Thema
2. Jg., Heft 1
Mai 1997

Ulrich Hartung

FEINDBILD MODERNE

Konzept und Städtebau der Moderne im aktuellen Diskurs

1 Der folgende Artikel befaßt sich mit dem Bild, das der derzeit herrschende Diskurs in der Bau- und Planungsgeschichte von moderner Architektur und modernem Städtebau zeichnet. Kritisiert werden eine vor allem methodische Unzulänglichkeit und deren inhaltliche Folgen. Der Text entstand aus Ärger über die Verfälschungen, die eine unreflektiert parteiliche Betrachtungsweise angerichtet hat und weiter anrichtet; versucht wird, deren Logik darzustellen und damit nachzuweisen, daß die postmoderne Auffassung von der Moderne dieser historisch weder gerecht werden kann noch will. Wenn im folgenden Auffassungen zugespitzt werden, dann nicht, um sie zu karikieren, sondern um sie in ihren Zielen und Auswirkungen zu beleuchten.

2 Wer allerdings eine Berechtigung von Kritik davon abhängig macht, daß diese die Position des Kontrahenten verständnisvoll "würdigt", der verlangt Toleranz nur von anderen, zu dem Zweck, ausschließlich seine eigenen Auffassungen zur Geltung zu bringen. Auf solche Tricks dürfte niemand mehr hereinfallen; ich rechne vielmehr auf das unbefangene Interesse derjenigen, die eine nüchterne Betrachtung von Konzepten und Resultaten der Moderne wünschen. Solch "Anspruchsdenken" gegenüber einer Neuen Unsachlichkeit zu stärken, ist Anliegen des Textes. Um die gegenwärtige Diskussion in der notwendigen Kürze zu charakterisieren, beschränke ich mich auf Äußerungen zu Themenfeldern, die die moralisch-ästhetische Verurteilung der Moderne besonders prägnant hervortreten lassen. Anderes soll damit weder weggeschoben noch beschönigt werden. Aktuelle Auffassungen als Ausdruck einer neuen Ideologie zu erkennen, darum geht es.

1. Walter Gropius, der Deutsche Werkbund und das Neue Bauen

3 Mit der Attitüde des Aufklärers hat vor kurzem Werner Oechslin die Ideen des frühen Werkbunds und insbesondere die Beziehungen von Walter Gropius zur Werkbund-Politik der Jahre 1907 bis 1917 dargestellt 1). Oechslin sind an den Werkbund-Schriften einige Begriffe aufgefallen, die ihm altmodisch erschienen, so die der 'Erziehung' und des 'Formwillens'. Er stellt nun den emphatischen Bezug der Werkbund-Gründer auf Nietzsches 'Willen zur Macht', auf Julius Langbehns 'Rembrandt als Erzieher' und auf Alois Riegls 'Spätrömische Kunstindustrie' als die "mühevoll verdrängte Vorgeschichte der modernen Architektur vor 1914" 2) heraus. Durch zahlreiche Zitate werden die nationalliberalen Bestrebungen des Werkbunds, die Stärkung der Weltgeltung durch eine ästhetische Exportoffensive, in ihrem Bezug auf die Kriegsziele Deutschlands dargestellt. Auch im Werkbund herrschten Chauvinismus und Kriegstreiberei, so lautet das erste Fazit.

4 Nun sind die hier mitgeteilten Verbindungen keine Neuentdeckung. Selbst in der DDR waren sie bereits nachzulesen, und zwar in dem 1988 erschienenen Band "Geschichte der deutschen Kunst - 1890 bis 1918" 3). Das dem Thema gewidmete Buch "Der deutsche Werkbund. Sein erstes Jahrzehnt" von Kurt Junghanns (Berlin 1982) tut Oechslin mit der Anmerkung ab, es sei "so sehr mit jüngeren politischen Idealvorstellungen befaßt, daß ihm die Komplexität und Brisanz der damaligen politischen Umstände völlig entgeht" 4). Da bei Junghanns die nationalistischen Vorstellungen z. B. eines Friedrich Naumann unmißverständlich gekennzeichnet sind und der Werkbund sehr wohl im Zusammenhang der deutschen Eroberungspolitik dargestellt wird, kann diese Beurteilung nur als ignorant gewertet werden. Die 'Angelpunkte' der damaligen Auffassungen von Walter Gropius sind ebenfalls seit 1985 bekannt; Winfried Nerdinger hat sie in seinem Beitrag zu der dreibändigen Gropius-Monographie 5) analysiert. Dennoch ist Oechslins Text nicht nur von Überheblichkeit getragen. Sein Ziel besteht darin, die gesamte Tätigkeit von Gropius durch Verweise auf dessen "Verwicklungen vor 1914" zu diskreditieren. Oechslin suggeriert daher, die Grundauffassungen des Architekten hätten sich seit 1907 im Wesentlichen nicht geändert - "entgegen späteren internationalistischen Mythenbildungen von einer schlackenlosen Moderne" (Barbara Uttenkamp im Vorwort). Obwohl er eingestehen muß: "Die Vorstellungen mögen sich seitdem gewandelt haben" 6), und obwohl gerade die späteren widersprüchlichen Äußerungen von Gropius zu seiner Rolle im Werkbund zeigen, daß ihm daran vieles fremd geworden war, macht Oechslin doch eine innere Verbindung fest, und zwar an Formulierungen wie 'Einheit künstlerischer Gestaltung', 'Architektur und Erziehung': "Auch der Hinweis auf die 'Erziehung' von 1952 (aus dem Katalog der ersten Gropius-Ausstellung nach dem zweiten Weltkrieg in Frankfurt, U. H.) kann man kaum auf das Bauhaus allein bezogen verstehen. Schließlich waren sie vor und nach 1914/18 - gemäß einer äußerst beliebten Formel - alle 'Erzieher': von Schopenhauer zu Nietzsche und (dank dem [!] Rembrandtdeutschen) Rembrandt. Gemäß [!] Jäckh wurde ja gerade auch der Werkbund schon früh ein 'Areopag von Führern und Erziehern' genannt.

5 Nichts Neues also anläßlich des Wiedereintritts Gropius' in die deutsche Architektur 1952! Ganz im Gegenteil: beste Werkbundtradition aus dessen Anfangsphase!" 7) Daß ein Stil erstrebt wurde, auf welchem Formkonzept auch immer beruhend, und daß Gropius ästhetisch erziehen wollte, genügt dem Postmodernen für die Behauptung einer durchlaufenden Werkbundtradition - "Muster einer Geschichtsschreibung, der die Grenzziehung zwischen Vergleichbarem im engeren Sinne egal ist" 8). Mit dem Gebaren eines Fahnders sucht Oechslin in den Schriften des Bauhausgründers. Wovon sie handeln, von Monumentalität im Industriebau, von Glasarchitektur, von Funktionalismus, vom Neuen Regionalismus - alles gleichgültig, nur das Beweisziel zählt: Gropius war in etwas Reaktionäres verstrickt, und er leugnet es: "Beim Versuch, sich zu distanzieren und von 'Allzudeutschem' zu befreien, gibt Gropius gleichwohl zu erkennen, wie sehr er Kind seiner Zeit ist und wie sehr er seiner Kultur verwurzelt bleibt" 9). Dabei fand Gropius an "seiner" Zeit und deren Kultur viel zu ändern; er entwickelte mit anderen Architekten und Designern eine neue Gestaltungskonzeption, aber für den Zeitgeist-Publizisten Oechslin ist die 'internationale Architektur' bloß ein Hinüberretten 10).

6 Hier wird die Macht der Vergangenheit noch über den radikalen Avantgardisten beschworen; daß er seine Auffassungen korrigierte, an einigen Formentscheidungen festhielt, um sie in ein größeres Konzept zur "Gestaltung aller Lebensbereiche" einzubinden, zeigt nach dieser totalitären Psycho-Logik nur, daß er etwas zu verdrängen hatte, den Ersten Weltkrieg als "Schuld" der frühen Moderne. Das Ganze hat einen Zweck - die Vorgeschichte des Neuen Bauens wird thematisiert, um dessen Geschichte auszugrenzen. Dem Autor kann sein eigener Satz entgegengehalten werden: "So geht man also gegen Ungeliebtes in der jüngeren deutschen Architekturgeschichte vor". Das Renommee der Moderne läßt eben postmoderne Entlarver nicht ruhen, bis sie "nachgewiesen" haben, daß die Funktionalisten auch nur Menschen waren. Der konzeptionelle und damit stilistische Wandel in den Werken Gropius' und seiner Mitstreiter läßt sich aber nicht wegleugnen 11).

7 Forderte Gropius in seinen Aufsätzen über Industriekultur von 1911 bis 1914, den Ausdruck von Material und Konstruktion zu überformen, um monumentale Baumassen zu schaffen, so betrachtete er 1925/26 die "anstößige" Wirkung von offen gezeigten Beton- und Stahlkonstruktionen im Wohnbau als etwas, das mit der Gewöhnung verschwinden werde 12). Sah er in ersteren die Vorboten eines neuen Idealismus, so propagierte er Jahre später das Wohnhochhaus als rationelle Bebauungsform. Ordnete Gropius 1909 selbst kleine Landarbeiterwohnungen in Behrenssche Villentypen ein, so brachte er 1929 bei seinen Wohnhäusern in Berlin und Karlsruhe die Funktionselemente gestalterisch zur Geltung. Und nicht zuletzt: Aus monumentalen Blockformen, inspiriert von seinem Lehrer Behrens, wurden spannungsvolle Gebilde, die auf reine Kontrastbeziehungen hin entworfen sind, aus Urformen Montageelemente; aus einem elementarisierten Klassizismus wurde die moderne Ästhetik gleichwertiger Teile. Den Postmodernisten, der über alles Oberflächliche hinweg- und hinter allem die Hintergründe sieht, ficht das nicht an. Im Gegenteil, er geht zum Angriff über, gegen die Formanalyse: "So wie Riegl im richtigen Moment die Formel des 'Kunstwollens' der Architektur vermittelt hatte, so hat jetzt [?] der Lehrer Giedions, Heinrich Wölfflin, mit seiner Formanalyse die entwickeltere Sichtweise der modernen Architektur über seinen Schüler bestimmt". Damit nicht genug: "Etwas zugespitzt darf man im Falle der modernen Architektur von einer Synergie von Kunstgeschichte und Kunst sprechen" 13). Will der Professor für Kunst- und Architekturgeschichte ernsthaft behaupten, die Entstehung der Moderne in der Architektur sei so zu erklären, daß sich in Deutschland und der Schweiz ein paar engstirnige Bauleute mit ebensolchen Kunsthistorikern zusammengetan hätten? Er will: "Die moderne Architektur der 20er Jahre, sie war wie der entsprechende Zweig der Kunstgeschichte formalistisch und warf den Rest als Ballast über Bord" 14). Das mußte ja mal kommen, der Formalismus-Vorwurf! So setzt sich Oechslin mit Paul Schmitthenner und Walter Ulbricht in ein Boot, denn um die Gesellen abzufertigen, die so dogmatisch vom Einzelbau ausgehen und genaues Hinsehen verlangen, ist keine Gesellschaft zu schlecht. Solche Formalisten stören, wenn gerade zum sozialgeschichtlichen Überflug angesetzt werden soll und Kontinuitäter dingfest zu machen sind. Leider wird es wohl ein Paradox bleiben, warum Heinrich Wölfflin nicht zuerst vor dem Bauhausgebäude, sondern vor Renaissance- und Barockarchitektur seine "Grundbegriffe" entwickelte. Aber an Paradoxien fehlt es ja nie in der Welt derer, die den Widerspruch zwischen ihren Vorstellungen und den wirklichen Erscheinungen aufrechtzuerhalten wünschen.
8 Fazit: Was Oechslin richtig darstellt, stammt nicht von ihm, und was von ihm stammt, ist grob zerzerrend. Zusammen stimmt nichts, aber alles entspringt der gleichen, fast psychotischen Abwehr gegenüber dem Betrachtungsgegenstand, dem Neuen Bauen.

2. Nationalsozialismus und Moderne

9 Am 23. September 1936 besichtigte Joseph Goebbels auf einer eher privaten Griechenlandreise die Hauptstadt Athen. In seinem Tagebuch notierte er, nach einigen Ergüssen über "diese edelste Stätte nordischer Kunst", Anerkennendes über jüngere Architektur: "Moderne sehr gute Bauten: Bibliothek, Universität und Akademie. Von Hansen" 15). Dieses Lob galt einem Architekten, der mit seinen neoklassizistischen Prunkbauten die Gestalt der Wiener Ringstraße wesentlich geprägt hatte. Theophil Edvard von Hansen (1813-1891) war vor den siebziger Jahren in der griechischen Hauptstadt tätig gewesen; neben dem Gebäude der Otto-Universität (ab 1839 zusammen mit seinem Bruder Hans Christian) waren dort nach seinen Entwürfen 1859-1887 die Akademie der Wissenschaften und 1885-1892 die Bibliothek 16) entstanden. Wenn Goebbels solche Monumentalbauten des Historismus als "modern" bezeichnete, was wollte er damit ausdrücken? Doch wohl, daß er ihren Stil durchaus auch für die Gegenwart als angemessen betrachtete, zumindest im "klassischen" Kontext Athens. Damit war der Begriff des "Modernen" in der Architektur völlig abgetrennt von den stilistischen Charakteristika, die sich heute damit verknüpfen: sachlich-nüchterne Gestaltung, Rationalität, Funktionalismus. Offenbar jedes historischen Inhalts frei, diente die Bezeichnung nur dazu, alle möglichen Gegenstände und Auffassungen als "zeitgemäß", d. h. den politischen Zielen der Nazis gemäß zu kennzeichnen. In genau diesem Sinne verwandte sie auch Werner Best als Stellvertreter Heydrichs im Geheimen Staatspolizeiamt, als er 1936 die Rechtsauffassung des nationalsozialistischen Führerstaates definierte: "Der politische Totalitätsgrundsatz des Nationalsozialismus [...] duldet keine politische Willensbildung in seinem Bereich, die sich nicht der Gesamtwillensbildung einfügt. Jeder Versuch, eine andere politische Auffassung durchzusetzen oder auch nur aufrechtzuerhalten, wird als Krankheitserscheinung, die die gesunde Einheit des unteilbaren Volkswillens bedroht, ohne Rücksicht auf das subjektive Wollen seines Trägers ausgemerzt. Aus diesen Grundsätzen heraus hat der nationalsozialistische Führerstaat zum ersten Mal in Deutschland eine politische Polizei entwickelt, wie sie von unserem Standpunkt aus als modern, d. h. den Bedürfnissen unserer Gegenwart entsprechend, aufgefaßt wird ..." 17). Die Massen-KZs, die die SS ab 1936 bauen ließ, waren "modern" (Himmler) nach dieser Begriffsbestimmung, in keiner anderen Hinsicht. Wenn Dieter Hoffmann-Axthelm, bezogen auf den Lagerkomplex von Sachsenhausen, schreibt: "Man kann sich das Ganze als Pervertierung moderner Stadtplanung vorstellen" 18) und auf die Trennung der Lagerfunktionen verweist, so zeigt er damit nur, daß er weder die Intentionen der KZ-Planer noch die moderner Städtebauer untersuchen will: Wo findet jemand bei letzteren die Stacheldrahtzäune, die die Funktionseinheiten als räumlich streng geschlossene Bereiche voneinander trennen, wo die Ausrichtung der Einheiten auf eine Symmetrieachse, wo die Schotter- und Betonflächen ohne Grün (beim "Wohngebiet" des Häftlingslagers)? Nur aus fanatischem Haß gegen die Stadt der Moderne läßt sich auf einen solchen Vergleich kommen. Als Beleg für die Behauptung, daß letztere doch etwas mit dem Nazi-System zu tun gehabt habe, werden immer wieder sachlich-funktionale Fabrikbauten herangezogen, wobei die paar Beispiele, die sich fast an den Fingern abzählen lassen, flott verallgemeinert werden 19).

10 Selbst einmal davon abgesehen, ob die Behauptung einer Vorherrschaft der "Neuen Sachlichkeit" im NS-Industriebau überhaupt einer umfassenden Betrachtung standhält - bedeutete sie tatsächlich eine wenn auch partielle Annahme des Konzepts Moderne durch die Nationalsozialisten? Schließlich ist es schon ein Widerspruch, penetrant den "totalen Gestaltungsanspruch" des Neuen Bauens hervorzukehren, um eine Entsprechung zum totalen Staat zu suggerieren, andererseits aber zu behaupten, schon einige funktionell gestaltete Fabriken bewiesen die Geltung dieses Anspruchs im Dritten Reich. Denn daß die großen Partei- und Staatsbauten mit "Modernismus" 20) nicht das geringste zu tun hatten, dürfte jedem Einsichtigen klar sein. Als Konzept, und nur als solches, in ihrem ganzen Anspruch, ist sie historisch zu begreifen, war die Moderne für die Nationalsozialisten unbrauchbar. Sie akzeptierte die Technik und Wissenschaft der bürgerlichen Neuzeit nicht nur als Mittel, sondern wollte sie bewußt zur individuellen und gesellschaftlichen Emanzipation der Menschen von allen idealistischen Glaubensartikeln einsetzen und gelangte deshalb zu der Konsequenz, wissenschaftlich-technische Forschung selbst zu betreiben. Maßstab der Gesellschaft sollte die praktische Subjektivität der Einzelnen sein, was verpflichtende Werte und Menschenbilder zur belanglosen Privatsache machte oder gar ausschloß. Ein gemeinsamer verpflichtender Sinn, der den rationellen oder emotionalen Beziehungen der Menschen übergeordnet war, existierte für die konsequenten Funktionalisten nicht; damit war die traditionelle Hierarchie von Zweck und Mittel überhaupt suspendiert, die Zwecke immer als "Sinn" überhöht und die Mittel immer als bloß Bedingendes, weil lediglich Zweckbezogenes abgewertet hatte. Deshalb konnten nun die Bauten ihre Funktionen und die Mittel zu ihrer Erfüllung offen zeigen: "Wenn der Zweck nicht mehr schmutzig ist, muß die erscheinende Zweckmäßigkeit nicht mehr wegdekoriert werden." 21) (Lothar Kühne).

11 Das Neue Bauen sollte diese radikal rationale Gesellschaftsvorstellung, die gerade in seinem Umkreis entwickelt wurde, nicht lediglich ästhetisieren, sondern sie architektonisch, d. h. räumlich funktional verwirklichen. Hierbei entstanden einige Unstimmigkeiten; die größte ist vielleicht die Definition der Architektur als Ding, d. h. als ergonomischer Gegenstand, die zu der Vorstellung führte, sie wie ein unmittelbar handhabbares Gerät, als "Wohnmaschine", funktionsästhetisch objektivieren zu können. (Diese Vorstellung hatte vor allem metaphorische Wirkung, insofern sie die Forderung nach Sachlichkeit und Analyse, den Prozess ihrer Herstellung, betonte). Daß Architektur die praktischen Beziehungen der Menschen zu ihren "Dingen" wie zur Landschaft vermittelt, wurde erst bei Hannes Meyer gesehen. Dessen Architektur ist wirklich analytisch aufgebaut und also komponiert, während Sachlichkeit und Objektivität vorher nur zum Ausdruck gebracht worden waren, wobei oft der Ausdruck der Funktion ihre praktische Erfüllung behindert hatte. Die Ästhetik des Neuen Bauens, die jede Hierarchie zwischen Formen vermeidet und strenggenommen keinen Wertbegriff mehr kennt, entsprach als solche lediglich den Bestrebungen der linken Architekten und Planer, dies aber perfekt. Die Beziehung beider besaß nicht die behauptete sachlich notwendige, wohl aber eine historisch notwendige Qualität. Die Moderne hatte ihren Stil; sie geht in ihm gewiß nicht auf, ist aber ebensowenig ohne ihn zu denken. Die Moderne war der Versuch, das Leben als Selbstzweck zu inthronisieren, der Versuch, die Spannung zwischen reiner und instrumentaler Vernunft materialistisch aufzulösen.

12 In der Zeit des Nationalsozialismus herrschte weder eine sachliche Vorstellung von Funktions- und Gestaltungsprinzipien der Moderne, noch wurde unter "modern" etwas Dementsprechendes verstanden. Sonst wäre es auch kaum erklärlich, daß in der Zeitschrift mit dem Titel "Moderne Bauformen" Heimatstil-Wohnhäuser, sachliche Fabrikhallen sowie Monumentalprojekte von Speer bis Schmitthenner vorgestellt werden konnten. Es mag ja Versuche einzelner moderner Architekten gegeben haben, sich dem Regime mit Entwurfsvorschlägen aus dem eigenen früheren Zuständigkeitsbereich anzudienen - aber hatten solche Bemühungen irgendeinen Erfolg? Ist auch nur ein Repräsentationsbau bekannt, der nach 1933 in den Formen des Neuen Bauens entstand? Es wird Zeit, daß eine Parteilichkeit in der Baugeschichtsforschung aufgegeben wird, welche unverhohlen die Denunziation moderner Konzepte betreibt. Damit ist immer Ignoranz gegenüber wichtigen Quellenbereichen verbunden. Zur Rolle der Technik und des Ingenieurbaues im Nazisystem läßt sich wesentlich mehr aus offiziellen Äußerungen wie dieser erfahren: "In allen Bauten des neuen Reiches, die gleichzeitig an den Ingenieur wie an den Architekten höchste Anforderungen stellen, wird deutlich fühlbar, daß das deutsche Volk zum Herrn über die Technik aufgestiegen ist und ihre machtvollen Möglichkeiten souverän seinem Willen unterordnet." 22)

3. Zum Städtebau der Moderne in Berlin

13 Nicht erst seit Beginn der Hauptstadt-Planung geben in der Berliner Architekturdiskussion diejenigen den Ton an, die die Ergebnisse des modernen Städtebaues als Stadtzerstörung anprangern. Aus der Vielzahl gleicher Äußerungen sei eine herausgegriffen, die die feststehende Bewertung fast gelangweilt als Erkenntnisstandard anführt: "Was die modernen Städteplaner von Martin Mächler bis Martin Wagner nicht erreichten und Speer glücklicherweise nur im Ansatz gelang, besorgten dann die Zerstörungen des 2. Weltkrieges und der Wiederaufbau der geteilten Stadt nach 1945, der ja zugleich Ausdruck der ideologisch aufgeladenen innerdeutschen Systemkonfrontation war. Kaum verwunderlich, daß das Urteil über den aktuellen städtebaulichen Zustand, zumal [!] der Berliner Kernstadt nach vier Jahrzehnten 'sozialistischen Städtebaus' vernichtend ausfällt" 23). In der Tat, das Urteil ist vernichtend und zeitigt durch die Gewalt, die hinter ihm steht, schon praktische Folgen - 1995 wurde das ehemalige DDR-Außenministerium am Kupfergraben, ein "gut erhaltenes, voll intaktes, flexibel auf eine Vielzahl möglicher Nutzungen einrichtbares Gebäude" 24), abgerissen. Die Kosten spielten dabei keine Rolle, denn "mit dem 'Beitritt' der DDR zur BRD mußten die materialisierten Erinnerungen an die nie akzeptierte Eigenstaatlichkeit der DDR beseitigt werden" 25). Dies geschah und geschieht ohne jede Reflexion, mit einer wahrhaft grenzenlosen Überheblichkeit. "Was den Machthabern der DDR anläßlich des Schloßabrisses vorgeworfen wurde - unliebsame Geschichte durch Zerstören zu verdrängen statt zu verarbeiten -, das hat man mit dem Außenministerium wiederholt" 26).

14 Nun sollte aber aus den durchgezogenen und geplanten Abrissen nicht geschlußfolgert werden, die Fanatiker der "europäischen Stadt" besäßen kein positives Leitbild; dies hieße nämlich, ihre eigene Ignoranz gegenüber der Städtebaugeschichte zu fortzusetzen. 1986 stellte der Architekturhistoriker Wolfgang Schäche einen Kolloquiumsbeitrag vor, der im Wesentlichen aus Thesen einer "IFP, Stadtentwicklung seit 1945", besteht 27). Gleich zu Beginn heißt es dort: "Die qualitative Veränderung von Nutzungsstrukturen, Stadtgrundriß und baulicher Gestaltung der Metropole durch Planung und Realentwicklung setzt nicht erst 1948/49 mit der administrativen Teilung der Stadt ein, sondern bereitet sich schon seit Beginn des 20. Jahrhunderts vor, erlebt - während der Weimarer Republik und der Nazizeit durch unterschiedliche Intentionen getragen - eine erhöhte Dynamik und setzt sich über die Phase zwischen 1945 und 1948/49 bis heute fort. Die damit untrennbar verbundene Zerstörung der Stadt des 19. Jahrhunderts ist dabei durchgehender, permanenter [!] Antrieb. [...] Die Zerstörung der Stadt wurde in den 20er Jahren mit flächendeckenden Projekten planerisch erprobt, in der Nazizeit durch die 'Neugestaltungsmaßnahmen' vorbereitet und begonnen sowie durch den alliierten Bombenhagel als furchtbare Konsequenz der NS-Herrschaft fortgesetzt. Auch in der Nachkriegszeit behalten stadtzerstörende, antiurbane Planungsmuster (unabhängig von ihren ästhetischen Repertoires - W.S.) über historische Brüche hinweg ihre Gültigkeit." 28) Selbst die sozialwissenschaftliche Terminologie kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß es sich hier nicht um Sachaussagen handelt, sondern um Polemik. Argumentative Schwäche wird durch Aggressivität kompensiert, die eigene Stadtvorstellung verabsolutiert und in die Geschichte verlängert, wodurch sich alle anderen Konzepte als rein böswillig darstellen lassen: Wer die alte Stadt nicht total wiederaufbauen wollte, hatte nur das Kaputtmachen von Stadt überhaupt im Sinn. An dem Maßstab eines Steinstadt-Kults, der die Gründerzeit-Urbanistik der Polizeibeamten und Kanalisationsspezialisten als Residuum des Menschlichen bewundert, wird alles gleichgemacht - Reformwohnungsbau, City-Plätze, Nord-Süd-Achse, Alexanderplatz und Palast der Republik. Wenn von den unterschiedlichen Zielsetzungen, von ihren historischen Umständen, von den gegensätzlichen Raum- und Formkonzepten abgesehen wird, dann, und nur dann können sie alle auf einen gemeinsamen negativen Nenner gebracht werden - sie bezweckten die Zerstörung der Gründerzeitstadt. Deren Geschlossenheit, die lieblichen Kitschfassaden, die Hinterhöfe mit Funktionsmischung, mit Dunkelheit, Dreck, Lärm und Gestank - das ist heute zum Idealbild städtischer Existenzweise geworden, einer Existenzweise, in der die Einzelnen nur noch als Menge angesehen sind, dazu da, das total geordnete Chaos ihrer Verrichtungen mit "Leben" zu erfüllen. Bettler, Nutten, Händler, Polizisten, Musikanten - alles Beiträge zu einer Urbanität, die die praktische Subjektivität der Individuen als Egoismus verteufelt, die staatliche Ordnung des ökonomischen Darwinismus dagegen als "gewachsen" biologisiert. Erst wenn die Menschen wie Maden in den Straßenkanälen herumwimmeln, dann herrscht Stadt - über sie. Und wenn irgendwo Stadt in diesem Sinn noch gar nicht existiert, dann muß sie hergestellt werden, "historisch gewachsen" hin oder her. So verordnete Dieter Hoffmann-Axthelm als Gutachter des Wettbewerbs für das ehemalige Sachsenhausener SS-Gelände eine "Kreuzberger Mischung": "Es müssen alle Funktionen der Stadt anwesend sein, oder zumindest so viele wie möglich, und in gemischter, darum widerstandsfähiger Form" 29). Hobrechtsfelde als Widerstandsnest gegen die Moderne - so kommt einer zu seiner Konsequenz, der einmal den Arbeitern ihr Klassenbewußtsein erhalten wollte, durch Konservierung von Korridorstraßen und Gewerbehöfen. Dieses "schwache Subjekt" träumt sich immer noch hinein in die Kneipen-Solidarität und Tante-Emma-Geborgenheit der kleinen Leute, auf daß sie klein bleiben und nicht dem sündigen "Konsumterror" verfallen. Aufs Beste verbindet sich solcher Städtebau-Trappismus mit der unkritischen Fluchtlinien-Rekonstruktion, wie sie im Berliner Zentrum betrieben wird. Abgetreppter Stumpfsinn, der auch urbanistisch das Anspruchsdenken bekämpft - da helfen keine Hoffmannstropfen mehr!

Anmerkungen

1) Werner Oechslin: Politisches, allzu Politisches ...: "Nietzschelinge", der "Wille zur Kunst" und der deutsche Werkbund vor 1914; in: Hermann Hipp; Ernst Seidl (Hg.): Architektur als politische Kultur - Philosophia praktika. Berlin 1996, S. 151-190.
2) Ebenda, S. 151.
3) Harald Olbrich (Hg.): Geschichte der deutschen Kunst. 1890 -1918. Leipzig 1988, S. 16, 39, speziell zum Werkbund S. 376.
4) Oechslin 1996, Anm. 22, S. 182.
5) Hartmut Probst; Christian Schädlich; Sektion Architektur der Hochschule für Architektur und Bauwesen Weimar (Hg.): Walter Gropius. Band 1: Der Architekt und Theoretiker, Werkverzeichnis Teil 1, Berlin 1985, S. 48ff.
6) Oechslin 1996, S. 157.
7) Ebenda.
8) Ebenda.
9) Ebenda, S. 156f.
10) Ebenda, S. 158.
11) Präzise dargestellt ist dieser Wandel bei Norbert Huse, "Neues Bauen" 1918 bis 1933. Moderne Architektur in der Weimarer Republik. Berlin 1985 (1975), S. 44ff, 121ff.
12) Walter Gropius: Grundlagen für Neues Bauen; in: Hartmut Probst; Christian Schädlich; Sektion Architektur der Hochschule für Architektur und Bauwesen Weimar (Hg.): Walter Gropius. Band 3: Ausgewählte Schriften, Berlin 1987, S. 109.
13) Oechslin 1996, S. 158.
14) Ebenda.
15) Ralf Georg Reuth (Hg.): Joseph Goebbels, Tagebücher. Band 3: 1935-1939, München, Zürich 1992, S. 987.
16) Harald Olbrich u. A. (Hg.): Lexikon der Kunst, Neubearbeitung, Leipzig 1991, Band 3, S. 133.
17) Zitiert nach Martin Broszat: Nationalsozialistische Konzentrationslager 1933-1945, in: Hans Buchheim; Martin Broszat; Hans-Adolf Jacobsen; Helmut Krausnick: Anatomie des SS-Staates, München 1967, Band 2, S. 44.
18) Dieter Hoffmann-Axthelm, in: Stadt Oranienburg, Landesentwicklungsgesellschaft für Städtebau, Wohnen und Verkehr des Landes Brandenburg (Hg.): Gutachterverfahren [zur] Urbanisierung des Geländes der ehemaligen SS-Kaserne Oranienburg. Dokumentation (unveröff. MS.), Oranienburg März 1993, S. 22.
19) Typisch dafür ist Wolfgang Schäche: Architektur und Städtebau in Berlin zwischen 1933 und 1945 - Planen und Bauen unter der Ägide der Stadtverwaltung (Hg.: Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umweltschutz), Berlin 1991, S. 67.
20) Gerhard Fehl, in: Hartmut Frank (Hg.): Faschistische Architekturen. Planen und Bauen in Europa 1930-1945, Hamburg 1985, bezeichnet den Stil der Monumentalbauten als "Modernismus" (Die Moderne unterm Hakenkreuz. Ein Versuch, die Rolle funktionalistischer Architektur im Dritten Reich zu klären, S. 88-122).
21) Lothar Kühne: Über Postmodernismus; in: Ders.: Haus und Landschaft. Aufsätze, Dresden 1985, S. 193.
22) Gerdy Troost (Hg.): Das Bauen im neuen Reich, Bayreuth 1938, S. 116.
23) Peter Reichel: Berlin nach 1945 - eine Erinnerungslandschaft zwischen Gedächtnis-Verlust und Gedächtnis-Inszenierung, in: Hipp, Seidl (Hg.) 1996, S. 274.
24) Irma Leinauer: Das Außenministerium der DDR. Geschichte eines politischen Bauwerkes. (Arbeitshefte des Instituts für Stadt- und Regionalplanung an der Technischen Universität Berlin, H. 57) Berlin 1996, S. 177.
25) Ebenda, S. 176.
26) Ebenda, S. 177.
27) Wolfgang Schäche: Von der Stunde Null und der Legende des Wiederaufbaues, in: Erich Konter (Hg.): Wendezeiten in Architektur und Stadtplanung. Kontinuität oder Bruch in der Entwicklung nach 1945 (Arbeitshefte des Instituts für Stadt- und Regionalplanung der Technischen Universität Berlin, H. 36), Berlin 1986, S. 78-88).
28) Ebenda, S. 79
29) Wie Anm. 18, S. 42

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