![]() 2. Jg., Heft 2 Nov. 1997 |
Eduard Führ
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1. Vorbemerkung
Bild 1: Darstellung des Wahrnehmungsvorgangs durch Osram 1Wenn man
nachfragt, wird man feststellen, daß heute - auch bei Architekten - Wahrnehmung immer
noch als Schnappschuß verstanden wird (siehe Bild 1): wahrgenommene Gegenstände,
Wahrnehmungsinhalte sind dieser Vorstellung gemäß durch einen fotokameraähnlichen
Apparat aufgenommene und heim ins Hirn gebrachte, technisch gewonnene Verdoppelungen der
äußeren Dinge. Sprache hat bei diesem Vorgang keine konstruktive Funktion, sie stört
eher den technischen Ablauf des Einhausens. 2Ich möchte
hier jetzt nicht im Einzelnen über die entsprechenden, wissenschaftlich gesicherten
Erkenntnisse berichten, also etwa, daß schon auf der Retina die optischen Wellen in
elektro-chemische Reize ganz unterschiedlicher Art umgewandelt werden, daß für die
Wahrnehmung des Farbspektrums ganz unterschiedliche Rezeptoren zuständig sind, daß
niemals ein Fakt in seinem aktuellen Bestand, sondern ausschließlich Veränderungen und
Unterschiede rezipiert werden, daß durch die zwei Augen zwei unterschiedliche Bilder von
einem Gegenstand aufgenommen werden und daß diese wiederum aufgespalten werden und etwa
die Reizfelder beider rechten Hälften des rechten und linken Auges in die linke
Hirnhälfte und die beiden linken in die rechte Hirnhälfte vermeldet werden. 3Ich könnte
das Problem des Verhältnisses von Architektur und Sprache auch philosophisch abhandeln,
also einen Vortrag über Fachsprachen in Architektur und Kunst halten, eine Kritik etwa an
Erwin Panofskys Drei-Schichten-Modell von Ikonologie oder an Max Imdahls Begriff der
Ikonik vornehmen; dabei hätte ich darüber gesprochen, wie man über ein Gebäude oder
ein Kunstwerk spricht. 4Obwohl es hier um Architektur gehen soll, möchte ich der Einfachheit halber ein Bild von Sol LeWitt von 1973 besprechen, das sich heute in der Sammlung Vogel in New York befindet. Ich denke aber, man kann das Bild auch durch Gebäude und Texte von Architekten ersetzen, ohne daß im Prinzip die methodischen Ergebnisse ungültig sind. 2. Vortrag |
| E. F.: | Der Titel enthält die Konstruktionsprinzipien des Werkes; ich bilde es hier noch einmal mit den von mir gezeichneten Hilfslinien ab. |

Bild 3: Konstruktionszeichnung von Sol LeWitts Bild A LINE DRAWN BETWEEN...
| E. F.: | 5Jeder könnte aufgrund des Titels ein mit Sol LeWitts Bild A LINE
DRAWN BETWEEN... von 1973 identisches Werk herstellen. Da in unserem Beispiel hier
der Text dem Bild vorhergeht, könnte man bei jedem weiteren Bild auch von einem, dem
ersten gleichwertigen Original sprechen. Von vielen Architekten und Architekturtheoretikern würde das hier vorgestellte Bild und sein Titel als der seltene, glückliche Fall verstanden, bei dem Werk und Versprachlichung des Werkes miteinander identisch sind. Der Titel teilt alle Prinzipien für die Herstellung mit. Ich meine, daß gerade ein klassischer Architekturtheoretiker dem zustimmen und hier eine Identität von Werk und Text sehen würde, denn die klassische Architekturtheorie (wie sie etwa Hanno Kruft zusammenfaßt) ist nichts anderes als die Verbalisierung von Entwurfsprämissen durch die Hersteller von Architektur, durch die Architekten. Allerdings gibt es einen Wermutstropfen. Architektur wird für komplizierter als das Werk von Sol LeWitt gehalten und deshalb auch - so konzidiert man - gelingt es nicht so einfach oder letztlich gar nicht, eine Identität von Werk und Sprache herzustellen. Die Aufgabe bleibt, die berufliche Sicherheit für die Architekturtheoretiker ist gewährt. Aber handelt es sich bei unserem Beispiel wirklich um eine Identität von Werk und Text? |
A. Werk und Titel
| E. F.: | 6Ich kenne das Bild aus einem Museum. Es gibt unterschiedliche Gründe,
ins Museum zu gehen, darauf möchte ich jedoch nicht eingehen, sondern dies Ihrer
Erinnerung und Ihrer Phantasie überlassen. Die Rezeptionsweisen im Museum können sehr
unterschiedlich sein, man kann das Bild oder den Künstler schon vorher kennen, es kann
eine thematische Ausstellung sein usw. aber auch darauf möchte ich nicht näher eingehen. In diesem Fall kannte ich das Bild noch nicht. Die übliche Rezeption eines Bildes im Museum ist in diesem Fall, daß man kurz auf das Bild blickt; wenn es einen anspricht, dann auch länger. Wenn man dann Verständnis oder aber Unverständnis gefunden hat, sieht man auch auf den Titel. Diese sind in der Regel kurz und man erwartet eine Bezeichnung des Dargestellten oder einen kleinen Hinweis. 7Das Bild von Sol LeWitt ist nicht sehr umfangreich. Ich erkannte die
Linie auf den ersten Blick und hatte das Gefühl, damit das Bild komplett wahrgenommen zu
haben. Die Linie verlief irgendwie auf dem Bildfeld, möglicherweise war das ästhetisch
gemeint, ich konnte aber nicht eine außerordentliche harmonische Position darin erkennen.
Also: irgenwie banal, Bild abgehakt. Um ganz abzuhaken, noch ein Blick auf den Titel. |
B. Textanalyse
| E. F.: | 8Nimmt man es genau, verbalisiert der Titel eigentlich nicht das Bild von
Sol LeWitt, sondern meine Konstruktionszeichnung. Denn im Titel wird kein Unterschied
gemacht zwischen einer Konstruktionshilfslinie, die alle in dem Werk von LeWitt nicht
sichtbar sind und der einen sichtbaren Verbindungslinie zwischen den beiden konstruierten
Punkten. Der Titel unterscheidet nicht zwischen einer mathematischen (Hilfs-) Linie und
einem (Bleistifts-) Strich. - Der Titel enthält die Konstruktionsprinzipien, er beschreibt aber nicht die faktische Genese des Bildes; also etwa: IN MY STUDIO AT 115th STREET AT MONDAY 13th OCT 1973 AT 10.40 AM I TOOK A SQUARE SHEET OF PAPER, A PENCIL AND A RULER AND DREW THE TWO DIAGONALS TO FIND THE CENTER OF THE SQUARE. THEN ... Der tatsächliche Titel entzeitlicht und enttopologisiert also, d. h. auch, er enthistorisiert und entkulturalisiert das Werk. - Der Titel stellt die Konstruktionsprinzipien in einer bestimmten Weise dar. Er heißt nicht FROM THE POINT HALFWAY BETWEEN THE CENTER OF THE PAGE AND THE MIDPOINT OF THE LEFTSIDE IS A LINE DRAWN TO THE UPPER LEFT CORNER..., sondern - wie oben lesbar - A LINE DRAWN BETWEEN ... Sol LeWitts Text gibt die Prinzipien der Konstruktion der Linie als Prinzipien des eigenen Seins und nicht als Prinzipien, die zwar conditio sine qua non für die Existenz des Strichs, aber nicht der Strich selbst sind. Bei Sol LeWitts Text ist die Struktur des Strichs geborgen im Sein des Strichs. Die Struktur ist nicht etwas, das zum Sein des Strichs führt, aber ontologisch in Differenz zu ihm steht, wie es beim alternativen Text nicht FROM THE POINT HALFWAY BETWEEN THE CENTER OF... impliziert ist. Oder anders gesagt: Der Text zeigt, vom sichtbaren Strich ausgehend, aufgrund welcher Struktur und welcher geometrischen Logik er genau so verläuft, wie er es tut. Er zeigt nicht, wie ein geometrisches Gerüst aufgebaut wird, dessen Resultat dann ein bestimmter Strich sein wird. 9- Der Text enthält kein Satzsubjekt und damit auch nicht den Produzenten
des Werkes; er heißt nicht: I DREW A LINE BETWEEN.... |

Bild 4: Cartesianische Achsen
| E. F.: | 10Das Resultat der Verbalisierungen wäre in beiden Fällen gleich, visuell
gäbe es keinen Unterschied. Der Unterschied läge in der nichtsichtbaren Einbindung bzw.
Nichteinbindung in eine Struktur, damit in eine über das Element Linie hinausgehende
Rationalität und damit wiederum in einen über die Faktizität und Kontingenz
hinausgehenden Sinn. Da Sol LeWitt als Text nicht diese viel kürzere und einfachere cartesianische Definition vorgelegt hat, sondern die geometrische Struktur, kommt es ihm also darauf an, den Bleistiftstrich als sinnhafte Linie zu zeigen. 11Aber was macht den Sinn aus? Es
handelt sich hier um eine geometrisch verstandene, zweidimensionale Fläche und nicht um
ein physikalische Kräftfeld, bei dem es physikalischen Sinn machte, Linien als
Kräftevektoren darzustellen. Unsere zweidimensionale Linie ist das notwendige Ergebnis
seiner Konstruktionsstruktur. Wie notwendig ist jedoch die Konstruktionsstruktur? 12Aber alle
diese Entscheidungen, die eine eineindeutige Notwenigkeit konstruieren, sind als
Einzelentscheidungen zufällig und willkürlich und so oder aber genausogut auch anders zu
treffen. |
E. F. wendet sich nun wieder dem Bild zu.
C. Bildanalyse
| E. F.: | 13Ich sehe einen Strich, der von rechts unten nach links oben geht, so
irgendwo ein wenig in der Mitte des Blattes. Ich schaue hin und habe unmittelbar das Gefühl, alles zu seiner und meiner Genüge gesehen und damit erkannt und verstanden zu haben. |
1. Bild und Vorwissen
| E. F.: | 14Wir hier können natürlich von unserem Vorwissen nicht absehen. Wir
wissen, wie der Strich zu Stande kam und daß er in sich seine Konstruktionsrationalität
enthält. Mit oder ohne dieses Vorwissen, man kann so lange hinsehen, wie es nur möglich
ist, man wird das Konstruktionsprinzip nicht heraussehen. Selbst wenn man den Strich selbst gezeichnet hat, selbst dann transvisualisiert er sich nicht zu einer Linie in einem System. Er bleibt ein vereinzelter Strich an indefiniter Stelle. Das einzige, was der Strich durch das Vorwissen erhält, ist eine zusätzliche Spannung, da ich ausgehend und motiviert von meinem Wissen, permanent kognitiv und visuell mit ihm ruckele und zuckele, um ihn in die gewußte Ordnung einzugliedern, nicht zuletzt, um mir selbst mein eigenes Wissen auch optisch einsichtig zu machen. Sollte es gegen alle Erwartungen dennoch jemandem gelingen, den einzelnen Strich im System der Konstruktionsprinzipien auch zu sehen (und nicht nur zu wissen), so zerstört er dessen visuelle Existenz und transformiert ihn zur Darstellung eines Textes. |
2. Wahrnehmung und Verbalisierung
| E. F.: | 15Ich werde nun verbalisieren, was ich sehe und vielleicht können Sie mir dabei in Absehung von Ihrem Vorwissen folgen. |
Formate
| E. F.: | 16Das Bild ist verhältnismäßig klein, es gleicht einem kleinen Tafelbild
oder einer Ikone. Was bewirkt das optisch? Ich kann das Bild völlig übersehen, da mein optisches Wahrnehmungsfeld weitaus größer ist als das Bild. Ich stehe ihm gegenüber, habe es als Gegenstand und bleibe in Distanz; ich werde nicht - um ein gegenüberliegendes Extrem zu nennen: wie bei Barnet Newman oder etwa Mark Rothko völlig von dem Bild umfangen und in es integriert. Als Quadrat ist es eine oder besser gesagt neben dem Kreis, die - geometrische Grundform, die sich aus einer biomorphen Naturwelt und in einer durch Funktionen komplex geformten technischen Kulturwelt am stärksten hervorhebt. Das quadratische Format eines Bildes ist auch selten Ergebnis einer in ihr dargestellten Bildwelt. Es bildet also zu seiner Außenwelt und zu seiner Innenwelt eine autonome Form. |
Materialität der Bildfläche
| E. F.: | 17Die Bildfläche besteht aus weißem Karton. Was zeigt das? Der Karton stützt die geometrische Identität des Bildes und dessen Autonomie. Es ist jedoch eine Autonomie, die sich nicht aus einem Gegenstand bestimmt, etwa in der Selbständigkeit eines massiven Gegenstandes aus Blei oder aus Beton, der insofern autonom wäre, als er sich als singulärer Gegenstand gegen konkrete physikalische Einwirkungen von außen beständig erweist. Die Autonomie des weißen Papiers besteht in der prinzipiellen Andersheit, in der Konstitution einer autonomen Realität, die eine eigene zur Alltagsrealität autonome Rationalität hat. Das Papier ist stumpf, es reflektiert somit keine Lichtquellen des Außenraumes, den ich also nicht im Papier miterfahre. Das stumpfe Papier entwirft mir eine ausgegrenzte homogene Eigen-Räumlichkeit. |
Materialität des Strichs
| E. F.: | 18Die Linie ist ein zarter Bleistiftstrich. Sie wirkt in gewisser Weise als
Gegenstand auf einem Bildfeld. Allerdings ist die Gegenständlichkeit des Striches
minimalisiert. Um das zu erläutern, habe ich einmal einige Alternativen zu dem Strich anfertigen lassen, die ich Ihnen hier zeige. |
Bild 5: Bild mit weichem Bleistiftstrich
Bild 6: Bild mit dickem Tuschestrich
| E. F.: | 19Der Tuschestrich grenzt sich klar zum Umfeld ab. Sein Sein im Gegensatz
zum Nichtsein der Umgebung ist eindeutig. Beim Bleistiftstrich ist die Ausgrenzung nicht
so eindeutig; an einzelnen Stellen des Strichs wird er etwas dünner, punktuelle Aussetzer
lassen die weiße Papierfläche durchscheinen. Zudem glänzt das Graphit (oder der
Graphitersatz) des Bleistiftes, was sein natürliches Grau ins Weiße transformiert, was
seine Dinglichkeit im Gegensatz zum Umfeld reduziert. Ein Bleistiftstrich wirkt
tendenziell eher als Verdichtung der Fläche, was ihn auch mehr dazu eignet, in
Interaktion mit dem Papier Körperlichkeit und Volumen zu entwerfen. Ein (zarter) Bleistiftstrich modelliert die weiße Fläche wie eine pastöse Haut. |
Verlauf des Striches
| E. F.: | 20Der Strich verläuft nicht in einer simplen Ordnung, etwa parallel zu
einer Kante oder diagonal. Es scheint so, als würde er aber auch nicht völlig frei
verlaufen, denn wenn ich ihn nach beiden Seiten verlängere, so schneidet er die untere
rechte Kante in dem gleichen Abstand von der rechten Ecke, wie er die obere von der linken
Ecke schneidet. Die Linie scheint an ihrem oberen Ende nach rechts und nach oben zu ziehen; am unteren Ende nach unten und nach links. Die Linie liegt nicht in der Mitte des Bildes, sondern sie ist nach unten versetzt. Es gibt damit ein schwereres und ein leichteres Feld; das wiederum transformiert die Bildfläche in einen Bildraum. Die Linie selbst beteiligt sich nicht an der Konstruktion des Raums. Würde sie von links unten nach rechts oben verlaufen, so könnte sie als Fluchtlinie gelesen werden und würde insofern einen Raum dimensionieren. In ihrem jetzigen Verlauf wirkt sie der traditionellen Gestaltung eines Raums und der traditionellen Situierung eines Fluchtpunktes (im rechten oberen Teil eines Bildes) entgegen. Durch ihre Lage im Bildfeld bewirkt die Linie eine Verräumlichung der Bildfläche; durch ihren Verlauf und durch ihre Materialität arbeitet sie auf eine Visualisierung des Bildes als Bildfläche hin. |
D. Bildwelt, Lebenswelt und Sprachwelt
1. Bildwelt und Lebenswelt
| E. F.: | 21Sol LeWitt sagt im Titel seines Bildes, daß er den Mittelpunkt der
PAGE nimmt. Damit dürfte also das Blatt ursprünglich in einem Zeichenblock
o.ä. fixiert gewesen sein. Eine PAGE hat ein direktes Davor und ein direktes Danach. Der Inhalt einer Seite steht immer im Zusammenhang mit dem Kontext. Das Blatt an der Wand ist isoliert. Ein Blatt, das Teil eines Blockes ist und auf dem Tisch liegt und eines, das an der Wand hängt, unterscheidet sich in seiner Raumhaltigkeit und in seiner Distanz zum Betrachter. Es gibt Unterschiede zwischen dem Umfeld Tisch und dem Umfeld Wand. Was an der Wand oben ist, ist auf dem Tisch weiter von mir entfernt, also hinten; was an der Wand unten ist, ist auf dem Tisch vorn. Der fiktive Raum in einem Bild ist, wenn es an der Wand hängt, tiefer als wenn es auf dem Tisch liegt. Ich bin dem Bild näher, in der Regel ist mein Gesicht 20 - 30 cm entfernt. Hängt es an der Wand (in einem Museum) werde ich mich nur kurz so nah dem Bild nähern können. Aus der größeren Distanz des Betrachtens in einem Museum resultiert jeweils eine unterschiedliche Intensität und Genauigkeit der Wahrnehmung; damit ändert sich die Identität des Bildes. Letztlich bestimmt das Umfeld das Werk ebenso, wie dessen Materialität.. Die Existenz eines Umfeldes kann prinzipiell nicht infrage gestellt werden, solange Menschen mit dem Werk interagieren. Ein spezifisches Umfeld kann nur durch ein anderes ersetzt werden. Man kann das Umfeld nicht beseitigen, wenn man das Werk ins Museum gibt, genausowenig, wie man im 19. Jahrhundert einen Dom durch Freilegung aus dem Handlungsfeld der Städter ausgrenzen konnte; man erzeugt ein neues Handlungsfeld, aus dem heraus der ästhetische Gegenstand seine Identität erhält. 22Ich habe Ihnen jetzt die ganze Zeit dieses Dia gezeigt und gesagt, es handele sich um Sol LeWitts Bild A LINE... Das ist aber nicht wahr, denn Sie sehen hier ein Dia, nicht ein Bild. |
E. F. holt das Original und präsentiert es. Das Licht im Vortragsraum wird angemacht.
| E. F.: | 23Was macht den Unterschied zwischen beiden aus? Ich möchte nur drei Aspekte (Größe, Materialität und lebensweltliche Qualität) herausstellen. |
- Größe
| E. F.: | 24Bei einem Kunstwerk wird durch die immense Vergrößerung bei der
Diaprojektion das (Bild)Objekt in einen Raum umgewandelt. Der Betrachter steht nicht mehr
vor dem Werk, sondern ist im Werk. In der Architektur passiert in gewisser Hinsicht das Gegenteil, der Betrachter wird aus dem Werk vertrieben. Das möchte ich noch gesondert begründen: bei der Architektur muß man in der Regel mehrere Dias von einem Gebäude zeigen, um es komplett zu sehen; zudem kann man Innenräume oder die Ordnung der Räume nicht fotografieren, sondern muß Zeichnungen oder Grundrisse zeigen. Bei mehreren Dias wechselt natürlich immer der Standort des Fotografen, der selbst die Standpunkte nacheinander erschlossen hat und sich auf seinen Wegen immer zum Gebäude verortet, und somit um die räumlichen Zusammenhänge seiner aufeinanderfolgenden Fotos weiß. Der Betrachter sieht dann die Fotos hintereinander, bleibt aber am immer gleichen Ort sitzen. Er kennt nicht den Zwischenraum, nicht die sinnliche Fülle und nicht die intermittierende Ordnung zwischen zwei Schnappschüssen. Er hat somit keine Erfahrung von der Kontinuität des Objekts und des Raumes. Diese, die Kontinuität seines Ortes, die Logik seines Raumes resultiert aus dem Hörsaal, in dem einzelne Fotos gezeigt werden. Deshalb verliert ein Diabetrachter die Bindung an die Architektur. |
- Materialität
| E. F.: | 25Das Werk, ob Kunst- oder Architekturwerk, verliert seine Materialität. Zwar sehe ich auch bei der direkten Betrachtung eines Werkes oder eines Gebäudes nur Farbreflektionen, hier handelt es sich aber um Körperfarben (deren Addition schwarz ergibt) während es sich bei einem Dia um Lichtfarben handelt (deren Addition weiß ergibt) Die neue Lichtidentität eines Dias gleicht letztlich immer einem gotischen Glasfenster. Die Materialität ist diaphan, das Sein ist Licht. |
- Lebensweltliche Qualitäten
| E. F.: | 26Lassen Sie mich etwas über das Licht beim kunsthistorischen Vortrag
sagen. Wenn wir ein Dia betrachten, sitzen wir im abgedunkelten Raum, vorrangig, um das Dia besser zu sehen. Das Dia leuchtet und der Vortragende wird beleuchtet. Durch Verdunkelung der Dinge geht zugleich ein Ausschluß meiner alltäglichen Lebenswelt einher; durch Verdunkelung der Mitzuhörer sind diese mir zwar noch bewußt aber nicht mehr präsent, d. h. ich sehe nicht mehr, wie sie auf das Bild reagieren und es rezipieren. Zugleich wird es schwierig, die physiognomische Reaktion der anderen Zuhörer auf meinen Vortrag wahrzunehmen. Ich werde in der Rezeption des isolierten Werkes auf mich gestellt. Letztlich und pointiert gesagt, produziert diese Art der Vorstellung von Kunst und Architektur die außeralltägliche Autonomie eines Werkes und die A-Sozialität und Individualität des Rezipienten. Was Benjamin über die Zerstörung der Aura durch den Film gesagt hat, gilt auch hier: das Werk verliert durch seine Transformation zu einem reproduzierbaren und also überall zu zeigenden Dia seinen Ort, es verliert seine Integration in lebensweltliche Zusammenhänge. 27Ich möchte nun
aber nicht den Untergang des Abendlandes und einen grundsätzlichen Verlust des
Authentischen und Autochthonen beschwören . |
28E. F. wendet sich dem Bild zu (Rücken zum Publikum) und redet über das Hell-Dunkel auf der Papieroberfläche..............."
| E. F.: | 29Dabei sind Sie aber ausgeschlossen. Warum rede ich dann? Reden macht doch
nur Sinn, um sich mitzuteilen. Ich könnte aber auch zu Ihnen in die Gruppe kommen. |
29E. F. verläßt das Rednerpult und stellt sich zwischen die Zuhörer.
| E. F.: | 30Es braucht sozial einen Moment, um mich aus meiner vorherigen
herausgehobenen Position nunmehr in die Gruppe als gleichgewichtiges Mitglied zu
integrieren. Rede ich nun weiter über das Bild, so mache ich eine komische Figur. Meine durch meine ehemals herausgehobene Position am Rednerpult legitimierte Ansprache an Sie wird nunmehr zu einem unsere aufs Gespräch orientierte Gleichheit zerstörenden Monolog. Sie sitzen, während ich stehend spreche. Wenn ich zu Ihnen herübergehe und weiterspreche, müßte ich mich wegen der sozialen Gleichheit setzen. Wenn wir alle aber sitzen, hängt das Bild zu hoch. Man könnte es auf unseren Augpunkt herunterhängen. Das sähe komisch aus, weil jeder, der den Raum betritt, dann auf das Bild herunterblickt. Wenn wir das Bild aber dennoch herunterhängen, so müßten wir uns in einem Kreis darum herum setzen, denn wir könnten uns beim Sprechen ansonsten nicht ansehen. Das Bild aber wäre dann Mitglied der Gruppe. Dies widerspricht unserem üblichen Verständnis von Kunst. Also stehen wir alle auf und stellen uns um das Bild. |
2. Bildwelt und Sprachwelt
| E. F.: | 31Wir
könnten uns einfach zusammen das Bild ansehen, ohne zu sprechen. ... ... |
32E. F. schweigt ca. 3 min.
- Sprechen als Weise der Wahrnehmung
| E. F.: | 33Ich habe das Bild nicht beschrieben, sondern meine Erfahrungen
verbalisiert. Wenn ich sie aber nicht verbalisiert hätte, hätte ich sie gar nicht
gemacht. Die Erfahrung entsteht in der Verbalisierung. Sogar wenn ich allein in meinem Arbeitszimmer vor einer Reproduktion eines Bildes sitze und über es schreibe, interagiere ich sozial. Ich spreche mit mir vor dem Bild, dieses Sprechen sucht von sich aus einen Dritten, der zuhört oder - besser gesagt - anhört. Anhören im Unterschied zum Zuhören enthält eine gewisse Zustimmung, Akzeptanz des Gesagten, Kommunikation. Insofern ist es ein Rudiment eines Gespräches. |
-Sprechen als soziale Interaktion
| E. F.: | 34 Es gibt verbindliche Regeln des Vortragens, der Referent darf eine gewisse
Zeit ununterbrochen über das Bild reden. Es gibt dann eine Diskussion, bei der sich das
Publikum allein auf das vom Referenten Gesagte beziehen und keine alternative
Interpretation des Bildes vortragen darf. Es gibt also keinen gemeinsamen Diskurs mit
dem Bild, vielleicht einen mit dem Referenten, vielleicht dabei auch über das
Bild. Sozialpsychologisch oder sozialräumlich gesehen bilden Sie eine Gruppe Gleicher, die ihre Einheit und Gleichheit aus der Gegenüberstellung zu Bild und Redner generieren.Wichtig für die Definition von Bild ist, daß während des Vortrages allein der Referent redet, das Publikum nur zuhört. Das Bild redet nicht direkt, sondern durch den Referenten, der aber das Bild, in dem Moment, in dem er (zum Publikum gerichtet) redet, nicht sieht. Das Publikum blickt auf das Bild, geht aber keinen Diskurs mit
ihm ein, hört nicht ihm zu, sondern dem Referenten. |
-Sprache als Verräumlichung der Gegenwart
| E. F.: | 35Eigentlich spricht der Vortragende gar nicht über das Bild, das in
Präsenz neben ihm (aus der Sicht der Zuhörer) hängt, sondern über das Bild, das er vor
Tagen vor Augen hatte, als er den Text schrieb. Sie sehen jetzt das Bild und gleichzeitig hören Sie mich vom Bild sprechen. Was Sie aber sprechen hören, ist Vergangenheit, denn ich lese ab, was ich vor einiger Zeit geschrieben habe. Ich sah das Bild zuerst in den 80er Jahren, zur Vorbereitung des Vortrages habe ich es im vergangenen Monat immer wieder angesehen und über es geschrieben. Zuletzt habe ich alle Textabschnitte und das heißt Verbalisierungen und Verständnisse homogenisiert. Ich verbalisierte das Bild in der Vergangenheit und spreche jetzt. Sie sehen es jetzt. Die Rationalisierung des zu Worten und Kognitionen gekommenen Bildes oder auch der Diskurs über ein Bild dehnt das punktförmige Sein, das durch einen Blick entsteht, aus und verschafft dem Bildes eine zeitliche und räumliche Existenz. |
36Was ist nun
die Identität des Bildes?
Bleibe ich bei der ersten Wahrnehmung und bei der zuerst erkannten Identität von Bild und
Text und gebe mich damit zufrieden, so sind weder Bild noch Text, noch beide zusammen
Kunst. Es handelt sich beim Einzelnen um zwei Banalitäten; zusammen um die Verdoppelung
oder besser die Tautologisierung der Banalität. Das Werk ist gescheitert.
37Erst wenn ich
Bild und Titel aufeinander beziehe, wenn ich einen Identitätsanspruch unterstelle, meinen
Anspruch bedient sehe, ihn dennoch prüfe, Disidentitäten feststelle und in einen
Prozeß, einen Arbeitsprozeß der Konfrontation von Bild und Text bringe, dann entsteht
das Werk als Kunstwerk. Erst das Aufdecken von Möglichkeiten füllt den Rahmen.
Werk ist kein sinnliches Ding, nicht mehr das körperhafte, sachliche Blatt
Papier an der Wand eines Museums, sondern ein Gegenfluidum (ich möchte nicht Gegenstand
sagen) eines kognitiven Arbeitsprozesses.
Werk ist der sich ständig selbst überholende Zwischenstand eines Diskurses
von Ding und Denken im alltäglichen sozialen Raum.
38Was hat das
nun mit Architektur zu tun?
Schon bei einem zweidimensionalen Bild zeigt sich, daß dessen Identität aus Aktion,
Interaktion, Denken und Sprechen besteht. Es gibt kein abspiegelndes Sehen und keine dann
auf diese pure Wahrnehmung aufgesattelte rein wissenschaftlslogische oder technische
Versprachlichung. Das ist ein Mythos, der gezielt und aktiv weite Teile der Existenz des
Bildes ausgrenzt.
Es gibt keine rein sachliche Architektur, die unabhängig von einer Lebenswelt und ohne praktische und kognitive Aneignung existiert.