8. Jg., Heft 2 (März 2004)    

 

___Hermann Hipp
Hamburg
 

Perspektiven der Baukultur in Hamburg

 

Anmerkung: Man muss wegen der historischen Bezüge im Text hervorheben, dass dieser Beitrag vor fast 12 Jahren auf dem Neujahrsempfang des BDA in Hamburg vorgetragen und bereits 1992 in Hipp / Markovic; Baukultur und Stadtgestalt; Hamburg  (Knut Reim Verlag) veröffentlicht wurde. Wir danken dem Autoren und dem Verlag, dass wir ihn wegen seiner Aktualität hier erneut veröffentlichen können.

Meine Damen und Herren, liebe Frau Markovic,

es ist für den Historiker ein eigenartiger Zustand und in jedem Falle eine große Ehre, vor denen sprechen zu dürfen, die seinen Gegenstand schaffen - also für mich als Kunsthistoriker vor Ihnen, dem Bund Deutscher Architekten als gleichsam unmit­telbar gegenwärtiger Verkörperung von Baukultur.
Über diesen Begriff soll ich zu Ihnen reden, eingreifen also damit in eine Debatte, die es in Hamburg seit ungefähr zwei, drei, allenfalls vier Jahren gibt und die im Herbst einen Höhepunkt in den Norddeutschen Architekturtagen erlebt hat.
Das ist freilich nicht ganz einfach, denn so oft das Wort seit etwa 1988 fällt, ich kann es in keinem Lexikon finden.
Ich könnte es so verstehen, wie es mir als Mitglied eines Fachbereichs zukommt, der sich "Kulturgeschichte und Kultur­kunde" nennt und in dem unter anderen Ethnologen, Prähistori­ker und Archäologen arbeiten: Nämlich im Sinne der Kultur als Summe der objektivierbaren Lebensäußerungen der Menschen in ihren sozialen Gefügen. So gesehen, könnte ich das Thema zurückgeben mit der Mitteilung - Hamburg hat objektiv Baukul­tur, denn hier wird gebaut.
Aber natürlich erwarten Sie mehr von mir, oder eigentlich et­was anderes, nicht das empirisch-kulturwissenschaftliche Perspektiv, also ein Fern- oder Vergrößerungsglas in die Vergan­genheit, sondern Perspektiven, also eine Zukunftsprojektion, möglicherweise sogar Orientierung. Vielleicht auch die Be­schreibung eines Defizits, sozusagen des Unbehagens in dieser Baukultur, die von so vielen gefordert und damit doch zunächst einmal vermisst wird.
Ich muss Sie enttäuschen: Als Historiker glaube ich nicht an die Möglichkeit von Prognosen, Hochrechnungen aus der Ge­schichte. Und auf Gegenwart und Vergangenheit bezogen sehe ich kein Defizit.
Wohl aber beunruhigt mich das Wort - "Baukultur". Das be­ruht auf der Überzeugung, dass vor allem die Geschichte der Wörter über ihren Inhalt Auskunft gibt: Zwar kann ich dazu kein abgesichertes Ergebnis vorlegen; jedoch erscheint mir eine Hy­pothese begründbar: Im Begriff der "Baukultur" wurde und wird vielleicht immer noch eine unbestimmte Sehnsucht nach harmo­nisch einheitlichen Lebensformen, nach einer heilen Welt trans­portiert, die verankert ist in der antimodernen, antirationalen und autoritär infizierten, völkisch statt sozial denkenden Lebensreformbewegung der Jahrhundertwende. In einer Zeit also, in der einer als "Zivilisation" verabscheuten "amerikanisierten" Gegenwart, geprägt durch Industrie, techni­sche Intelligenz und Großstadtentwicklung, die Sehnsucht nach einer ganzheitlichen, künstlerisch geprägten, normativen und nicht zuletzt deutschen "Kultur" gegenübergestellt wurde. Dar­aus sind zwar dennoch Reformimpulse zur Moderne hin ausge­gangen, ebenso sehr aber hin zu den zerstörerischsten Teilen der deutschen Geschichte. Um 1910 finde ich die ersten Belege. Dazu gehört vor dem Ersten Weltkrieg der bekannte, 1908 ent­standene Text von Paul Bröcker: Hamburg in Not! Ein eiliger Hil­feruf und ein Vorschlag zur Rettung der vaterländischen Baukul­tur. Selbst ein Modernist unter den Reformern, wie der Werk­bundanhänger Karl Scheffler in seiner 1913 erschienenen "Architektur der Großstadt" verbindet den Begriff mit pathetisch autoritären Vorstellungen: "Zur Baukultur aber, zu einer großen modernen Bürgerkunst wird die Nation nur gelangen, wenn sie lernt, die monumentale Kraft des Kapitals mit sich frei beschränkendem Selbstgefühl zu organisieren und sie so der Willkür der Unfähigen und Gewissenlosen zu entziehen".
Und erst recht in diesen Rahmen gehört dann auch Fritz Hö­ger nach dem Ersten Weltkrieg mit einer Eloge auf sein Chile­haus, in der seine völkisch-rassistische niederdeutsche Architek­turideologie als deutsche Baukultur profiliert wird: "... sein We­sen weist aufrecht sieghaft über die entsetzliche Zeit. Durch den Bau wurde das apathisch am Boden liegende Volk em­porgerissen und schaute hoffnungsvoll zu ihm hinauf... Ich wußte genau, daß es sich um die Wende deutscher Baukultur handelte, um das Gegenteil vom Eklektizismus, vor allem aber um den Sieg über die neue Sachlichkeit. Hier war nur alte Sachlichkeit, die Voraussetzung für alles Gute und Schöne. Nichts ist hier extra gewollt, alles ist gemußt und urgründig aus dem Innern diktiert..."

Damit konnte sich Höger als derjenige verstehen, der eine 1890 gestellte Prognose einlöste; damals hieß es in einem bald viel verbreiteten Buch: "Der Reichstagsabgeordnete Reinhold hat in einer Reihe von öffentlichen Aufsätzen die künstlerischen Aufgaben und Ziele erörtert, welche sich nunmehr der Stadt Berlin, nachdem sie Reichshauptstadt geworden ist, aufdrängen müssen; und er hat dabei speziell auf Hamburg als ein nachah­menswertes Beispiel hingewiesen. Geheime Bauräthe giebt es in Hamburg nicht; wohl aber öffentliche Bauwerke - die rein praktisch gemeint und doch schön sind. Der Niederdeutsche bewahrt sich eben, trotz seines Weltblicks, gern den Sinn für das Natürliche; dadurch konnte Hamburg die stehende Schule des guten deutschen Schauspiels werden; es scheint nicht un­möglich, daß es auf dem Gebiet der bildenden Kunst zu einer ähnlichen Rolle berufen oder doch befähigt ist". - Der Autor ist Julius Langbehn, das Buch heißt "Rembrandt als Erzieher", und gemeint sind die Bauten Franz Andreas Meyers, des Hamburger Oberingenieurs, also vor allen Dingen die damals neue Speicher­stadt. Über Langbehn nur so viel: Sein Bramarbasieren von deutscher Weltherrschaft durch Kunst führte mit zu Wilhelms II. Sprüchen vom deutschen Wesen, an dem die Welt genesen soll ebenso wie zur ideologischen Aufrüstung der völkischen Bewe­gungen des Kaiserreiches, die "hofften, die Vorherrschaft des Verstandes brechen und eine lebenskräftige, volks- und urtüm­liche Gesellschaft ins Leben rufen zu können. Er hatte zu Beginn einer entscheidenden Kulturepoche im modernen Deutschland seiner Entfremdung von der Gesellschaft, seinem Hass auf die Modernität und seinem Suchen nach Heil Ausdruck verliehen" (Fritz Stern, Kulturpessimismus als politische Gefahr).
Zwei hervorragende Hamburger Baudenkmäler - die Spei­cherstadt und das Chilehaus - führen so auf einem gar nicht so weiten Weg zu einer höchst zweifelhaften Vorstellung von Bau­kultur.
Soweit zu meinen bedenklichen Gefühlen, was das Wort be­trifft. Und etwas übertreibend, möchte ich noch einen Gedan­ken anfügen:

*

Architektur stellt dem abendländischen Denken seit der An­tike eine Fülle von Sprachbildern bereit, die allesamt darauf verweisen, dass sich im Gefüge der Bauwerke menschliche Exi­stenz in ihrer ganzen Breite vergegenwärtige, vor allem im Hin­blick auf das Zusammenleben der Menschen. - Hinter Meta­phern wie der vom Staat als Bauwerk bis hin zum Gedankenge­bäude steht die Faszination, dass den Architekten immer wieder etwas gelingt, was im gesellschaftlichen und politischen Leben allzu selten eintritt, nämlich eine schlüssige Form zu finden. Insofern wird Architektur immer wieder zur Vergegenwärtigung der Hoffnung auf harmonische Ordnung der Welt und ihrer Zu­sammenhänge.
Von da aus läuft die Sehnsucht nach harmonischer Baukultur auch Gefahr - und ich habe es mit dem Hinweis auf die Wortge­schichte angedeutet - , eine harmonische politische Kultur her­beizuzitieren, in Wirklichkeit also statt schöner Gebäude einen schönen Staat.
Wer große Leistungen fordert in dieser Debatte um die Bau­kultur, ist gerne bereit, auch die großen Macher zu fordern, die Architekten, vor allem die mächtigen und tatkräftigen Bauher­ren, vor allem im öffentlichen Bereich, vor allem vom Staat, for­dert also oft schnell und entschieden einen starken Staat ­meist ohne es zu sagen oder auch nur daran zu denken, aber doch zwangsläufig, gleichsam per Unterschleif, über den Ruf nach jenen großen Oberbürger­meistern und tatkräftigen Stadtentwicklungssenatoren, die die Dinge an sich ziehen und den großen Wurf ermöglichen. - Auch diese Forderung hat übri­gens ihren Bezugspunkt in der Reformbewegung der Jahrhun­dertwende.
Sie sehen, nicht nur historische, sondern auch politische Be­denken lasten auf dem Wort von der Baukultur. Es ist ein politi­scher Begriff.

*

Nun hat Hamburg in den zwanziger Jahren zwar Höger als Teil seiner Baukultur begriffen, insgesamt aber politisch und ideologisch weit gemäßigtere Wege beschritten, als Langbehn von ihm erwartete; der Staat war damals sozial-liberal regiert.
Und Protagonist dieser Epoche, zugleich Gewährsmann der Mäßigung, ist Fritz Schumacher. Es ist zwar nicht überflüssig, zu erwähnen, daß auch seine Texte vor dem Ersten Weltkrieg in völkischen Tönen auslaufen, selbst jene Gründungsrede des Deutschen Werkbunds, in der 1907 auch er "harmonische Kul­tur" forderte. Wenn überhaupt in irgendeiner Epoche von Ham­burgs Baugeschichte, dann verkörpert sich eine als wertvoll empfundene Baukultur aber wohl doch für alle von uns in den Leistungen der Zeit, in der er Städtebau und Staatsbauwesen leitete. In den Ensembles der Wohnstadt Hamburg und ihren öf­fentlichen Bauten vergegenwärtigt sich architektonische und städtebauliche Harmonie, menschliches Maß, ausgeglichene Einheit. Ohne Zweifel, es war das Verdienst dieses "dirigie­renden Architekten", dass diese Bauleistung so zustandekam.
Freilich würde sich der täuschen, der darin tatsächliche Har­monie des baulichen Prozesses vermuten würde und daraus das normsetzende Gegenbild für eine als chaotisch empfundene Ge­genwart ableiten wollte: Auch in den zwanziger Jahren findet der Historiker unzählige Zeugnisse für Konflikte und Frustratio­nen im Zusammenhang mit der Baugeschichte. Endlose Pla­nungsprozesse, die im Nichts oder doch bei ausgedünnten Kompromissen enden, kaum zu durchschauende Interessenge­flechte und -verwicklungen. Nur ganz selten etwas von jener "geistigen Einheit", als die Fritz Schumacher die Architektur sah. So oft gerade er den Begriff der Harmonie niederschrieb: Eben mit jenem Ingenieurwesen, dem der "Rembrandtdeutsche" Langbehn seine Heilserwartung zugewandt hatte, führte gerade Schumacher erbitterte Machtkämpfe. Und etwa die Deichtor­hallen, Bauten, die man seiner harmonischen Baukultur zuzu­schlagen pflegt, sind in Wirklichkeit Offensiven des selbständi­gen Ingenieurwesens gegen Schumacher.
Aber auch die alltägliche Arbeit Schumachers und seiner Be­hörde zeigen nicht immer eine harmonisch entstehende Kultur. Meist sind die großen Leistungen Ergebnisse der Kompromissbildung aus langwierigen Planungs-Diskursen, an denen viele, und viele unterschiedliche Interessen, Gruppen und Menschen betei­ligt waren. Der Dulsberg-Plan ist ein Kompromiss - was oft ver­gessen wird. - Und einer der monumentalsten Kompromisse ist bei näherem Zusehen eben jenes - Chilehaus. Nicht ein Genie­streich aus niederdeutschem Blut ist es ja in Wirklichkeit, son­dern es ging hervor aus einem höchst komplexen Planungsvor­gang, an dem nicht zuletzt die hamburgischen Behörden pro­duktiv beteiligt waren (von den Staffelgeschossen, die das Baupflegebüro vorschlug, bis zur nachträglichen Korrektur des Bebauungsplans durch Fritz Schumacher, der die Einmaligkeit des berühmten Bugs sicherte). Vom Einfluss des Bauherren ganz zu schweigen.
Und damit steht es nur in einer Reihe von vielen Projekten, an denen viele mitsprachen in Hamburg. So ließ etwa ein Bauwerk die Hamburger Künstler und am Ende sogar seinen wichtigsten Architekten, dazu die beratenden Wissenschaftler und darunter Alfred Lichtwark frustriert zurück - ein Bauwerk, dem keiner von uns das ansieht. Ich meine das Rathaus, in dessen fünfzig Jahren Planungs- und Baugeschichte bis zur Einweihung 1897 zahllose Beteiligte zahllose Entwürfe und Ideen buchstäblich zerredet haben. Und dennoch: Das Ergebnis gehört zu den be­sten Bauwerken des Historismus in Deutschland, funktioniert als identitätsstiftender Mittelpunkt der Stadt bis heute und bei­läufig als Ort von Parlament und Regierung fraglos kompetent. Wenn überhaupt ein historisches Bauwerk in Hamburg als "gelungen" zu bezeichnen ist, dann dieses Rathaus.
Zurück zu Schumacher: Antagonismen, viel Zeit für Verhan­deln und oft Frustration bei den Beteiligten über Kompromisse sind Grundlage seiner Siedlungen. Dass ihm dennoch die ge­rühmte Einheit gelang, beruht auf einfachsten Methoden zur Er­zielung von Konvention und Kompromiss: Das eine der Mittel ist bis zum Überdruss bekannt und wird noch bis zum Überdruss strapaziert, es ist der Backstein. Umso mehr sollte man sich des anderen erinnern, jener Methode modellmäßigen Planens, mit der Schumacher die Stadt als Einheit und zugleich den einzelnen schöpferischen Impuls zu einer lebendigen Flexibilität zu­sammenführte: Indem er seine Bebauungspläne als Modelle aus Plastilin darstellte, hielt er sie lebendig, konnte flexibel auf neue Ideen reagieren und sie zugleich jederzeit in sein ganzheitliches Konzept einbinden.
Das erscheint mir geradezu in den Kern von Schumachers Denken in lebendigen Prozessen hineinzuführen: Nicht harmoni­sche Endzustände interessierten ihn, sondern eben die Prozesse als solche, die Auseinandersetzungen, der Kampf, der immer neue Kompromiss und Konsens. Im Zweifelsfall aber interes­sierte ihn vor allem die Dynamik der Ausgangssituation. An­schaulich und eindeutig geht das hervor aus jenem Märchen Fritz Schumachers, wo der Teufel aus dem Verkehr gezogen wird und danach das Leben in lieblicher Langeweile erstarrt, "Alles Gedeihen und Wohlstand ging rückwärts", bis Gott ihn wieder freilässt. Das dualistische Denken Fritz Schumachers, das sein Werk gedanklich, methodisch und auch gestalterisch durchzieht, könnte nicht deutlicher werden als in jenem Herrn der Heerscharen, der nach der Freisetzung des Widersachers wieder "lächelte, daß die Wolken am Himmel zerstoben".
So erweist sich am Ende gerade für Fritz Schumachers Ham­burg das dynamische Prinzip der Gegensätze wirklichen Lebens als Quintessenz seiner Baukultur. 

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Schumacher hat die Signatur der Stadt aus den naturräumli­chen und ökonomischen Grundbedingungen herausgelesen, als er sagte, es sei "... wie vielleicht keine andere Großstadt ganz und gar ein Produkt der technischen Energie ihrer Bewohner". Darin sind alle jene Hamburger Langzeittraditionen aufgehoben, die uns geläufig sind und die ich deshalb nur aufzähle: Hamburg ist ökonomisch, nüchtern und sachlich, aber auch bequem und angenehm, frei im staatsrechtlichen und im individuellen Sinne, bürgerlich, republikanisch; aufgeklärter common sense und großzügige Sozialgesinnung, kritische Nüchternheit - das alles läßt sich auch aus der Geschichte der Hamburgischen Architek­tur ableiten, aus den Pfarr- und Bettelordenskirchen des Mittelalters, aus dem Dielenhaus, aus den Fleeten und Spei­chern, aus den Landhäusern und Kontorhäusern, den Großsied­lungen und Gartenstädten der zwanziger Jahre, den Schulen der Nachkriegszeit. Aber auch aus dem opulenten und dennoch als "gediegen" dem Luxus bayerischer Königsschlösser bewusst entgegengesetzten Rathaus.
Das wichtigste noch einmal: Gerade Hamburgs größte Lei­stungen sind augenfällig Ergebnis diskursiver Planungsprozesse. Technische Energie und Diskurs sind die Konstanten ham­burgischer Baukultur.
Auftraggeber für die Errichtung seiner Bauten - ob als Pri­vatleute oder in politischer Verantwortung - waren grundsätz­lich stets seine Bürger, deren republikanisches Ethos sich jahrhundertelang angemessenen Ausdruck in der Gleichheit des Maßstabes der Bürgerhäuser geschaffen hat. Übermaß fiel auf und wurde gesellschaftlich unter Verdikt gestellt. Das verhin­derte Exzesse seit je. - Bezogen auf die Architektur behinderte es zu allen Zeiten auch die Avantgarde. Republikanisch war die Entwicklung einer Kultur bürgerlicher - ja, und das ist die dritte Konstante hamburgischer Baukultur - Konvention.

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Sie merken es schon: All das, was Schumacher, Rathaus, Bürger- und Kontorhäuser für mich bedeuten, erleichtert mich von jener Sorge um Langbehns und Högers Perspektiven: In ei­nem Wort, wenn überhaupt etwas aus der Geschichte Ham­burgs zu lernen ist, dann das:
Seine historische Baukultur verhält sich zu jenem Schreckbild, das ich Ihnen von der harmonisch-totalitären Baukultur skizziert habe, in einfachen Begriffspaaren ungefähr so: Ist jene antira­tional - so ist diese vernünftig: zweckrational, aber auch auf Verständigung angelegt. Ist jene antimodern - so ist diese offen für die Möglichkeiten der Gegenwart. Ist jene harmonisch - so ist diese freilich kritisch, bereit zur Auseinandersetzung. Ist jene autoritär - so ist diese konventionell. Ist jene völkisch - so ist diese sozial.
Und alles zusammennehmend ist dennoch auch sie politisch: In jenem pluralistisch-demokratischen Sinne freilich, den die modernen Industriestaaten Europas - inzwischen nicht mehr nur des Westens hoffentlich - verkörpern. In ihnen organisiert sich die Konkurrenz vielfältiger, heteronomer Interessen in offenen Gesellschaften, die - baulich-metaphorisch dargestellt - aller­dings ein seltsames Gebilde ergeben. Mehr als Architektur ist es ein Garten, mit dem wir es zu tun haben, halb verwildert, halb gepflegt, mit trivialen und seltsamen Pflanzen, schönen und verluderten Beeten, auch dem einen oder anderen Pavillon, ins­gesamt zwar höchst ertragreich und nahrhaft, voll vielfältiger Möglichkeiten, sich einen geeigneten Aufenthaltsort zu suchen, sei es Terrassenpodium oder Nische. Insgesamt ziemlich chao­tisch und nicht ohne Fallgruben.
Ich mache nicht weiter, keine Sorge. - Schon gar nicht bin ich der Meinung, dass diese Metapher in gebaute Umweltgestaltung zurückübersetzt werden sollte.
Es ist aber klar: als Bewohner dieses Gartens würde ich mich mit jedem anlegen, der darin die Ordnung der oder gar einer oder gar einer bestimmten Baukultur errichten wollte mit dem Anspruch, damit das Wesen dieses Gartens auszudrücken.
Nüchterner kann man das politische System der pluralisti­schen Demokratie beschreiben als die Freiheit und Möglichkeit, sich am Gruppenwettbewerb zu beteiligen und dort die eigenen Interessen zu artikulieren, als die Durchsichtigkeit der Regie­rungsgeschäfte, als das Recht auf Initiative und Kritik sowie der Kontrolle, mittelbar über das Parlament, unmittelbar durch die öffentliche Meinung, das Bestehen der Möglichkeit für Misstrauens- und Vertrauensvotum, die verfassungsmäßige Anerken­nung einer Opposition. Die Regierung und ihre Verwaltung hat dabei die Pflicht, Kritik bei geplanten Maßnahmen einzubeziehen und zu respektieren. Wohlgemerkt, das betrifft die Regierung ­- ebenso angesprochen ist aber der einzelne, ebenso angespro­chen sind vor allem die wirksamsten Instrumente seiner Interes­sen, die Verbände und gesellschaftlichen Organisationen, so­weit sie sich demokratisch verstehen.
Sie sind hierher gekommen, um über Architektur zu reden und nicht einen Grundkurs in Staatsbürgerkunde über sich ergehen zu lassen. Ich fahre dennoch fort.
Es liegt auf der Hand, dass diese pluralistische Gesellschaft erhebliche Schwächen aufweist gegenüber mancher totalitär organisierten, wenn man etwa die Durchsetzung unabweisbarer Interessen und Erkenntnisse in Betracht zieht. - Das wird aber bei weitem aufgewogen durch die empirische Erkenntnis, dass kein totalitärer Staat früher als die westlichen Demokratien etwa die Gefährdung der Umwelt erkannt geschweige denn be­hoben hätte.
Es liegt auf der Hand, dass neue, in der Regel nur eine kleine Minderheit erfassende Interessen sich oft nicht artikulieren oder gar durchsetzen können. - Und wird widerlegt durch die alltägli­che Erfahrung, daß eines der unterhaltsamsten Elemente des Pluralismus die wechselseitige Neugier ist, die Lust am Aufspü­ren gerade dieser Minderheiten.
Es liegt auf der Hand, dass auch demokratische Apparate er­starren können, der Kritik nicht mehr zugänglich sind, ja un­durchsichtig werden.
Es liegt vor allem auf der Hand und entspricht Ihrer alltägli­chen Erfahrung, dass das zwangsläufig komplizierte Institutio­nengefüge einer pluralistischen Gesellschaft schnelle, effektive, schlechthin neue und sensationelle Lösungen behindert. Die Probleme werden zerredet und keiner der Beteiligten kann sich mit dem Ergebnis identifizieren, an dem doch alle oder doch viele beteiligt sind - und das fast immer "nur" ein Kompromiss ist. Die Frustration der Beteiligten darüber durchdringt als konstitutive Bewusstseinslage die Gesellschaft.
Sie sehen, ich nähere mich dem Anfang, ich rede schon nicht mehr nur von Politik, sondern auch von Baukultur. Und meiner Rede kurzer Sinn wird langsam sichtbar: Jenes defizitäre Ge­fühl, das zur Debatte über Baukultur geführt hat und sich in ihr artikuliert - macht das Wesen unserer Baukultur aus. Denn sie ist so pluralistisch wie die Gesellschaft, für die sie wirkt. Und was die Hamburger Baukultur allenfalls kennzeichnet, ist, dass ihre historische Tiefe republikanischer Tradition auf dem Weg zur offenen Gesellschaft schon früher ein bisschen weiter voran gelangt war als etwa in den alten Residenzstädten. 

*

Vielleicht nun doch noch Perspektiven:
Die Forderungen der pluralistischen Demokratietheorie an die Organisation der Gesellschaft lassen sich leicht übertragen auf eine entsprechend organisierte Baukultur:
Sie stellt sich dann dar als ein Zustand, in dem die Konkur­renz nicht so weit geht, dass Teile der Gesellschaft zerstört, sich ein Interesse auf Kosten der anderen durchsetzt, sondern als friedebewahrende Konfliktregelungsfähigkeit. Als Fähigkeit zum Kompromiss. Aufgabe wäre in diesem Sinne die wechselseitige Integration der Einzelinteressen. Und ich würde mich wiederho­len, wenn ich auf die Bezugspunkte in der Hamburger Bauge­schichte verwiese.
Hierbei treffen freilich unsere ansonsten längst verinnerlichten Vorstellungen vom guten Leben in der pluralistischen Ge­sellschaft hart auf überkommene Mythen der Autonomie von Kunst und Künstler - deren höfische Provenienz vielleicht gerade an dieser Stelle betont werden darf. 

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Faktisch ist es gar nicht ein neues Instrument der gesell­schaftlichen Konfliktbewältigung, das Baukultur erfordert. Allen­falls ist es vielmehr erforderlich, dass die Organisation, die wir gemeinsam uns leisten, nämlich die Freie und Hansestadt Ham­burg als verfasste Körperschaft - zu deutsch Bürgerschaft und Senat, Parteien und Deputationen, Verbände und Kammern ­sich ihrer Verantwortlichkeit auch für das Bauen deutlicher inne werden.
Dann aber kann Baukultur nur bestehen aus einem System of­fener Spielregeln und weniger Grundwerte. Die wichtigsten sind, dass nicht Einzelne das Sagen haben, dass es keine ver­bindliche kulturelle Norm gibt, daß keine Teilgruppe sie vertritt (auch nicht die Fachleuchte oder die Sachverständigen), dass im Zweifelsfall eher die Mehrheit entscheidet und andererseits keine Minderheit aus dem Diskurs ausgeschlossen wird. Vor allem aber wäre Baukultur dadurch zu fördern, dass die Möglich­keiten der Chancengleichheit und der Partizipation verbessert werden, bzw. Einschränkungen, die dafür bestehen, womöglich beseitigt werden.
Ich paraphrasiere ein bisschen die politische Pluralismustheorie und sage: Wenn es in einer pluralistischen Gesellschaft, die eine objektiv feststellbare Baukultur a priori ablehnen muss, über­haupt ein Gemeinwohl in dieser Hinsicht geben kann, so ent­steht es erst aus dem gesellschaftlich-politischen Interessen­ausgleich. Die Baukultur in einer pluralistischen Demokratie lässt sich nicht normativ definieren, sondern sie entsteht a posteriori. 

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Es gibt seit langem die Debatte um eine für Hamburg neue Organisationsform der Baukultur. Die Erfahrungen, die da und dort mit Sachverständigenbeiräten gemacht wurden, fordern dazu geradezu heraus - etwa in Salzburg zur Zeit des grünen Stadtrats Johannes Voggenhuber oder jetzt in Berlin das Stadt­forum des Senators Hassemer.
Ich habe große Schwierigkeiten, mich mit einem solchen Konzept zu befreunden. In Hamburg selbst dürfen wir uns zwar erinnern an die Zeit der Baupflegekommission, die 1912 einge­richtet wurde und die entschieden beteiligt war an der Blüte und hohen Gesamtqualität der hamburgischen Architektur in den Goldenen Zwanziger Jahren. Immerhin, es war eine sehr große Kommission, an der viele Gruppen beteiligt waren - und sie hatte wenig zu tun. Denn sie war selbst schon mehr das Er­gebnis der gemeinsamen Vorstellungen aller am Baugeschehen Beteiligten als dass sie diese hätte lenken müssen. - Und im üb­rigen ließen in dieser Kommission höchst liberale Bürger und Sachverständige eigentlich alles zu, was an Ideen in Hamburg aufkam - weil diese Ideen von Beginn an eher dem entsprachen, was hier konsensfähig war.
Insgesamt erscheint mir der Ruf nach dem Beirat wie ein Kleinbeigeben vor den Schwierigkeiten des Lebens in der offe­nen Gesellschaft: Die Situation erinnert mich an jene mittelalter­lichen Städte Italiens - die wir wohl alle als schönste schlechthin kennen - , die von ihren inneren Konflikten beun­ruhigt seit dem 12. Jahrhundert als Ausweg sich einen unab­hängigen Stadtregenten von außerhalb holten. Dieser "Podestà" sollte für eine begrenzte Zeit die Interessen ausgleichen, wurde gut bezahlt und äußerst streng kontrolliert. - Aber Sie kennen das Ende vom Lied, jene Tyrannendynastien von Pavia, Mailand, Mantua: Die Unfähigkeit, die kommunalen Konflikte selbst zu regeln, brachte den italienischen Städten das Ende ihrer inneren Freiheit. - Natürlich ist ein Beirat kein Podestà - aber er ist auch kein Garant pluralistischer Baukultur. 

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Soweit zum Allgemeinen. Nur noch wenige Anhaltspunkte zur real existierenden, empirischen Baukultur der Gegenwart. Der wichtigste Aktivposten der Baukultur in Hamburg im
Sinne einer Baukultur des Pluralismus ist die Öffentlichkeit, die die Architektur in dieser Stadt genießt. Dazu brauchte ich nur Gert Kähler zu zitieren, der es 1989 der Hamburger Szene ins Stammbuch, nein, ins Architektur-Jahrbuch geschrieben hat: "Ich kenne keine Stadt, in der die Auseinandersetzung über Fra­gen der Architektur so unmittelbar und so direkt gepflegt wird wie hier. - Ich kenne keine Stadt, in der aktuelle Bauten so kontrovers und öffentlich diskutiert werden vor Auditorien von 300 bis 400 Personen, die nicht nur aus Architekten beste­hen...". Man sollte vielleicht die nennen, denen solches zu ver­danken ist: die Präsidentinnen und Präsidenten sowie die Ge­schäftsführer der Architektenverbände, die Hamburger Bauhi­storiker, das Architekturarchiv, die Hochschulen und die Patrio­tische Gesellschaft ...
Und schon breche ich ab, denn es sind, rundheraus gesagt, zu viele Aktivposten, die den öffentlichen Diskurs ausmachen: Die Berichterstattung über Architektur in den lokalen Blättern gehört dazu; man kann sie kritisieren, aber es gibt sie - oft und kritisch. Dazu kommt die überregionale Architekturkritik, die einen ihrer Schwerpunkte in Hamburg hat, mit Manfred Sack, Gert Kähler, Dirk Meyhöfer und anderen; es ist ein Aktivposten für Hamburg, dass diese Propheten ihr Vaterland oft kritischer sehen als München oder Berlin.
Auch der Oberbaudirektor und auch das Denkmalschutzamt ­ja auch das, denn mit seinen Veröffentlichungen bereichert es den Architekturdiskurs - sollten nicht unerwähnt bleiben. Habe ich die Architekten vergessen?
Ich zähle zu den wichtigsten Aktivposten lebendiger Baukul­tur vor allem, daß in diesen Tagen die Stadtent­wicklungsbehörde ihre Arbeit aufnimmt, die wiederum die "Planungskultur" auf ihre Fahnen geschrieben hat: Die Organisa­tion des demokratischen Diskurses in der Planung - in deren Verhältnis zur Politik, zur Öffentlichkeit und - was ebenso wich­tig ist - innerhalb der Behörden selbst. - Eine Gefahr freilich ist aus der Hoffnung auf eine Planungskultur neuer Art abzuleiten:

Dass sie den ganzen Erfolg erwartet und an den Kompromissen verzweifelt, dass sie nicht wahrnimmt, dass ihre kulturelle Bedeu­tung in der Methode liegt, dass sich in einer diskursiven Pla­nungskultur die Planung vor allem dem demokratischen Grund­recht der Kritik öffnet. Dass sie Kompromisse und bestenfalls Konventionen zur Folge haben, ansonsten dem Missmut der kon­kurrierenden Interessen ausgesetzt sein wird, ohne jede Chance, irgendwann endzeitliche Harmonie zu erreichen - aber eben eine Methode, deren kultureller, politisch-kultureller und baukultureller Wert in ihr selbst beschlossen ist.
Hier könnte ich schließen, denn wenn überhaupt etwas, dann ist das meine Botschaft.
Ich hätte jetzt gerne noch einige Urteile über Bauten im Guten und im Bösen angefügt. Sie hätten daraus schließen können, dass auch ich ein Urteil über Architektur habe. Ich lasse das und erwähne nur zwei - bei aller Liebe zu Hamburg - finstere Ab­gründe im baukulturellen Panorama - geradezu menschenfeind­liche Zustände - nicht nur ästhetisch, sondern auch physisch nur negativ zu erleben: Die Hamburger Verkehrssysteme und die Hamburger Universität. Freilich sind beides keine Probleme der Architekten, sondern schlimme Defizite der Politik und insofern typische Beispiele der politischen Dimension der Baukultur: Sprechende Dokumente für den Mangel öffentlicher Zuwendung zur lebensnotwendigen Infrastruktur der Gesellschaft - die sich zu wehren beginnt, wie Sie neuerdings in den Zeitungen lesen können. 

*

Und am besten von hier aus, von den wirklichen Defiziten der Baukultur in Hamburg aus wird deutlich, dass es nicht geht um eine gestalterische "Einfügung, Unterordnung, Gliederung, Hier­archie - guten Durchschnitt" als Gewähr für das Normale in der Stadt (wie es eben Gert Kähler am Ende für Hamburg resümiert hat), sondern ganz im Gegenteil: Scharfe Positionen für leben­dige Bedürfnisse der Menschen, Auseinandersetzung der kon­kurrierenden Interessen, Brüche und allenfalls knirschende Kompromisse sind angesagt.
Dabei wird weiterhin viel vergebliche Mühe aufzuwenden sein, mangelnde Anerkennung für Leistungen und gute Ideen wird damit einhergehen. Und so ist es für mich kein Zufall, dass Thomas Mann als Sohn einer Hansestadt die Frustration des Künstlers in der offenen Gesellschaft mit einem hanseatischen Bürgerhaus beschrieb: "Immer heißt es, sich bei dem alten Spruche zu beruhigen, den ich so früh an einem Lübecker Giebel las: "Allen zu gefallen ist unmöglich." Als ob es auf das Gefal­len überhaupt ankäme und nicht vielmehr auf die Wirkung, die sich aus Missverständnissen, Kontroversen, Peinlichkeiten end­lich denn doch herausklärt. Freilich ist diese Klärung etwas dem Tode sehr Nahes oder auch erst nach ihm sich Vollziehendes. Leben ist Pein, und nur solange wir leiden, leben wir." 

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Übrigens darf man sich darüber wundern, dass all die ständig kritisch gesonnenen, heftig fordernden, sich auseinanderset­zenden und am Ende von Kompromissen gepeinigten Hambur­ger dann, wenn sie gefragt werden, wo es denn besser sei, nicht immer gleich eine Antwort parat haben. Ich würde es mir gerne leicht machen und es mit dem Hinweis auf Tendenzen der Demoskopie auf sich beruhen lassen: Keine Stadt in Deutschland wird zur Zeit außerhalb Hamburgs so anhaltend als attraktiv und lebenswert beschrieben wie Hamburg. Und wie auch immer die Parameter im konkreten Falle beschaffen sein mögen, sie haben immer auch zu tun mit dem Stadtbild, und das ist bestimmt durch Architektur. Es ist das Substrat von Baukultur. Und so könnte man sich zurücklehnen und konstatie­ren, wir haben sie.
Die Hamburger haben für sich und aus sich heraus einen Ort geschaffen, der einzigartig ist, eine der schönsten und sonder­barsten Städte der Welt. Harvestehude und die Speicherstadt, St. Pauli und der Hafen, Klassizismus und Backstein, das Chile­haus und die Passagen, die Jarrestadt und der Ohlsdorfer Fried­hof - und es wird immer noch gut gebaut an diesem Ort im Rah­men einer bemerkenswerten Geschichte bürgerlicher Freiheit, und es wird kritisch darüber debattiert. Was sonst könnte Bau­kultur sein?
 

   

 


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