6. Jg. , Heft 1 (September 2001)
___Karsten
Harries

New Haven

Architektur als Ästhetische Praxis?
Vom Unbehagen an der Baukunst

1. Die Gefahr

Thema dieser Konferenz ist "Architektur als aesthetische Praxis". Soll das mehr sagen als: Architektur darf nicht auf das Bauhandwerk oder Baufach reduziert werden, muss als Kunst verstanden werden, eben als die Baukunst, wobei Kunst hier mehr meint als ein besonders geschultes Können, Anspruch erhebt auf Schönheit und Originalität. Meist allerdings denken wir an Anderes wenn wir das Wort "Praxis" hören, an einen Arzt z. B. oder an einen Anwalt. Ich erinnere an Kants kurze Schrift, "Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis", ein Spruch, den Kant, wie nicht anders zu erwarten, zurückweist. "Praxis" meint hier ein in der Welt Agieren. Aber nicht jedes Handeln sei Praxis, meint Kant, "sondern nur diejenige Bewirkung eines Zwecks, welche als Befolgung gewisser im allgemeinen vorgestellten Prinzipien des Verfahrens gedacht wird."1 Praxis, so verstanden, ist zweck- und regelgebunden, ist also nicht autotelisch, wie es die Aesthetik, unter anderem auch die von Kant, immer wieder vom Schönen gefordert hat.

Was aber heißt dann "aesthetische Praxis"? Die Frage wird verschärft durch Kants oft wiederholte Bestimmung des Schönen als Gegenstand eines interesselosen Wohlgefallens, wobei Kant Interesse "das Wohlgefallen" nennt, "das wir mit der Vorstellung der Existenz eines Gegenstandes verbinden."2 Interesse ist also immer wirklichkeitsbezogen, will in die Wirklichkeit eingreifen, will sie verwandeln. Alle Praxis setzt Interesse voraus. Aber verstanden als Gegenstand eines interesselosen Wohlgefallens, verliert des Schöne diesen Wirklichkeitsbezug, wird zum schönen Schein. Dieser Abstand von der Wirklichkeit, den die Aesthetik immer wieder von einer wahrhaft aesthetischen Einstellung gefordert hat, verträgt sich nicht gut mit dem, was wir gewöhnlich unter Praxis verstehen.

So verweist uns schon der Ausdruck "aesthetische Praxis" auf den antithetischen Charakter aller Kunst, die als Kunst allerdings auch immer eine Praxis ist,3 aber doch, ein interesseloses Wohlgefallen suchend, ein GLÜCK verspricht, das uns alles, was uns gewöhnlich Praxis heißt, verwehrt. Ein solches GLÜCK steht, wie Adorno sagt, über der Praxis. "Den Abgrund zwischen der Praxis und dem GLÜCK misst die Kraft der Negativität im Kunstwerk aus."4 Und gilt, was hier vom Kunstwerk gesagt wird, nicht ganz besonders von der Architektur, insofern sie es verdient, "Kunst" genannt zu werden. Das Wesen solcher Architektur wäre dann in einem solchen Aufreißen des Abgrundes zwischen alltäglicher Praxis und erahntem oder erträumtem GLÜCK zu suchen, zwischen Praxis und Utopie.

So verstanden, verspricht der Titel dieser Konferenz, das vor fünf Jahren hier in Cottbus auf einem ähnlichen Symposion behandelte Thema "Architektur im Zwischenraum von Kunst und Alltag" wieder aufzugreifen und in Richtung Kunst weiterzuführen. Soll uns also der Ausdruck "ästhetische Praxis" wieder auf diesen Zwischenraum hinweisen, ein Zwischenraum der Adorno zum Abgrund wird, über den das so leicht gesagte Wort "Baukunst" scheinbar problemlos eine Brücke schlägt? Dieser Brückenschlag gibt zu denken. Kann wahre Kunst überhaupt eine solche Brücke schlagen? Gehört sie nicht zu sehr der einen Seite? Verrät ein solcher Brückenschlag nicht jene "Kraft der Negativität", die, so Adorno, das Kunstwerk wesentlich bestimmt? Ist das Schöne, verstanden als Gegenstand eines interesselosen Wohlgefallens, nicht wesentlich unbewohnbar, unbrauchbar? Es kann darum nicht überraschen, dass die Architektur immer wieder von der Aesthetik als Stiefkind der Kunst verstanden wurde, als die Kunst, die, wie Aschenputtel, sich immer wieder gemein machen, immer wieder der Welt verkaufen, sie umarmen, und so ihr eigenes Wesen verraten muss.

Aber solche Umarmung gefährdet nicht nur die Kunst, sondern auch die Welt. Dazu erst einmal nur eine Geschichte aus dem alten Testament, die vor einigen Jahren Professor Friedrich Weinreb in seiner unvergesslichen Art als Beitrag zu einem Gespräch über Technik und Wirklichkeit erzählte. Weinreb sprach von Adam; von Kain und seinen Nachkommen; von Lamech und seinen zwei Frauen, Ada, mit der er Kinder zeugte, und Zilla, die, um sich ihre Schönheit zu bewahren, unfruchtbar bleiben sollte und trotzdem einen Sohn bekam, den Waffen schmiedenden Thubalkain, der den Tod des Urvaters Kain verursachte und dann von seinem Vater erschlagen wurde. So vollendete sich das Geschlecht Kains in der siebenten Generation.

Was hat nun diese Geschichte mit unserem Thema zu tun: Architektur als ästhetische Praxis? Ich werde hier keinen Versuch machen, das damals Gehörte zu deuten. Dazu fehlt mir die nötige Vorbildung. Aber ich werde doch versuchen, einem in dem Gehörten erfahrenen Anspruch zu entsprechen. Das Thema dieses Symposions legt nahe, den unsteten und eben deshalb die erste Stadt bauenden Kain mit der Architektur, und weiter mit der Technik zu verbinden, in der eine sich immer unsicherer fühlende Menschheit Sicherheit und Sinn sucht. Thubalkain stünde dann für die Potenzierung und Vollendung des technischen Zeitalters.

Aber was lehrt ein solcher Vergleich? Zu unserer geistigen Situation gehört ein Unbehagen, das gerade die diese Situation bestimmenden Überzeugungen fragwürdig werden lässt, gehört der Verdacht, dass wir Weg und Richtung verloren haben und nun auf die Selbstzerstörung der technischen Welt hintreiben. Die Macht, die uns Naturwissenschaft und Technik gegeben haben, ist heute vielen fragwürdig geworden. Angst vor dem vermeinten, auf unserer Kultur lastenden Unheil, lässt solche Menschen träumen von einer aesthetischen Praxis, in der Bilder und Geschichten wieder wirklich bildende Kraft entfalten und neu zusammengefügt zu einer Ethos stiftenden Macht werden: Traum einer die Wirklichkeit umarmenden Schönheit. Die Architektur wäre dann der bevorzugte Ort solcher Umarmung.

Eben der Gedanke an diesen Traum ließ mich aufhorchen, als ich von der unfruchtbaren Zilla hörte, die schön wie ein Bild, eben um ihre Schönheit zu bewahren, kinderlos bleiben sollte, dann aber doch Lamech umarmte und ihm Thubalkain gebar, der das Geschlecht Kains in seinem Ursprung zerstören sollte und zwar durch ein Versehen: dem erblindeten Vater das Ziel weisend, traf dessen Pfeil nicht das heilverheißende, horntragende Tier, sondern tötete den gehörnten Urvater Kain und in seinem blinden Jammer erschlug Lamech dann auch noch den Sohn. Unser Thema, ließ mich das so hören: Eine unfruchtbare, von der Wirklichkeit Abstand haltende Schönheit -- und gehört dieser Abstand nicht zum Wesen der Schönheit? -- verliert diesen Abstand, umarmt die technische Welt und führt eben dadurch zu einer Potenzierung des Unheils.

Wie also gehören Lamech und Zilla, Technik und Schönheit zusammen? Wie Adorno so gut wusste, gehört zu unserer technischen Welt der Abstand der aesthetischen Sphäre, von dem, was uns gewöhnlich Wirklichkeit heißt.

In dieser Sphäre finden wir ein Refugium von unserer allzu geschäftigen Welt. Zu dieser Welt gehört aber auch die Unzufriedenheit mit eben diesem Abstand, gehört der gefährliche Traum von einer die Technik umarmenden und so unsere Welt glückvoll verwandelnden Schönheit: Traum einer Wiederkehr des Mythischen im technischen Zeitalter, Mythos des 20. und nun 21. Jahrhunderts.

Aber warum gefährlich?

 

2. Ägyptisches Vorbild

In der Einladung zu dieser Konferenz wurden als "Themenschwerpunkt" "'praxis' und 'poiesis' der Architektur" genannt. Diese Formulierung ließ mich das Wort "Praxis" auch in einer anderen Tonart hören. "Praxis" und "poiesis", besonders wenn, wie in meiner Einladung, klein geschrieben, und in dieser GegenÜberstellung, gehören nicht gerade in unsere Alltagssprache. Im letzten Duden konnte ich "poiesis" überhaupt nicht finden. Und auch mein Sprach-Brockhaus ließ mich im Stich. Diese Worte haben keinen Platz in diesen Standardwerken, sind im heutigen Deutsch nicht zu Hause. "Poiesis" lässt an die Griechen denken, auch an Heidegger, der immer wieder versuchte, uns Griechisch denken zu lehren, und der Aristoteles so Manches verdankte.5 Und da, wo Aristoteles am Ausführlichsten von der "poiesis" spricht, nämlich in seiner Poetik, spricht er bekanntlich auch von der "praxis". Was aber verstanden die Griechen unter "poiesis" und "praxis"? Und wie verhält sich die Architektur zu beiden?

Man möchte meinen, dass sich zwischen "poiesis" und "praxis" derselbe Abgrund auftut, der Kunst vom alltäglichen Handeln trennt. Aber "poiesis" darf nicht einfach als Kunst oder, enger, als Dichtkunst, verstanden werden. Und noch weniger hat "praxis" den uns geläufigen Sinn, meint was z. B. Kant darunter versteht. Hören wir auf den Anfang der Poetik: "Wir wollen sprechen über das Poetische selbst und über dessen Gattungen und über die Fähigkeit einer jeden und wie man die Mythen zusammensetzen muss, wenn man will, dass Poiesis schön sei. 2E..."6 Poiesis kann also, braucht aber nicht schön zu sein. Sie meint hier nicht nur Kunst oder Dichtkunst, sondern jedes Hervorbringen, das einem Stoff eine bestimmte Form gibt. In Platons Symposion heißt so "poiesis" alles, was etwas aus dem Nichtsein in das Sein treten lässt.7 So verstanden ist nicht nur die Kunst "poiesis", sondern auch jedes Handwerk, und darüber hinaus, auch die Natur: zum Beispiel eine sich öffnende Rose. Natur oder Physis ist sogar, wie Heidegger sagt, poiesis "im höchsten Sinne".8 Was Kunst und Handwerk von solcher poiesis unterscheidet, ist, dass sie immer von anderen, Künstlern oder Handwerkern hervorgebracht werden, und das solches Hervorbringen immer auch ein Wissen um das hervorzubringende Werk voraussetzt, dass es immer im Hinblick auf einen Grund geschieht. Solche "poiesis" nennt Aristoteles "techne". Wie alles Handwerk, so ist auch alle Kunst in diesem Sinne "techne", setzt so etwas wie eine Absicht voraus und lädt uns ein, nach dem sie führenden "logos", nach dem Sinn des Werkes zu fragen.

Worauf zielt nun die Kunst nach Aristoteles, wobei er besonders an die Dichtkunst denkt? Der eben zitierte erste Satz der Poetik gibt eine erste Antwort: sie zielt auf Schönheit. Aber nur das richtige Zusammensetzen von Vorgegebenem ergibt Schönes. So verbindet Aristoteles die Schönheit der Poiesis mit dem Zusammensetzen von Mythen. Diese geben ihr das Material, wobei Aristoteles hier vor allem an die Tragödie denkt. "Mythen" meint hier so etwas wie Berichte von Göttern und Menschen und in der Natur waltenden Mächten.

Der darauf folgende Satz bestimmt das Ziel solcher "poiesis" weiter als "mimesis" der "praxis", wobei sich die Frage stellt, wie sich Mimesis und Schönheit vertragen, eine Frage die Platon immer wieder beschäftigt. Soll die Schönheit die Wirklichkeit umarmen, sie so verwandelnd? Oder soll sie Abstand halten von der Wirklichkeit, sie nur spiegeln -- der Spiegel ein platonisches Bild für die nur nachahmende, mimetische Kunst?

Aristoteles spricht von einer "mimesis" der "praxis". Praxis hat hier eine ethische Bedeutung: "Da nun die, welche eine Mimesis vollziehen, die Mimesis von solchen vollenden, die eine Praxis verwirklichen, so folgt daraus mit Notwendigkeit, dass diese entweder tugend- oder lasterhaft sind, denn allein auf diese Gegensätze laufen doch stets unsere ethischen Eigenschaften hinaus, in dem sich alle in Bezug auf ihren Charakter durch Laster und Tugenden unterscheiden."9 Das dichtende Zusammenstellen der Mythen zielt also auf die Darstellung von Menschen, die eine Praxis verwirklichen, und lässt uns deren ethische Bedeutung sehen. Poiesis, verstanden als Mimesis einer Praxis, hat immer auch eine ethische Funktion.

Beide Bestimmungen zusammenfassend, wäre "poiesis" oder Dichtung somit als die schöne Darstellung einer Praxis zu verstehen, also nicht nur als Spiegelung, sondern auch als ordnende Zusammenstellung des Vorgegebenen. Dabei denkt Aristoteles nicht nur an die Dichtkunst im engeren Sinne, sondern auch an Musik, Tanz, Malerei und Bildhauerkunst. Sie alle versteht Aristoteles als mimetische Künste. Allein die Architektur bleibt in seiner "Poetik" unerwähnt. Das gibt zu denken: Lässt sie sich so nicht verstehen? Steht sie in einem anderen Verhältnis zur Wirklichkeit?

Das ist in der Tat so. Wie schon Platon, versteht auch Aristoteles die Architektur nicht als "techne mimetike", sondern als "techne architektonike".10 Auch eine solche architektonische "techne" kann Schönes hervorbringen, ursprünglicher sogar als ihre mimetischen Schwestern. Eben darum gibt Platon einer solchen Kunst den Vorrang.11 Schönheit hervorbringen heißt auch hier so etwas wie ein vorgegebenes Material zu einem wohl geordneten Ganzen fügen. Aber was geordnet wird, ist nun nicht mehr eine bloße Spiegelung der Wirklichkeit, in der wir leben, sondern diese selbst. Schönheit umarmt hier die Wirklichkeit. Ordnung, Symmetrie und begrenzte Größe gehören zum Begriff des Schönen, wobei Platon und Aristoteles an alles denken, was in sich so vollendet ist, dass es sich Göttlichem nähert. Was schön ist, z.B. ein Mensch, oder auch ein Haus, oder eine Stadt, sammelt sich, oder wurde gesammelt, zu einem wohl geordneten Ganzen. Platon und Aristoteles wussten um die ethische Funktion solcher Sammlung, wussten um die Macht des Schönen, die alles, was in ihren Machtbereich gehört, ordnet, an den ihm gemäßen Ort stellt. Diese ethische Funktion ist besonders offensichtlich, wenn es menschliche Praxis ist, die so geordnet wird. Dabei dachte Platon an Politik mehr als an Kunst, an den Staat als Werk einer aesthetischen Praxis. In den dreißiger Jahren sollte Heidegger, und nicht nur er, daran anknüpfen.

Schönheit bedeutet den Griechen Ordnung, besonders geometrische Ordnung. So stellt Platon im Philebos die Schönheit von geraden Linien und Kreisen, von nur mit Hilfe von Zirkel, Lineal und Drechselbank zu erzeugenden streng geometrischen Körpern und Figuren über alles, was Mimesis erzeugen kann, auch über die vergänglichen und oft so unordentlichen Schönheiten der Natur.12 Und so fordert er reine Farben -- denken wir an Schwarz und Weiß, Blau, Rot, und Gelb, nicht an ein gebrochenes Blaugrün oder Goldbraun, an Farben, die an die immer wechselnde Natur erinnern. Die "techne architektonike" dient einem Geist, der sein wahres Zuhause nur in einem mathematisch geordneten Ganzen finden kann und darum bemüht ist, die Welt, in der wir zu leben haben, einem solchen Ganzen anzunähern. Dabei denkt Platon zuerst an Musik und rhythmischen Tanz. Vorbild war ihm hier die streng geregelte, jede Neuerung ablehnende, und eben deshalb scheinbar zeitlose Kunst der Ägypter. Man brauche, so meint der Athener in den Nomoi, nur ägyptische Gemälde und Skulpturen an Ort und Stelle zu besuchen, um sich zu überzeugen, dass sich in Ägypten im Wesentlichen, seit 10.000 Jahren nichts geändert habe, für ihn ein Zeichen des göttlichen Ursprungs solcher Kunst.13 Und so nennt Ernst Bloch, an Hegel mehr als an Platon denkend, Ägypten "Die Utopie Todeskristall". In der Pyramide, "die ein Ausdruck der Reichseinigung, des zentralen Königskults war, kulminiert aber die ägyptische Kunst nicht nur als Zeremonial-, sondern -- dem verwandt -- als Starr- und Todeskunst schlechthin ... in der fanatischen Geometrisierung der gesamten Ägyptischen Kunst spricht sich ihre Bau-Utopie aus: Todeskristall als geahnte Vollkommenheit, kosmomorph nachgebildet."14

Platons Beispiel Ägypten lässt an die warnenden Worte des platonischen Aristophanes im Symposion denken: verliert der Mensch, der den Ort, der allein den Göttern gehört, für sich beansprucht, nicht sich selbst? Wird, nicht göttlich, sondern unmenschlich? So stellt Platon selber das ägyptische Vorbild in Frage.

 

3. Poiesis und Praxis

Ich wollte von "poiesis" und "praxis" sprechen, habe aber bis jetzt über die aristotelische "praxis" kaum etwas gesagt. Nicht jede Handlung hat nach Aristoteles Praxischarakter.15 So darf z.B. "poiesis" nicht als "praxis" verstanden werden, hat sie doch ihr Ziel in dem hervorzubringenden Werk. Die eigentliche Handlung oder "praxis" dagegen hat, wie es in der Nikomachischen Ethik heißt, anders als bei Kant, ihr Ziel in sich selbst.16 So verstanden rückt die aristotelische "praxis" in die Nähe des Kunstwerks, wie es uns die moderne Aesthetik zu verstehen gelehrt hat, teilt sie doch dessen autotelischen Charakter. Dadurch, dass der Dichter in seiner Mimesis verschiedene Handlungen zu einer Praxis zusammenfügt, lässt er sie uns als Teile eines sinnvollen Ganzen verstehen, gibt ihnen eben dadurch eine höhere Bedeutung. So hat die in einer gelungenen Tragödie dargestellte Handlung Anfang, Mitte, und Ende, fügt sich so zu einem schönen Ganzen. Und ihre Schönheit wird uns zu einem Licht, das uns unser Leben sinnvoller erscheinen lässt, eben weil sich unser Leben, anders als die aristotelische Praxis, nicht leicht als ein solches Ganzes verstehen lässt. Unterscheidet nicht gerade dies Leben und Kunst? So soll die Schönheit in unser Leben den Abglanz eines sinnvolleren Lebens tragen.

Was das Kunstwerk zu einem schönen Ganzen sammelt, ist der in das Materielle des Kunstwerks herabsteigende Logos, wir können auch mit Kant von der aesthetischen Idee sprechen, die in ihm zum Ausdruck kommt, oder auch von seinem Sinn. Aber wo finden wir den Sinn, den Logos, der unser Leben zu einem Kunstwerk-ähnlichen Ganzen sammeln würde? So treten Kunst und Leben auseinander, öffnet sich uns der Abgrund, der nicht nur die Kunst, sondern auch die aristotelische Praxis, die ja sich selbst genügen soll, von unserer alltäglichen, im Bann von Arbeit stehenden, erträumtes GLÜCK verstellenden Praxis trennt, ein Abgrund, den Adorno immer wieder beschwört. Aber eben darum begleitet unsere moderne Lebenspraxis auch der Traum einer Umarmung des Lebens durch das Schöne, Traum einer Verwandlung des Lebens in etwas, das es wirklich verdiente, Praxis genannt zu werden. Schon Schiller fordert eine solche Umarmung. Es ist dieser Traum einer aesthetischen Lebenspraxis, den Kierkegaard, an die deutschen Romantiker, besonders an Friedrich Schlegel denkend, entwickelt und in Entweder/Oder einer vernichtenden immanenten Kritik unterwirft. Hier ist es das Individuum, das aesthetisch zu leben versucht. Aber, wie es das platonische Vorbild zeigt, der Traum einer Umarmung der Wirklichkeit durch eine sinnstiftende Schönheit kann auch politisch verstanden werden. So versteht ihn z. B. Nietzsche, an Wagner denkend, in der Geburt der Tragödie. Kunst wird hier zum Sinn stiftenden Mythos, ein Traum den auch, Nietzsche verpflichtet, der Jugendstil träumt. Und schon Nietzsche dachte hier nicht nur an die Erneuerung der Tragödie, sondern träumte auch von einer, eine gesellschaftliche Praxis stiftenden Architektur, wohl wissend, wie schlecht sich eine solche Architektur mit der "künstlerischen" Praxis unserer Zeit verträgt. Uns fehlen die großen "Baumeister".

"Jetzt erlahmt die bauende Kraft; der Muth, auf lange Fernen hin Pläne zu machen, wird entmutigt; die organisatorischen Genies fangen an zu fehlen: -- wer wagt es nunmehr noch, Werke zu unternehmen, zu deren Vollendung man auf Jahrtausende rechnen müsste. Es stirbt eben jener Grundglaube aus, auf welchen hin Einer dergestalt rechnen, versprechen, die Zukunft im Plane vorwegnehmen, seinem Plane zum Opfer bringen kann, dass nämlich der Mensch nur insofern Werth hat, Sinn hat, als er ein Stein in einem großen Baue ist; wozu er zuallererst fest sein muss, "Stein" sein muss ... Vor Allem nicht -- Schauspieler! Kurz gesagt -- ach, es wird lang genug noch verschwiegen werden! Was von nun an nicht mehr gebaut wird, nicht mehr gebaut werden kann, das ist eine Gesellschaft im alten Sinne des Wortes; um diesen Bau zu bauen, fehlt Alles, voran das Material. Wir alle sind kein Material mehr für eine Gesellschaft: das ist eine Wahrheit, die an der Zeit ist! Es dünkt mich gleichgültig, dass einstweilen noch die kurzsichtigste, vielleicht ehrlichste, jedenfalls lärmendste Art Mensch, die es heute gibt, unsere Herrn Sozialisten, ungefähr das Gegenteil glaubt, hofft, träumt, vor Allem schreit und schreibt; man liest ja ihr Zukunftswort "freie Gesellschaft" bereits auf allen Tischen und Wänden. Freie Gesellschaft? Ja! Ja! Aber ihr wisst doch, ihr Herren, woraus man die baut? Aus hölzernem Eisen! Aus dem berühmten hölzernen Eisen! Und noch nicht einmal aus hölzernem..."17

Unsere Freiheit und was Nietzsche hier "eine Gesellschaft im alten Sinne des Wortes" nennt, lassen sich nicht zusammen leimen. Voraussetzung einer solchen Gesellschaft ist eben jener Grundglaube, dass unser Leben nur Wert hat, wenn wir uns als Teil eines uns umfassenden und den Platz anweisenden Ganzen verstehen können. Diesen Glauben hat uns unser Freiheitsbewusstsein genommen. Und doch träumen Viele immer noch von einer solchen Gesellschaft. Auch Nietzsche träumt nicht nur vom Labyrinth, einer Architektur die unseren labyrinthischen Seelen entsprechen würde, sondern auch von einer ganz anderen Architektur, träumt von Pyramiden, von Baumeistern die mit Jahrtausenden rechnen, träumt wie Platon von Ägypten. Und trägt dieser Traum nicht alle große architektonische Praxis?

"Die mächtigsten Menschen haben immer die Architekten inspiriert; der Architekt war stets unter der Suggestion der Macht. Im Bauwerk soll sich der Stolz, der Sieg über die Schwere, der Wille zur Macht versichtbaren; Architektur ist eine Art Macht-Beredsamkeit in Formen, bald überredend, selbst schmeichelnd, bald bloß befehlend. Das höchste Gefühl von Macht und Sicherheit kommt in dem zum Ausdruck, was großen Stil hat. Die Macht, die keinen Beweis mehr nötig hat; die es verschmäht, zu gefallen; die schwer antwortet; die keine Zeugen um sich fühlt; die ohne Bewusstsein davon lebt., dass es Wiederspruch gegen sie gibt; die in sich ruht, fatalistisch, ein Gesetz unter Gesetzen: Das redet als großer Stil von sich."18

Solche Träume von einer Architektur aus dem härtesten Stein, Metapher einer ähnlich harten Gesellschaft, sind Ausdruck eines in seinem Wesen verantwortungslosen Willens zur Macht, der nicht sieht, nicht sehen will, dass all unser Bauen willkürlich bleibt, so lange dieses nicht Antwort gibt auf etwas, das uns in Anspruch nimmt und unserem Bauen den Grund gibt. Ohne solche Verantwortung wird aesthetische Praxis anarchisches Gemächte, wird Freiheit Willkür.

Aber alle zur Willkür gewordene Freiheit ist schwer zu ertragen, wird zur Last. Eben diese schwer zu ertragende Freiheit führt zu Träumen von einer Architektur von härtestem Stein, schwer genug, um alle Freiheit zu erdrücken. So von Härte und Schwere Träumende versprach Hitler einst von der Freiheit zu befreien: "Die Vorsehung hat mich zu dem größten Befreier der Menschheit vorbestimmt. Ich befreie den Menschen von dem Zwange eines Selbstzweck gewordenen Geistes, von den schmutzigen und erniedrigenden Selbstpeinigungen einer Gewissen und Moral genannten Chimäre und von den Ansprüchen einer Freiheit und persönlichen Selbständigkeit, denen immer nur ganz wenige gewachsen sein können."19 Wie es uns auch die aesthetische Praxis so mancher Kunst- und Architekturschule jener Jahre zeigen kann, war dies kein eitles Versprechen. Lässt Moses zu lange auf sich warten, wird sich immer wieder ein Aaron finden lassen und ein Sinnstiftung simulierendes goldenes Kalb. Nietzsches Traum einer Gesellschaft stiftenden Architektur, Traum einer so verstandenen aeshetischen Praxis, ist Traum von architektonischer Praxis als Errichten eines solchen goldenen Kalbs. Dem Bauhaus war dieser Traum nicht eben fremd und auch Heidegger träumte ihn, auch er, wie der Nationalsozialismus, an das griechische Vorbild denkend. Ich erinnere noch einmal an den Untertitel dieses Vortrags: Vom Unbehagen an der Baukunst.

 

4. Wernigerode zum Beispiel

Aber was sagt uns heute noch Heideggers Reden vom Welt-aufstellenden Tempelwerk, von der werkhaften Erstellung des Heiligen im Errichten eines Standbilds?20 Was sagen uns noch griechischer Tempel und Bamberger Dom, die, wie Heidegger sagt, immer noch an ihrem Platz stehen mögen, aber deren Welt dennoch und unwiderruflich zerfallen ist?21 Wir wissen, wie schlecht sich unsere so mühsam errungene Freiheit, unsere geistige und körperliche Beweglichkeit, mit dem Aussehen unserer alten Städte verträgt, Städte denen Architektur, meist Kirchen, immer noch so etwas wie Mitte und Gesicht gibt? Immer wieder haben wir es so dem Auto erlaubt, solche Stadtbilder zu stören, manchmal auch zu zerstören. Wir mögen diese Entwicklung begrüßen oder beklagen, nicht leugnen lässt sich, dass in unserer Welt, deren Gestalt eine immer weiter fortschreitende Technik bestimmt, Architektur mehr und mehr von ihrer einstigen Aura verliert, weniger fähig ist, unserem Wohnen den Ort zu weisen, den Ort, der uns wirklich unseren Platz in einer Gesellschaft finden und so in der Welt zu Hause sein ließe. Und können wir diesen Ortsverlust, der doch nur ein Aspekt des von uns erwählten Lebensstils ist, beklagen? Müssen wir ihn nicht vielmehr begrüßen, trotz aller Vorbehalte, begrüßen als Preis des Fortschritts? Begrüßen um unserer größeren Beweglichkeit willen, einer Beweglichkeit, die sich nicht mehr trennen lässt von einer Freiheit, die Vielen heute zu einem unveräußerlichen Recht geworden ist? Wie hat das Flugzeug, wie wird der Computer unsere Raumerfahrung, die Bedeutung von Nähe und Ferne verändern? So manche gut erhaltene Stadt, immer noch bekrönt und gesammelt von Pfarrkirche oder Dom, erfahren wir heute als Museum. Sicher, es wird weiter Städte geben. Mehr und mehr Städte, immer größere Städte sogar. Mexico City, Tokyo, Los Angeles, das Ruhrgebiet lassen ahnen, was uns erwartet. Immer mehr wird die Stadt zu einem lose definierten Konglomerat leicht zu ersetzender Gebäude. In einer solchen Stadt wird Architektur zur im Grunde überflüssigen Dekoration.

Zusammengehalten wird eine solche Stadt vor allem durch ihre technische Versorgungsstruktur. Keine Spur hier von sinnstiftender Sammlung. Ist solche Sammlung überhaupt erwünscht? Wie vielsagend ist doch das von Heidegger in einem Brief an Jaspers zitierte Nietzsche-Wort: "Hundert tiefe Einsamkeiten bilden zusammen die Stadt Venedig -- dies ist ihr Zauber. Ein Bild für die Menschen der Zukunft."22 Nietzsches Venedig wurde Manfredo Tafuri zum Bild der Stadt der Zukunft, deren Konturen er in New York vorgezeichnet fand. Für Architektur in altem Sinne, für ihre ethische Funktion, ist in einer solchen Stadt kein Bedarf.

Ich sprach vom Unbehagen an der Architektur. Um Ihnen solches, immer auch von Nostalgie begleitetes, Unbehagen etwas näher zu bringen, hier ein Bild, das vor nicht zu langer Zeit eine Einladung zu einem anderen Symposion begleitete. Es zeigt eine der vielen mitteleuropäischen Kleinstädte, die sich ein Aussehen bewahren konnten, das seinen Platz in der modernen Welt eigentlich schon verloren hat. Wie um dies zu unterstreichen, zeigt unsere Zeichnung kaum etwas, das an unsere Zeit erinnert. Was sollte ich mit diesem Bild anfangen?

Der Eine oder Andere hier hat diese Stadt vielleicht schon besucht. Es handelt sich um Wernigerode, die von Hermann Löns besungene bunte Stadt am Harz mit ihren Fachwerkhäusern. Wir alle kennen den Zauber solcher Stadtbilder. Hier finden wir das Gegenbild der städtischen und vorstädtischen, besser "suburbanen" Umgebungen, die unser Wohnen heute immer mehr bestimmen. Wie nicht nur dieses Bild, sondern auch unser Bauen zeigt, begleitet immer noch so etwas wie Heimweh, Sehnsucht nach gesellschaftlicher Bindung und organisch gewachsenem Stadtbild, nach schützendem Giebeldach, modernes Leben. Solch Heimweh lässt uns träumen von einer Verbindung der Errungenschaften der Moderne mit nicht nur gebauten, sondern auch geistigen Schutzdächern aller Art.

Auch in unserer Zeichnung findet ein solches Heimweh seinen Ausdruck: denn, sehen wir genauer hin, ist dies nicht das Bild einer alten Stadt, so wie sie war, mit Fachwerkhäusern und verspieltem Rathaus, sondern zeigt einen behutsamen, in seiner Behutsamkeit zeitgemäßen Eingriff in eine solche Stadt. Die Gebäude hinter dem vorne links zu sehenden Fachwerkhaus, dem Gasthof Gotisches Haus, sind ein Versuch des Architekten Franz Demblin, einen für dieses historische Stadtbild wesentlichen Häuserblock in ein modernes Hotel mit 125 Zimmern umzugestalten. Der Architekt achtete darauf, dass solche Intervention das gerade für den erhofften Touristenstrom so wichtige, organisch gewachsene Stadtbild nicht empfindlich stören sollte. Mit seinem Turm stellt sich dieses Hotel in eine Reihe mit Pfarrkirche, Stadttor und Burg, soll im Konzert dieser turmreichen Stadt mitklingen. Der kleine Gasthof, der dem jetzigen Hotel seinen Namen gab, hätte es kaum gewagt, so aufzutreten. Er wusste, was sich gehörte. Nun will auch dieses moderne Hotel ein guter Nachbar sein. Und doch gibt die Tatsache, dass sich ein Hotel, ein Haus für ständig wechselnde Besucher, mit einem Turm zu putzen gedenkt.

 

5. Interessante Architektur

Mit seinem Turm ließ mich das Hotel Gotisches Haus an einen von Nietzsches Aphorismen denken: "Wir verstehen im Allgemeinen Architektur nicht mehr, wenigstens lange nicht in der Weise, wie wir Musik verstehen. ... An einem griechischen oder christlichen Gebäude bedeutete ursprünglich Alles Etwas, und zwar in Hinsicht auf eine höhere Ordnung der Dinge: diese Stimmung einer unerschöpflichen Bedeutsamkeit lag um das Gebäude gleich einem zauberhaften Schleier. Schönheit kam nur nebenbei in das System hinein, ohne die Grundempfindung des Unheimlich-Erhabenen, des durch Götternähe und Magie Geweihten, wesentlich zu beeinträchtigen; Schönheit milderte höchstens das Grauen, -- aber dieses Grauen war überall die Voraussetzung. -- Was ist uns jetzt die Schönheit eines Gebäudes? Das Selbe wie das schöne Gesicht einer geistlosen Frau: etwas Maskenhaftes."23

Nietzsche denkt hier an die Architektur seiner Zeit, die so oft mehr oder weniger gut funktionierende Bauwerke ästhetisch verkleidete. Die ästhetische Zutat sollte das Bauwerk mehr sein lassen als bloß ein gut funktionierendes Gebäude, erhob den Anspruch auf Kunst, eben auf Architektur. Aber ohne inneren Bezug zum steinernen Träger solcher Schönheit bleibt das ästhetische Addendum Maske.

Das griechische oder christliche Gebäude von dem Nietzsche hier spricht ist auch Metapher für das Weltgebäude. Auch an diesem "bedeutete ursprünglich Alles Etwas." Auch die Natur ist uns bedeutungsloser, stummer geworden. Dieser Verlust ist die Kehrseite des, von unserer Naturwissenschaft und Technik vorausgesetzten, Objektivität fordernden, Wirklichkeitsverständnisses. Dies musste die einstige Bindung der Schönheit an die Wirklichkeit lösen. Die Schönheit wird nun zu einer vom Subjekt einer in ihrem Wesen stummen Wirklichkeit aufgesetzte Maske, Architektur verstanden als aesthetische Praxis zur Maskenkunst.

Nun wehrt sich etwas in uns dagegen, der Naturwissenschaft so das letzte Wort lassen. Hat auch unsere Wissenschaft die Gott-bezogene geistige Welt, die uns einst Obdach bot, zur Ruine werden lassen, können wir doch versuchen, uns in den uns verbliebenen Trümmern häuslich einzurichten, versuchen in einer von unserer Wirklichkeit Abstand haltenden, mit vergangenen Kulturen spielenden Kunst, Ersatz zu suchen für das Verlorene, Zuflucht suchen in irgendeinem Hotel "Gotisches Haus", gut ausgestattet wie unser Hotel mit Diskothek, Bars und Konferenzräumen. Der Abglanz einer untergegangenen Welt wirft hier ein letztes Licht in unsere immer unwirklicher scheinende Wirklichkeit.

Gegen solche Verschönerungskunst richtet sich die postmoderne Kunst und Architektur, so wie, zum Beispiel, Lyotard sie versteht. Moderne und Postmoderne dürfen hier nicht als Gegensatz gedacht werden; die Postmoderne gehört zur Moderne und die Moderne lässt sich nach Lyotard nur vom Erhabenen, und das heißt auch, von der Heimatlosigkeit her verstehen.24 Was unterscheidet dann die postmoderne von der modernen Variante des Erhabenen? Den Unterschied sieht Lyotard darin, dass die moderne Kunst ihr Heimweh nach der verlorenen Mitte nicht abwerfen kann, nicht abwerfen will. So kommt es zu immer neuen nostalgischen Stellenbesetzungen, zu Träumen von griechischen Tempeln und gotischen Kathedralen, von Erkern und Linden-beschatteten Brunnen und zu Versuchen wenigstens etwas von diesen Träumen in die Gegenwart zu tragen, ein modernes Schwarzwaldhaus oder ein Hotel "Gotisches Haus" zu bauen. Moderne Kunst und Kitsch rücken hier eng zusammen. Um dieser Nähe zu entgehen, unterscheidet Lyotard zwei Spielarten der modernen Kunst, die eine bestimmt durch Melancholie, die andere spielfreudig, immer wieder Neues suchend. Auf die eine Seite stellt Lyotard die deutschen Expressionisten, auf die andere Braque and Picasso, auf die eine Seite Malewitsch, auf die andere den späten Lissitzky, auf die eine Seite de Chirico, auf die andere Duchamp.25 Diese Unterscheidung lässt sich auch auf die Architektur anwenden: Gehört heute nicht Ungers auf die eine, Graves auf die andere Seite.

Wie wir sahen, beruft sich Lyotard auf Kants Begriff des Erhabenen. Aber Kant verband das Erhabene mit einer sich durch das Moralgesetz selbst bindenden Freiheit. Lyotard löst diesen Bezug. Wie schon Schopenhauer und Nietzsche, so fehlt auch ihm, fehlt auch mir, Kants Glaube an die bindende Macht der reinen praktischen Vernunft. Und so feiert er novatio, die immer wieder Grenzen überschreitende, neue Spielregeln aufstellende schöpferische Freiheit des Künstlers, als eine Vermehrung des Seins und der Freude. So verstanden, muss sich eine postmoderne aesthetische Praxis immer wieder gegen ein Erbe stellen, das, angesichts der verlorenen Mitte, doch noch so etwas wie Heimat verspricht. Lyotard feiert so eine Freiheit, die alles was uns einen Platz anweisen will immer wieder in Frage stellt. Doch ohne Bindung an und durch die Wirklichkeit muss Freiheit in Willkür, muss die Ästhetik des Erhabenen in die Ästhetik des Interessanten umschlagen. Das gilt auch für die Architektur. Das Portland Building von Michael Graves, als "erstes Monument" einer postmodernen Architektur gefeiert, ist nicht schön, aber doch interessant, wie es die Diskussion, die es hervorrief, bewies.26 Eben dadurch wurden Architektur und Architekt richtungweisend.

 

6. Der Natur ein Fenster öffnen

Gerade weil Lyotards Versuch, die aesthetische Praxis unserer Zeit mit der Kategorie des Erhabenen zu erhellen, Wesentliches trifft, fordert er eine kritische Auseinandersetzung. Dass im 18. Jahrhundert die Kategorie des Erhabenen erst neben die des Schönen tritt, ihr dann sogar der Vorrang eingeräumt wird, gibt zu denken. Was geschah hier? Auch, dass dieser Unterschied im Laufe des 19. Jahrhunderts wieder unwichtiger wurde, wobei sich allerdings das Wesen des Schönen wandelte. Zwei Schönheiten lassen sich nun unterscheiden. Was die erste Schönheit von der zweiten trennt, ist das Erhabene. Getragen wird diese Entwicklung von einem gewandelten Verhältnis zur Natur. So lässt das Wort Schönheit noch Kant erst einmal nicht an Kunst, sondern an die Natur, immer noch gedacht als Schöpfung, denken. In der schönen Natur fühlen wir uns geistig zu Hause. Wir erfahren sie als zweckmäßig, als sinnvoll. Eben darum lässt sie uns an einen Gott denken, der sie uns als wahre Heimat schuf. In einer solchen von uns nicht geschaffenen Schönheit hat die Kunst ihr Vorbild, die hier nicht als ein selbstherrliches Gemächte verstanden werden darf, sondern als deutende Darstellung einer immer schon vorgegebenen und den Künstler in Anspruch nehmende Schönheit. Das lässt sich auch auf die Architektur übertragen: Vorbild wäre hier die göttliche Architektur der Welt.

Das Erhabene verbietet eine solche architektonische Praxis, erfahren wir doch jetzt die Natur, wie Kant sagt, als grässlich, chaotisch, zweckwidrig, uns unangemessen. So gibt uns die erhabene Natur zu verstehen, dass Sinn nicht in ihr, sondern nur im Menschen gefunden werden kann. Wir sind nicht zu Hause in der Wirklichkeit. Eben darum wurde Bataille die Kathedrale, deren Gesellschaft stiftende Schönheit auch er einst besungen hatte, zum Gefängnis. Architektur, so heißt es nun, sperrt ein und verdient es deshalb, zerstört zu werden, auch wenn solche Zerstörung Chaos und Bestialität droht. "Es ist evident," so Bataille, "dass Monumente gutes gesellschaftliches Benehmen und oft sogar wirkliche Furcht auslösen." Aber all dies zugegeben, heißt das auch, dass Architektur abgeschafft werden sollte? Leidet diese Gesellschaft, leidet unsere Welt an einem Überfluss an gutem Benehmen? Wie Bataille so klar erkannte, der Widerwille gegen die uns angeblich beherrschende Architektur ist auch ein Widerwille gegen unser an die Wirklichkeit immer schon gefesseltes Ich. Gerade dies, meint Denis Hollier, hatte Bataille mit seinem Acephalus zeigen wollen: wer die Fesseln der Architektur abwerfen will, muss erst seinen Kopf verlieren. "Der Maler André Masson zeichnete diese Figur, und Bataille schrieb den dazugehörenden Aphorismus. 'Der Mensch wird seinen Kopf verlieren, so wie der Zuchthäusler seinem Zuchthaus entkommt.'"27 Dieses Gefühl der geistigen Heimatlosigkeit in einer Wirklichkeit, die obwohl sinnlos, uns dennoch fesselt, wäre, folgen wir Lyotard, Voraussetzung jeder wirklich modernen aesthetischen Praxis.

So verstanden ist Schopenhauers Aesthetik beispielhaft modern: die Wirklichkeit wird ihm zur Folterkammer. Im Erhabenen kämpfen "der ungestüme und finstere Drang des Wollens (bezeichnet durch den Pol der Genitalien als seinen Brennpunkt)," der uns immer wieder in diese Folterkammer zurückführt, und das "ewige, freie, heitere Subjekt des reinen Erkennens (bezeichnet durch den Pol des Gehirns)," das den schönen Schein an die Stelle der Wirklichkeit treten lässt. 28 Das so verstandene Schöne will nicht die Wirklichkeit umarmen, sie nicht verwandeln, sondern will Abstand von ihr halten. Der schöne Schein soll Ersatz bieten für eine Erlösung, an die wir modernen Menschen nicht mehr glauben können.

Die Griechen verstanden das Schöne als Ziel des Eros, wussten um seine sinnlich-erotische Macht. Und noch Burke weiß um den Bezug von Eros und Schönheit. Schopenhauer löst diesen Bezug mit einer Entschiedenheit, über die sich Nietzsche später lustig machen sollte. "Über wenig Dinge redet Schopenhauer so sicher wie über die Wirkung der ästhetischen Kontemplation: er sagt ihr nach, dass sie gerade der geschlechtlichen 'Interessiertheit' entgegenwirke, ähnlich also wie Lupulin und Kampher, er ist nie müde geworden, dieses Loskommen vom 'Willen' als den großen Vorzug und Nutzen des ästhetischen Zustands zu verherrlichen."29 So verspricht die moderne Kunst immer wieder, uns von der Wirklichkeit zu befreien. Dass die so verstandene aesthetische Praxis mit der immer an die Wirklichkeit gebundenen Architektur wenig anzufangen weiß, ist zu erwarten.

Nietzsche versteht eine solche Kunst -- folgen wir Lyotard, die einzige wirklich zeitgemäße Kunst -- als eine Kunst des Abends und träumt von einer glücklicheren, höheren Kunst.

"Man sagt mir, unsere Kunst wende sich an die gierigen, unersättlichen, ungebändigten, verekelten, zerquälten Menschen der Gegenwart und zeigt ihnen ein Bild von Seligkeit, Höhe und Entweltlichung neben dem Bilde ihrer Wüstheit: sodass sie einmal vergessen und aufatmen können, ja vielleicht den Antrieb zur Flucht und Umkehr mit aus jenem Vergessen zurückbringen."30

Nietzsche aber hört lieber auf den Leben und Liebe bejahenden Barock, auf Corneille und Madame de Sévigné, zum Beispiel: "Wie anders liebten er und sie das Dasein, nicht aus einem blinden wüsten 'Willen' heraus, den man verflucht, weil man ihn nicht zu töten vermag, sondern als einen Ort, auf dem Größe und Humanität mitsammen möglich sind und wo selbst der strengste Zwang der Formen, die Unterwerfung unter eine fürstliche und geistliche Willkür weder den Stolz, noch die Ritterlichkeit, noch die Anmut, noch den Geist aller Einzelnen unterdrücken können, vielmehr als ein Reiz und Sporn des Gegensatzes zur angeborenen Selbstherrlichkeit und Vornehmheit, zur ererbten Macht des Wollens und der Leidenschaft empfunden werden."31

Voraussetzung der höheren Kunst, die Nietzsche vorschwebt, ist ein Heraustreten aus dem Schopenhauerschen Schatten, ist die Liebe zum Dasein. Und nach dem Tode Gottes heißt das auch die Bejahung jenes schrecklichen, von keinem höheren Sinn erhellten Grundtextes homo natura: "Den Menschen nämlich zurückübersetzen in die Natur; über die vielen eitlen und schwärmerischen Deutungen und Nebensinne Herr werden, welche bisher über jenen ewigen Grundtext homo natura gekritzelt und gemalt wurden"32: das ist unsere Aufgabe. Was für eine architektonische Praxis würde einer solchen, übersetzenden Praxis entsprechen? Dazu ein letzter Hinweis.

Schon einmal zeigte ich Frank Gehry's Weisman Museum in Minneapolis als Beispiel der von Nietzsche beklagten maskenhaften Schönheit unserer Architektur. Eine solche Maske als Maske verstehen, heißt auch aufmerksam werden auf den lockeren Bezug von Ornament und Ornament-Träger. Diese, besonders bei Sonnenuntergang blendend spiegelnde Architektur ist nun nicht eine Version der von Bloch beschworenen Utopie Todeskristall. Und doch erinnert auch diese Architektur an jene schon zitierten Sätze im Philebos, in denen Platon von der zeitlosen Schönheit mechanisch produzierter Formen spricht. Nun drängt sich mir gerade bei dieser Fassade die Frage auf: wie wird sie in zehn, in hundert Jahren aussehen? Angesichts solch einer kristallenen Schönheit mag eine solche Frage fast unangemessen scheinen. Was hat eine solche Architektur mit der Zeit zu tun? Aber eine Architektur, die dem ganzen Menschen gerecht werden will, muss auch dem Tod gerecht werden, muss sich auch der Erde und der Zeit öffnen. Und es kommt auch zu solch einer Öffnung in diesem Museum, obwohl Gehry, wie er mir sagte, für diese, nur provisorische Seite des Museums, die es der Universität von Minnesota zukehrt, keine Verantwortung trägt. Die stählerne Maske der Fassade ist hier kaum zu sehen. Was uns anspricht, ist vielmehr der Kontrast zwischen dem fast stummen Backstein-Rechteck, das in bescheidenen Buchstaben den Namen des Museums trägt, und der grauen Wand darunter, und noch weiter unten, ein Miniaturfeld mit dunkler Erde und in diesem Bild längst schon geerntetem und vergilbtem Mais, dessen gelbe Stängel Antwort geben auf das Gelb des drüberstehenden Wortes CULTIVATE, das sich uns aufdrängt, als wäre es der Titel eines Gedichts. Kein Zweifel, das Wort soll uns an die Bedeutung, die der Maisanbau gerade für diesen Staat besitzt, erinnern. Aber wohl auch daran, was es heißt, ein Feld zu bebauen, auch heute noch, wo die Technik auch die Landwirtschaft Abstand von der Erde nehmen lässt. Und doch muss die Erde immer noch bearbeitet, muss das aufgehende Korn immer noch gepflegt werden, in der Hoffnung auf eine gute Ernte, eine Ernte die ungeachtet all dessen, was Technik heute vermag, doch immer noch auch ein Geschenk bleibt. Mit dieser Rückseite öffnet diese Architektur der Natur ein Fenster. Und vielleicht dürfen wir sie so als einen bescheidenen Wegweiser verstehen. Sie weist auf eine Architektur, deren Aufgabe es nicht wäre, die Wirklichkeit aesthetisch zu verkleiden; auch nicht in einer lebensfremden Utopie so etwas wie Erlösung von einer Wirklichkeit zu suchen, die Technik, Reklame und Kunst mit ihrer Umarmung schon fast erstickt haben; auch nicht eine neue Wirklichkeit zu stiften. Sondern diese Wirklichkeit aufzureißen; in ihr ein Fenster zu öffnen, so dass wir wieder etwas von jenem belebenden Zug zu spüren bekommen, der von der Natur in unsere Welt hineinweht.

 

Anmerkungen

1 Kant, "Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis" A 201.

2 Kant, Kritik der Urteilskraft A 5.

3 Vgl. Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, 5. Auflage, Frankfurt am Main 1981, S. 345.

4 Ebda., S. 26.

5 Vgl. Martin Heidegger, "Die Frage nach der Technik", in Die Technik und die Kehre, Pfullingen 1962.

6 Aristoteles, Poetik 1447 a 10-11. Siehe Ernesto Grassi, Die Theorie des Schönen in der Antike, Köln, 1962, S. 118-122.

7 Platon, Symposion, 205b-c.

8 Heidegger, "Die Frage nach der Technik", S. 11.

9 Poetik 1448 a 1-5.

10 Grassi, S. 141.

11 Sophistes 265a, 266c-d.

12 Philebos 51c-d.

13 Nomoi 656d-657a.

14 Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung, Frankfurt am Main 1980, S. 846-847.

15 Grassi, S. 162-127.

16 Nikomachische Ethik 1120a2-6

17 Die fröhliche Wissenschaft, V, 356.

18 Götzendämmerung, Streifzüge eines Unzeitgemäßen, 11.

19 Hermann Rauschning, Gespräche mit Hitler, zitiert in Die Bildenden Künste im Dritten Reich. Eine Dokumentation von Joseph Wulf. Hamburg 1966, S. 12.

20 Martin Heidegger, "Vom Ursprung des Kunstwerks," Holzwege, Frankfurt am Main 1950, S. 33.

21 Ebda. S 30.

22 Brief an Karl Jaspers vom 12. August 1949, in Martin Heidegger, Karl Jaspers: Briefwechsel 1920-1963. Hrsg. Walter Biemel und Hans Saner, Frankfurt am Main, 1990, S. 181.

23 Menschliches, Allzumenschliches, I, 217.

24 Jean-François Lyotard, "Answer to the Question: What is the Postmodern", in The Postmodern Explained, Minneapolis, 1993, S. 10.

25 Ebda, S. 13.

26 Vgl. Karsten Harries, "Modernity's Bad Conscience", AA Files, 10, 1985, S. 53-60.

27 Denis Hollier, Against Architecture, Cambridge, Mass., 1989,. S. xxi.

28 Die Welt als Wille und Vorstellung , Erster Band, Wiesbaden 1965, S. 239.

29 Zur Genealogie der Moral, "Dritte Abhandlung: Was bedeuten asketische Ideale?" 6.

30 Morgenröthe 3, 191.

31 Ebda.

32 Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, 230.

feedback