Bruno Taut (Fortsetzung) IV. DIE ÜBERLIEFERUNG Was ist Überlieferung? Diese Frage muß gegenüber allen ängstlichen Gemütern beantwortet werden, die fürchten, daß mit dem Erwachen eines lebendigen Bauens die heilige Tradition vom Trone gestürzt wird. Die Antwort stellt sich am leichtesten bei der Betrachtung des historischen Ablaufs ein; es zeigt sich dabei, daß nach gewissen Übergängen immer Bauformen wie aus Urzeugung heraus auftauchten, die schließlich ohne jede äußerliche Ähnlichkeit mit früheren Zeiten die Herrschaft gewannen. Tradition ist demnach nicht irgendein sklavisches Anklammern an Formenmerkmale vergangener Zeiten, sondern eben das lebendige Weiterbauen selbst, der stete Impuls zur reinsten Darstellung des Inhalts der Gegenwart, des lebendigen Gegenwartsgeistes - ganz so, wie es Schinkel formulierte. Traditionslos dagegen ist eine Zeit, die unfähig ist zur weiteren Wandlung der Baukunst, die also steril und senil ist und die ihre wenigen Vertreter einer rastlos schöpferischen Baukunst unterdrücken will. Der Ministerialerlaß vom Jahre 1908, welcher in einem solchen Bestreben eine "Geringschätzung der Überlieferung" sah, hatte danach nicht nur keine Ahnung davon, was Überlieferung ist, sondern er ist auch der treffendste Ausdruck für die eigene völlig hoffnungslose Traditionslosigkeit. So weit waren wir schon gekommen, daß die eigentlichen Hüter der Tradition, die Spitzen des Staates, ihr eigenes Fernsein von der Tradition selbst nackt entblößen mußten - im Jahre 1908. Abb. 39 HANS POELZIG, Wohnblock in Breslau, 1910 Abb. 40 BRUNO TAUT, Wohnblock in Neukölln, 1911 Abb. 41 BRESLAU I, Eckhaus Oranienstr. 3, 1925 Abb. .42 PRAG, HAUS AN DER AEGIDIENKlRCHE, schönes altes Stockwerkswohnhaus Nun könnte entgegengehalten werden: wenn ihr immerfort das Bestehende über den Haufen werft und uns gar keinen Anknüpfungspunkt an das Alte zeigt, wie könnt ihr dann vom Weiterbauen sprechen, das doch eine stetige Fortentwicklung sein muß, nicht aber ein sprunghaftes plötzliches Abbrechen; nichts kann aus dem Nichts entstehen. - Dagegen behaupten wir, daß die gewöhnliche, sozusagen gassenhauermäßige Anknüpfung an x-beliebige alte Architekturschönheiten alles andere als eine Weiterentwicklung ist, vielmehr eine kalte trockene Folge der "viereckigen" Kunstwissenschaft, die in Museen und dicken Schmökern zusammengestapelt wurde und durch das bloße Anstaunen der alten Sachen die Köpfe schließlich restlos verwirrte. Die Registrierung der Baudenkmäler, das genaueste Studium und das Messen auf Zentimeter an ihnen, alle Skizzen- und Reisebücher der Architekten können niemals die Fähigkeit herbeiführen, diese alten Werke so frisch wieder zu bauen, wie sie entstanden sind. Ihre Erschaffung war eine junge und neue, und der Schöpfungsprozeß ist immer in sich selbst erschöpft. Das Nachahmen der Schöpfung bedeutet einen Widerspruch in sich, einen totalen Fehlgedanken, zu dem eben nur jene Gehirnakrobatik, jene blutleere Wissenschaft des 19. Jahrhunderts verführen konnte. Abb. 43 HOF zu Bild 44 Abb.. 44 WOHNBLOCK IN NEUKÖLLN, Weygandufer, 1926 Charakteristisch genug, daß gerade auf einem so einfachen Gebiet wie dem des Baus kleiner Wohnungen nicht einmal die naheliegenden alten Vorbilder beachtet wurden, die immerhin eine gewisse Anknüpfung erlauben. Ausgerechnet der Heimatschutz sah nicht, was die Heimat darin noch bieten konnte. Von der Mietskaserne, die vor dem Kriege in den Klauen der Baulöwen künstlerisch verendete, gar nicht zu sprechen; immerhin gab es auch auf diesem Gebiet trotz aller einen guten Grundriß verhindernden Spekulationen und Bauordnungen einige vereinzelte Versuche zur klaren sauberen Formung, die die einfache Erscheinung von Stockwerkshäusern alter Zeiten zum Vorbild nahmen und eine gewisse Sauberkeit anbahnten, wenn sich auch das Anbringen von Erkern und Balkonen nicht umgehen ließ. Es findet sich die klare Dachlinie des Blocks, der Verzicht auf Giebel und sonstigen Ausputz, ja in der Gliederung sogar eine angedeutete Vorwegnahme des heutigen "Horizontalismus". Wenn sich auf dem Gebiet des Stockwerksbaues heute noch das Gros der Architekten in historischer Routiniertheit austobt, ganz unbekümmert darum, ob Alt-Lübeck oder Alt-Bremen oder Nürnberg oder ein vornehmes Schloß einem Berliner Massenwohnhaus aufgepfropft oder ob Tirol nach Wien und Stuttgart oder nach Frankfurt a.O. und Magdeburg oder auch nach Stettin und Königsberg verpflanzt wird, wenn überhaupt die ökonomische Grundlage des Massenstockwerkshauses in seiner Erscheinung möglichst verschleiert und umgeheuchelt wird, so ist das, wenn nicht mehr, schon eine Versündigung an den ersten Versuchen zur reinen Formgebung, die 1910 bei einigen solcher Bauten begannen. Abb. 45 WOHNBLOCK IN KOPENHAGEN Abb. 46 BORUPSALLEE, KOPENHAGEN, 230 Wohnungen, 1925 Ganz schlimm aber sieht es beim Flachbau, den Mengen von Siedlungsbauten mit Gärten aus, bei denen der Heimatschutz in unheilvollster Weise die Augen gegenüber der Heimat selbst blind machte. Überall in ganz Deutschland, ob es in Ostpreußen, in der Mark, im Bergischen, dem rheinischen Tieflande oder auch in den süddeutschen Gebieten ist, überall gibt es für das Haus des kleinen Mannes einen schlichten, sehr einfachen Typ der Umrißform, der ohne alle Kinkerlitzchen, ohne jede Spur von "Kulturarbeiten" die klare saubere Hausform zeigt, sogar mit sehr geringfügigen Abweichungen, der ganz und gar unsentimental ist und sich bis in die 80er, 90er Jahre rein erhalten hat. Es sind jene einfachen Häuser mit simpelstem Dach, ohne Walm mit einem einfachen Giebel, die in ihrer schönen klaren Kantigkeit so unschuldig dastehen, wie wenn sie eben aus der Spielschachtel genommen wären. Ja, man findet auf dem Lande selbst heute noch eine ganze Menge neugebauter Häuser, die, wenn auch etwas trockener, den gleichen Typ zeigen; es handelt sich allerdings dann immer um Häuser, die weder ein Architekt noch ein Maurermeister entworfen hat und die keine behördliche Bauberatung passiert haben. Abb. 47 ALTES MARKISCHES BAUERNHAUS Abb. 48 SIEDLUNGSHÄUSER IN OSTERFELD, Kruppsiedlung ans den 80 - 90er Jahren, noch gesundes Bauen. Abb. 49 MARKTPLATZ !N DER SIEDLUNG MARGARETHENHÖHE IN ESSEN. Äußerste Blutleere im Vorkriegssiedlungsbau. "Bauerei", krank. Abb. 50 LANDARBEITERHAUS - ohne Architektenentwurf entstanden 1924 - 25, gesund. Abb. 51 LANDARBEITERHAUS - ohne Architektenentwurf entstanden 1924 - 25, gesund. Abb. 52 MÄRKISCHE GUTSHÄUSER mit flachgedecktem Arbeiterwohnhaus (90er Jahre), was Schultze-Naumburg als Gegenbeispiel aufgenommen hätte. Abb. 53 LANDARBEITERHAUS in Treplin i. d. Mark,1925, aus dem "Gegenbeispiel" entwickelt. Abb. 54 LANDARBEITERHAUS in Treplin i. d. Mark, 1925 Man findet sogar neben älteren schlichten Bauten bei Gütern manchmal Landarbeiterhäuser mit flachen Pappdächern aus den 90er Jahren, die Schultze-Naumburg wahrscheinlich als "Gegenbeispiele" photographiert hätte, die für uns aber ein unbefangenes und, wenn auch trockenes, so doch im Kern gesundes Bauen bedeuten. Abb. 55 SIEDLUNG HOHENSCHÖNHAUSEN BEI BERLIN 1926 in Freundschaft mit der Windmühle Abb. 56 LINKS HEIMATLICH, RECHTS "HEIMATSCHUTZ"! Abb. 57 VORN ALTMÄRKISCH, HINTEN "NEUMÄRKISCH" Abb. 58 WINDMÜHLENKAMPF DES HEIMATSCHUTZES "Siedlungshäuser" von 1926 in der Mark. Abb. 59 SIEDLUNG HOHENSCHÖNHAUSEN BEI BERLIN 1926 in Freundschaft mit der Windmühle An diesem ganzen großen Gebiet ist der Heimatschutz blind vorbeigegangen, er impfte dem Publikum einen Begriff von Traulichkeit ein, und die Architekten folgen in ihrem Gros noch heute diesem tatsächlichen Heimathaß, zu dem der Heimatschutz in Wahrheit geworden ist. Man sehe sich nur einmal die neuen großen Siedlungen beispielsweise in Westfalen an: das prächtige harte und kristallklare Bergische Haus - wo ist es geblieben gegenüber dieser Invasion einer süddeutsch sein sollenden Gemütlichkeit? Und in den Großstädten, am deutlichsten um Berlin, toben sich alle Reminiszensen der fernsten Gegenden aus - nur von dem Märkischen Hause ist keine Spur. Es toben sich die schülerhaften Reminiszensen an die großen Hochschullehrer aus - nur von der Sorgfalt und der Detailbeherrschung eines Theodor Fischer, Gabriele Seidl oder Alfred Messel ist nicht die geringste Spur da. Abb. 60 HEINRICH TESSENOW: Helleraum 1912 Und doch gibt es auch für den Flachbau schon seit den Vorkriegszeiten eine deutliche Tradition, ein Anknüpfen an jene schlichten Bauten, ein Beschränken auf den knappsten Umriß und auf die beste Proportion des nur Notwendigen. Freilich wurde es wie alles bei seinem Entstehen bekämpft und verkannt, konnte sich nur vereinzelt und nur mit Hilfe einer kleinen verständnisvollen Anhängerschaft durchsetzen. Ein besonderer Exponent dafür war Heinrich Tessenow, dem sich einige andere anschlossen. Man sollte meinen, daß diese so selbstverständliche Auffassung des Flachbaues allgemein sofort Boden fassen würde, da sie ja noch mit einem sichtbaren Dach arbeitete und sich auch äußerlich einer tatsächlich noch vorhandenen Überlieferung anschloß. Gewiß, es sind auch nach dem Kriege einige solcher Siedlungen gebaut worden, wie diese Bilder zeigen. Abb. 61 SIEDLUNG FALKENBERG BEI BERLIN, 1913 - 1914 Abb. 62 SIEDLUNG BONAMES BEI FRANKFURT A.M., 1918 - 19 Abb. 63 ARBEITERSIEDLUNG NEUMÜNSTER 1921 Doch was man nie hätte glauben können, auch sie sind sehr vereinzelt. Selbst hier, wo der Schritt ein so naheliegender ist, wo der Einklang von Haus und Landschaft so leicht zu begreifen ist, selbst hier machten die Behörden oft die größten Schwierigkeiten. Selbst bei diesem Gebiet versagte das Gros der Architekten. Die ursprüngliche Absicht Schultze-Naumburgs ist mit diesen Arbeiten erfüllt, und doch blieb der Heimatschutz ihr Feind. Abb. 64 ARBEITERSIEDLUNG NEUMÜNSTER 1921 Abb. 65 ARBEITERSIEDLUNG NEUMÜNSTER 1921 Abb. 66 GENF, Gartenstadt in der Avenue d'Aire, 1920 Abb. 67 GENF, Gartenstadt in der Avenue d'Aire, 1920 Abb. 69 SIEDLUNG AM WASSERTURM IN WIEN 1925 Abb. 70 ECKHAUS DER SIEDLUNG BRESLAU-LEERBEUTEL, 1925 Abb. 71 GEHAG-SlEDLUNG EICHKAMP IN BERLIN 1926 Abb. 72 GEHAG-SlEDLUNG EICHKAMP IN BERLIN 1926 Abb. 73 SIEDLUNG WEISSENHOF IN STUTTGART 1921 Abb. 74 SIEDLUNG HAYNAU, SCHLESIEN Abb. 75 WOHNBLOCK MÖNCHSHALDE in STUTTGART, 1921 Abb. 76 AUS DER STREUSIEDLUNG MAHLSDORF BEI BERLIN, 1924-26 Abb. 77 AUS DER STREUSIEDLUNG MAHLSDORF BEI BERLIN, 192-1-26 Abb. 78 AUS DER SIEDLUNG REFORM IN MAGDEBURG 1912-27 Abb. 79 SIEDLUNG BERLIN-BRITZ DER GEHAG, Langestraße, 1925/26. Vergleiche Bild 11-13, 147, 151 u. 155. Abb. 80 AUS DER SIEDLUNG REFORM IN MAGDEBURG, 1912-27 Abb. 81 SIEDLUNG BERLIN-BRITZ DER GEHAG, Langestraße: 1925/26 Vergleiche Bild 11-13, 14I, 151 u. 155. Abb. 82 u. 83 SIEDLUNG OUD-MATHENESSE IN ROTTERDAM 1922 Abb. 83 So harmlos und bescheiden dieses Gebiet der Baukunst ist, so große Bedeutung hat es für die Klärung der Begriffe. Man sieht hier, daß ein Haus, ganz gleich, ob es ein steiles Dach hat oder nicht, auf alle Fälle ein klarer und reiner Körper sein muß, daß allein diese Sauberkeit auf die Dauer standhält und daß auch auf dem bescheidensten Gebiet der Ausspruch Rodins seine Gültigkeit behält: Häßlich in der Kunst ist das, was keinen Charakter, d.h. weder eine äußere noch eine innere Wahrheit besitzt. weiter Teil V |