. Dieser Prozeß braucht Zeit und Gelegenheit zu seiner Entfaltung, er kann immer nur innerhalb einer bestimmten "Etappe" zum Stillstand kommen und muß immer neu vorangetrieben werden. Um die Gefahr der "Kanonisierung" von Bedeutungen zu vermeiden, müssen auch historisch einflußreiche und scheinbar unbezweifelbare Interpretationen immer wieder hinterfragt und auf der Grundlage des sich verändernden und erweiternden Wissens einer jeweiligen Zeit durch Re- oder Neuinterpretation des scheinbar gesicherten Bestands neu angeeignet werden. Die verschiedenen methodischen Ansätze und ihre teilweise unterschiedlichen Anwendungsergebnisse tragen dazu bei, die am meisten zustimmungfähige Interpretation zu entwickeln, die am idealen Ende des Forschungsprozesses der Gemeinschaft der zuständigen Wissenschaftler stehen würde, und die dann als die "richtige" bezeichnet werden könnte (vgl. Peirce 1967: 185). Diesen (transzendentalen) Punkt zu erreichen, könnte das (ideale) Motiv für die permanente wissenschaftliche Arbeit an der Interpretation von Kunst sein.

22Ich stelle zum Schluß fest, daß bei der Erörterung unseres Beispiels, Gherys Guggenheim - Museum in Bilbao, überhaupt nicht darauf eingegangen wurde, ob das Gebäude seine Funktion erfüllt. Aber diese Frage gehört, wie schon eingangs festgestellt, meiner Meinung nach in die Architektur - Analyse (die ihrerseits die Architektur - Beschreibung voraussetzt). Die Architekturinterpretation fragt nicht danach, ob die Funktionen erfüllt werden, sondern wie das geschieht und welche zusätzlichen Informationen, Botschaften und Imaginationen dabei übermittelt werden. Die optimale Funktionserfüllung wird bei künstlerisch bedeutungsvoller Architektur vorausgesetzt; die Interpretationsarbeit beginnt erst danach, vorher ist sie offensichtlich inadäquat.
Philip Johnson, der "große alte Mann" der amerikanischen Architektur, hält Gherys Guggenheim - Museum in Bilbao für das bedeutendste Bauwerk des 20. Jahrhunderts. Auf die Frage nach der Funktion als Kunstmuseum antwortete er: "When a building is as good as this, fuck the art" (ZEIT).

Literatur

Adorno, Theodor W. 1973: Ästhetische Theorie. Frankfurt am Main (Suhrkamp)

Bonta, Juan P. 1979: Architecture and its interpretation. London (Lund Humphries)

Danto, Arthur C. 1991: Die Verklärung des Gewöhnlichen. Eine Philosophie der Kunst. Frankfurt am Main (Suhrkamp)

Eco, Umberto 1972: Einführung in die Semiotik. (Dt. Übersetzung von Jürgen Trabant). München (Fink)

Eco, Umberto 1995: Die Grenzen der Interpretation. (Dt. Übersetzung von Günter Memmert). München (dtv)

Jencks, Charles 1997: Landform Architecture. Emergent in the Nineties. In: Architectural Design 9/10 (1997): 15 - 31

Norberg-Schulz, Christian 1968: Logik der Baukunst. Gütersloh/Berlin/München (Bertelsmann)

Peirce, Charles S. 1967: Schriften I. Hrsg.: Karl-Otto Apel. (Dt. Übersetzung von Gerd Wartenberg). Frankfurt am Main (Suhrkamp)

Politics - Poetics. Das Buch zur Documenta X. Hrsg.: Catherine David u.a. Kassel 1997 (Cantz)

Steiner, George 1990: Von realer Gegenwart. Hat unser Sprechen Inhalt ? (Dt. Übersetzung von Jörg Trobitius). Müchen/Wien (Hanser)

Folgende Zeitungen und Zeitschriften wurden ausgewertet:

Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 242 vom 18.10.97, S. 37: Wolfgang Pehnt: Ein Walfisch ist Bilbaos Stolz.

Frankfurter Rundschau Nr. 242 vom 18.10.97, S. ZB 3: Peter Iden: Und der rote Mond scheint durch das Dach ...

Süddeutsche Zeitung Nr. 240 vom 18./19.10.97, S.17: Gottfried Knapp: Die Architektur schlägt zurück.

Lippische Landeszeitung Nr. 242 vom 18.10.97, S. 7: Thomas Mense: Weltwunder im Baskenland.

DIE ZEIT Nr. 43 vom 17.10.97, S. 55-56: Petra Kipphoff: Die Museumsskulptur.

DER SPIEGEL Nr. 43/1997 vom 20.10.97, S. 284-88: Heute Bilbao, morgen die Welt.

Architectural Design Nr. 9/10 (1997): New Science = New Architecture ? Ed.: Charles Jencks.

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