Thema
2. Jg., Heft 2
November
1997

Alberto Pérez-Gómez

Hermeneutik als architektonischer Diskurs

1Wenn es ein ahistorisches Wesen der Architektur gibt, dann kann man dies sicherlich nicht einfach aus einer Sammlung objektivierter Gebäude, Theorien oder Zeichnungen ableiten. Die Realität von Architektur ist unendlich komplexer, wandelt sich mit Geschichte und Kultur und bleibt doch bestehen; dies ist vergleichbar mit dem Mensch-Sein, welches immer wieder fordert, daß wir mit Hilfe der Sprache dieselben gundlegenden Fragen stellen, um uns mit Sterblichkeit und der Möglichkeit der Transzendenz auseinanderszusetzen, und das erwartet, daß wir doch abhängig von Zeit und Ort zu unendlich verschiedenen Antworten kommen.
Architektur besitzt ihr eigenes „Diskursuniversum" und hat sich über die Jahrzehnte als dazu in der Lage erwiesen, der Menschheit sehr viel mehr als nur technische Lösungen für pragmatische Notwendigkeiten zur Verfügung zu stellen. Ich vertrete die These, daß Architektur als Architektur die Möglichkeit vermittelt, uns selbst als vollständig zu erkennen, auf dieser Erde poetisch zu wohnen und somit ganz Mensch zu sein: Die Produkte der Architektur sind mannigfaltig und reichen von den Daidala der klassischer Antike bis zu den Machinae der Gnome und Gebäuden des Vitruv, von den Gärten und der ephemeralen Architektur des Barock bis zur gebauten und nicht gebauten „Architektur des Widerstands" der Moderne wie z.B. Le Corbusiers La Tourette, Gaudis Casa Batlo oder Hejducks „Masken".
Ihr Erkennen ist nicht nur linguistisch (wie bei einem semantischen Paar, wo a=b), sondern Erkennen geschieht mit dem Erleben und wie in einem Gedicht ist die „Bedeutung" nicht zu trennen von der Erfahrung des Gedichtes selbst; als „erotisches" Ereignis übersteigt es jede reduzierende Paraphrase, überwältigt den Zuhörer-Teilnehmer, und vermag damit jemandes Leben zu verändern. Somit betrifft das vorherrschende und populäre Bedürfnis, die epistemologische Grundlagen unserer Disziplin zu umschreiben, vorrangig die Frage, ob und wie Sprache dafür geeignet ist, unser Tun als Architekten zu modulieren; es kann dabei nicht darum gehen, so zu tun, als könne die Bedeutung dadurch reduziert oder kontrolliert werden. Hier geht es darum, die Art von Diskurs zu benennen, die uns dabei helfen kann, besser zu artikulieren, welche Bedeutung unser Entwurf von gebauter Umwelt in der technologischen Gesellschaft am Ende dieses Jahrtausends einnehmen könnte.

2Nachdem zwei Jahrhunderte damit verbracht wurden, die Möglichkeiten instrumenteller Diskurse in der Architektur (nach dem Model von Durand) zu testen, ist es tatsächlich nicht schwierig, zu dem Schluß zu kommen, daß über eine radikale Alternative nachgedacht werden muß. Die Wiederholung einer Dialektik der Stile und Moden ist so sinnlos wie die Feststellung, daß Architektur lediglich für materiellen Komfort und Schutz sorgen kann. Darüberhinaus ist es nicht damit getan, Pluralismus und Unterschiedlichkeit als Entschuldigung für fragmentierte und partielle Antworten anzuführen. Die erste Verantwortung eines Architekten liegt darin, zum Ausdruck zu bringen, wo er oder sie steht, hier und jetzt, und nicht Antworten mit der Entschuldigung progressiven Wissens oder dekonstruktivistischer Strategie zu verschieben.

3Ein erster Schritt besteht darin, Klarheit darüber zu gewinnen, welche Rolle der Diskurs dabei spielt, und eine Praxis zu verstehen, die traditionell durch lange Lehrzeit angeeignet wurde. Die übliche (falsche) Überzeugung in unserem digitalen Zeitalter, daß Bedeutung einfach gleichzusetzen ist mit der Kommunikation von „Information", drängt noch mehr zu dieser Diskussion. Die Verwirklichung eines Projekts verlangt offensichtlich verschiedene Arten von spezialisiertem Wissen. Aber gibt es einen Weg, wie wir fassen könnten, was essentiell für einen Architekturdiskurs ist? Gibt es ein Sprachmodell, das zu einer vorläufigen Hierarchie von notwendigem Wissens zur Realisierung architekonischer Arbeit führen könnte?

4Seit dem Beginn unserer Tradition, wie sie in Vitruvs 10 Bücher reflektiert wird, wurden einige Aspekte des für Architekten notwendigen Wissens als techne berühmt - ein beständiger Diskurs, der sich hauptsächlich mit mathemata beschäftigt und der über ein „wissenschaftliches" Traktat vermittelt werden konnte. Nichts desto trotz hat die traditionelle Theorie immer anerkannt, daß die wesentlichen Fragen nach Bedeutung und Angemessenheit nicht auf dieser Diskursebene gefunden werden können. Angemessenheit (decorum) wurde immer in Relation zur Geschichte verstanden, zur Fähigkeit des Architekten, die vorliegende Arbeit in Relation zur Vergangenheit zu verstehen, die z.B. in Geschichten vermittelt und in prä-modernen Zeiten auch mit mythischen Vorläufern identifiziert wurde.
Selbst wenn es zu den zentralen Aspekten der Proportion kam, dem Epitom der Regelmäßigkeit und der überwindbaren mathesis, die als ontologische Brücke zwischen den Werken der Menschen und dem beobachtbaren Kosmos diente, mußte sich der praktizierende Architekt den Dimensionen der Örtlichkeit und der Zweckmäßigkeit der spezifischen Aufgabe „anpassen" und konnte sein Tun nicht den Diktaten einer Theorie unterwerfen.

5Heute vestehen wir besser, daß Instrumentalität und Vorschrift nur Teilaspekte eines Architekturdiskurses sind, die nicht für die mögliche Bedeutungshaftigkeit der Operation, auf die sie sich beziehen oder helfen zu verwirklichen, Rechnung tragen können. Das Wort, so können wir eingestehen, vermag aufgrund seines ursprünglichen Potentials Geschichten zu erzählen und Bedeutung zu artikulieren. Es benennt eine Absicht in Hinblick auf einen „Erfahrungsraum" (eine kosmische oder historische Welt, je nach dem was dem kulturellen Erbe des Architekten eher entspricht) und einen „Erwartungshorizont" (ein Projekt, das durch die Imagination des Architekten für eine bessere Zukunft der Gemeinschaft konstruiert wird). Trotz der Unsicherheiten, welche die Arbeit von Architekten begleiten, sobald sie in die Welt geworfen wird und einen Platz in der öffentlichen Sphäre einnimmt (wir können nie mit Sicherheit die soziale(n) Bedeutung(en) und wahrgenommenen Werte eines Gebäudes, die zu unseren ursprünglichen Absichten hinzukommen, vorhersagen) muß uns das Wort dazu dienen, unsere Bedeutungsabsicht zu artikulieren. Trotz dem unvermeidlichen Widerspruch zwischen einer nicht instrumentellen Sprache und dem Machen, ermöglicht eine phänomenologische Herangehensweise, daß die Kontinuität zwischen dem denkenden Selbst und den Taten des Architekten (den Prozessen und Produkten, die sich aus menschlicher Handlung ergeben) begriffen und ausgebildet werden kann. Um richtig zu handeln, müssen wir lernen, richtig zu sprechen - eine offensichtliche Voraussetzung, um Architektur zu lehren und zu praktizieren. Die Fragmentierung und Instrumentalität, die wir in der Disziplin einfach voraussetzen, müssen einer kritischen Untersuchung unterworfen werden.

6Die Frage, die sich für die Architektur stellt, ist nicht nur eine „ästhetische" oder „technologische" (wobei diese einander erst seit der Aufklärung ausschließen), sondern vorrangig eine ethische. Die Architekturpraxis muß von einem Anspruch geleitet werden, dem besten aller zu dienen, da sie sich auf eine politische Dimension bezieht, in der Menschen nach Beständigkeit und Selbst-Verständnis suchen. Instrumentalisierte Theorien, gleichgültig ob sie technologisch, politisch oder formalistisch geleitet sind, oder von einem Bedürfnis, naturwissenschaftlichen Modellen nachzueifern, sind nie in der Lage, dieser ethischen Dimension Rechnung zu tragen. Welche Art Sprache kann also für einen solchen primären Metadiskurs postuliert werden? Ich meine, daß eine Lösung hierfür in der gegenwärtigen hermeneutischen Ontologie gefunden werden kann, insbesondere in Werken der Philosophen Hans-Georg Gadamer, Paul Ricoeur und Gianni Vattimo. Ich schlage vor, Architekturtheorie als Hermeneutik zu verstehen, im Sinne des späten Maurice Merleau-Ponty, daß die wesentlichen ontologischen Erkenntnisse in Sprache projeziert werden.

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7Um zu verstehen, wie man zu diesem Schluß kommen kann, ist es wichtig, einige Aspekte zu erinnern, die das Verhältnis der Architektur zu den Wissenschaften betreffen. Es ist nicht die ganze Wahrheit, daß Wissenschaft und Architektur erst als Ergebnis neuerer Revolutionen in Verbindung traten, am Ende der Metaphysik, des Logozentrismus, der klassischen Autorenschaft oder was auch immer, sondern vielmehr waren Architektur und Wissenschaft seit dem Anbeginn unserer westlichen Tradition miteinander verbunden. Ihre Ziele verliefen immer parallel. Philosophie und Wissenschaft, die krönenden Juwelen der Bios Theoreticos, zielten darauf, Wahrheit aufzudecken; eine Wahrheit, die seit Plato´s Timaios als mathematische Entsprechung verstanden wurde. Plato´s Timaeus wurde nicht nur zum wissenschaftstheoretisches Modell, das schließlich in Newton´s Physik gipfelte, sondern war ebenfalls architekturtheoretisches Modell. Der Demiurg als Architekt, der die Welt mit Hilfe der Geometrie aus dem Primordialen, aus Chasho/Chaos/Chora schafft, war ein üblicher Aspekt der klassischen Theorie. Er ist nie ein Schöpfer ex nihilo, sondern was er erzeugt, hat immer einen tiefen Sinn, der bereits existiert. Der Kosmos des Architekten entspricht dem Kosmos des Platon, und die „Kosmobiologie" des Philosophen liegt allen „Enthüllungen" architektonischer Bedeutung in den überlieferten Schriften über Architektur zugrunde. Architektur deckte Wahrheit auf, indem sie die Ordnung des Kosmos in der sublunaren Welt enthüllte. Es war eine Art präzises Wissen, das von einer (vorherrschenden männlichen) Menschheit implementiert worden war, um den (unausrottbar weiblichen) Rhythmus menschlichen Handelns und politischer sowie religiöser Rituale einzurahmen, mit dem Ziel, die Wirksamkeit und Realität menschlicher Erfahrung zu garantieren.
Die Metaphern für Architektur waren offensichtlich das, was Architektur nicht war, aber als Analogie aufdeckte, nämlich die geschaffene Ordnung des Kosmos, der Natur und des menschlichen Lebens und Körpers. Man könnte somit argumentieren, daß Architekturtheorie damit Wissenschaft war, denn sie hatte denselben Status wie die Scientia, solange sie in einem nicht-instrumentellen Verhältnis zur Praxis stand. Scientia benannte das, worüber man nachdenken sollte - die proportionale Ordnung, die Architektur verkörperte - nicht nur als Gebäude, sondern als Situation des Menschen in der Raum-Zeit seiner Erfahrung. Es überrascht nicht, daß Plato´s Sokrates in seinem Euthypro (Iic-e) Dedalus als seinen wichtigsten Ahnen beschwört.

8Wie ich auch schon an anderem Ort aufzuzeigen versucht habe, ändert sich dieser status quo während des 17. Jahrhunderts, doch obgleich diese Transformationen in theoretischen Traktaten offensichtlich sind, beeinflussen sie die Architekturpraxis erst im 19. Jahrhundert. Mitte des 17. Jahrhunderts entwickelte Girard Desargues eine instrumentelle Theorie der Perspektive und des Steinbehaus, die von Praktikern nicht akzeptiert wurde, und gegen Ende des selben Jahrhunderts extrapolierte Claude Perrault sein Verständnis von Biologie und Physik in eine kontrovers diskutierte Architekturtheorie. In seiner „Ordonnance for the five kinds of columns" stellte Perrault die traditionelle Rolle der Proportion, welche die Beziehung zwischen Mikrokosmos und Makrokosmos garantierte, und die Bedeutung der optischen Korrektur, die immer als Grund für die beobachtete Diskrepanzen zwischen Proportionsvorschriften in theoretischen Traktaten und Baupraxis angesehen worden war, in Frage. Diese beiden Aspekte waren beständig präsent in der Architekturliteratur seit Alberti (15. Jahrhundert) bis ins späte 17.Jahrhundert.. Perrault konnte die traditionelle Priorität der Praxis nicht verstehen und auch nicht die Macht der Architektur, perfekte Maße an körperlich synästhetischem Erleben zu demonstrieren; er konnte nicht glauben, daß die Aufgabe des Architekten von seiner Fähigkeit abhing, solche Proportionen dem Ort und dem vorliegenden Programm entsprechend anzupassen. Für Perrault war der Status der Theorie nicht länger einer von absoluter (mythisch, religiöser) Wahrheit, sondern eher, wie in den induktiven physikalischen Systemen, der „wahrscheinlichste" und mathematisch präzise. Ihr Zweck war lediglich, möglichst leicht „anwendbar" zu sein und reduzierte sich somit auf ein Set von Rezepten, welche eine Architekturpraxis kontrollieren, die schon immer zu Fehlern neigte und sich der Schwerfälligkeit der Handwerker unterwerfen mußte.
Architektur und ihre angewandte Theorie wurden von Perrault als eine Disziplin gesehen, die sich in ihrer fortschreitenden Geschichte entwickeln und mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit in der Zukunft perfekt sein würde.

9In gewisser Weise setzte Perrault die Tradition von Architektur als Wissenschaft fort. Und doch transformierte er radikal die Natur der Theorie und der Praxis von Architektur. Um Peter Eisenman zu paraphrasieren, kündigt dies den „Beginn des Endes" traditioneller Architektur an, das Ende der klassischen Art, Gebäude zu sehen und zu bauen, welche sich auf ein kosmologisches Bild bezieht, das als ultimatives, intersubjektives Rahmenkonzept für bedeutungsvolles menschliches Handeln diente. Der Beginn der Krise in der Architektur wird nicht auf das erst kurze Zeit zurückliegende „Ende der Avantgarde" datiert oder auf Panoptizismus und Industrielle Revolution, oder den Untergang der „Beaux Arts" im frühen 20. Jhrd.. Vielmehr muß dies parallel mit dem Beginn der modernen Naturwissenschaft selbst und ihrem Einfluß auf den Architekturdiskurs gesehen werden. Nach Perrault, jedoch insbesondere nach Jacques-Nicolas-Louis Durand, dem populären Architektur-Lehrer, dessen Arbeit schon im frühen 19. Jahrhundert in nuce all die theoretischen Voraussetzungen und stilistischen Debatten beinhaltet hat, die uns noch immer plagen, wird die Legitimität von Architekturtheorie und Praxis mit dem Prädikat der „Wissenschaftlichkeit" auf pure Instrumentalität reduziert. Der Wert von Architekturtheorien wurde seitdem von ihrer Anwendbarkeit abhängig gemacht. Andere gut bekannte Formen deterministischer Theorien folgten seitdem, von Eugène-Emannuel Villet-le-Ducs strukturellem Paradigma, über Buckminster Fuller´s technolgische Träume bis zu aktuellen verhaltensorientierten und soziologischen Modellen. Selbst heute, nach Jean-Francois Lyotards weit verbreitete Veröffentlichung der Kritik der großen Erzählungen in der Wissenschaft, neigen Architekten und Theoretiker noch immer dazu, diesen Sachverhalt recht unkritisch zu betrachten.

10Diese Mißverständnisse sind vermischt mit einer Mißachtung der Geschichte der Architektur als eine eigene komplexe, facettenreiche, kulturelle Ordnung mit epistemologischen Verbindungen; eingebunden in eine Vielfalt von Artifakten ist es unmöglich, sie auf eine Typologie oder Soziologie von Gebäuden zu reduzieren, auf eine einzelne, progressive und kontinuierliche Linie oder auf diskontinuierliche hermetische Momente. Geschichte muß nicht ein Hindernis für die Praxis sein. In seinem Essay „Über den Nutzen und Nachteil der Geschichte für das Leben" benennt Friedrich Nietzsche die Gefahren und die Möglichkeiten, welche die Geschichte für einen neuen Menschen eröffnet, insbesondere für den kreativen, verantwortlichen Individuellen in dieser postkosmologischen Zeit. Sicherlich gibt es nutzlose und problematische Formen von Geschichte, besonders pseudo-objektive progressive Schilderungen, jedoch sollte dies nicht dazu führen, daß wir nicht darauf achten, was wir sind, und das ist tatsächlich das, was wir waren. Wie ich später ausführen möchte, gibt es einen speziellen Weg, Geschichte als ein Rahmenkonzept für ethisches Schaffen zu verstehen und zu „nutzen". Da uns eine lebendige Tradition für Architekturpraxis seit dem 19. Jahrhundert fehlt, sind wir wahrlich aufgefordert, eine solche zu re-konstruieren, indem wir die Spuren und Dokumente unserer Vergangenheit aufsuchen und interpretieren, beständig und mit frischem Blick, um darin verborgene Potential für die Zukunft zu entdecken, als würde jemand Korallen vom Grunde des Ozeans bergen oder Perlen aus gewöhnlich scheinenden Mollusken herausholen.

11Einiges an derzeitigen Veröffentlichungen zur Architektur aus unterschiedlichen ideologischen Richtungen, die von wissenschaftlichen und methodologischen Ansätzen bis zu gründlicher durchdachten Versuchen reichen, die kritische Vernunft der Aufklärung fortzuführen, greifen oft ein Geschichtsverständnis auf, das Geschichte lediglich als Ansammlung von uninteressanten Schalen faßt - tot und unnachgiebig. Diese weitverbreitete Nichtbeachtung von Geschichte wird gerne mit offenen Armen aufgenommen, weil sie mit populären Annahmen über einen linearen Zeitverlauf, den Fortschritt und einem Verständnis von Vergangenheit als ein fremdartiges geschlossenes Buch zusammenfällt. Hand in Hand damit werden "alternative" wissenschaftliche oder ideologische Modelle aufgegriffen. Chaos- und Katastrophentheorie zum Beispiel werden häufig unverantwortlich in die Architekturtheorie extrapoliert und interpretiert, als würden sie formale Strategien und metaphorische Verbindungen für Architektur nahelegen, die in sich nur ein Manierismus der Moderne sind. Wenn man Wahrheit mit Wissenschaft und Wissenschaft mit angewandter Wissenschaft, z. B. mit Technologiekonzepten, gleichsetzt, ist das Ergebnis eine Unfähigkeit, tatsächlich radikal alternative Denkmodelle in der Architekturtheorie zu entwickeln. Man muß dazu nur die irrelevanten Ergebnisse gegenwärtiger Interessen von Architekturschulen in der Chaos- und Katastrophentheorie betrachten, oder die Rückkehr der Semiotik in die theoretische Diskussion in Europa und Nord-Amerika. Tatsächlich scheinen diese Strategien keine neuen Möglichkeiten jenseits der Beziehung zwischen Theorie als angewandter Wissenschaft und Praxis als Technologie zu eröffnen, die von Durand schon vor fast zwei Jahrhunderten eingeleitet worden war.

12Man mag mich erinnern, daß die Trennung von Form und Inhalt in der Ästhetik selbst ein historisches Ereignis darstellt, das während des 17. Jahrhunderts stattfand, insbesondere seit dem Niedergang der Barockarchitektur. An anderer Stelle habe ich jedoch Anamorphosen in diesem Sinne schon beschrieben, welche die anfängliche Trennung von Präsenz und Repräsenz demonstrieren. Jedoch ist die Aufsplittung von Kunst in Form und Inhalt auch ein Ergebnis unserer Zivilisation, die in die Geschichte „geworfen" wurde. So lange wir als Zivilisation die Historizität nicht völlig überwinden können, müssen wir mit unseren Annahmen vorsichtig sein. In anderen Worten, wenn ich auch die Abneigung gegenüber dieser problematischen Trennung mit postmodernen Kritikern und poststrukturalistischen Philosophen teilen mag, so ist es doch eine gefährliche Täuschung, in unserem heutigen kulturellen Kontext so zu tun, als gäbe es ihn nicht. Leibniz konnte mit Mathematik beginnen und an seiner clavis universalis arbeiten, weil er sein theologisches a priori hatte. Gott hatte die Welt geordnet und weil dieser perfekt ist, wurde auch jeweils die Gegenwart als potentiell perfekt und daher optimal erachtet. Gott war Ende (und Anfang) von allem. Leipniz stellte sich unseren freien Willen als ein Fährboot in einem Fluß vor; wir alle, individuelle Monaden „ohne Fenster", gehen jeweils unseren eigenen gewählten Weg, während wir dennoch lose von einer göttlichen Vorsehung geleitet werden. Diese Art menschlicher Aktion, wie auch immer mathematisch geleitet, operiert in einer traditionellen Welt. Erst das 18. Jahrhundert sah den Anfang von Geschichte im Sinne von „gemachter Geschichte", wie es auch für uns heute vetraut ist, wenn wir in den Nachrichten von einer politischen Persönlichkeit hören, die einen Friedensvertrag unterzeichnet hat. Geschichte als menschlich generierte Veränderung ist nicht „natürlich", sondern Teil des modernen westlichen Bewußtseins mit ihrer Besessenheit von wissenschaftlichem Fortschritt und materieller Verbesserung. Man könnte argumentieren, daß vor Beginn der Aufklärung, insbesonder vor Vico und Rousseau, die menschlichen Handlungen in Anbetracht der ausdrücklichen Ordnung der Schöpfung mehr oder weniger irrelevant waren. Renaissance-Architektur z.B. richtete ihre Augen auf die Vergangenheit, jedoch lediglich um ihre Aussöhnung mit einer kosmologische Ordnung, die als absolut transhistorisch angesehen wurde, zu bestärken, gleich wie Geschichte unfraglich die geheiligte Geschichte der Kirche war - mit Erlösung, und somit der Apokalypse gleich um die Ecke. Die moderne Geschichte auf der anderen Seite legt die Annahme zugrunde, daß menschliche Handlungen wirklich Bedeutung haben, daß sie effektiv Dinge verändern können, wie z.B. die französische Revolution, d.h. daß tatsächlich ein Potential einerseits für Fortschritt vorhanden ist - offensichtlich in den modernen Wissenschaften und Technologien - und andererseits für die selbst-kreierte Auslöschung, und daß somit die Gegenwart qualitativ anders ist als die Vergangenheit. Dieser „Vektor" ist charakteristisch für die Moderne, und ihre absolute Hegemonie wurde zuerst von Nietzsche und gegenwärtig von postmodernen Kulturkritikern in Frage gestellt.

13Ich teile Gianni Vattimo´s Wahrnehmung, daß wir, obgleich Geschichte als große Erzählung des Fortschritts und der Avantgard am Ende sein könnte, dennoch unsere Historizität akzeptieren müssen. Wir können nicht einfach die Moderne überwinden und sie zurücklassen: Wir können höchstens gesund werden, uns von Resentiments heilen und unsere Gegenwart mit unserer Vergangenheit aussöhnen. In anderen Worten, es ist Zeit, die aprioris, die mit unseren menschlichen Gegebenheiten seit dem 19. Jahrhundert assoziiert sind, zu umarmen und nicht zu überwinden. Wir können uns nicht so verhalten, als ob wir in einer kosmologischen Epoche leben würden, einer sich wiederholenden Gegenwart, wo tatsächlich kein Unterschied zwischen Form und Inhalt der Architektur existiert, und wir dazu geführt würden, die Verantwortung für unsere Taten niederzulegen; ebensowenig können wir so tun, als ob wir das Projekt der Moderne weiterführen würden, mit ihrer Zukunftsorientiertheit, ihrem Glauben an Planung und Sozialtechnologie, ihrer absurden Trennung von Form und Funktion und ihrer Ablenkung von Verantwortung. Wir können höchstens unsere Beziehung zur Historizität modifizieren, die Multiplizität der Diskurse und Traditionen akzeptieren, und mit Hilfe unserer Vorstellungskraft, dem wahren „Fenster" unseres monadischen Selbst, unsere persönliche Verantwortung erkennen und eine bessere Zukunft zu planen. Dies versucht ein hemeneutischer Diskurs zu erreichen. In einer Welt komplexer technologischer Systeme kontrollieren wir natürlich individuell sehr wenig; dennoch haben unsere Handlungen, auch wenn wir uns nur für Papierrecycling entscheiden, eine phänomenale Wichtigkeit. Diese absurde Situation ist selbst eine Konsequenz aus unserer technologischen Realität, unserer gänzlich konstruierten Welt. Somit würde ich argumentieren, daß formalistische Strategien in der Architektur, egal worauf sie sich beziehen und womit sie sich legitimieren (Marxismus, Linguistik, Physik oder evolutionäre Biologie), gefährlich und unverantwortlich sind.

14Da uns ein theologisches a priori fehlt, besteht die Alternative darin, ausgehend von unseren Erfahrungen und ihren historischen Wurzeln eine normative Theorie zu konstruieren. Wie Vico schon sagte, kann ein solcher Diskurs nicht legitimiert werden, wenn er nicht eine mythopoetische Sprache (mit ihrer vorstellbaren Universalität) als die vorrangig menschliche Art erkennt, diejenigen Fragen zu stellen, mit denen wir als Menschen geboren werden, und die wesentlich sind, um unsere sterbliche Existenz zu begründen. Wir müssen ein Vertrauen entwickeln und uns darauf einlassen, die außergewöhnlichen Zufälle aufzudecken, die wir Ordnung nennen, und durch unser Tun herauszufinden, daß Verbindungen existieren, und daß ihre Bedeutung mit anderen Menschen geteilt werden kann: im Falle der Architektur, mit den Hausbewohnern und Mitwirkenden an Projekten und Gebäuden. Unsere Erfahrungswelt beinhaltet die Artefakte, die unsere künstlerische Tradition begründen, die erhellenden Momente, die wir Architektur nennen, Momente des Wiedererkennens in raum-zeitlichen Formen, die völlig neu sind und doch befremdlich vertraut, sobald sie in Sprache gefaßt werden. Wenn wir diese Formen spezifischer Verkörperung verstehen und ihre Lektionen in Anbetracht unserer Aufgaben artikulieren, dann haben wir eine größere Chance, eine angemessene Architektur zu konstruieren - eine intersubjektive Realität, die unsere sozialen und politischen Aufgaben als kulturelle Affirmation erfüllen könnte. Die Aufgabe für Architektur besteht darin, eine soziale und politische Ordnung aus dem ´Chaosmos´ von Erfahrungen zu enthüllen, ausgehend von den Bedeutungswahrnehmungen, die unsere Kultur geteilt hat, verkörpert in historischen Spuren, und gleichzeitig imaginierte Alternativen zu planen, die über die geerbten, versteiften und unterdrückenden Institutionen hinausgehen.

15Dies beschreibt Ricoeur in seiner späten Formulierung der Hermeneutik in „Time and Narrative" als unsere Vermittlung zwischen Erfahrungsraum und Erfahrungshorizont. Der Architekt soll gleichzeitig dazu in der Lage sein, zu vergessen und zu erinnern. Hier bezieht sich Ricoeur auf Nietzsches Beschreibung davon, wie Geschichte im Dienst von Leben und Schöpfung gesehen werden muß, und weniger als Disziplin, die Informationen abtötet. Die Erzählungen und Programme des Architekten müssen damit beginnen, die Erfahrung von Werten anzuerkennen und daraufhin eine ethische Praxis zu artikulieren. Historische Erzählungen werden beständig unseren Erfahrungsraum öffnen, während fiktionale Erzählungen der Vorstellungskraft erlauben, den Erfahrungshorizont zu beeinflussen. Man muß nicht notwendigerweise zwischen einer ewigen Gegenwart (einer kosmischen Gegenwart ohne Vergangenheit und Zukunft) und einer historisch abwesenden Gegenwart (in der nur Vergangenheit und Zukunft wirklich existieren), bzw. zwischen linearem und zyklischem Zeitverlauf, wählen. Obgleich wir unser Schicksal als verantwortliche historische Wesen akzeptieren müssen, ist unser persönliches Selbst kein cartesianisches Ego, getäuscht durch Macht-, Originalitäts- oder Herrschaftsspiele. Jenseits der Dichotomie von zyklischem und linearem Zeitverlauf, der mythologisch mit femininen und maskulinen Epochen korrespondiert, erwartet uns die Zukunft im Zeichen der Androgynität, und ruft ein verantwortliches Selbst herbei, das nicht in poststrukturalistischen Übungen verschwindet, sondern vielmehr die persönliche Vorstellunskraft im Hinblick auf ethisches Handeln übt.

16Es geht darum, Architektur und ihre Bedeutungen über ihre Verbindung zur Sprache zu begründen, Geschichte(n) als eine wahre normative Disziplin der Menschheit anzuerkennen und somit auch als angemessenen Diskurs über Architekturtheorie. In polemischer Opposition zum Dekonstruktivismus fordert Hermeneutik Geschlossenheit, d.h. ein Vorurteil, eine ethische Haltung, ein verantwortliches Selbst, das in Frage stellt und handelt. Die Rhetorik hat dabei ein Privileg gegenüber der Schrift. Ebenfalls in Opposition zu den Argumenten des frühen Foucault, die in der Kunstgeschichte häufig noch von seinen Schülern verschärft wurden, läßt die Hermeneutik sowohl die in unserer Historizität implizierte Diskontinuität zu, (die Tatsache, daß Kulturen und Zeiten wahrlich verschieden sind) als auch die Notwendigkeit, Verbindungen zu konstruieren. Wir sind unsere Geschichte und unsere Autobiographien sind immer anders und doch gleich. Wenn wir die Aussöhnung von Diskuntinuität und Kontinuität zulassen, werden Geschichten zu einer Architekturtheorie, zu einem Meta-Diskurs für die Architektur.

17Über eine Dynamik von Distanzierung und Annäherung führt die Hermeneutik zu einem Selbst-Verständnis. Das Wesentliche in diesem Prozeß, sich dieses Verständnis anzueignen, ist, daß wir gerade durch die Distanz zum Thema, z.B. den Texten und Artifakten unserer Architekturtradition, Möglichkeiten für die Gegenwart finden können. Obgleich es stimmt, daß unsere Re-Konstruktion der „Welt des Werkes" niemals mit Sicherheit versehen ist, und daß wir nicht verhindern können, Männer und Frauen des späten 20. Jahrhunderts zu sein, so wette ich doch, daß ein solcher Versuch, verbunden mit einem Selbst-Bewußtsein über unsere eigenen Vorurteile, auf eine Verschmelzung von Horizonten hinauslaufen wird. Wir können nicht einfach, wenn wir Vitruv lesen, „ratio" als gleichbedeutend mit „Vernunft" im späten 20. Jahrhundert verstehen. Darin liegt die Begrenzung sowohl „geschlossener" dekonstruktiver Lesearten, als auch traditioneller analytischer Haltungen in der Architekturtheorie. Unsere Interpretationsversuche sind bedeutungsvoll, denn diese Fähigkeit ist letztlich unser Talent und ein Geschenk, das wir empfangen haben, weil wir in die Geschichte gefallen sind - ein wahrhaft modernes /postmodernes Vermögen. Die Selbst-Bewußtheit unserer Fragen, die Welt „vor" dem Werk, beauftragt uns, daß wir eine Versöhnung schaffen und unsere Erkenntnisse in gegenwärtigen Handlungen und in der Zukunft anwenden. Wie Hanna Arendt betonte, müssen wir Geschichte als immensen Schatz verstehen, der noch kaum berührt wurde, und mit dem wir eine Zukunft frei von lebendigen Traditionen schaffen können. In der Hermeneutik ist die Wahrheit Interpretation, und das heißt immer erkennbar-verborgen und niemals absolut und objektiv gegeben. Auf der anderen Seite erklärt Hermeneutik Veränderung, Wachstum und vielleicht sogar Evolution. Es gibt „etwas", das wir mit unseren paleolithischen Vorfahren teilen, selbst wenn es „lediglich" die Fähigkeit zu sexueller Liebe, zu Sprache oder zu Bewußtheit unserer Sterblichkeit ist. Unterschiedliche Antworten auf dieselben Fragen legen eine progressive Differenzierung offen, die wir, mit Eric Vöglin, die Ordnung in der Geschichte nennen können. Hier ist eine Ordnung gemeint, die niemals voll und ganz geklärt werden kann und die immer wieder in den Sprachen der Mythen und der Kunst re-artikuliert werden muß (in unserer Zeit ist eine Demystifikation wissenschaftlicher „Antworten" insbesondere der Soziologie, Anthropologie, Biologie u.a. gefordert). So verneint Hermeneutik einen Nihilismus des Leids (oder eine zynische, amoralische Haltung), die vielleicht als Ergebnis aus der Homogenisierung unseres kulturellen Erbes resultieren könnte, und erlaubt eine ethische Praxis, obgleich sie die „Gefahren" der spät-industriellen Konsumgesellschaft voll erkennt.

Literaturangaben

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- Desargues, G. "Exemple de l'une des manieres universelles du S.G.D.L. touchant la pratique de la perspective..." in: "The Geometrical Work of Girard Desargues," Ed. J.V. Field and J.J. Gray, New York. 1987

- Durand, J.-N.-L. "Precis des lecons d'architecture" (1819), reprint München. 1981

- Gadamer, H.-G. "Philosophical Hermeneutics". Berkeley. 1977

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- Ricoeur, P. "Zeit und Erzählung". München. 1988

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- Vattimo, G. "The Transparent Society". Baltimore. 1992

- Viollet-le-Duc, E.E. "Entretiens sur l"Architecture", 2 Bde. Paris. 1863-1872

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