8. Jg., Heft 2 (März 2004)    

 

___Claus Dreyer
Detmold
 

Architektur als Alltags- oder Hochkultur?

 

1. Alltags- vs. Hochkultur

Es steht außer Zweifel, dass Architektur Bestandteil der Kultur einer Gesellschaft, einer Region, eines Landes oder einer Epoche ist. Es steht ebenfalls außer Zweifel, dass es nicht die Kultur gibt, sondern ebenso viele Teil- oder Sub- oder Sonder-Kulturen, wie es gesellschaftliche Gruppen, geografische Regionen, Länder oder Epochen gibt. Der Wandel der Kulturen im historischen Ablauf, sowohl innerhalb der wie zwischen den Kulturen, findet permanent statt und führt nicht selten zu Gleichzeitigkeiten des Ungleichzeitigen. Vermischungen, Überlappungen, und Durchdringungen führen zu pluralen oder multivalenten Erscheinungsformen, zugleich aber auch immer wieder zu Vereinheitlichungen, Dominanzen und Präferenzen kultureller Phänomene. Beide Tendenzen rufen wachsame Beobachter auf den Plan, die teils kritisch, teils apologetisch ihre Stimme erheben und in Zeiten allgemeiner Verunsicherung durch wirtschaftliche oder ideologische Krisen viel Gehör finden.

Die Frage nach der Baukultur kann unter diesen Gesichtspunkten heute keine mehr sein, die einfach normativ oder zumindest regulativ zu beantworten wäre, weil dazu die Kriterien und die Erkenntnisse fehlen, die der komplexen Wirklichkeit angemessen wären (wenn man nicht bei einem reduktionistischen Rigorismus Zuflucht nehmen möchte, wie bei der "Leitkultur", der Tradition, der Geschichte, dem Ortsbezug, den ästhetischen Leitbildern). Ich möchte deshalb einen Teilaspekt dieser Frage herausgreifen, der sich auf ein auffallendes Phänomen gegenwärtiger Baukultur bezieht und im Anschluss an eine vorhandene Architekturtheorie Gesichtspunkte zur Bestimmung von Kultur im Bauen auch über regionale und zeitliche Grenzen hinweg beisteuern kann.

Auffallend ist, dass es in der Vielfalt des gegenwärtigen alltäglichen Baugeschehens prominente Gebäude gibt, die vorzugsweise von den immer gleichen illustren Architekten entworfen werden, oder anders herum, dass bei bedeutenden Bauaufgaben immer wieder die gleichen internationalen Architekten eingeladen werden, ihre Lösungen zu entwickeln (z. B. Libeskind, Nouvel, Eisenman, Koolhaas, Gehry, Foster, Hadid). Die Aufgaben, um die es hier in der Regel geht, sind von herausgehobener Art und erfüllen oft eine öffentliche Funktion: Museen, Konzert- oder Theatergebäude, Bahnhöfe, Flugplätze, aber auch Einkaufszentren, Büros und Wohnungen - alles Aufg
aben, die im Prinzip auch von "normalen" Architekten aus der jeweiligen Region gelöst werden könnten. Durch die quantitative und auch ideelle Größe der Aufgaben und ihren öffentlichen Charakter, der den Anspruch des Besonderen verbürgt, ist es aber gerechtfertigt, von Gebäuden der und für die Hochkultur zu sprechen, die sich gegen die Vielfalt der kleineren und banaleren (weil anspruchsloseren) Bauaufgaben des Alltags absetzen. Während unsere architektonische Alltagskultur funktional einfach, plural, manchmal multikulturell, oft kommerziell, häufig regional und formal eher oberflächlich zeichenhaft orientiert ist, kann unsere architektonische Hochkultur als künstlerisch und funktional komplex, ideell aufgeladen und international orientiert angesehen werden und durch formale Abundanz und Prägnanz den Status "symbolischer Formen" erreichen.

Die Geschichte der Baukunst und Baukultur ist immer wieder unter verschiedenen theoretischen Perspektiven als eine Geschichte der architektonischen Verwirklichung von symbolischen Formen interpretiert worden (vgl. Dreyer 2003b), und es leuchtet ein, dass dabei immer die besonders herausgehobenen Bauten der politischen Macht, der religiösen Ideen und der kulturellen Werte im Vordergrund standen, eben Bauten der Ausprägung und Konkretisierung der jeweiligen Hochkultur. Meine These, die ich im Weiteren verfolgen und prüfen will, ist die, dass auch unsere gegenwärtige internationale architektonische Hochkultur ein Ensemble symbolischer Formen anbietet, das den Geist unserer Zeit repräsentiert und auch in seiner Problematik und Widersprüchlichkeit als Ausdruck gegenwärtiger Baukultur zu begreifen ist (vgl. zur Krise der Repräsentation: Abs. 3). Es wird zu fragen sein, was diese symbolischen Formen gegenwärtiger Baukultur bedeuten und zu welchem Umgang sie uns auffordern können.


2. Architektonische Hochkultur als Symbolsystem

Wenn Hegel in seiner Ästhetik Architektur als die symbolische Kunstform par excellence darstellt, sieht er den Symbolismus noch als eine mindere Form der künstlerischen Verwirklichung von Ideen an, aber nach der Karriere des Symbolbegriffs im 19. Jahrhundert entstehen im 20. Jahrhundert zahlreiche Ansätze zur Theorie der symbolischen Formen, die gerade im Bereich von Ästhetik und Kulturwissenschaften ihre Hauptanwendungsgebiete finden (vgl. Pochat 1983). Im Anschluss an Ernst Cassirers und Susanne K. Langers Philosophie der symbolischen Formen sowie gestützt auf weitere sozialpsychologische Anwendungen dieser Theorien hatte Christian Norberg-Schulz in seiner "Logik der Baukunst" (1963/1968) Architektur als ein zentrales Verkörperungsfeld der "kulturellen Symbolisierung" einer bestimmten Gesellschaft oder Epoche verstanden. Norberg-Schulz betrachtet architektonische Formen und Konfigurationen als Mittel, mit denen kulturelle Gegenstände (z. B. Werte, Ideen, Sitten und Gebräuche, Phantasien und Utopien) symbolhaft konkretisiert werden. Diese Formen können ein "Bautyp, ein Grundriss, eine besondere Raumform" (ebenda, 175), aber auch eine Teilform, eine Schmuckform, ein Material oder sogar die spezielle Ausbildung einer Wand sein (ebenda, 126), also im Prinzip alle architektonischen Elemente vom Detail bis zur Großform, soweit sie mit formaler Prägnanz wahrgenommen und beschrieben werden können.

Wie in den genannten Symboltheorien überhaupt gilt auch bei Norberg-Schulz, dass Symbole auf gesellschaftlichen Konventionen beruhen müssen, also nicht willkürlich sein können, und dass diese Konventionen öffentliches Gemeingut sind (ebenda, 175). Trotz des konventionellen Charakters der Symbole im Allgemeinen glaubt Norberg-Schulz an Beispielen aus der Sakral- und Feudalarchitektur zeigen zu können, dass die architektonischen symbolischen Formen zum größten Teil eine "strukturelle Ähnlichkeit" (ebenda, 175) mit den von ihnen symbolisierten Gegenständen haben, die aus einer Abstraktion von ehemals abbildenden ("ikonischen") Zeichen entstanden und als "Kürzel einer Strukturbeschreibung" übrig geblieben sind (ebenda, 175). Darauf beruht ihre Wirksamkeit und ihre kommunikative Kapazität, die eine lebendige Kultur erst ermöglicht. "Von Menschen hervorgebracht und von ausgesprochen praktischer Natur, hat das Bauen die besondere Fähigkeit, zu zeigen, wie kulturelle Werte und Traditionen unser alltägliches Leben bestimmen. Nur durch kulturelle Symbolisierung kann die Architektur zeigen, dass der Alltag eine Bedeutung über die unmittelbare Situation hinaus hat und an der kulturellen und historischen Kontinuität teilhat" (ebenda, 128).

Weil man nicht das gesamte Baugeschehen einer Zeit oder Region an diesem hohen Anspruch messen möchte, darf man doch mit Norberg-Schulz fordern, "dass wenigstens einige Bauaufgaben die Dimension der kulturellen Symbolisierung mit einschließen" (ebenda, 128), bzw. wird man prominente Gebäude oder Baukomplexe einer bestimmten Zeit oder Region unter den angeführten Prämissen auf die Art der Symbolisierung und der Bedeutung der symbolisierten kulturellen Gegenstände hin analysieren und interpretieren dürfen.


3. Kulturelle Symbolisierung und die Krise der Repräsentation

Wie schon eingangs konstatiert, gibt es zurzeit eine kleine überschaubare Gruppe prominenter internationaler Architekten, die bei architektonischen Großprojekten immer wieder zu Entwürfen eingeladen und oft als Sieger auserkoren werden. Man darf annehmen (und ich möchte diese These vertreten), dass sich in ihren Entwürfen eine allgemein verständliche und akzeptierte Symbolisierung von allerseits hochgeschätzten und verehrten kulturellen Gegenständen ausdrückt, die zumindest auf der Ebene der gegenwärtigen euro-amerikanischen Hochkultur öffentliches Allgemeingut ist oder zumindest sein könnte. Um die neue Konzerthalle von Frank Gehry in Los Angeles, die niederländische Botschaft von Rem Koolhaas in Berlin oder den Master-Plan für „Ground Zero“ in New York von Daniel Libeskind zu beschreiben, zu analysieren und zu interpretieren, bedarf es (wie schon den einschlägigen Zeitungs- und Zeitschriftenbeiträgen zu entnehmen ist) einiges begrifflichen Aufwandes, der hier nicht vorgelegt werden soll (vgl. dazu als Beispiel Dreyer 2001), aber es darf angenommen werden, dass man zeigen kann, wie hier mit jeweils sehr unterschiedlichen  architektonischen symbolischen Formen Aussagen über das Wesen der Musik (Gehry), der Politik und Diplomatie (Koolhaas) und der nationalen Ideologie der USA (Libeskind) gemacht werden und damit Kultur architektonisch konkretisiert wird. Das soll nun keinesfalls heißen, dass die hier symbolisierten kulturellen Gegenstände kritiklos hingenommen und die Art und Form ihrer Symbolisierung unbefragt bewundert werden müssten. Ganz im Gegenteil: erst durch die Konkretisierung derartig anspruchsvoller architektonischer symbolischer Formen kann der kritische oder affirmative Diskurs zustande kommen, von dem Kultur erst lebt und sich weiterentwickelt.

Gleichwohl fällt ein Schatten auf dieses Bild einer vitalen architektonischen Hochkultur. Dass im Laufe der Zeit (manchmal auch sehr schnell) ein Symbolwandel stattfindet, der Altes entwertet und Neues hervorbringt, der aber auch zu Symbolverfall und -vernichtung führen kann, ist hinlänglich beschrieben worden und immer wieder aktuell (vgl. die Kontroverse um den geplanten Abriss des „Palastes der Republik“ in Berlin). Mit der Beschleunigung des gesellschaftlichen Wandels beschleunigt sich auch der kulturelle Wandel und sein Ausdruck in symbolischen Formen; Internationalisierung und Globalisierung erweitern den Horizont enorm und führen gleichzeitig zu Verunsicherungen der eigenen kulturellen Identität. So kommt es zu den bekannten antagonistischen Positionen, wobei die Einen möglichst viel bewahren und eigentlich zurück zu homogenen, übersichtlichen, regionalen Kulturen wollen, während andererseits die Avantgarden sich global orientieren und mit den immer gleichen symbolischen Formen einer „neuen“ Architektur international kommunizieren. Man kann von einer  allgemeinen „Krise der Repräsentation“ sprechen, die alle Ebenen der Kultur betrifft und auch längst die Architektur erreicht hat (vgl. Dreyer 2003a). In den Konkretisierungen gegenwärtiger anspruchsvoller Architektur äußert sich diese Krise u. a. folgendermaßen:

1.      Die symbolischen Formen der architektonischen  Avantgarde sind hermetisch und spekulativ; sie verzichten auf Traditionen und Ortsbezug, der Anschluss an historische Kontexte wird vermieden oder allenfalls auf hochartifizielle Weise konstruiert (z. B. Libeskind).

2.      Die symbolisierten kulturellen Gegenstände bleiben undeutlich und nebulös, sie korrespondieren mit dem Zeitgeist auf eklektische Weise. Hier gilt, was Dieter Claessens über den „Abbau der alten symbolischen Wirklichkeit“ am Ende des 19. Jahrhunderts sagt: „Da der individualistisch arbeitende Architekt, ohne es recht zu wissen, in die Fußstapfen des Theologen getreten ist – wie der Philosoph und der Arzt, und als Rechtsphilosoph der Jurist – verbinden sich auch bei ihm Allmacht-Vorstellungen mit höchst privaten Philosophien“ (Claessens 1984, 129; z. B. in den neuesten Veröffentlichungen von Koolhaas).

3.      Die Öffentlichkeit, an die die symbolischen Formen der High-End-Architektur gerichtet sind und die sie tragen sollte, wird einerseits immer größer, vor allem durch die zunehmende Publizität in den Massenmedien, und andererseits immer kleiner, weil es in dieser Öffentlichkeit keine Gemeinsamkeit mehr gibt, sondern heterogene Individualitäten, Szenen und Netzwerke, die oft nichts miteinander zu tun haben, aber innerhalb ihrer Strukturen hoch differenziert und spezialisiert sind (vgl. Archplus166/2003 und 167/ 2003).

4.      Das Verständnis und die Interpretation der hochkulturellen Architektursymbole kann zunehmend nur noch von Insidern, Experten und Spezialinstitutionen wie Hochschulen und Forschungsinstitute geleistet werden. Es müssen immer höhere Anforderungen an Wissen, Bildung und Erfahrung gestellt werden, um sich am Diskurs durch und über kulturelle Symbolisierungen beteiligen zu können: darin ähnelt die Lage der Avantgarde-Architektur der der neuen Musik, die ins gesellschaftlich und kulturell Elitäre abgewandert ist.


Die hier (nur ausschnitthaft) genannten Krisensymptome sind gewiss ernst zu nehmen, könnten aber auch geradezu positiv als signifikanter Ausdruck von architektonischen symbolischen Formen über den gegenwärtigen Zustand einer speziellen westlichen Hochkultur angesehen werden.


4. Das Unbe
hagen in Kultur und Kulturindustrie

Dieser dubiose Zustand unserer gegenwärtigen architektonischen Hochkultur könnte zu tun haben mit den Widersprüchen, die unserer Kultur zugrunde liegen und die Sigmund Freud zu seinem „Unbehagen in der Kultur“ (1930) geführt haben. Alle Versuche, durch Vermehrung von Schönheit, Ordnung, Logik und Reinheit in der Umweltgestaltung Kultur zu befördern, verstärken nach Freud zugleich deren repressive und aggressive Tendenzen, die sich nicht nur in manifester Gewalt, sondern auch in der explosiven Gestik avancierter architektonischer Formen äußern und dabei nur scheinbar ästhetisch sublimiert werden können: der Zwang zur Unterwerfung unter kulturelle Normen wird von Architekten symbolisch eindrucksvoll konkretisiert und vom Betrachter oder Nutzer nachhaltig erfahren. Andererseits drückt sich in der hermetischen und individualistischen Symbolisierung ein Freiheitsdrang aus, der sich gegen Normen und Herrschaft wendet und damit verborgene Wünsche und Motive anspricht und Kultur überhaupt zuträglich macht. Mit Blick auf den „chaotischen“ Zustand der architektonischen Alltagskultur könnte man sagen, dass sich in deren widersprüchlicher Vielfalt und Komplexität (vgl. Venturi 1966) ein ebensolcher anarchistischer Zug ausdrückt, der die symbolische Zwanghaftigkeit der architektonischen Hochkultur konterkariert und eine primäre vitale Energie verkörpert, die zwar nicht kulturfördernd, aber lebenserhaltend sein kann. Helfern mit ihren gut gemeinten Maßnahmen, die diesen Widerspruch in unserer Kultur überbrücken oder gar auflösen wollen, sei der Rat Freuds ans Herz gelegt: „Vielleicht machen wir uns ... mit der Idee vertraut,  dass es Schwierigkeiten gibt, die dem Wesen der Kultur anhaften und die keinem Reformversuch weichen werden“ (Freud 1930/1994, 80).

Das „Unbehagen in der Kultur“ wird allerdings noch vergrößert, wenn man an die Rolle denkt, die die Kulturindustrie bei der Etablierung symbolischer Formen in der Gesellschaft spielt, und die auch die Architektur betrifft. Durch massenhafte Publikation beispielhafter Architektur in Zeitungen, Zeitschriften und TV-Magazinen wird erheblich dazu beigetragen, Öffentlichkeit und Gemeinschaft für die Akzeptanz symbolischer Formen von Architektur herzustellen und zu vertiefen. Das gilt sowohl für die architektonische Hoch- wie für die Alltagskultur: Beide Sphären verfügen über ihre eigenen Medien, die sich nur gelegentlich überlappen und sich an unterschiedliche Adressaten wenden. Was eigentlich zu begrüßen wäre – die Herstellung von Öffentlichkeit und Gemeinschaft durch Information und Kommunikation - verfällt nur zu leicht den Aporien dieser von Adorno und Horkheimer gebrandmarkten Industrie:

„Kultur ist eine paradoxe Ware. Sie steht so völlig unterm Tauschgesetz, dass sie nicht mehr getauscht wird; sie geht so blind in Gebrauch auf, dass man sie nicht mehr gebrauchen kann. Daher verschmilzt sie mit der Reklame“ (Horkheimer/Adorno 1947/86, 170f), die letztlich nichts anderes bedeutet als „reine Darstellung gesellschaftlicher Macht“ (ebenda, 172). Was es damit auf sich hat, formuliert Adorno an anderer Stelle: „Der kategorische Imperativ der Kulturindustrie hat, zum Unterschied vom Kantischen, mit der Freiheit nichts mehr gemein. Er lautet: du sollst dich fügen, ohne Angabe worein; fügen in das, was ohnehin ist, und in das, was, als Reflex auf dessen Macht und Allgegenwart, alle ohnehin denken. Anpassung tritt kraft der Ideologie der Kulturindustrie anstelle von Bewusstsein“ (Adorno 1967, 67).

Damit wird Freuds Befund über die Kultur verstärkt: durch die allgegenwärtige Kulturindustrie (hier in Form der Massenmedien) wird, sowohl auf der Ebene der Hochkultur wie der Alltagskultur, ein Zwang ausgeübt, der zur Anpassung an das Bestehende, Etablierte und ohnehin Dominante führen soll und eine aktive Kulturproduktion und -politik eher behindert als unterstützt.


5. Kulturproduktion und Kulturpolitik als Aufgabe

Mit diesen Feststellungen können wir noch einmal auf die eingangs gestellte Frage zurückkommen, zu welchem Umgang (praktisch, theoretisch, politisch) uns die augenblickliche Baukultur in ihrer widersprüchlichen Vielfalt auffordern könnte. Es kann nicht verwundern, dass auch die Antworten widersprüchlich ausfallen.
 

1.      Die existierende internationale architektonische Hochkultur wird auch weiterhin opulente symbolische Formen produzieren und sich dabei auf ihren besonderen kulturellen Auftrag berufen: das alltägliche Dasein bedeutungsvoll zu überhöhen. Dabei gilt es, dem Rat von Norberg-Schulz zu folgen: „Die Baukunst muss wieder der erwünschten sinnfälligen Bedeutung dienen. Diese Bedeutungen aber wirken wieder auf die Architektur zurück. Indem die Architektur neue Bedeutungen konkretisiert, trägt sie zur kulturellen Entwicklung bei“  (Norberg-Schulz 1963/68, 128).

2.      Wenn man mit Freud (und Horkheimer/Adorno u. a.) die Auffassung teilt, dass aller Kultur (und je höher sie steht, desto mehr) ein repressiver und zwanghafter Zug innewohnt, dann würde man allen Initiativen zur Förderung von Kultur, sie sei Baukultur, Wohnkultur, Lebenskultur o. ä., gegenüber kritisch bleiben und immer darauf beharren, dass es Bereiche gibt, die sich der kulturellen Formung und Normierung widersetzen und ihr Recht auf Eigenleben, auf Experiment, auf Abweichung und Andersartigkeit reklamieren. Alfred Lorenzer und Bernhard Görlich haben die politischen Konsequenzen dieser Haltung hervorgehoben: „Es geht ... um die Erkundung des kulturellen Spielraums, der Menschen dennoch in die Lage versetzt, trotz aller konkreten Verletzungen, die sie durchleiden, den Drang zu entwickeln, sich zu verwirklichen in Auseinandersetzung mit der Welt, den anderen, in der leiblichen Entfaltung wie in der aktiven Bereitschaft zu solidarischem Handeln und zu sozialem Kampf“ (Lorenzer/Görlich 1994, 80). Dass diese Auseinadersetzung auch die Baukultur betrifft, ist selbstverständlich, und dass sie auch das Menschenrecht auf die „Erfüllung falscher Bedürfnisse“ (Adorno 1967, 121) einschließen muss, ist manchmal schwer zu ertragen, aber unaufgebbar. Die Mischung und Vielfalt der Kulturen ist eine Chance, das Leben reicher, sinnvoller und lustvoller zu machen. Mit Freud wäre noch einmal daran zu erinnern, „dass es Schwierigkeiten gibt, die dem Wesen der Kultur anhaften und die keinem Reformversuch weichen werden“ (vgl. oben).

3.      Gute Kulturpolitik müsste alle Bereiche, die Hochkultur, die Alltagskultur und die Alternativkultur unterstützen und fördern und dabei eine vitale Balance herzustellen versuchen. Dabei können die Schwerpunkte durchaus mal mehr auf der einen, mal mehr auf der anderen Seite liegen: ohne diesen Wechsel und Austausch würde Kultur erstarren und zu einem leeren Ritual verkommen.

 

   
Literatur:
  • Adorno, Theodor W. (1967): Ohne Leitbild. Parva Aesthetica. Frankfurt/Main.

  • Archplus 166/2003: Off-Architektur 1: Szenen. Archplus 167/2003: Off-Architektur 2: Netzwerke.

  • Cassirer, Ernst (1925/1973): Philosophie der symbolischen Formen. Darmstadt. 

  • Claessens, Dieter (1984): Der Abbau der alten symbolischen Wirklichkeit und das Dilemma der Architektur im Wandel der Gesellschaft. In: Das Abenteuer der Ideen. Hrsg.: Joseph P. Kleihus u. a., Berlin 1984, 119-130.

  • Dreyer, Claus (2001): Politische Architektur als Bedeutungsträger: Ästhetik und Repräsentation. In: Wolkenkuckucksheim 1/2001. 
    /theoriederarchitektur/Wolke/deu/Themen/011/Dreyer/dreyer.htm

  • ders. (2003a): The crisis of representation in contemporary architecture. In: Semiotica 143-1/4 (2003), 163-183.

  • ders. (2003b): Die Transformation der Zeichen in der Architektur. In: db 8/2003, 68-70.

  • Freud, Sigmund (1930/1994): Das Unbehagen in der Kultur. In: S. Freud, Das Unbehagen in der Kultur und andere kulturtheoretische Schriften. Hrsg.: Alfred Lorenzer und Bernd Görlich, Frankfurt/Main.

  • Horkheimer, Max / Adorno, Theodor W. (1947/1986): Dialektik der Aufklärung. Frankfurt/Main.

  • Langer, Susanne K. (1942/1965): Philosophie auf neuem Wege. Das Symbol im Denken, im Ritus und in der Kunst. Frankfurt/Main.

  • Lorenzer, Alfred / Görlich, Bernd (1994): Einleitung zu S. Freud (1930/1994).

  • Norberg-Schulz, Christian (1963/1968): Logik der Baukunst. Gütersloh.

  • Pochat, Götz (1983): Der Symbolbegriff in der Ästhetik und Kunstwissenschaft. Köln

  • Venturi, Robert (1966): Complexity and Contradiction in Architecture. New York.

  • ders. (1972): Learning from Las Vegas. The forgotten Symbolism of Architectural Form. Cambridge/Mass.

 

     

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