Thema
2. Jg., Heft 1
Mai 1997

Claus Dreyer

Zur Ästhetik der architektonischen Moderne nach der Postmoderne

  1.

1 Lange schien es, als wäre es endgültig vorbei mit der Moderne: die Rede war vom "Ende der Moderne", vom "Tod der Moderne" oder zumindest von einer notwendigen "Opposition zur Moderne". Ihre Erscheinungen und Manifestationen wurden als eindimensional, rigide, kalt, rationalistisch, ja sogar als gewaltsam und "terrorristisch" beurteilt und verdammt.

2 Die ästhetische Kritik richtete sich gegen die scheinbare Inhalts- und Bedeutungslosigkeit der Werke, gegen die Beliebigkeit der abstrakten Formen und die Zufälligkeiten der gestalterischen Komposition. Insbesondere an der Architektur wurde die Uniformität der stereometrischen Formensprache, der Verzicht auf Ortsbindung und Kontextualisierung, der Verlust von Tradition und Geschichtsbewußtsein, die Verherrlichung von Konstruktion und Technik und die einseitig ökonomisch oreintierte Funktionalisierung beklagt. Die sprichwörtliche "Unwirtlichkeit unserer Städte" (Mitscherlich 1965) wurde zum Ausdruck eines umfassenden Krisenbewußtseins in Architektur und Städtebau, das nach einer konzeptionellen Neuorientierung und einem drastischen Wandel in den gestalterischen Maximen verlangte.

3 Die Antwort auf die Krise der Moderne war die Postmoderne, die als geistige Bewegung bereits lange in der großen Strömung der Moderne schlummerte (vgl. Welsch 1987) und erst jetzt die Chance erhielt, ans Licht zutreten und ein neuartiges Bild der Welt in Theorie und Praxis zu entfalten.

4 Die Architektur wurde zur Bühne einer "Postmoderne für alle" (Welsch 1987): in ihrer praktischen Ästhetik konnte sie auf besonders demonstrative Weise die neuen Ideen für eine menschenfreundlichere Interpretation und Gestaltung der Welt der erstaunten Öffentlichkeit vorführen. Traditionelle Bauformen und historische Zitate wurden wieder zugelassen, der Bezug zu Ort und Umgebung bewußt hergestellt (oder auch bewußt überspielt), die Kompositionen wurden komplex und heterogen, Materialien unterschiedlichster Provenienz können miteinander gemischt werden um schließlich mit einem Schuß Ironie zu einem fragilen und riskanten Ganzen zusammengesetzt zu werden.

5 Geschichtliche Bezüge sollen kein Ergebnis von Beliebigkeit sein, sondern als kritische Aneignung herausgearbeitet werden; die Mischung verschiedener architektonischer Sprachen und Codes soll nicht zu einem unverständlichen Kauderwelsch führen, sondern in pluraler Bezogenheit kommunikative Interaktionen ermöglichen; die "Fiktionalisierung" der bildhaften Ensembles schließlich (Klotz 1984 und 1994) soll keinen Kitsch produzieren, sondern zu phantasiereichen und sogar "poetischen" Formulierungen führen, die die Einbildungskraft anregen und befördern können.

6 Nach vielen Versuchen, diese gestalterischen Ideen in reale Erscheinungen umzusetzten, ist auch die Postmoderne in das Stadium der Ermüdung und der Reflexion eingetreten, und es ist sogar zum "Abschied von der Postmoderne" (Fischer u.a. 1987) aufgerufen worden. Dabei scheint es so, als ginge die gute alte Moderne erfrischt und geliftet aus der postmodernen Intensivkur hervor: sie läßt sich einfach nicht unterkriegen und macht gestärkt da weiter, wo man sie aufhalten wollte. Die Frage nach der "Zukunft der Moderne" ist durchaus aktuell (Kursbuch 122, 1995).

7 Diese "Neue Moderne" (Jencks 1990) hat allerdings ein um die Erfahrung mit der Postmoderne bereichertes Wesen, das unterschiedlich beschrieben und akzentuiert wird. Auch für die architekturästhetischen Phänomene der Moderne nach der Postmoderne werden unterschiedliche Charakteristika herausgearbeitet, die im folgenden aus der Sicht unterschiedlicher Autoren charakterisiert werden.

2.

8 In seinem inzwischen zum Klassiker avancierten Buch von 1987 :"Unsere postmoderne Moderne", hatte Wolfgang Welsch bereits im Titel sein Programm angezeigt. Bei ihm "erweist sich die Postmoderne als Einlösungsform der Moderne dieses Jahrhunderts. Was in dieser noch esoterisch und elität war, ist jetzt exoterisch und populär geworden. Was in der Moderne Kult und Ritus war, ist postmodern in Alltag und Usus übergegangen. Die spektakuläre Moderne ist postmodern zur Normalität geworden" (Welsch 1987, 206).

9 Für Welsch sind es insbesondere folgende Charakteristika, die die ästhetische postmoderne Moderne kennzeichnen (Welsch 1987, 87 ff):

  • Pluralität der Formen, Stile, Sprachen, Werte und Rezeptionsweisen;
  • Ausdrücklicher Traditionsbezug in undogmatischer Weise;
  • Mehrsprachigkeit als kommunikativer Zusammenhang;
  • Offene Einheit des kompositorischen Ganzen;
  • Zulassung verschiedener Rationalitätstypen bis zum Irrationalen.

10 Mit Blick auf Werke von Ungers, Stirling und Hollein folgert Welsch für die postmoderne moderne Architektur: "Ob Erzeugung von Kompülexität aus Einfachheit, ob Kombination von Heterogenem, ob Multidimensionalität verschliffener Formen: keine dieser prototypischen Architekturn kann schlicht deduktiv oder induktiv erfaßt werden. Irritation ist das mindeste, Pluralität der Kern, Komplexität das Elixier. Bei keiner ist Ganzheit manifest. ... Nicht ein Einzelnes und nicht ein manifestes Ganzes, sondern die Dimension von Übergängen bildet das Medium der Auffassung. Die Pluralität erschließt sich in solchen Übergängen. Diese bilden das Medium postmoderner Erfahrung" (Welsch 1987, 129).

11 Man darf fortführen: wenn Architektur diesen Erfahrungen folgt und ihnen mit den oben genannten Mitteln Ausdruck verleiht, löst sie das ein, was in der Moderne seit anfang des Jahrhunderts angelegt war und erst postmodern befreit werden kann. Erst postmodern wird die Moderne wirklich modern. Ob die neusten Projekte von Ungers (Kunsthalle Hamburg), Stirling (posthum: Musikhochschule Stuttgart) und Hollein (Lichtforum Wien) diesen Ansprüchen gerecht werden, bliebe einer genaueren Analyse vorbehalten.

3.

12 In völligem Kontrast zu dieser Position hat Vittorio Magnago Lampugnani 1993 eine architekturästhetische Kontroverse ausgelöst, deren Wogen bis heute nicht verebbt sind (Lampugnani 1993a und 1993b). Auf dem Hintergrund eines Überdrusses an der "geschwätzigen" und "aufgeregten" Postmoderne forderte er eine "neue Moderne" in der Architektur, die vor allem durch eine "neue Einfachheit" gekennzeichnet ist. "Auch die Architektur muß von den Festen der Geschwätzigkeit und den Orgien des Tiefsinns, denen sie gefrönt hat, Abschied nehmen, um wieder die praktische Vernunft zu ihrer Richtschnur zu machen. Und sie muß dem Ernst der historischen Situation mit Rigorosität entsprechen" (Lampugnani 1993b, 146).

13 Um sein Konzept zu verdeutlichen, entwickelt er sieben Kriterien für eine neue Architektur (Lampugnani 1993a):

  • Rückkehr zu "Einfachheit" im Sinne von Gleichförmigkeit und Monotonie;
  • "Dichte" als "Verdichtung von Reichtum" und "Sublimierung von Komplexität";
  • Orte, "wo unsere Augen ausruhen können, als Sinnbild von Kontemplation, als Materialisierung von Schweigen";
  • geometrische und kompositorische "Ordnung", damit Architektur "als Insel der Ordnung im Strom der Verwirrung" stehen kann;
  • stilistische "Konventionen" als Mittel gegen den "Mythos" der permanenten Innovation;
  • "Dauer" und Beständigkeit als Orientierung gegen Mode und Konsumverhalten;
  • "Präzision" im Detail.

14 Bis auf die Betonung der (man könnte sagen: postmodernen) Notwendigkeit von Konventionen und die fehlende Fortschrittseuphorie erinnern die Kriterien durchaus an die Postulate der klassischen modernen Architekturästhetik: es soll eine neue "Ästhetik der Einfachheit, der Klarheit, der Ruhe sein. Eine Ästhetik der Ordnung, in deren Leere jeder einzelne seine eigenen Träume projezieren kann" (Lampugnani 1993b, 147).

15 Als Beispiel wird an die (durchaus exquisite) Architektur von Herzog & de Meuron, Diener und Diener oder Michael Alder gedacht. Problematische Ergebnisse dieses Ansatzes kann man in dem öden Fassadendesign der Büroneubauten an der Berliner Friedrichstraße studieren (zu denen auch Lampugnani einen wenig überzeugenden Beitrag geliefert hat). Der Weg vom Einfachen, Ordentlichen und Ruhigen zum Einfältigen und Langweiligen ist nur kurz. Ohne die postmoderne Erfahrung von nicht hintergehbarer Komlexität dürfte eine glaubwürdige ästhetische Aussage in der Architektur kaum noch zu machen sein.

4.

16 Eine ganz andere Position nimmt Heinrich Klotz ein, der als Vorgänger Lampugnanis Direktor des Deutschen Architekturmuseums in Frankfurt war und dort 1984 in einer vielbeachteten Ausstellung zur "Revision der Moderne" im Zeichen der Postmoderne aufrief. Von der Kritik an den zur Bedeutungslosigkeit verkommenen abstrakten Formen der Nachkriegsmoderne zeigte er an vielen Beispielen (zunächst vor allem aus Amerika), wie die Architektur ihre Darstellungsmittel, teils aus der Geschichte, teils aus der Kunst, teils aus dem Alltagsleben, wiedergewinnt, um über die reine Zweckerfüllung hinaus inhaltliche Aussagen zu machen und diese bildhaft zu gestalten. Diesen Prozeß bezeichnet er als die "Fiktionalisierung von Architektur" (Klotz 1984, 17), der bewirkt, daß "ein Bau wieder zu einem Gestaltungsanlaß werden kann, der nicht nur Fakten und Nutzungsprogramme berücksichtigt, sonder auch poetische Vorstellungen aufnimmt und dichterische Stoffe gestaltet. Das Resultat sind dann nicht länger nur Funktionsbehälter und Konstruktionswunder, sondern Darstellungen von symbolhaften Gehalten und bildnerischen Themen: ästhetische Fiktionen, die nicht abstrakt 'reine Formen' bleiben, sonder gegenständlich in Erscheinung treten" (Klotz a.a.O.).

17 Bei diesem Verfahren sind alle Mittel recht, die historischen, die symbolischen, auch die abstrakten, wenn sie denn dazu dienen, eine narrativ-fiktionale Aussage zu machen und einen poetischen Gedanken auszudrücken.Wichtig dabei ist allerdings, daß nicht Beliebiges erzählt und Historisches schlicht kopiert wird: eine ironische Verfremdung, die die Elemente neu ordnet und in einen neuen gegenwärtigen Zusammenhang stellt, ist unabdingbar.Stirlings Stuttgarter Staatsgalerie, die erst jetzt komplettiert wurde, dient dafür immer noch als Paradebeispiel.

18 Inzwischen hat Klotz seine Thesen weiterentwickelt und zu einer neuen Sicht verdichtet: "Die 'Revision der Moderne' enthielt ... die Absicht, die Moderne wieder freizuschälen von ihren Entstellungen und sie von einem Status zu lösen, der sie im Namen der funktionalistischen Entgrenzug der ästhetischen Fiktion entfremdet hatte. Das 'Ende der Moderne' fand nicht statt; aber beerdigt wurde ein hypertroph wuchernder Programmaspekt der Moderne, ihr Entgrenzungsfuror. Die Postmoderne war, wie sich gezeigt hat, keine Nach-Moderne, sondern 'Revision der Moderne'. Aus der Postmoderne geht hervor, was sie im Kern schon war - eine Zweite Moderne" (Klotz 1994, 149).

19 "Zweite Moderne" heißt des Stichwort: sie knüpft an die erste Moderne an und gibt ihr nach der postmodernen Wiedergewinnung der ästhetischen Fiktionalität eine neue Selbstverständlichkeit. In einer "Neuen Abstraktion" in der Bildenden Kunst zeigen sich für Klotz in freien Kompositionen Zeichen, die bei aller Ungegenständlichkeit fiktionale Gehalte haben. Er deutet sie als "Darstellung von etwas, das wir noch nicht kennen" (Klotz 1994, 165). In der neuen Architektur zeigt sich diese Tendenz im Auftauchen des "Dekonstruktivismus".

20 In den Entwürfen von Coop Himmelblau, Zaha Hadid, Peter Eisenman und Rem Koolhaas sieht er, ganz im Sinne der Moderne, eine abstrakte "ahistorische" Sprache am Werke, die, durchaus postmodern, versucht, darstellende und fiktionale Qualitäten für die Architektur zurückzugewinnen. "Thema dieser Architektur ist die Gefährdung des Ganzen, das schwierige Zustandekommen einer problematischen Einheit" (Klotz 1994, 166). Die Brüche, die Sprünge, die Splitter, das Spiel mit den statischen Gesetzen und den dynamischen Kräften, aus solchen und verwandten Elementen besteht das Vokabular dieser Sprache, die damit fiktive Prozesse und Zustände darstellen kann.

21 Daß dabei historisierende Reminiszenzen an den klassischen Konstruktivismus gesucht oder zumindest impliziert werden, macht ihren postmodernen Charakter nur deutlicher. "Die besondere Leistung dieser Architekten liegt darin, die Tradition der Moderne angesichts ihres funktionalistischen Scheiterns und ihrer brutalistischen Leere dennoch gestärkt zu haben, indem sie die abstrakte Form für die inhaltlichen Aussagen der Dekonstruktion genutzt haben" (Klotz 1994, 169).

5.

22 Die konsequente Fortführung des Dekonstruktivismus, das "Verschwinden der Architektur" im virtuellen Raum, läßt auf ganz andere Weise die Moderne wieder zum Zuge kommen. In dem Maße, in dem Architektur und Räume zu digitalen Konstruktionen werden, in die man sich über ein geeignetes Interface hineinzoomen kann, um in ihnen nach Herzenslust herumzusurfen, wird die verbleibende reale Architektur wieder zu dem, was eine radikale Moderne ausschließlich in ihr sehen wollte: zum reinen Behälter. Sie "ist eine Form, die nur noch eine Funktion besitzt, nämlich die des Schutzes mit den notwendigen Öffnungen des Interface, aber sie hat mit dem digitalen Universalcode nichts zu tun: Die Funktion der Hülle ist unabhängig von dem, was im Inneren geschieht... In diesem Sinne ist der Container das Vorbild der Medienarchitektur und des Designs mit der Konsequenz, daß die Schicht der Zeichen und der Symbole nicht mehr im materiellen Bildträger verankert ist, sondern auf dessen Bildschirmoberfläche schwebt und so die permanente Metamorphose erlaubt" (Rötzer 1993, 57).

23 Die Moderne hätte es damit nach der Postmoderne zu einer Arbeitsteilung gebracht: für die "Hardware", den Container, gelten die klassischen Kriterien der architektonischen Moderne: funktional, sicher, sauber, bequem; für die "Software", die Programme also, mit denen auf dem digitalen Equipment an und in dem Container die virtuellen Räume und fiktiven Welten erzeugt werden, die der Imagination freien Lauf lassen sollen, sind postmoderne Gesichtspunkte maßgebend: Vielfalt, Mischung, Offenheit, Pluralität, Interaktivität, Phantastik und Exotik. Daß aus dieser Mischung eine neue Ästhetik resultiert, ist wahrscheinlich: "Die Gesellschaft auf der Suche nach Erlebnissen zieht sich ins Innere der Schachteln zurück, kolonisiert den Datenraum auf der Suche nach Intensität und lädt so gleichzeitig die Erwartung auf, daß das Leben ähnlich dicht, schnell und intensiv wie ein Videoclip sein sollte, daß mit dem hämmernden Puls ständig die Szenen wechseln, daß die Verankerung in Raum und Zeit und das Gewicht der Identität überspült werden. Cyberspace und Telepräsenz scheinen den Traum zu realisieren, endlich nicht mehr nur als Beobachter einem Film oder einer Szene beiwohnen zu müssen, sondern dort eintreten zu können, das Fiktive wirklich zu machen, die Wirklichkeit zu irrealisieren" (Rötzer 1993, 61f).

24 Damit erscheint für das erst in der Postmoderne wiedergefundene Hauptmotiv der klassischen Moderne, Kunst und Leben miteinander zu identifizieren (vgl. Klotz 1994, 27ff), ein neues und ideales Betätigungsfeld gefunden, das unbegrenzte Möglichkeiten eröffnet, allerdings mit dem Risiko, dabei das Leben und damit auch die Kunst bzw. die Architektur zu verlieren. "Der Wunsch, eine Architektur zu haben, die sich ganz den Wunschphantasien fügt, die also mobil und jederzeit beliebig veränderbar ist, scheint zumindest für die Moderne ebenso prägend zu sein wie das Bedürfnis, die Architektur früherer Zeiten zu erhalten. Wir sind unzufrieden, weil es uns offenbar nicht mehr gelingt, eine wirklich verheißungsvolle Architektur zu entwerfen, in der wir auch leben möchten, denn wir sind Nomaden geworden, die ruhelos umherirren, selbst wenn wir seßhaft sind und nur duch die Programme der Fernsehanstalten tappen. Ein wirklich moderner Mensch, so bemerkte bereits Nietzsche im letzten Jahrhundert, der sich ein Haus bauen will, habe dabei ein Gefühl, als ob er bei lebendigem Leibe sich in einem Mausoleum vermauern wolle" (Rötzer 1993, 62).

6.

25 Dieser prekären Diagnose, die ein neues "Ende der Moderne" (das diesmal endgültig sein könnte) voraussieht, steht eine ganz andere Sichtweise gegenüber, die der Architektur fernab jeglicher Künstlichkeit eine Orientierung an den existenziellen und anthropologischen Grundbeständen des Daseins geben möchte.

26 Der Dichter Botho Strauß hat sich am Rande Berlins in der Uckermark ein Haus gebaut, von dem aus er seine Reflexionen über sich und den Stand der Dinge kreisen läßt. In seinem neuen Buch fragt er: "Wie soll ein Haus, das man in reifen Jahren baut, je die Zeit gewinnen, zu einem Menschen zu sprechen, zu flüstern in den Nächten? Mehr als die Befestigung einer Aussicht wird es nicht sein. Ein komfortabler Hochsitz mit freiem Blick zurück... Unweit der Stelle, an der das alte Gutsgebäude stand, steigt es nackt, neu, von Null auf und schamlos frisch aus dem mittelschweren Geschiebelehm der Moränenkuppen... Wer spricht in einem Haus, in dem noch kein Toter lag, kein Neugeborenes, in dem noch nicht geflucht, gezeugt und geweint, nie gewartet, nie gewohnt wurde? ... Vom Zero des Gemäuers kommt ein starker Sog. Räume, in denen noch nie etwas war, nehmen alles von dir..." (Strauß 1997a, 7f).

27 In der Konzentration auf naturhafte Lebensvorgänge und individualgeschichtliche Prozesse kommen Motive zur Sprache, die in der sozialen Utopie und Technikeuphorie der klassischen Moderne verschüttet worden waren und erst in der postmodernen Ökologie- und Alternativbewegung wieder aktualisiert wurden.

28 Daß die Architekturästhetik mit der Ästhetik der Natur korrespondieren kann und muß, ist seit der frühen Moderne, z.B. im Jugendstil und im Expressionismus, durchaus geläufig und wird erst jetzt zunehmend zu einem praktischen Desiderat. Daß Architektur auch einen lebens- und existenzgeschichtlichen Bezug hat, der über das historische Zitat hinausgeht, kann nach der postmodernen Erfahrung mit der Zeit neu gesehen und verstanden werden. "Mein Haus ist nur eine Warte. Kein heimliges Haus, frei und unbehaglich steht es vor dem Wind, in ansehnlicher Verlorenheit. Die Sonne wandert, die Jahreszeiten wechseln, das Kind wächst, und mein Hals wird faltig. Infolge dieser Überschneidung von Zeit-Zyklen und Zeit-Linien ergeben sich fast stündlich neue Ortsbestimmungen, und das Wohnen bleibt im ganzen unfaßlich" (Strauß 1997b, 200).

7.

29 Nach diesem Blick auf aktuelle Positionen zur architekturästhetischen Moderne nach der Postmoderne möchte ich schließen mit einigen Thesen zur Zukunft der Moderne.

30 - Die Moderne ist keineswegs zuende oder gar "tot": sie lebt und erscheint nach ihrer "postmodernen Revision" durchaus vital und kreativ. Zu ihr gibt es keine Alternative.

31 - Das Erscheinungsbild der "Neuen" oder "Zweiten" oder "Postmodernen" Moderne ist widersprüchlich: es umfaßt einfache und komplexe, abstrakte und bildhafte, regionale und internationale, technische und naturhafte, historische und avantgardistische, phantastische und rationale Formen und Kompositionen gleichermaßen. Erst die verdichtete Mischung, die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, das Miteinander des Gegensätzlichen prägt den Charakter der zukünftigen Moderne.

32 - Eine "Neue Einfachheit" wird es nicht geben (und hat es wohl nie gegeben): die Komplexität der modernen (postmodernen) Welt kann sich nur in komplexen Formen darstellen. Der in der Postmoderne wiedergewonnene Reichtum der architektonischen Sprachen und Codes und ihrer gestalterischen Möglichkeiten bedeutet auch eine Bereicherung des kuturellen Bestandes, der als Quelle und Fundus für zukünftige Entwürfe unverzichtbar ist.

33 - Möglicherweise wird es, bedingt durch den technologischen Fortschritt in der Mikro- und Informationstechnik und den entsprechenden sozio- kulturellen Wandel, zu einer Arbeitsteilung zwischen Entwerfern von hochfunktionalen Containern, die einer technologischen Ästhetik folgen, und Entwerfern von virtuellen Räumen und Welten, die einer fiktional- imaginativen Ästhetik folgen, kommen. Beide Gruppen arbeiten unabhängig voneinander, sind aber über gemeinsame Bildwelten und Erfahrungshorizonte miteinander verbunden. Das "Verschwinden der Architektur" ist deshalb unwahrscheinlich.

34 - Mit dem Ende der Utopien ist der Fortschrittsoptimismus der klassischen Moderne verloren gegangen. Große Visionen, die zu kühnen Bildern anregen und ihren Ausdruck und Widerklang in einer entsprechend gestalteten Umwelt suchen, sind derzeit nicht in Sicht. Sicherung des Bestandes, nostalgischer Rückblick, Ergänzung und behutsame Einfügung, einfühlsame Erneuerung oder anspruchsvolle Inszenierung, sind an der Tagesordnung. Der Bezug zu Ort und Umgebung ist dabei ebenso wichtig wie die Anlehnung an eine kuturelle Tradition. In der daraus resultierenden dichten Mischung und Überlagerung von Heterogenem drückt sich Unsicherheit, Desorientierung und Perspektivlosigkeit aus, die dem allgemeinen Zeitgefühl entsprechen.

35 - An Versuchen, diesem ("rasenden") Stillstand zu entkommen, wird es nicht fehlen: die Flucht in die Idyllen der "heilen Welt" abseits der Metropolen oder der Traumstätten des Tourismus gehört ebenso dazu, wie die Expeditionen zu den "künstlichen Paradiesen" der virtuellen Welten im Cyberspace. Das gestalterische Repertoire der postmodernen Moderne ist genügend reichhaltig, um auch diesen Sehnsüchten eine entsprechende räumliche Umgebung zu schaffen.

36 - Ob aus der digitalen Welt eine völlig neue architektonische Ästhetik auf uns zukommt, bleibt abzuwarten.

Literatur

Fischer/Fromm/Gruber/Kähler/Weiß 1987: Abschied von der Postmoderne.Braunschweig: Vieweg
Klotz, Heinrich 1984: Moderne und Postmoderne. Architektur der Gegenwart 1960 - 1980. Braunschweig/Wiesbaden: Vieweg ders. 1994: Kunst im 20. Jahrhundert. Moderne - Postmoderne - Zweite Moderne. München: Beck
Kursbuch 122, 1995: Die Zukunft der Moderne. Berlin: Rowohlt
Lampugnani, Vittorio Magnago 1993a: Das Naheliegende ist die größte Provokation. In: Frankfurter Rundschau vom 30.10.93
ders. 1993b: Die Provokation des Alltäglichen. In: Der Spiegel 51/1993, S. 142-147
Mitscherlich, Alexander 1965: Die Unwirtlichkeit unserer Städte. Anstiftung zum Unfrieden. Frankfurt: Suhrkamp
Rötzer, Florian 1993: Raum und Virtualität. In: Kunstforum International 121/1993, S. 56-62
Strauß, Botho 1997a: Der Fehler des Kopisten. München: Hanser
ders. 1997b: Wo der Geist Knecht ist. In: Der Spiegel 16/1997, S. 194-200
Welsch, Wolfgang 1987: Unsere postmoderne Moderne. Weinheim: VHC, Acta Humaniora

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