6. Jg. , Heft 1(September 2001)
___Cornelia
Jöchner

Cottbus
Architektur als politische Praxis.
Die Räume der Stadt und ihre Grenzen

I. Theoretische und methodische Vorbemerkung 1

Der Raum ist "ein Ort, mit dem man etwas macht", sagt der Soziologe Michel de Certeau in seiner "Kunst des Handelns" (1980) und nennt als Beispiel dafür die Straße, die der Urbanist zwar geometrisch festlegt, die aber erst durch die Gehenden zu einem Raum, nur durch sie `erfüllt` wird 2. Entscheidend für die Konstitution des Raumes ist demnach die soziale Handlung. Dies kann als einer der Kernsätze in der derzeitigen ´Raum´-Diskussion der Kulturwissenschaften gelten. ´Raum´ ist hier nicht mehr das starre, unbewegliche Gebilde, das nur gefüllt zu werden braucht, sondern wird durch menschliches Handeln hergestellt, erzeugt. Damit zeigt sich ein Sichtwechsel, der inzwischen als ´spatial turn´ bezeichnet wird 3 und die Suche nach einer kulturellen Epistemologie von Raum bedeutet. Ein solcher Begriff von Raum hätte zwei bestehende Positionen zu beachten, für deren Verknüpfung ich plädieren möchte:

a) die Ästhetikphilosophie Ernst Cassirers (1931), die zwischen dem mythischen, dem ästhetischen und dem theoretischen Raum unterscheidet und hierfür eigene Gesetze, eine jeweilige `Ordnung`, feststellt 4;

b) die "Soziologie" Georg Simmels (1908), in der die räumlichen Ordnungen der Gesellschaft als reale Beanspruchung sozialer Träger angesehen werden. Raum gilt hier als Produkt sozialer Interaktion (`Raumerfüllung`). Simmel spricht daher von ´Räumen´, und nicht von dem Raum 5.

Eine Aktualisierung und Anwendung beider Positionen findet sich für die Kunstwissenschaft bei Wolfgang Kemp, Die Räume der Maler. Zur Bilderzählung seit Giotto (München 1996); die Bedeutung Simmels für die Sozialwissenschaft wird - neben zahlreichen neuen Ansätzen - diskutiert von Martina Löw (Raumsoziologie, Frankfurt/M. 2001). Gerade das letztere Buch aber macht deutlich, dass auch die wissenschaftliche Diskussion mit der Alltagsvorstellung zu tun hat, ´Raum´ sei ein immaterielles, gleichwohl dauerhaft existierendes Gebilde, in dem Körper nur noch anzubringen seien. Diese Vorstellung vom Raum als ´Behälter´ knüpft an die antike Idee eines begrenzten Raums an und wurde auch durch den unendlichen Raum Newtons nicht völlig aufgelöst. Hier war Raum als gesondertes dingliches Dasein angenommen worden, um Gesetze für die Bewegung von Körpern zu erhalten. In diesem präexistenten dinglichen Raum sollten dann die Gegenstände angeordnet sein. Raum konnte so auch unabhängig vom Vorhandensein materieller Körper existieren und wurde als absolut betrachtet.

Damit aber entstand die Schwierigkeit, dass er empirisch nicht nachweisbar war, d. h., was zur Voraussetzung der Erkenntnis gemacht wurde (die Suche nach der Bewegung von Körpern im Raum), war in seinem Wesen nicht erkennbar. Auf diesen Widerspruch antwortete Leibniz mit dem Begriff der Ordnung: Erst die Anordnung der Gegenstände, ihre reale und mögliche Beziehung zueinander, konstituiere den Raum. Dieser gilt hier nicht mehr als vorgängig und überzeitlich, sondern entsteht in der diskursiven Anordnung von Relationen 6.

Obwohl das Modell Leibniz´ in der derzeitigen Diskussion als Bezugspunkt genannt wird, fällt hier die Schwierigkeit auf, die räumliche Gestalt auch genau zu benennen. So wird häufig die Figur des ´Netzes´ bemüht. Diese Vorstellung aber rekurriert auf den euklidischen ´Behälterraum´, der für die kulturelle Bestimmung von Raum als ungeeignet erkannt worden war. Was oft fehlt, ist also eine präzise Beschreibung der Gestalt der ´Räume´ im Hinblick auf einen veränderten Raumbegriff. Hier sind jene Disziplinen aufgefordert, die sich genuin mit ´Räumen´ beschäftigen, sei es analytisch oder formend: die visuellen Wissenschaften (Kunstgeschichte und Archäologie), die Architektur und der Städtebau wie auch die Theorie davon. In einen noch zu schaffenden kulturellen Begriff von ´Raum´ könnten auch die Kompetenzen unserer Disziplinen einfließen.

Ein Element dafür wäre, den gebauten Raum als sozialen wie als ästhetischen Raum anzuerkennen. Das bedeutet, dass es Benutzer gibt, welche die räumliche Organisation vollziehen: "spatial structure is now seen not merely as an arena in which social life unfolds, but rather as a medium through which social relations are produced and reproduced." 7 Was Gregory und Urry 1985 als Theorie des sozialen Raums formulierten, lässt sich auch auf den Betrachter übertragen, den das Gebäude als Werk der ästhetischen Ordnung impliziert: Auch der ästhetische Raum der Architektur entsteht erst in der Rezeption und ist nicht a priori vorhanden 8.

Ein Gebäude ist aber auch Ausdruck der räumlichen Existenz des Menschen. Die Phänomenologie bezieht dies auf ein Subjekt und konzipiert aus dessen Raumerfahrung verschiedene Raumarten: den gestimmten Raum, den Anschauungsraum, den Aktionsraum. Jeroen Verschragen zeigte in seiner Arbeit über Wege im Landschaftsgarten, wie diese Begriffe historisch-kritisch angewandt werden können 9. Mein Thema setzt zwar auch eine solche subjektbezogene ´Raumerfüllung´ voraus, bezieht aber den räumlichen Kontext mit ein: Die neue räumliche Qualität, die der Fall der Stadtmauern im 18. und frühen 19. Jahrhundert produziert, die so genannte Öffnung der Stadt, kann nur im Zusammenhang mit einem sich verändernden politischen Raum entstehen. Mein Interesse gilt also dem Zusammenhang zwischen architektonischem und politischem Raum.

 

II. ´Territorium´ und der Zwang zu einer savoyischen Geopolitik

Turin, um dessen Öffnungsgeschichte es mir geht 10, war in der Mitte des 16. Jahrhunderts zur Residenz der savoyischen Herzöge geworden. Diese stammten aus dem Gebiet südwestlich des Genfer Sees; ihre ursprüngliche Residenzstadt war Chambéry im heutigen Frankreich. Durch den Besitz an Wegerechten über wichtige Alpenpässe hatte sich die Dynastie immer weiter ausdehnen können, von 1405 an dauerhaft auch südlich der Alpen (Abb. 1).

Herrschaftsgebiete, Territorien, waren anders strukturiert als moderne Flächenstaaten: Savoyen zeigt Ende des 14. Jahrhunderts ein ´patchwork´ aus fremden Enklaven und eigenen Auslegern in andere Gebiete. Eine solch zerstückelte politische Landkarte ist Ausdruck des mittelalterlichen Herrschaftsrechts, das bis in die Frühe Neuzeit hinein galt, und nicht raum-, sondern personendefiniert war: Ein bestimmtes Gebiet existierte nur über die Rechtsbindung an einen Herrscher. Je mehr Fläche sich aber im Laufe der Zeit in einer ´summa potestas´ vereinte, desto stärker wurde die Notwendigkeit eines raumbezogenen politischen Denkens. Die "cellular structure" feudaler Räume, wie dies der Geographietheoretiker Richard Muir nennt 11, wurde durch personale Herrschaftsrechte hervorgebracht 12 und zeigt sich zuletzt in den bastionär befestigten Städten (Abb. 2). Endgültig erst im 18. Jahrhundert war diese Struktur durch die Landesvermessungen, Kameralistik und Bevölkerungstheorie zur Disposition gestellt und wich einer Verräumlichung des Territoriums 13.

Die Savoyer hatten sich in dieser Frage als äußerst kompetent erwiesen. Die schwierige geographische Situation - die Hochalpen als topographische Hürde – bewirkte langfristig keine Trennung der nördlichen und südlichen Gebiete, sondern wurde, wie Geoffrey Symcox sagt, zur ´raison d`être´ des savoyischen Staates: was diesen potentiell trennen konnte, musste ihn letztlich zusammen halten 14. Wenn der Historiograph Cesare Balbo im 19. Jahrhundert schreibt, die Savoyer hätten die Alpen rittlings unter sich gehabt ("come a cavallo"), so macht dieses Idiom die Ausgangslage deutlich: Die Gebiete "al di là" und "al di qua delle Alpi" (diesseits und jenseits) waren wie zwei Beine, man musste die Alpen haben, um keines von ihnen zu verlieren 15. Voraussetzung hierfür waren die Pässe, an denen die Savoyer Wegerechte hielten (Montcenis, Montgenèvre, Großer und Kleiner St. Bernhard). Die Straße als Verbindung von A nach B hatte hier eine hohe strategische Bedeutung: man überquerte die Alpen nur, um in den Süden bzw. Norden zu gelangen.

Doch auch eine solch prekäre Lage, wie sie Piemont-Savoyen vom 16. Jahrhundert kennzeichnet, war von dem ortsbezogenen Denken der Frühneuzeit geprägt. Dies verdeutlicht das "Theatrum Sabaudiae", ein Atlas, der 1682 erschien, und in zwei Bänden alle Städte der Gebiete diesseits und jenseits der Alpen bildlich und textlich darstellte (Abb. 3 und 4) 16. Beide Darstellungsmodi zeigen, dass hier der einzelne Ort, nicht aber der Raum dazwischen interessierte. So konkret die Landschaften vieler Veduten, vor allem die der Alpenfestungen wirken – es sind schematische Kürzel, welche die Umgebung bezeichnen: Berg, See, Fluss als topische Merkmale einer Stadt. In den Texten gibt es zwar genaue geographische Angaben und sogar Hinweise auf die strategische Bedeutung mancher Festung, jedoch auch hier ohne räumlichen Bezug 17. Nicht die topographische und naturräumliche Beschaffenheit eines Ortes war das Auswahlkriterium für das "Theatrum", sondern die Tatsache, dass er zum savoyischen Territorium gehörte. Das Herrschaftsgebiet wurde hier nach wie vor verstanden als eine Sammlung einzelner Punkte, deren räumlicher Zusammenhang nicht interessiert. Wie eine geographische Karte erfasste auch das "Theatrum" alle Orte gleichmäßig und kann daher als symbolische Ordnung eines ortsbezogenen Verständnisses vom politischen Raum gelten.

III. Territorium als Wahrnehmungsraum: Die Codierung durch Architektur

Ein savoyisches Territorium als gestalteter Wahrnehmungsraum dagegen entstand erst zu Beginn des 18. Jahrhunderts mit der Architektur Filippo Juvarras für Turin. Auslöser war der militärische Sieg, der Piemont-Savoyen im Spanischen Erbfolgekrieg über Frankreich gelang (1706). Der Friede von Utrecht (1713) erbrachte den begehrten Königstitel und das entfernt liegende Sizilien (Abb. 5). Der nun als König gekrönte Herzog Vittorio Amedeo II. rief Filippo Juvarra von Rom nach Turin und beauftragte ihn mit teils begonnenen, teils neuen Projekten. Es entstand ein architektonisches Konzept, das politische Ereignisse in der Umgebung der Stadt abbildete und so einen neuen symbolischen Zusammenhang schuf 18.

Juvarra fand eine Stadt in der Ebene vor, die durch eine bastionäre Befestigung hermetisch nach außen abgeschlossen war, aber noch eine letzte offene Flanke im Nordwesten aufwies (Abb. 6). Ziel war die ovale Mandelform, ein Ideal der Vaubanschen Befestigungstheorie, das auch Juvarra nicht antastete. Seine Gebäude jedoch schufen eine Verbindung von Innen und Außen, so dass die Abgeschlossenheit der Stadt in der Wahrnehmung dieses Zusammenhangs erstmals zur Disposition stand. Der Architekt konzipierte das nordwestliche Erweiterungsviertel im Raster aller bisherigen Stadterweiterungen und setzte damit das römische Gitter fort. Die Nahtstelle zwischen der alten Begrenzung und dem neuen Viertel kennzeichnete er mit einem Platz (Piazza Susina) und entsprach auch hier den urbanistischen Traditionen Turins. Das Schema (Abb. 7) deutet an, wie Juvarra die vorgegebenen Formen zu nutzen verstand: Zwei Straßenzüge verbanden das Zentrum der Stadt mit dem Erweiterungsviertel. Beide enthielten wichtige Bauten und Plätze: die nördliche vermittelte vom Stadttor zum Platz und von dort zum Rathaus und Händlerviertel, die südliche war der römische Decumanus und führte auf den Palazzo Madama zu (Abb. 8). Dieses antike Torgebäude stand auf dem zentralen Platz vor dem Schloss und diente als savoyischer Witwensitz, den Juvarra mit einer neuen Fassade versah. Die nördliche Straße vereinte die Elemente des bürgerlichen Turins, die südliche hatte einen herrschaftlichen Zielpunkt. Stadtauswärts umschlossen beide die Quartieri Militari, Gebäude für eine erstmals fest installierte Garnison.

Dieser Komplex einer doppelreihigen Straße, den Juvarra fügte, wurde aber auch zum Stadtäußeren in Beziehung gesetzt. Eine zwölf Kilometer lange Straßenachse (blau eingezeichnet) führte seit dem Sieg von Rivoli in Richtung Turin. Juvarra ließ das Tor des neuen Erweiterungsviertels an die Straßenachse stoßen, so dass die Stadt in der Ebene unmittelbar mit dem Schloss auf dem westlichen Hügel verbunden war. Exakt auf diese Straße ausgerichtet, wurde nun östlich Turins (und ebenfalls auf einem Hügel) die Kirche Sta. Maria di Natività ("Superga") erbaut. In einer kombinierten Straßen- und Sichtachse entstand so eine zwanzig Kilometer lange Tangente, die an der Stadt entlang führte.

Eigenartigerweise interessiert den Urbanisten Benevolo in seiner Bearbeitung des Themas nicht, dass eine solch ausgeprägte Achse die Stadt nur streift 19 (Abb. 7 und 9). Dies ist jedoch keine formale, sondern eine inhaltliche Besonderheit. Die Achse Rivoli - Superga konnte nur deshalb die auffälligste axiale Beziehung im Residenzraum Turins werden, weil sie dynastische Orte mit politischen Ereignissen verband:

- Rivoli (Abb. 10) war das älteste savoyische Schloss und lag in Richtung des von Turin aus am schnellsten zu erreichenden Alpenüberganges nach Frankreich. Die nach dem Sieg über Frankreich errichtete Straßenachse wirkte so als verfestigte Beziehung zwischen dynastischem Schloss und dynastischer Stadt (Abb. 11).

- Die Superga (Abb. 12) auf einem hohen Hügel östlich der Stadt wurde zur Erinnerung an den Sieg über Frankreich 1706 gebaut, von dort aus beobachtete man eine Lücke in den französischen Befestigungslinien und konnte den starken Gegner überraschen. Ein Alabasterrelief am Hochaltar der Kirche (Abb. 13) zeigt die siegenden Savoyer. Die Superga wurde die künftige Grablege des Herrscherhauses.

- Die Achse zwischen Rivoli und der Superga war aber auch genau auf jene geographischen Gebiete ausgerichtet, die von Savoyen hinzugewonnen wurden: der Monferrat im Osten, die französische Enklave Pragelas im Westen (Abb. 14). Während die Ost´erweiterung´ ein strategisches Ziel in Richtung Mailand war, bedeutete der Zugewinn im Westen wichtige neue Alpenfestungen, und die Residenzstadt war nun von einem größeren Gebiet umgeben. Gleichzeitig veränderte sich die Grenze zu Frankreich aber auch qualitativ: die Alpengipfel wurden erstmals als Grenzlinie demarkiert, d. h. schriftlich festgelegt und in der Folge auch kartiert (Abb. 15): Es entstand eine der ersten "natürlichen Grenzen" (Friedrich Ratzel) im neuzeitlichen Europa und damit eine verstärkte empirische Wahrnehmung von Topographie 20.

Während die Achse so die Stadt in das territoriale Geschehen integrierte, macht die tangentiale Form aber auch die geringe Bedeutung der Stadt für das herrschaftliche Territorium klar. Die dynastischen Gebäude außerhalb sind es, welche die Stadt halten ("body-guards"). In einer Zeichnung zeigte Juvarra seine Vorstellungen für Turin (Abb. 16). Entscheidend ist für ihn die Topographie der Hügel, von denen er den fernsten und höchsten mit der Superga bebaut, sie rücken nun ins Blickfeld der Stadt. Die Stadt ist topographisch gesehen eine plane Fläche, die Juvarra so gar nicht darstellen muss, sondern als Wasser wiedergibt. Wie Albert Erich Brinckmann herausstellte 21, deutete der Architekt dabei aber ein Gebäude an, das erst hundert Jahre später errichtet wurde: die Kirche Gran Madre di Dio (Abb. 17). Dass diese dann ebenfalls an einen Sieg erinnern sollte, den über Napoleon, konnte Juvarra nicht wissen. Dass aber ein Gebäude an dieser Position nur zu errichten war, wenn die Befestigung der Stadt fiel, sah jemand, der Architekt, Urbanist und Kriegstechniker in einem war. Die zeichnerische Vorwegnahme des Kirchenbaus ist weniger ein konkretes Projekt, als vielmehr Teil des topographischen Assoziationsfeldes, das Juvarra hier entwarf.

Innerhalb der Stadt, zwischen dem nordwestlichen Erweiterungsgebiet und dem Zentrum, setzte Juvarra einzelne Architekturen, die über ihren formalen Ausdruck einen neuen Zusammenhang erzeugten und die älteren flächenhaften Fassaden zurück drängten. Wer von der Piazza Castello in den nordwestlichen Erweiterungsbereich ging oder fuhr, erlebte Kolossalordnungen und tief eingeschnittene Wände, die den Weg nach außen markierten (Abb. 18 und 19): ein savoyischer "Pfad" entstand. Diese vertikale Ordnung zeigte auch die Superga außerhalb der Stadt, die als Hügelbebauung nun erstmals gestalterisch mit einer anderen verbunden war. Dabei konnte der Friede mit Frankreich – manifest in der Straßenachse und durch "natürliche" Grenzen abgesichert - als dauerhaft gelten, während die lediglich als Sichtachse ausgebildete Verbindung zur Superga das Begehren in Richtung Mailand veranschaulicht. Die Achse hatte somit eine zeitliche Dimension und zeigt die erneute Bindung der Stadt an die Dynastie. Doch war das Territorium nun nicht mehr eine Konstellation "fester Punkte", wie Michel de Certeau solch gleichwertige Ordnungen nennt, die noch das "Theatrum Sabaudiae" ausmacht. Ein zeitlich und räumlich ausgerichtetes Gebilde war entstanden, über dessen Architekturen sich ein Raum aufspannte: Die territoriale Kompetenz der Savoyer zeigte sich hier in einer neuen Qualität.

Anmerkungen:

 1 Es handelt sich um eine leicht bearbeitete Vortragsfassung, wobei der mündliche Duktus beibehalten wurde. Zu verstehen ist dies als thesenhafter Entwurf einer theoretisch und methodisch begründeten Studie zur Architektur der Stadtöffnung im 18. und 19. Jahrhundert am Beispiel von Turin.

 2 de Certeau, M.: Kunst des Handelns, Berlin 1988 [frz. Original: Paris 1980].

 3 Von einem ´spatial turn´ spricht der britische Geograph Denis Cosgrove in Ders. (Hg.): Mappings, London 1999, 7. Vgl. dazu die Sammelrezension: Osterhammel, Jürgen: Die Wiederkehr des Raumes. Geopolitik, Geohistorie und historische Geographie, in: Neue Politische Literatur 43 (1998 Heft 3), 374-397. Das neue Interesse an Raum wurde auch im Rahmen einer Sektion beim diesjährigen Kunsthistorikertag beleuchtet.

 4 Cassirer, E.: Mythischer, ästhetischer und theoretischer Raum, in: Landschaft und Raum in der Erzählkunst, hg. von Alexander Ritter, Darmstadt 1975, 17-35 [zuerst in: Vierter Kongress für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft, 7.-9. Oktober 1930, Beilagenheft zur Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft 25 (1931), 21-36], sowie ders., Philosophie der symbolischen Formen. III.: Phänomenologie der Erkenntnis, Darmstadt 1994 [Erstauflage: 1954].

 5 Simmel, G.: Der Raum und die räumlichen Ordnungen der Gesellschaft, in: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, hg. von Otthein Rammstedt, Frankfurt/Main 1992, 687-790 (=Georg Simmel Gesamtausgabe, hg. von Otthein Rammstedt, Bd. 11) [= Bd. 8, Leipzig 1908].

 6 Vgl. hierzu den instruktiven Beitrag von Sandl, M.: Raumvorstellungen und Erkenntnismodelle im 18. Jahrhundert, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 23 (2000), 419-431.

 7 Gregory, D.; Urry, J. (Hg.), Social Relations and Spatial Structures, Basingstoke 1985.

 8 Zur Rezeptionsästhetik und ihrer Übertragung auf Architektur s. Kemp, W. (Hg.): Der Betrachter ist im Bild: Kunstwissenschaft und Rezeptionsästhetik, erweiterte und bibliographisch auf den neuesten Stand gebrachte Neuausgabe, Berlin 1992 [Erstausgabe: Köln 1985], 52.

 9 Verschragen, J. L.: Die "stummen Führer" der Spaziergänger. Über die Wege im Landschaftsgarten, Frankfurt/Main 2000.

 10 Da in diesem Beitrag der Akzent auf der theoretischen Erörterung des Themas liegt, sind die Nachweise im folgenden Anwendungsteil auf das Nötigste beschränkt.

 11 Muir, R.: Political Geography. A New Introduction, London 1997, 74.

 12 Hierzu die grundlegende Arbeit von Willoweit, D.: Rechtsgrundlagen der Territorialgewalt. Landesobrigkeit, Herrschaftsrechte und Territorium in der Rechtswissenschaft der Neuzeit, Köln/Wien 1975.

 13 Hierzu die äußerst klare Begriffsgeschichte von Köster, W.: Raum, politischer, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. von Joachim Ritter, Basel 1992.

 14 Symcox, G.: Victor Amadeus II.: Absolutism in the Savoyard State 1675-1730, London 1983.

 15 Balbo, C.: Delle speranze d´Italia, Paris 1844, 81.

 16 Theatrum Sabaudiae (Teatro degli stati del Duca di Savoia), bearb. von Luigi Firpo, hg. vom Archivio Storico della Città di Torino, 2 Bde., Turin 1984 und 1985.

 17 So etwa heißt es über die Festung Montmélian: "Questa località è di grande importanza non solo perché rappresenta la posizione chiave della regione, ma anche perché è considerata inespugnabile in virtù della disciplina abituale dei soldati (...)" (Theatrum Sabaudiae, wie Anm. 16, Bd. II, 153).

 18 Die folgende Analyse des neuen Zusammenhangs als einem räumlichen unterscheidet sich von den bisherigen Analysen von Vera Comoli Mandracci, vgl. dies.: La proiezione del potere nella costruzione del territorio, in: Filippo Juvarra a Torino. Nuovi progetti per la città, hg. von Andreina Griseri und Giovanni Romano, Turin 1989, 53-74, sowie dies., Filippo Juvarra – architetto delle capitali. Da Torino a Madrid 1714-1736, hg. von Vera Comoli Mandracci und Andreina Griseri, Turin 1995, 43-67.

 19 Benevolo, L.: Fixierte Unendlichkeit. Die Erfindung der Perspektive in der Architektur, Frankfurt a. M./New York 1993.

 20 Joseph Konvitz nennt die Alpengipfel zwischen Frankreich und Savoyen ebenfalls als eine der ersten natürlichen Grenzen, gibt jedoch fälschlich bereits den Frieden von Ryswick 1697 dafür an (Konvitz, J. W.: Cartography in France 1660-1848. Science, Engineering, and Statecraft, Chicago/London 1987, 32), vgl. hierzu: Guichonnet, P. (Hg.): Histoire et Civilisations des Alpes, tome I: Destin historiques, Toulouse/Lausanne 1980, 280-282.

 21 Filippo Juvarra, hg. vom Comitato per le onoranze a Filippo Juvarra, vol. I, bearb. von A. E. Brinckmann, L. Rovere und V. Viale, Mailand 1937, 150.

Bildlegenden:

Abb. 1: Die savoyischen Lande im 14. Jahrhundert

Abb. 2: Schrägansicht auf Turin, zu sehen ist die bastionäre Befestigung der Stadt (aus: Theatrum Sabaudiae, 1682)

Abb. 3: Festung Tenda (aus: Theatrum Sabaudiae, 1682)

Abb. 4: Festung Montmélian (aus: Theatrum Sabaudiae, 1682)

Abb. 5: Piemont-Savoyen um 1740, hier bereits erweitert zum Königreich Sardinien, das von 1720 an dazu gehörte

Abb. 6: Grundrissplan Turin, Zeichnung von Juvarra, hervorgehoben die neue nordwestliche Stadterweiterung (links oben)

Abb. 7: Schematischer Grundrissplan von Turin, schwarz eingezeichnet die Plätze als Nahtstellen von Stadterweiterungen, hellblau eingekreist die nordwestliche Vergrößerung, außen (blau) die Achse nach Rivoli

Abb. 8: Filippo Juvarra, Turin, Palazzo Madama, 1718-21

Abb. 9: Darstellung der axialen Beziehungen rings um Turin (Leonardo Benevolo), durchgehend von links nach rechts die kombinierte Wege- und Sichtachse von Rivoli nach Turin

Abb. 10: Rivoli, Schloss

Abb. 11: Straßenachse, vom Schloss in Rivoli ausgehend, heute durch bebautes Gebiet führend, im Hintergrund der Hügel mit der Superga

Abb. 12: Santa Maria di Natività (sog. "Superga"), auf einem hohen Hügel östlich von Turin

Abb. 13: Santa Maria di Natività (sog. "Superga"), Hochaltar, Alabasterrelief

Abb. 14: Gebietsgewinne (grau schraffiert) Piemont-Savoyens im Spanischen Erbfolgekrieg 1706

Abb. 15: Kartographische Darstellung der Alpengipfel zwischen Frankreich und Piemont-Savoyen, die neu entstandene Grenzlinie rot eingezeichnet (Anfang 18. Jh.)

Abb. 16: Filippo Juvarra, Zeichnung der Hügel rings um Turin (rechts im Mittelgrund die Superga)

Abb. 17: Filippo Juvarra, Zeichnung der Hügel rings um Turin, Detail (links im Hintergrund die noch nicht existierende Kirche)

Abb. 18: Turin, Palazzo Madama, Fassade (Filippo Juvarra) zur Via Garibaldi hin

Abb. 19: Turin, Quartieri Militari (hinter der ehemaligen Porta Susina)

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