Urban Bodies
7. Jg. , Heft 1, (September 2002 )    


 

___Claus Dreyer
Detmold
  Urban Bodies – Ein Problemaufriss

 

 

Das Verhältnis zwischen menschlichem Körper und Architektur ist von Vitruv bis zu Le Corbusier immer ein elementares Thema der theoretischen Auseinandersetzung gewesen: in der Proportionsfigur, im menschlichen Maßstab, im Modell eines Organismus oder in der Vorstellung einer dritten Haut oder eines zweiten Kleides, in der Bestimmung als  Zentrum der sinnlichen Wahrnehmung und der praktischen Aneignung oder gar als ästhetische und kulturelle Norm – die gegenseitigen Verweisungen zwischen Körper und Architektur sind ebenso vielfältiger Art wie die daraus entwickelten Schlussfolgerungen.

 

Der leibliche Körper des Menschen hat sich in seinem Verhältnis zu Architektur und Stadt geformt und verändert: Gestik, Mimik, Habitus, Sozialverhalten und Denkformen reagieren auf die gebaute und gestaltete Umwelt und werden durch sie mitgeprägt. Der materielle Körper der Stadt und der Gebäude ist dagegen schon immer als Verkörperung von Ideen, Bildern und Utopien angesehen worden, und die Moderne hat besonders die Entsprechung der architektonischen Formen zu den physiologischen, ergonomischen und motorischen Funktionen des menschlichen Verhaltens herauszustellen versucht. Im historischen Prozess entsteht aus diesen Bezügen ein Wechselverhältnis, das in immer neuen Ausprägungen mit dem jeweiligen zivilisatorischen und kulturellen Stand einer Epoche korrespondiert.

 

Diese Thematik besitzt eine Doppeldeutigkeit, die in folgenden Gegensätzen ausgedrückt werden kann:

 

-          der leibliche menschliche Körper vs. den architektonischen städtischen Körper,

-          die Körper in der Stadt und in der Architektur vs. die Stadt als Körper oder Verkörperung.

 

Die Problematik der Beziehung zwischen diesen Polen führt zu einer Fragestellung, die in semiotischer Formulierung so erscheint: wie kommunizieren und interagieren die menschlichen und die architektonischen Körper miteinander, welche Zeichenprozesse vermitteln zwischen ihnen, und was sind die Folgen und Resultate dieser Kommunikation. Welche Bedeutung diese Fragestellung hat, zeigt die Geschichte der großen Städte, die im Zentrum der historischen und kulturellen Entwicklung ganzer Epochen gestanden haben und stehen: Babylon, Athen, Rom, Paris, London, New York, Berlin. Einige dieser Städte haben historische Epochen so geprägt, dass sie ihnen den Namen gaben: das "Babylonische Reich", das "Römische Reich", die "Berliner Republik". Andere Städte haben mythische "Reiche" begründet wie Paris als "Hauptstadt des 19. Jahrhunderts" oder New York als "Hauptstadt des 20. Jahrhunderts", während wieder andere zum Inbegriff eines "Gesamtkunstwerks" erklärt wurden, wie "Wien um 1900" oder "Berlin – Symphonie einer Großstadt" (Ruttmann 1928).

 

Die leiblichen Körper in den Städten werden von den städtischen Körpern geprägt, aber sie sind es auch, die den Stadtkörper hervorbringen und ihm ihren Stempel aufdrücken. Der "Lebensrhythmus" einer Epoche lässt sich sowohl an den Bewegungen und Gesten der Menschen wie an den Gliederungen und Zuordnungen der raumbildenden Elemente in den Städten ablesen. Der "Flaneur" ist von Walther Benjamin zum Prototyp des städtischen Körpers in der beginnenden Moderne ernannt worden (Benjamin 1982), dem die Passagen und Boulevards des Pariser Stadtkörpers am Beginn des 20. Jahrhunderts korrespondieren. Am Ende des 20. Jahrhunderts ist daraus bei Botho Strauß der "Passant" geworden (Strauß 1981), der eilig, desorientiert und gleichgültig Foyers, Unterführungen und Einkaufszonen durchquert, die mit ihren immer gleichen Möblierungen und Inszenierungen keinen Anlass zum Verweilen und Kommunizieren geben. Dieser nach wie vor zu konstatierenden "Unwirtlichkeit der Städte" (Mitscherlich 1965)  steht ein zunehmender neuer Körperkult in den Städten gegenüber, der sich in speziellen Events wie der "Love-Parade", dem "Christopher-Street-Day" oder dem "Karneval der Kulturen" darstellt und zu einer eigenartigen "Unwirklichkeit der Städte" (Scherpe 1988) führt, die die Stadt zu einer Bühne für räumliche und leibliche Inszenierungen von begrenzter Dauer und flüchtiger Realität machen.     

 

In diesem Wechselverhältnis zwischen leiblichem und architektonischen Körper muss der Begriff des "Körpers" genauer analysiert und differenziert werden. Gegenüber der reinen Materialität beinhaltet die Körperlichkeit auch Aspekte von Sinnlichkeit, Bewegung, Begehren, Attraktivität, Zärtlichkeit und Brutalität, die bis in die Geschlechterverhältnisse hinein reichen und die Prozesse des Wachsens und Alterns begleiten. Hier wäre nach Parallelen oder Komplementaritäten ebenso zu fragen wie nach Kontrasten oder Divergenzen. Vielleicht kann man von "Kraftfeldern" der Stadtwahrnehmung und -benutzung sprechen, bei denen soziale und architektonische Milieus miteinander kommunizieren und interagieren.

 

Wenn man heute beobachtet, dass die sozialen und kulturellen Milieus sich dramatisch verändern, vielleicht sogar auseinander brechen, kann man auch eine Zerstückelung und Fragmentierung des architektonischen Körpers feststellen. Die körperliche Aneignung der Stadt durch unterschiedliche Benutzertypen führt zu diversen Ausdifferenzierungen des Stadtkörpers, die einander überlagern, ohne noch zu einem Ganzen zu verschmelzen: der klassische Flaneur oder Zuschauer interagiert mit der Stadt ganz anders als der Yuppie oder der Penner, der Jogger oder der Skater, die Prostituierte oder der Polizist, der Rentner oder das Schulkind. Diese Fragmentierungen finden sowohl materielle Entsprechungen, wie auch unterschiedliche "mentale Karten" oder mythische und utopische Überhöhungen (im Sport, im Film oder in der Werbung). In diesem Zusammenhang wird von einer "Californisierung" der europäischen Städte gesprochen, die sich in der Inszenierung von sportlichen Großveranstaltungen ("Stadtmarathon") ebenso zeigt wie in den zahlreichen Festivals, Performances und Shows, mit denen der Stadtkörper belebt werden soll. Ein regionaler Typus dieser Art ist die schwäbische "Hocketse", bei der die Stadt gleichsam durch "Be-Setzung" angeeignet wird.

 

Es ist offensichtlich, dass es nicht nur regionale Besonderheiten im Wechselverhältnis zwischen dem leiblichen und dem architektonischen Körper gibt (Nord-Süd-Gefälle oder Ost-West-Gegensatz), sondern auch geo- und ethnografische Differenzen, die besonders in den außereuropäischen Kulturen zu untersuchen und daraufhin zu befragen wären, wieweit diese Differenzen im Prozess der Globalisierung verschwinden oder sich transformieren. Es könnte sein, dass die "Californisierung" der europäischen Städte ein letztes Aufbegehren gegen die schleichende "Entkörperung" ist, die mit der zunehmenden Digitalisierung und Virtualisierung des urbanen Körpers verbunden ist. Die digitalen Netze bilden eigene urbane Strukturen aus, deren artifizielle Sinnlichkeit eine neuartige leibliche Entsprechung erfordert, die mit dem Begriff des "Surfers" bisher nur undeutlich metaphorisch erfasst wird. Dass mit der Entkörperung auch eine Spiritualisierung verbunden sein könnte, gegen die die traditionelle Verkörperung wie eine platte Materialisierung erscheint, ist zumindest – bei aller Fragwürdigkeit – des Fragens würdig. Die Überwindung des Leibes durch den Geist bleibt in der christlich-abendländischen Zivilisation ein Thema, das im Zeitalter der digitalen Medien mit der Vision einer "City of Bits" für "Cyborgs" (Mitchell 1996) neue provozierende Anstöße erhält. 

 

Als das Thema für diesen Arbeitsschwerpunkt im Sommer 2001 formuliert wurde, konnte keiner ahnen, welche ungeheure Aktualität es in den folgenden Wochen bekommen sollte. Seit dem 11. September 2001 sind zwei neue Prototypen der "Urban Bodies" im 21. Jahrhundert (die allerdings eine lange Tradition haben) in unser Bewusstsein getreten: der "Körper als Waffe" in Gestalt des Selbstmordattentäters, und der "Körper als Opfer", der von der Haltung des apathischen Hinnehmens bis zur heroischen Selbstopferung einen dramatischen Ausdruck finden kann (vgl. Enzensberger 2001). Der Stadtkörper wird in diesem Szenario zu einem Ensemble hochriskanter und verwundbarer Orte, die als Ziele dienen können für gewaltsame (gleichsam "chirurgische") Interventionen. Diese gemeinsame Verwundbarkeit von städtischem und leiblichem Körper könnte ein Signum für die urbane Kultur im 21. Jahrhundert werden und an den "Körper im Schmerz" (Scarry 1992) zurückverweisen, der in jüdisch-christlicher Sicht eine Grunderfahrung urbaner Körperlichkeit ist.

 

In den vergangenen Jahren hat die Körperthematik mit ihren Polaritäten von "Verkörperung" und "Entkörperung" hohe Aktualität gehabt: hatte man zunächst das "Verschwinden des Körpers" (Kamper / Wulf 1982, 274 ff.) aus dem öffentlichen Raum und auch dem geistig–kulturellen Bereich beklagt, war bald eine "Wiederkehr des Körpers" (Kamper / Wulf 1982) beobachtet worden, die sich in Kunst, Politik und Gesellschaft auf vielfältige Weise ausdrückte. Doch dabei blieb man nicht stehen, denn die "Transfigurationen des Körpers" (Kamper/Wulf 1989) zogen die Aufmerksamkeit auf sich und beherrschen mit zwei Schwerpunkten auch den gegenwärtigen Diskurs: einmal die Problematik des gentechnologisch optimierten oder gar geklonten Körpers, zum anderen die Visionen vom "Virtuellen Körper" (vgl. Rötzer 1998), der den leiblichen Körper zunehmend ablösen könnte.

 

Besonders dieses letzte Thema hat zu umfangreichen Spekulationen über die korrespondierenden "Transfigurationen" des urbanen Körpers geführt: die "Telepolis" (Rötzer 1995)  und die "City of Bits" (Mitchell 1996) sind virtuelle Stadtkörper, die diesen Transfigurationen entsprechen und eine neue, technologisch optimierte oder dekonstruierte digitale Welt konstituieren, in der das Konzept der "Urban Bodies" neu definiert werden kann, (siehe auch Claus Dreyer: Zur Ästhetik virtueller Räume in der Architektur in Wolkenkuckucksheim – Cloud-Cuckoo-LandVozdushnyi zamok 1/98) z.B. als Position in einer "Matrix" (Reeves/Fishburne 1999), die an die Stelle konventioneller urbaner Agglomerationen treten könnte. Es ist keineswegs sicher, dass es ein permanentes Oszillieren zwischen Wiederkehr und Verschwinden des Körpers, zwischen Verkörperung und Entkörperung, geben muss: eine unumkehrbare Transfiguration scheint zumindest gentechnologisch möglich, deshalb muss die Diskussion um das Konzept des Körpers in seiner dichtesten Form, des "Urban Bodies", so intensiv geführt werden.

 

Die Rolle der Semiotik kann dabei nur eine dienende sein: sie kann dazu beitragen, die verschiedenen Zeichen zu identifizieren, mit denen leibliche und städtische Körper ihre "Botschaften" ausdrücken; sie kann dazu beitragen, diese "Botschaften" zu verstehen und nach ihrer Bedeutung und ihrem Sinn zu fragen; sie kann dazu beitragen, neue Fragen und neue Hypothesen darüber aufzustellen, wie sich das Verhältnis zwischen "Fleisch und Stein" (Sennett) weiterentwickeln könnte und welche wünschenswerten Entwicklungen dabei unterstützt werden sollten.

 

Der Vielfalt der möglichen Zugänge spricht allerdings ein methodenpluralistisches Verfahren, das zwei Hauptaspekte des Themas vorrangig untersuchen muss:

 

-          die Stadt als Körper: die architektonische Perspektive,

-          der menschliche Körper in der Stadt: die anthropologische Perspektive.

 

Dabei sind es besonders die Überschneidungen, die unter dem Aspekt der "Komplementarität" interessieren: wie interagieren die beiden Perspektiven miteinander; wie bedingen sie sich gegenseitig; wo kontrastieren sie, wo kommunizieren sie miteinander; wo "harmonieren" sie; wo bleiben sie sich fremd oder gar feindlich?

 

 

 

Literatur

 

Benjamin, Walter 1982: Das Passagen-Werk. Frankfurt, Suhrkamp.

 

Dreyer, Claus 1998: Zur Ästhetik virtueller Räume in der Architektur

 

Enzensberger, Hans Magnus 2001: Die Wiederkehr des Menschenopfers. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 18.9.2001

 

Kamper, Dietmar / Wulf, Christoph (Hrsg.) 1982: Die Wiederkehr des Körpers. Frankfurt, Suhrkamp.

 

Kamper, Dietmar / Wulf, Christoph (Hrsg.) 1989: Transfigurationen des Körpers. Berlin, Reimer.

 

Mitchell, Wiliam J. 1996: City of Bits. Basel, Birkhäuser.

 

Mitscherlich, Alexander 1965: Die Unwirtlichkeit unserer Städte. Frankfurt, Suhrkamp.

 

Reeves, Keanu / Fishburn, Laurence 1999: Matrix. Film, Time Warner.

 

Rötzer, Florian 1995: Die Telepolis. Mannheim, Bollmann.

 

Rötzer, Florian 1998: Digitale Weltentwürfe. München, Hanser.

 

Ruttmann, Walter 1928: Berlin – Symphonie einer Großstadt. Film.

 

Scarry, Elaine 1992: Der Körper im Schmerz. Frankfurt, Fischer.

 

Scherpe, Klaus R. (Hrsg.) 1988: Die Unwirklichkeit der Städte. Reinbek, Rowohlt.

 

Sennett, Richard 1995: Fleisch und Stein. Berlin, Berlin Verlag.

 

Strauß, Botho 1982: Paare, Passanten. München, Hanser.          

 

Wolkenkuckucksheim – Cloud-Cuckoo-LandVozdushnyi zamok 1/98: Architektonik und Ästhetik künstlicher Welten. Redaktion: Thomas Fietz, Hans Friesen.

 

 

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