Thema
2. Jg., Heft 2
November
1997

A.K. Solovev

Die künstlerische Architektursprache in der Epoche des Konstruktivismus in Rußland und ihr gegenwärtiges Verständnis

1Das ab Ende des 19. Jahrhunderts entwickelte Konzept des Funktionalismus akzeptierte grundsätzlich die Abhängigkeit der Form von der Funktion. Louis Sullivan, Ideologe der "Chicagoer Schule" in der Architektur der USA, hat diese Idee in einem klaren Aphorismus zum Ausdruck gebracht: "Die Form folgt der Funktion". Die klassische Triade von Vitruv - Nutzen - Festigkeit - Schönheit - wurde durch eine lineare Abhängigkeit ersetzt, die nur eine Richtung aufweist: von der Funktion zur Form.

2Für die Forscher auf diesem Gebiet waren die "Fagus-Werke" für Schuhleisten in Aalfeld-an-der-Leine, gebaut 1913 in Deutschland nach dem Entwurf von Walter Gropius und Adolf Meyer, ein markantes Beispiel und die erste Verkörperung der Ideen des Funktionalismus. Die Beschreibung dieses Bauwerks durch den englischen Kritiker und Kunsttheoretiker N. Pevsner ist dafür charakteristisch. Die Schlichtheit und rechteckige Form wird hier hervorgehoben. Er betont besonders, daß "zum ersten Mal die ganze Fassade aus Glas konzipiert wurde. Die tragenden Stützen wurden zu schmalen Stahlbändern reduziert".[1] Die Funktionalität des Gebäudes wird durch die visuellen Charakteristika der Form gleichsam bestätigt. "Sachlichkeit und Zweckmäßigkeit" - das sind die Hauptmerkmale der funktionalistischen Architektur. Die Schlichtheit der Form hatte auch eine bestimmte gestalterische Bedeutung. Sie wurde zum Übergangsglied, das den Funktionalismus mit einer Tendenz in der europäischen Kunstentwicklung zu Beginn des 20. Jahrhunderts verbindet.

3Es wurden zahlreiche und ausführliche Untersuchungen zu den Ursachen und Folgen der Entwicklung des Funktionalismus für die heutige Architektur angestellt, z.B. darüber, wie in den 20er und 30er Jahren in Rußland die Entwicklung des Konstruktivismus dadurch beeinflußt wurde. Jedoch scheint eine Verbindung von solchen Untersuchungen mit linguistischen Ausdrucksformen dieser Epoche neue Fragen aufzuwerfen, die einen konstruktiven Beitrag für die Entwicklung der Architekturtheorie bringen könnten.
Am einfachsten wäre es, diesen Prozeß anhand eines konkreten und vom Standpunkt der Form und Funktion möglichst einfachen Architekturdenkmals aus der damaligen Zeit zu untersuchen. Deswegen wählte ich für diesen Vortrag das Studentenheim "Haus der Kommune", wie es damals genannt wurde, in der Donskoj-Gasse in Moskau (1930, Architekt Igor Nikolaev).

4Charakteristisch ist die gestalterische Lösung im Grundriß: Der schmale lange Wohnblock des Studentenheims besaß in der Mitte einen langen Korridor, der an der Fassade durch hervortretende abgerundete Treppenhäuser durchbrochen wurde, und war mittels eines Übergangs mit einem breiteren und niedrigeren Gesellschaftsgebäude verbunden. Im Grundriß sind asymmetrisch miteinander verbundene Rechtecke dargestellt, die im Innenbereich einen offenen Raum bilden. Kleine Wohnzellen - sogenannte Pennalen- konzentrieren sich im Wohnblock auf beiden Seiten des Korridors. Sie waren ausschließlich zum Schlafen und zur Abendlektüre bestimmt. Es wurde davon ausgegangen, daß die Studenten die restliche Zeit gemeinsam verbringen würden. Hierfür wurden ein Sportsaal, eine Bibliothek, eine Aula und Zimmer für verschiedene Arbeitsgruppen vorgesehen. Dies alles entsprach den vereinfachten Vorstellungen über das zukünftige Leben in der kommunistischen russischen Gesellschaft, die sich als sogenannter Sozialismus 1930 noch ungestört entwickelte.

5In dem uns interessierenden Haus der Kommune wurden funktionale Prozesse so gruppiert, daß sich daraus starke Formkontraste ergaben. Die schmalen rechteckigen Blocks des Wohnheims und der Übergangsbereich wurden konsequent durch horizontale Fensterstreifen durchkreuzt und kontrastierten mit dem kompakten Volumen des Gesellschaftsblocks. Hier sehen wir ein ganz klares und elementares Verfahren der Raumkontrastierung, das darauf basiert, funktionale Prozesse voneinander abzugrenzen. Daraus ergibt sich das gesamte System der Komposition, und damit läßt sich das Architekturobjekt ganz genau beschreiben.

6Die Universalität der Symmetrie und die obligatorische Reihenfolge von Räumen klassizistischer Gebäude wurden hier völlig durch die Individualität von asymmetrischen Strukturen ersetzt. Eine demonstrative Befreiung ähnlicher Art begann schon im Schoße des Jugendstils und im Rahmen der Eklektik, jedoch erreichte sie ihren Höhepunkt erst im Konstruktivismus der 20er und 30er Jahre. Der Funktionalismus, der sich in formaler Hinsicht befreit hatte, verband die Asymmetrie mit dem Einsatz rationaler funktionaler Technologie. Dem Prinzip von Descartes zufolge wurde „...die praktische Funktion des Gebäudes in elementare Bestandteile aufgeteilt. Ihnen entsprachen klar hervorgehobene Teile des Gebäudes".

7Der berühmte sowjetische Architekturtheoretiker A.V. Ikonnikov schreibt, daß der Entwurf zu mehreren zweckmäßigen Lösungsvarianten führt. "Die Auswahl zwischen diesen Varianten wird auf Grund von künstlerisch-bildhaftem und strukturell-ästhetischem Erfassen der Funktion durchgeführt...Zusammen mit der ästhetischen Organisation der Struktur werden die Begriffe deutlich, die die Struktur ausdrücken soll. Nicht nur die materielle Substanz des Werkes, das Gebäude, sondern auch die Tätigkeiten, die in diesem Gebäude ausgeführt werden, sind Thema der schöpferischen Arbeit."[2]
Ich würde sagen, daß in erster Linie Ideen und Begriffe, die mit diesen Tätigkeiten verbunden sind, zum Thema des schöpferischen Tuns werden, und in zweiter Linie dann Kompositionslösungen, so wie oben gezeigt wurde, erarbeitet werden.
Für die historische und theoretische Untersuchung von Architektur ist der Prozeß derselbe, obwohl die Reihenfolge des Vorgehens etwas anders verläuft. Die Wahrnehmung von schon gebildeten Formen ist untrennbar verbunden mit den funktionalen Abläufen, die in dem Gebäude auftreten (oder aufgetreten sind). Wie A.V. Ikonnikov schreibt, ist ein solcher Zusammenhang "flexibel genug und erlaubt durch die strukturellen Hauptmerkmale der Form begrenzte Varianten funktionaler Ordnung".[3] Im Falle des von uns betrachteten Gebäudes von I. Nikolaev wurde das Gebäude so gebaut, daß seine Gestalt ziemlich genau seine funktionale Bestimmung widerspiegelt und zwar nicht nur bezüglich seiner Form, sondern auch seiner Konstruktion.

8Die schmalen durchlaufenden Fensterbänder erzählen uns über die Skelettkonstruktion des Gebäudes, wo die Außenwand nur die Funktion einer Begrenzung erfüllt. Das entsprach einer für die Architekten der damaligen Zeit typischen Einstellung gegenüber Stahlbeton. Selbst die abgerundeten Treppenhäuser, die aus der Fassade herausragen, sollten das Material betonen. Die verputzten Fassaden der nichttragenden Wände und der Wände in den Treppenhäusern immitieren jedoch lediglich den Beton. Tatsächlich wurde, wie in anderen konstruktivistischen Gebäuden (ein markantes Beispiel ist die Einstein-Sternwarte von Mendelsohn in Potsdam) Ziegelstein als Hauptbaumaterial verwendet. Die Technik der damaligen Zeit erlaubte noch nicht, die Gebäude wie geplant auszuführen. Aus diesem Grund, jedoch auch wegen Unterschätzung oder wegen schlechten Kenntnissen der Bauphysik kam es zu zahlreichen Baufehlern, die zum heute baufälligen Zustand mehrerer konstruktivistischer Denkmäler führte.

9Wie der Professor der Moskauer Architekturakademie (MARCHI) I. Leshava bemerkt, „basiert das beständigste architekturtypologische System auf den Benennungen, die in der Umgangsprache existieren. Seit uralten Zeiten ging die Terminologie in der Architektur nicht über den Rahmen des allgemein üblichen Wortschatzes hinaus".[4] Nicht umsonst kamen die glänzenden Beschreibungen von Architekturdenkmälern aus der Feder von Schriftstellern und nicht von Architekten oder Architekturtheoretikern. Man braucht nur an die glänzende Beschreibung von Notre-Dame de Paris von Viktor Hugo zu erinnern. Für die Architektur der 20er und 30er Jahre kann man als Beispiel die Beschreibung eines Studentenwohnheims in Leningrad in der Rubinstein-Straße anführen, die in dem Buch "Tagessterne" von der berühmten Leningrader Dichterin Olga Bergolz zu finden ist.
Solche Beschreibungen könnten als unveräußerliche Bestandteile der Gebäudetypologie betrachtet werden, die postfaktum die Etappen der Architekturentwicklung konstatiert. Der Funktionalismus hat als herausragendes Merkmal neue Typen geschaffen, wobei die Nutzung jeweils schon vorgegeben war, bevor das Gebäude gebaut und sozial anerkannt war.

10Das alles trifft auch auf den von uns betrachteten Komplex zu. Der Typ der Kommunehäuser hat in den 20-30er Jahren nicht nur die Architekten im kommunistischen Rußland, sondern auch im Westen beeinflußt (erinnern wir uns an den Marsaille-Komplex von LeCorbusier). Er basierte auf der Grundlage der sozialen Entwicklung und schien gut zu funktionieren. Aber das Leben hat gezeigt, daß im Menschen die individualistische Anlage viel stärker ist, als man glaubte. Deswegen scheiterte auch der letzte Versuch, ein solches Haus in Rußland in den 60er Jahren zu bauen (Arch. N.Ostermann).[5] Dieses Haus, das für Familien bestimmt war, besteht aus zwei 16-stöckigen Blocks, in denen 812 Wohnungen untergebracht sind. Dort sollten 2000 Menschen wohnen. In jeder Wohnung, bestehend aus 1, 2 oder 3 Zimmern, befindet sich ein Badezimmer und eine Kochnische, ausgerüstet mit elektrischem Herd, Kühlschrank, Waschvorrichtungen und Einbauschränken für das Geschirr und Lebensmittel. In jedem Stockwerk gibt es einen kollektiven Speiseraum mit Zubereitungsküche. Ein zentraler Speiseblock mit einer Küche für die zentrale Versorgung, auch für die Zubereitungsküchen in den Etagen, war geplant und wurde einem Flachbau zugeordnet.

11Der gesellschaftliche Teil des Hauses "des neuen Wohnens" befindet sich in einem 2-geschossigen Block, der die beiden Wohnblocks verbindet. Hier sind die Dienstleistungen untergebracht, hier befindet sich ein Kulturzentrum mit großem Zuschauersaal, Bibliothek und Klubräumen, und auch ein medizinisches Zentrum sowie ein Sportzentrum mit Schwimmhalle. Es war vorgesehen, daß hier Menschen mit gemeinsamen Interessen wohnen würden. Bei diesen Leuten sollte das Kollektivbewußtsein dominieren. Aber es gelang nicht, dieses Prinzip mit Leben zu füllen. Der kollektiven Küche zogen die Bewohner die eigenen Küchen und Nebenräume vor. Schließlich wurde das Haus als Studentenwohnheim für Doktoranden und Austauschwissenschaftler der Staatlichen Lomonosov-Universität in Moskau übergegeben. Auch in diesem Falle konnte die Architektur das Leben nicht ändern.

12Die Funktionalisten haben gedacht, daß die Funktion die Form determiniert. Aber schon während der Blütezeit des Funktionalismus wurde deutlich, daß dies praktisch nicht möglich ist, obwohl noch heute die Mehrheit der Architekten diese Doktrin als Fakt hinnehmen, der nicht bewiesen zu werden braucht. Nach Prof. Lezava können "weder die Planungsvorgaben noch die Raumprogramme eindeutig die Form des Architekturbauwerkes determinieren. Sie können nur eine Anregung geben. Das Architekturobjekt formt sich nach eigenen Gesetzen. Zahlreiche Einflüsse spielen hier eine Rolle, u.a. ökonomische, technische und kulturelle Faktoren. Die Form, die ihre funktionale Selbständigkeit bekommt, beginnt ein eigenständiges Architekturbauwerk zu sein, das viel größere funktionale Inhalte hat, als der Prozeß vermuten ließ, der diese Form geboren hat. Und das bedeutet, daß man in dem gebauten Objekt (sei es ein Haus oder eine Stadt) nicht nur die Funktion untersuchen muß, dank derer dieses Objekt zustande kam, sondern auch die Eigenschaften, die in diesem Objekt verkörpert sind. Diese Eigenschaften beeinflussen den Nutzer in einer gegenläufigen Richtung und führen so häufig zu einer Änderung des funktionalen Zwecks des Bauwerkes."[6]

13Setzen wir unsere Analyse fort und betrachten, was MARCHI für die aktuelle Nutzung des ehemaligen Hauses der Kommune, das sich heute im Besitz des Moskauer Instituts für Stahl und Legierungen befindet, geplant hat. Die ursprüngliche funktionale Bestimmung der Blöcke für Wohnen, Dienstleistungen und Lehrzwecke nach I.S. Nikolaev blieben unabhängig von verschiedenen Änderungen im Grundriß als Ganzes erhalten.
Der Wohnblock bewahrt seine Funktion. Hier sollen kleine Wohnungen und größere Appartements untergebrachte werden. Der ehemalige Sanitäts- und Dienstleistungsblock nimmt eine Funktion als Geschäftszentrum ein. Wegen der besonderen Eigenschaften in der Raumstruktur des Lehrgebäudes wird dieses zum Kulturzentrum umfunktioniert. Das Museum des Hauses der Kommune bekommt einen besonderen Platz in der funktionalen Struktur des Komplexes. Natürlich ist das ganze Haus ein Architekturdenkmal und soll diesen Wert auch behalten, selbst unter diesen neuen Nutzungsbedingungen. Die Museumsräume jedoch, mit den ausgestellten Plänen und Teilen der Innenausstattung des ehemaligen Studentenwohnheims, mußten ausdrücklich einen Teil des zukünftigen Nutzungskonzepts ausmachen.
Hierbei erscheint es wichtig, das Architekturverständnis der Nutzer zu berücksichtigen, weil dieses sich in Abhängigkeit von den jeweils vorherrschenden Vorstellungen und Nutzungen ändern kann. Ein und dasselbe Objekt kann verschieden genutzt sein und dies gibt uns die Möglichkeit, die heutige Nutzung von Architekturdenkmalen angemessen zu bestimmen.

Literatur:

[1] Pevsner N. Pioneers of modern design. Hazmondsworth, "Penguin books", 1960.
[2] A.V. Ikonnikov. Hudozestvennyj jazyk arhitektury. Moskau, "Iskustvo", 1985.
[3] Ebenda
[4] I. Lezhava. Funkcija, forma i tipologija. V sbornike "God arhitektury". Moskau, "Strojizdat", 1987.
[5] siehe N.P. Bylinkin, A.M.Zuravlev i dr. Sovremennaja sovetskaja arhitektura 1955-1980 gg. Ucebnik dlja vuzov. Moskau, "Strojizdat", 1985.
[6] siehe Lezhava

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