Zum Interpretieren von Architektur
Konkrete Interpretationen

13. Jg., Heft 1, Mai 2009

 

___Claus Dreyer
Detmold
  Interpretation von Architektur als semiotisches Programm
Zu Gregor Schneiders „Cube“ in Hamburg 2007

 

    1.         Die Semiotik als die Wissenschaft von den Zeichen, ihren Vorkommen, Anwendungen und Wirkungen in kommunikativen Zusammenhängen aller Art, hat als eines ihrer Hauptbetätigungsfelder die Interpretation von Zeichen, -komplexen und -prozessen zum Gegenstand (vgl. Posner u. a. 2003), und in der semiotischen Beschäftigung mit der Architektur nimmt die Interpretation von architektonischen Situationen und Objekten eine demgemäß zentrale Rolle ein. Auch wenn die Theorie der Interpretation dabei oft stärker im Vordergrund steht als die Praxis der Interpretation, lassen sich doch einige beispielhafte Anwendungen finden, aus denen typische Vorgehensweisen einer semiotisch orientierten Interpretation ableiten werden können (vgl. Dreyer 1998). Generell kann man sagen, dass aus semiotischer Sicht der Architektur eine Zeichenkonzeption zugrunde gelegt wird, über der die jeweiligen Interpretationen entwickelt werden können (hier eine „triadische“ Konzeption; vgl. dazu ausführlich Dreyer 2003 a):

Die Arbeit der Interpretation besteht nach diesem Modell darin, die Beziehungen zwischen Formen, Funktionen und Bedeutungen der architektonischen Zeichen zu ermitteln und sie, wenn möglich, in einer Synthese zu vereinigen. Während in der klassischen modernen Architektur der Weg zur Bedeutung notwendig von der Funktion ausgehend über die Form führen sollte, hat sich in der spät- und nachmodernen Architektur dieser Bezug gelockert und die Form soweit verselbständigt, dass sie Bedeutungen unabhängig von der Funktion oder manchmal sogar gegen sie kommunizieren kann (vgl. Dreyer 2003 b); das ist ganz besonders bei Gebäuden mit offenen oder künstlerischen Funktionen der Fall (wie in unserem Beispiel im 2. Abschnitt).

Für den semiotischen Interpretationsansatz kommen vor allem drei Fragestellungen in Betracht:

1.      Welche Zeichen kommen vor, und was bedeuten sie? Hier kann alles, von der Großform bis zum kleinsten Detail, als Zeichen gedeutet werden, vorausgesetzt, dass es an einem physischen Träger intersubjektiv identifizierbar ist und dass ein kulturelles „Diskursfeld“ existiert, an dem die Deutung anschließen kann (vgl. zum „Diskursfeld“ in anderer Terminologie Danto 1981). Das „Diskursfeld“ wird in der Architektur durch die Bau-, Kunst- und Kulturgeschichte sowie durch die zugehörige Theorie und Kritik abgesteckt, und die Grenzen der Kompetenz auf diesen Gebieten sind auch die Grenzen der Interpretation.  

2.      Ein zentrales Thema der Architektursemiotik ist die Bestimmung und Deutung von „Codes“, die in der Gestaltung eines Objekts gefunden werden können. Ein „Code“ ist ein System oder Teilsystem von Zeichen, das einen geregelten Zusammenhang von Zeichen, Bedeutungen und Interpretationen besitzt und auf sozialen Konventionen oder Normierungen beruht (vgl. dazu Eco 1968: 325 ff). In der Architektur lassen sich ikonologische, typologische, stilistische, regionalistische, individualistische u. ä. Codes unterscheiden, eine besondere Rolle spielt der Unterschied zwischen elitären und populären Codierungen (Jencks 1977). Die Bestimmung von „Codes“ stellt das jeweilige Objekt vor einen Bedeutungshorizont, der Zusammenhänge mit größeren kulturellen Gegenständen und Prozessen erhellt. In der spät- und postmodernen Architektur ist es die spezielle Mischung und Überlagerung von Codes, die zu einer komplexen und mehrschichtigen Bedeutung führt.  

3.      Auch das alte Thema einer „Symbolik der Architektur“ wird von der Semiotik fortgeführt und in einen stringenteren Zusammenhang gebracht: Symbole sind demnach Zeichen, die eine besonders tief verankerte Bedeutung im sozialen, kulturellen und historischen Prozess haben, und die dazu dienen, wichtige ideelle Inhalte in konzentrierter Form auszudrücken. In seiner „Logik der Baukunst“ hat Christian Norberg-Schulz die „kulturelle Symbolisierung“ zu einer der Hauptaufgaben der Baukunst erklärt (Norberg-Schulz 1963), die darin bestehen soll, dass zwischen einer Bauaufgabe, den darin enthaltenen ideellen Gehalten und jeweils angemessenen kulturell tradierten Formen eine Synthese hergestellt wird, die auf einer „strukturellen Ähnlichkeit“ zwischen den beteiligten Polen beruht. Das Ergebnis sollen architektonische „kulturelle Symbole“ sein, die zusammen mit anderen hoch bewerteten kulturellen Gegenständen das „Symbolmilieu“ (Norberg-Schulz 1963: 178) einer Gesellschaft bilden, in dem sich die Mitglieder über wesentliche Werte und Sinngehalte miteinander verständigen und vereinigen. Die Identifikation von solchen kulturellen Symbolen stellt eine der vornehmsten Aufgaben der Architektursemiotik dar (vgl. Dreyer 2003 c).

Im Folgenden sollen diese drei Fragestellungen an einem markanten künstlerisch-architektonischen Objekt abgearbeitet werden und zugleich beispielhaft zeigen, was eine so verstandene semiotisch orientierte Architekturinterpretation zu leisten vermag.


 

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Abbildung 1:
Gregor Schneider,
Cube, Hamburg 2007

  2.         Auf Einladung der Biennale in Venedig 2005 hatte Gregor Schneider einen spektakulären „Schwarzen Kubus“ entworfen, der in seiner Größe, Farbe und Proportion an die „Kaba“ in Mekka erinnerte und auf dem Markusplatz aufgestellt werden sollte. Aus Sicherheitsgründen wurde die Realisierung des Projekts von den städtischen Behörden abgelehnt, und nach einer erneuten Ablehnung der Realisierung im „Museum der Gegenwart Hamburger Bahnhof“ in Berlin 2006 aus den gleichen Gründen konnte der Entwurf im Sommer 2007 in Hamburg auf dem Platz zwischen der Kunsthalle und der neuen „Galerie der Gegenwart“ ausgeführt werden. Das Objekt hatte die Maße von vierzehn mal dreizehn mal dreizehn Metern und bestand im Inneren aus einer aufwändigen Gerüstkonstruktion, die mit Platten verschalt und mit schwarzem Textil bespannt war. Um die Unterkante des Bauwerks lief ein niedriger schräger Sockel, der statischen und verkleidungstechnischen Gründen diente. Es gab keinerlei Öffnungen zum Gebäudeinneren, und auch sonst war der Baukörper völlig ungegliedert. Gemäß unseren vorherigen Überlegungen sollen zunächst verschiedene Zeichen identifiziert werden, dann die Codes, derer sich der Entwurf bedient, bestimmt und schließlich der symbolische Charakter des Ganzen gedeutet werden.


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Abbildung 2:
Gregor Schneider,
Cube Detail, Hamburg 2007
  2.1       Zunächst fällt die Großform des Würfels ins Auge, die sich aus mehreren (genau sechs) nahezu quadratischen Begrenzungsflächen zusammensetzt, die einander rechtwinklig zugeordnet sind. Das Quadrat und damit auch der Würfel ist eine geometrische Idealform, die große Regelmäßigkeit und Harmonie ausdrückt: gleiche Seitenlängen, gleiche Winkel, mehrfache Symmetrien, Vierzahl (hälftig erweitert Sechs und verdoppelt Acht) als Ordnungsschema, ausgeglichene Vertikal- und Horizontalbeziehungen sowie Diagonalenschnittpunkte als Mittenbetonung, zeugen von Ruhe und Ausgewogenheit: „Das Quadrat ist die extremste Verdichtung einer in sich abgeschlossenen räumlichen Idee“ (Wersin 1956: 30). Gleichzeitig sind das Quadrat und die Vierzahl symbolisch geladen und verweisen in der christlichen Tradition auf das Heilige und die Schöpfung des Universums (vgl. dazu Naredi-Rainer 1982: 66 ff).
Die Größe und Proportion des Würfels steht im Kontrast zu den beiden flankierenden Gebäuden, die wesentlich größer dimensioniert, dafür aber auch sehr viel stärker gegliedert sind. Schneiders Bau wirkt leichter und überschaubarer, wobei seine ungegliederte flächige Homogenität eine blockhafte Kraft ausspielt. Dieser Ausdruck wird erheblich unterstützt durch die schwarze Farbe und das textile Material der Verkleidung.
Es gibt wenige Gebäude, die völlig schwarz sind, und wenn das der Fall ist wie bei einigen modernen Entwürfen, wird die Farbe gebrochen durch glänzende oder reflektierende Materialien, die ein Spiel von Nuancen, Valeurs und Licht erzeugen. Bei Schneider wurde durch die stumpfe und raue Oberfläche der textilen Verkleidung jede Reflexion vermieden, ein Spiel von Licht und Schatten war nicht möglich. Lediglich einige Spuren von handgreiflichen Kontaktaufnahmen mit dem Objekt in der Textur der Bespannung störten die Neutralität der schwarzen Flächenwirkung und verwiesen auf eine lebendige Anteilnahme der Besucher und Betrachter (der vielleicht auch rituelle Bezüge haben könnte).

Schwarz als eine der „unbunten“ Farben, die aus der subtraktiven Mischung der Spektralfarben entsteht und im Gegensatz zum Weiß das Verschwinden des Lichts bedeutet, steht für Vergänglichkeit, Trauer und Ende: „Und wie ein Nichts ohne Möglichkeit, wie ein totes Nichts nach dem Erlöschen der Sonne, wie ein ewiges Schweigen ohne Zukunft und Hoffnung klingt innerlich das Schwarz ... Das Schwarz ist etwas Erloschenes, wie ein ausgebrannter Scheiterhaufen, etwas Unbewegliches, wie eine Leiche, was zu allen Ereignissen nicht fühlend steht und alles von sich gleiten lässt. Es ist wie das Schweigen des Körpers nach dem Tode, dem Abschluß des Lebens. Das ist äußerlich die klangloseste Farbe, auf welcher deswegen jede andere Farbe, auch die am schwächsten klingende, stärker und präziser klingt.“ (Kandinsky 1952: 98) In unserer Kultur bezeichnet das Schwarz allerdings nicht nur Trauer und Tod, sondern auch, vielleicht aufgrund der von Kandinsky genannten farbsteigernden Wirkung, andere herausragende offizielle Festlichkeiten, Feiern und Rituale, die bis in die Mode hinein wirken und dort beispielsweise einen eigenen Dress-Code erzeugt haben (was in der verhüllenden Bespannung anklingen könnte).

Die Platzierung des schwarzen Kubus mitten zwischen den beiden anderen Gebäuden auf einem (schon vorher vorhandenen) mächtigen Granitsockel verwies auf seine herausgehobene Bedeutung: links der strenge monumentale weiße Kubus der „Galerie der Gegenwart“ von Ungers, rechts die historistische backsteinrote Kunsthalle, gaben einen würdevollen Rahmen für den erratischen Block, der dort „gelandet“ zu sein schien (vgl. den Hinweis auf Stanley Kubrick in Abschnitt 2.3). Seine Besonderheit wurde noch einmal unterstrichen durch seine Ausrichtung: er stand nicht in der Flucht mit den beiden flankierenden Gebäuden, sonder war so gedreht, dass seine Front „aus der Reihe tanzte“ und nach Südosten wies. Auch wenn dieser formale Hinweis schon genügt hätte, um darin etwas Signifikantes zu sehen, wird hier ein deutlicher Index gesetzt: der Block richtete sich gen Mekka und nahm deshalb einen viel sagenden Bezug auf.

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Abbildung 3:
Cube, 59th Street, New York 2006
(aus Schlenzka/Biesenbach 2006:6)
  2.2       Die verschiedenen zeichenhaften Elemente in Gregor Schneiders Kubus lassen sich mehreren Codes zuordnen, die miteinander kombiniert und zu einem mehrdeutigen Ganzen verbunden werden. Da ist zuerst der Code der alltäglichen oder trivialen Kisten-, Schuppen- und Container-Architektur, wie sie auf Baustellen, Abstellplätzen oder Lagerflächen vorkommen und ohne tiefere Gestaltungsabsicht in diversen Materialien und konstruktiven Ausführungen realisiert werden. Dabei gibt es sogar Beispiele, die dunkle Folien oder Planen als Verkleidung verwenden, und damit in die Nähe von Schneiders Entwurf kommen (vgl. Schlenzka/Biesenbach 2006: 6 ff).

Auch wenn die Nähe zu diesem Alltags-Code von Schneider wohl nicht intendiert war, spielt sie für die Interpretation eine herausragende Rolle. Sie stellt den Pol dar, der nahe an der Bedeutungslosigkeit liegt: die Kiste könnte eine einfache Funktion haben und sich wie selbstverständlich in die Alltagswelt integrieren. Sie reduziert damit die Bedeutungsfülle, die in den anderen hier mitrealisierten Codierungen liegt und erzeugt dadurch eine ambivalente Spannung.
Den anderen Pol stellt zweifellos der architektonische Code dar, der von Schneider bewusst verwendet wird: die kubischen und, im engeren Sinne, auch quadratischen Formen in der Architektur. Seit der Antike ist es der Sakralbau, der Quadrat und Kubus als Grundform für Tempelanlagen, Gräber und Altäre verwendet, und seit der Renaissance dringen diese Formen auch in alle anderen Bauaufgaben des profanen Bereichs vor. Im Klassizismus werden sie im Kleinen wie im Großen systematisch variiert und differenziert (vgl. dazu Tzonis/Lefaivre 1987:133 ff), um dann in der Moderne zu einer der paradigmatischen Grundformen überhaupt zu werden (vgl. Fonatti 1982: 66 ff).
Für einen spätmodernen Architekten ist dieser Code geradezu zum Personalcode geworden: Oswald Mathias Ungers, der in seinem Spätwerk die Gestaltung aller seiner Projekte aus dem Quadrat und dem Kubus ableitete, und dessen unmittelbar benachbarte Hamburger „Galerie der Gegenwart“ für Schneider eine starke Referenz darstellte.

Die ursprünglich dominierende sakrale Konnotation wird später vom allgemein Repräsentativen und in der Moderne vom programmatischen Formalismus überlagert, ohne dass die alten Bedeutungsschichten ganz verloren gehen (z. B. Gropius 1919). Dass Schneiders Kubus in diesem Kontext die Grundform der „Kaba“ in Mekka zitiert, gehört zu seinem Programm und gibt ihm die signifikante Erscheinung. Allerdings muss hier darauf hingewiesen werden, dass sich durch das Werk von Gregor Schneider die Thematik des Würfels in vielen Varianten zieht und fast den Status eines „Personalcodes“ erreicht (vgl. Heynen/Kölle 2007). Immer wieder hat er Kuben entworfen und realisiert und dabei auf Bedeutungen angespielt, die mit Isolation, Vergänglichkeit und Tod zu tun haben. Dass diese persönliche Bedeutungsschicht zur historischen Konnotation des Würfels passt, gibt Schneiders Arbeit eine besondere Kapazität.
 
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Abbildung 4:
Kasimir Malewitsch, Schwarzes Quadrat, Version von 1923


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Abbildung 5:
Allan McCollum, Collection of Twenty Plaster Surrogates, 1982/84


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Abbildung 6:
Sigmar Polke, Höhere Wesen befahlen: rechte obere Ecke schwarz malen! 1969


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Abbildung 7:
Imi Knoebel, Schwarzes Quadrat
auf Buffet, 1984


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Abbildung 8:
Donald Judd, Ohne Titel, 1984
  Ein weiterer Code, der hier von Schneider verwendet wird, ist der artistische Code der klassischen Moderne: Abstraktion, Reduktion und Minimalismus. Das Hamburger Projekt von 2007 war eingebettet in eine große Ausstellung mit dem Titel: „Das Schwarze Quadrat. Hommage an Malewitsch“, in der das berühmte Schlüsselwerk von Malewitsch selbst in seinem künstlerischen Umfeld gezeigt und dann an vielen Beispielen dessen Nachwirkung in der Kunst der Moderne dokumentiert wurde (vgl. Gassner 2007).

Das Bild zeigt einmal das absolute Nichts in seiner Reduktion auf die reine Grundform und die Materialität der (Nicht-)Farbe Schwarz, soll aber zum anderen hinter dieser Negativität auf ein erfülltes Nichts der transzendenten Vollkommenheit verweisen, die sich erst in einer „Neuen Zeit“ verwirklichen kann: „Für ihn war das Durchschreiten des Schwarzen Quadrats das Transzendieren einer magischen Schwelle, ein Sturz durch das schwarze Fenster in eine weiße Welt, die jenseits der Kunstgeschichte und ihrer Fortsetzungsromane wirkt“ (Hansen-Löve 2007: 199). Darüber hinaus nimmt Malewitsch Bezug auf die traditionelle russische Ikonenmalerei mit ihren schwarzen Hintergründen, wobei sich hier der Hintergrund in ikonoklastischer Manier verselbständigt und den nicht mehr darstellbaren Gott bildlos vergegenständlicht (vgl. Hansen-Löve 2007: 196). Die von Malewitsch selbst so bezeichnete „Ikone des Suprematismus“, „das letzte Bild der Kunstgeschichte, also des ikonischen, christologischen, logozentrischen Bundes zwischen Bild und Welt, Zeichen und Ding – ist zugleich das erste Ding des Dritten Bundes, des pneumatischen Äons, da die Inkarnationstheologie, die Verkörperung des Logos im Fleische in Richtung einer reinen Indexikalität überwunden wird: Insofern ist das Schwarze Quadrat ... die letzte Ikone und die erste Null-Formel einer symbolischen wie materiellen Absenz, die für den Sehenden in die Fülle reiner Evidenz umkippt.“ (Hansen-Löve 2007: 197) Mit dieser Spannung zwischen Nichts und Fülle, Profanität und Sakralität, Form und Symbol, ist das Bild zu einer „Ikone der Moderne“ geworden, die bis zum heutigen Tag in Inhalt, Form und Ausstrahlung vielfältig zitiert, variiert und neu gedeutet wird.

Das „Schwarze Quadrat“ wird dabei sowohl formalästhetisch wie auch inhaltlich rezipiert und jeweils mit neuen Bedeutungsaspekten verknüpft, ohne dass die alten dabei ganz verloren gingen. Aus den vielen Beispielen seien hier nur einige herausgegriffen, die diesen Vorgang verdeutlichen können. So scheint Allan McCollum mit seiner Sammlung schwarzer Rechtecke und Quadrate auf den Bedeutungsverlust des Kunstwerks im „Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ anzuspielen (Bejamin 1936), in dem der Kultwert durch den Austellungswert ersetzt wird, während Sigmar Polke den Kult um das Schwarze Quadrat überhaupt infrage stellt und ironisiert.

Und auch in der Installation von Imi Knoebel, der ein kleines schwarzes Quadrat auf einen überdimensionierten Sockel stellt, auf dem auch noch ein banales Päckchen und ein weiteres Brett stehen, hinterfragt die sakrale Aura des Originals: „Die übergroße Höhe des Sockels lässt den kunstgeschichtlichen Heroen jedoch unerreichbar werden, sodaß sich ... eine ambivalente Aussage einstellt. Knoebel spielt mit einer gewissermaßen postmodernen Brechung auf die Verehrung und Selbststilisierung Malewitschs an“ (Hemken 2007: 210).

Die vier offenen Metallkuben von Donald Judd scheinen jeden offensichtlichen Bezug zu bedeutungsvollen Inhalten zu verweigern und allein einer formalen rationalen Logik zu folgen, aber im hier gezeigten Kontext erhalten sie sehr wohl eine Position in derjenigen Tradition der Moderne, die als „Minimalismus“ ihre Wurzeln im „Suprematismus“ hat.

In der radikalen Vereinfachung können und sollen sich solche Wirkungen zeigen, die die einfache Realität transzendieren und auf ein neues „Reich der Möglichkeiten“ verweisen. Damit stehen Judds Kuben dem architektonischen Code der quadratischen Formen nahe und  markieren die Schwelle zur räumlichen Gestaltung mit sakraler Bedeutung, an der Schneider mit seiner Arbeit ansetzte.


2.3       Schließlich soll der Frage nachgegangen werden, ob es sich bei Gregor Schneiders Kubus um eine „kulturelle Symbolisierung“ von Werten handelt, die in unserer gegenwärtigen Gesellschaft hoch angesehen sind. Wie eingangs ausgeführt, müsste dazu mit Norberg-Schulz (1963, 1967) eine „strukturelle Ähnlichkeit“ zwischen Form und Inhalt eines Werks bestehen und außerdem garantiert werden, dass die verwendeten Formen einem kulturell etablierten Symbolsystem angehören. Der Inhalt, normalerweise in der Architektur die Funktion oder die Bauaufgabe, ist bei Schneider ein ausschließlich künstlerischer. Er möchte mit seinem temporären Gebäude im Rahmen einer thematischen Ausstellung Wahrnehmungen, Assoziationen und Denkprozesse auslösen, die nach Bedeutung und Sinn einer solchen Installation fragen, ohne dass eine eindeutige Antwort bereits gegeben würde. Mit der Form und Farbe des Objekts wird dieser Prozess aber in eine bestimmte Richtung gelenkt, weil sie einem in unserer Kultur etablierten Symbolsystem (d. h. den Codes) der sakralen Bauten und der die Realität transzendierenden Kunstformen angehören. Mit der Nähe zum „Schwarzen Quadrat“ von Malewitsch, der strukturellen Ähnlichkeit mit der „Kaba“ in Mekka und nicht zuletzt einer fernen Verwandtschaft mit dem rätselhaften schwarzen Quader in Stanley Kubricks Film „2001 – Odyssee im Weltenraum“ (Hinweis bei Schlenzka/Biesebach 2006: 8) ist diese Zugehörigkeit verbürgt, die durch die vor allem Tod, Vergänglichkeit und auch Ewigkeit symbolisierende Qualität der Farbe Schwarz unterstützt wird. Dieses prägnante Symbolsystem wird konterkariert von einem trivialen und im artistischen Bereich ironisierenden Symbolismus, der die „Kiste“ als vielfältige Gebrauchsform im Alltag erkennt oder das schwarze Quadrat als artistisches Element für kritische Kommentare und spielerische Interventionen im Kunstbetrieb verwendet. Daraus ergibt sich eine symbolische Ambiguität, die man als „Mehrfachcodierung“ im postmodernen Sinne lesen und deuten kann (vgl. dazu Jencks 1977): das sakrale und das profane Symbolsystem überlagern sich zur komplexen Symbolisierung eines Wertepluralismus, der sich jeder einseitigen Vereinnahmung entzieht. Die symbolisierten Werte gehören in den höchsten Wertebereich unserer Kultur, und sie werden in der für uns charakteristischen Dialektik bezeichnet: Religion und Säkularität, Kunst und Alltäglichkeit, Immanenz und Transzendenz, Tradition und Avantgarde, Toleranz und Prinzipientreue, Ernsthaftigkeit und Kritik. Damit kommt Schneiders Kubus in der gegenwärtigen Auseinandersetzung zwischen den Kulturen (hier besonders zwischen der westlichen und der orientalischen) ein besonderer Stellenwert zu: auch und gerade als temporäres Bauwerk symbolisiert er zugleich die Möglichkeit einer Gemeinsamkeit von Grundwerten zwischen den Kulturen, wie auch die Schwierigkeit, zu einer solchen Gemeinsamkeit zu kommen und zu stehen. In der Sprache der Kunst kann Schneider eine Gemeinsamkeit andeuten, die in der politischen Kontroverse so noch nicht möglich ist, und der vorübergehende Charakter der Installation verweist darauf, dass dieser Prozess des kulturellen Austauschs über viele weitere Stationen gehen wird und das Ende offen bleibt.



3.         Am Beispiel von Gregor Schneiders Hamburger „Cube“ sollten einige der Möglichkeiten einer semiotischen Interpretation von Architektur vorgeführt werden. Es scheint so, als wäre dieser Ansatz vor allem geeignet, der Interpretation ein methodisches Gerüst zu geben, an dem sie sich orientieren kann, ohne damit eine inhaltliche Festlegung zu verbinden. Wie alle kulturellen Zeichen sind auch die Zeichen der Architektur ambig und können nur im Rahmen von Interpretationskontexten (vgl. die „Diskursfelder“ in Abschnitt 1.1) gedeutet werden, die die betroffenen Wissenschaften auf ihrem jeweils aktuellen Stand konstituieren. Die semiotischen Methoden beachten dabei insbesondere Aspekte der Lesbarkeit, Sprachlichkeit („Codes“) und Kommunizierbarkeit von Botschaften, die mit architektonischen Zeichen ausgedrückt werden können. Damit richten sie sich an diskursiv orientierte Interessen, die sich in den erwähnten wissenschaftlichen Kontexten auskennen und neue Interpretationen darin verorten können. Die Hervorbringung von „kanonischen“ Interpretationen für bedeutende Werke und die Hinterfragung und Veränderung eines solchen Kanons sind elementare kulturelle Prozesse, die zuerst in den Wissenschaften (vgl. dazu Franck und Franck 2008: 41 ff), dann aber auch in der Kritik, den Medien und der alltäglichen Kommunikation ihren Ort haben. Bei dem Austausch von Informationen über die Bedeutung von Architektur zwischen Wissenschaft, Fachpresse, Feuilleton und Öffentlichkeit, die ein eigenes großes „Diskursfeld“ bilden, spielt die professionelle Architekturvermittlung eine zentrale Rolle, indem sie über geeignete Medien die Verbindung zwischen den verschiedenen Instanzen herstellt und zu einer Gemeinsamkeit der Interpretation unserer gebauten Umwelt beiträgt. Die Architektursemiotik kann dazu einen methodischen Beitrag leisten (vgl. Dreyer 2007).



Literatur: 

Benjamin, Walter (1936): Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Frankfurt/Main 1963.

Danto, Arthur C. (1981): The Transfiguration of the Commonplace. A Philosophy of Art. Deutsch: Die Verklärung des Gewöhnlichen. Eine Philosophie der Kunst. Frankfurt/Main 1984.

Dreyer, Claus (1998): Über das Interpretieren von Architektur. In: Eduard Führ u. a. (Hrsg.): Architektur – Sprache. Buchstäblichkeit, Versprachlichung, Interpretation. Münster 1998 : 33-48.

Dreyer, Claus (2003 a): Semiotische Aspekte der Architekturwissenschaft – Architektursemiotik. In: Roland Posner u. a. (2003 a), Bd. 3: 3234-3278.

Dreyer, Claus (2003 b): The crisis of representation in contemporary architecture. In: Semiotica 143-1/4 (2003): 163-183.

Dreyer, Claus (2003 c): Architektur als Alltags- oder Hochkultur? In: Wolkenkuckucksheim 8. Jg. Heft 2.
/openarchive/wolke/deu/Themen/032/Dreyer/dreyer.htm.

Dreyer, Claus (2007): Semiotische Aspekte der Architekturvermittlung. In: Wolkenkuckucksheim 11. Jg. Doppelheft 1-2.
/openarchive/wolke/deu/Themen/061+062/Dreyer/dreyer.htm.

Eco, Umberto (1968): La struttura assente. Deutsch: Einführung in die Semiotik. München 1972.

Fonatti, Franco (1982): Elementare Gestaltungsprinzipien in der Architektur. Wien.

Franck, Georg und Franck, Dorothea (2008): Architektonische Qualität. München.

Gassner, Hubertus (Hrsg.) (2007): Das Schwarze Quadrat. Hommage an Malewitsch. Katalog zur Ausstellung in der Hamburger Kunsthalle. Hamburg.

Gropius, Walter (1919): Programm des staatlichen Bauhauses in Weimar. In: Ulrich Conrads (Hrsg.): Programme und Manifeste zur Architektur des 20. Jahrhunderts. Gütersloh 1964: 47-50.

Hansen-Löve, Aage A. (2007): Der Suprematismus oder die Quadratur des Nichts. In: Gassner (2007): 192-200.

Hemken, Kai-Uwe (2007): Sensualismen höherer Ordnung. Kasimir Malewitsch und seine avantgardistische Nachkommenschaft. In: Gassner (2007): 207-213.

Heynen, Julian und Kölle Brigitte (Hrsg.) (2007): Weiße Folter. Gregor Schneider. Düsseldorf.

Jencks, Charles (1977): The Language of Post-Modern Architecture. London.

Kandinsky, Wassily (1952): Über das Geistige in der Kunst. Bern.

Naredi-Rainer, Paul von (1982): Architektur und Harmonie: Zahl, Maß und Proportion in der abendländischen Baukunst. Köln.

Norberg-Schulz, Christian (1963): Intentions in Architecture. Deutsch: Logik der Baukunst. Gütersloh 1968.

Norberg-Schulz, Christian (1967): Intention und Methode in der Architektur. In: Der Architekt. Heft 6/1967: 218-225.

Posner, Roland u. a. (Hrsg.) (2003): Semiotik. Ein Handbuch zu den zeichentheoretischen Grundlagen von Natur und Kultur. 3 Bände. Berlin/New York.

Schlenzka, Jenny und Biesebach, Klaus (2006): Black Dice: On 59th Street. In: Gregor Schneider: Cubes. Art in the Age of global terrorism. Milano.

Tzonis, Alexander und Lefaivre, Liane (1987): Das Klassische in der Architektur. Poetik der Ordnung. Braunschweig.

Wersin, Wolfgang von (1956): Das Buch vom Rechteck. Ravensburg


 


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