Bruno Taut (Fortsetzung)
V. DIE WENDUNG
Das soeben behandelte Gebiet ist bei aller Simplizität
vielleicht viel bedeutungsvoller als alles andere. Kann hier doch schon
der einfache
Baukörper ohne die geringste Zutat alles ausdrücken,
was auszudrücken ist; weswegen es
auf diesem Gebiet tatsächlich einzelne Beispiele von
Häusern gibt, die sich irgendein
Arbeitsmann errichtet hat, ganz nach eigenem Entwurf, und die beinahe
von Tessenow
entworfen sein könnten. Bei diesen Bauten tritt es am
allerdeutlichsten zutage, ob die
äußere Erscheinung des Hauses dem inneren
Gefüge, also dem Grundriß und der gewohnten
Konstruktion des Daches entspricht, ob sie also wahr ist. Es kommt ja
letzten Endes gar
nicht darauf an, ob ein Haus ein flaches oder ein steiles Dach hat. Es
kommt allein auf
die Wahrhaftigkeit seiner Erscheinung an.
Darüber hinaus aber wirft der Kleinhausbau von selbst die
andere Frage auf, die heute das
Grundprinzip des Wohnungsbaus für die Masse sein
muß. Es ist die allergrößte
Sparsamkeit in der Raumlösung und in den Baumaterialien.
Für die Grundrißlösung hat
sich im Siedlungsbau schon eine gewisse Konvention gebildet, die vor
der Erstarrung
bewahrt werden muß; bis auf geringe Schwankungen ist seit den
ersten vorbildlichen
Siedlungen vor dem Kriege eine kleine Zahl von Typen entwickelt worden,
die heute nur
geringfügig abgewandelt werden und es gestatten, eine kurze
übersichtliche Auswahl als
Norm zu verwenden. Besonders für das Reihenhaus sind kleine
Typen von 4½ bis 6 m
Frontbreite entwickelt, die sich selbst in den verschiedenen Gegenden
kaum wesentlich, oft
leider zu wenig ändern (im Auslande allerdings mehr,
entsprechend den veränderten
Gewohnheiten). Wenigstens kann die weitere Arbeit auf diesem Gebiet
einen stetigen
Entwicklungsverlauf nehmen, der darauf zielt, die Wohnung in ihrer
Benutzungsweise immer
weiter zu verbessern und die Hausarbeit durch eingebaute
Kücheneinrichtungen, Schränke
usw. zu erleichtern. Von dieser Seite her bildet der ganz
prätentionslose Siedlungsbau
die Überleitung zur vollkommenen und restlosen Durchbildung
der Wohnungsbauten, die
zusammenhangslose Kette zu den letzten "modernen" Lösungen,
die in ihrer
ungewohnten Form das Publikum vielfach erregen. Denn die auf die
Ökonomie gerichtete
Bestrebung bleibt nicht allein bei der
Grundrißlösung stehen; sie muß das
Technische
und Konstruktive mit in ihr Arbeitsbereich hineinziehen, da die
Ersparnis an
Baumaterialien neben der Ersparnis im Hauskörper als solchem
ungeheuer mitrechnet. Bei
allen Ersparnisversuchen auf Grund der bisherigen Maurer- und
Zimmermannskonstruktionen
kommt man zu der Überlegung, daß der altgewohnte Weg
durch die heutigen Leistungen der
Technik und Industrie bereits überholt sein könnte.
Schon seit langem versuchen einige
Architekten und Ingenieure hier durch Anwendung von Materialien der
Gegenwart (Schlacken-,
Gas-, Bimsbeton, Thermos usw.), durch Veränderung der Dachform
und der Dachdeckung neue
Wege zum Hausbau unserer eigenen Zeit zu finden (und z. B. den Unsinn
unmöglich zu
machen, daß man auf ein Stahlplattenhaus ein
mittelalterliches Dach aufsetzt u. dgl.).
Während noch 1908 der erwähnte
Ministerialerlaß vor dem Aufgreifen
"großstädtischer Materialien" warnte und solche
Versuche als
"Geringschätzung der Überlieferung" verurteilte, hat
infolge dieser Vorstöße
das preußische Wohlfahrtsministerium seit 1920 sich dieser
Ersparnisbestrebungen
angenommen, eine Reihe Druckschriften darüber erscheinen
lassen, und heute wird sogar
seitens des Reichsarbeitsministeriums die Frage des Serienbaus auf
Grund weniger Typen
offiziell verfolgt. Es wird dabei sogar auf unsere alte Forderung
eingegangen, die
industriemäßige Fabrikation des Hauses probeweise zu
untersuchen und womöglich zu
gewissen Ergebnissen zu führen (siehe z. B. das
Architekturprogramm des Arbeitsrates für
Kunst 1919). Die letzte und wichtigste Verbilligung des
Massenwohnhauses wird schließlich
dann erreicht sein, wenn die Hausteile fertig aus der Fabrik auf die
Baustelle kommen und
unabhängig vom Wetter aufmontiert werden können. Die
gleichmäßige Beschäftigung der
Bauarbeiter, deren Tätigkeit bisher nur ein "Saisongewerbe"
war, würde erst
einen wirklich ökonomischen und großzügigen
Wohnungsbau nach einheitlichem Plan
gestatten. Sein wesentlichster finanzieller Vorteil liegt vor allem
auch darin, die
Kapitalien für einen zusammenhängenden und wesentlich
umspannenderen Wohnungsbau
wirklich planmäßig zu verteilen und den
Baugeldzinsverlust durch die abgekürzte Bauzeit
aufs äußerste einzuschränken. Die letzte
Reduzierung der Wohnungsmieten kann allerdings
durch alle noch so weitgehenden technischen Bemühungen nicht
erreicht werden; selbst bei
einer Ermäßigung der heutigen Baukosten um ein
Drittel bleibt die Verringerung der Miete
geringfügig, solange die Hypothekenzinsen höher sind,
als es berechtigt ist. Diese Frage
greift zwar auf ein anderes Gebiet über; es soll aber an
dieser Stelle doch mit aller
Deutlichkeit ausgesprochen werden, daß man von der
Rationalisierung des technischen Teils
keine Wunder erwarten darf, wenn nicht auch die Banken und
Beleihungsinstitute die
gleichen Grundsätze verfolgen.
Was uns hier angeht, so ist es in der Tat der Typenbau der
Flachsiedlungen, der alle diese
Fragen aufgeworfen hat. Es kommt bei ihm ja nicht so sehr auf das
einzelne Haus, sondern
vielmehr auf die Aufreihung einer größeren Zahl
gleicher Häuser an. Die Schönheit
einer Siedlung liegt im wesentlichen in den Zusammenhängen der
Gruppen und Reihen;
deshalb gaben die schlichten alten Haustypen mit ihren einfachen
Giebeln eine gute
Anknüpfung. Die Giebel blicken zum nächsten Hause
hinüber, schliessen dieses Haus nicht
ab, sondern verbinden es als Glied einer Kette mit dem Ganzen, das
allein durch seine
große Gruppierung und durch seinen Rhythmus zum
Gefühl spricht. Die in gleichem Winkel
geneigten Dächer und die Anwendung der Farbe im Sinne der
melodischen Abtönung des
Ganzen sorgen für die letzte Harmonie. Dies sind die
unverkennbaren Kennzeichen eines
wirklichen Kollektivbaues, eines Bauens, das die Gesamtheit
zusammenfaßt und der
schönste Ausdruck für
überpersönliche Empfindungen ist.
Abb. 84 SIEDLUNG FREIE SCHOLLE IN TEGEL BEI BERLIN, 1925
Gerade durch die Betonung des Serienbaus hat der
Siedlungsbau, wie er bisher behandelt ist, die eigentliche
Brücke zu seiner neuen
Weiterentwicklung, zur neuen Baukunst geschlagen. Er hat einen
besonderen Wert damit, daß
er auch dem Nichtfachmann leichte Mittel gibt, um den Wert der Leistung
des Architekten zu
beurteilen. Jedermann kann hier leicht feststellen, ob ein gesunder
Organismus geschaffen
worden ist, der sich von schulmäßigen Dogmen und
Sentimentalitäten freihält, ob das
Ganze im wahren Sinne wohnlich und richtig ist. Er kann es sogar mit
dem Rechenstift
ausrechnen. Besonders wichtig ist dies aber hinsichtlich der am Anfang
erwähnten
Mitläuferschaft, welche die sog. neue Baukunst zweifellos im
Gefolge haben wird. Es ist
ja so einfach, ein flaches Dach zu machen und die
holländischen oder sonstigen
Äußerlichkeiten an den Mauern anzubringen, die
Fenster bündig in der Außenfläche zu
setzen, sie mehr breit als hoch zu machen und all dergleichen mehr.
Daß sich die neue
Baukunst durchsetzen wird, steht außer Frage. Und es wird
wichtig genug sein, dann den
Wert der Leistungen voneinander unterscheiden zu können. Es
ist ja schließlich zu
begrüßen, wenn dieser und jener nach einer Richtung
hin umsattelt, die er bisher
bekämpft hat. Tut er es aus Überzeugung und
bemüht er sich, alles aus der praktischen
Lösung zu entwickeln, so kann das nur ein Segen für
den allgemeinen Bauzustand sein.
Aber gerade in Deutschland bildet das oberflächliche
Mitläufertum eine besondere Gefahr.
In Frankreich z. B. läßt man die neuen Architekten
ungestört bauen, wie sie wollen,
aber man hütet sich, ihnen auch nur einen Schritt
entgegenzukommen und das, was man
wirklich kann, was man auf der école des beaux arts gelernt
hat, gleich über Bord zu
werfen. Bei uns dagegen gibt es nach kurzem Geplänkel sofort
eine Masse jener
Erscheinungen, die die Äußerlichkeiten dessen, was
sie noch eben bekämpft haben,
aufgreifen, ohne innere Beziehung dazu anwenden, ob es gerade
paßt oder nicht, und
infolgedessen das Erreichte in schlimmster Weise kompromittieren, indem
weder Publikum
noch Behörden sich in der allgemeinen Verwirrung zurechtfinden
und entscheiden können,
was denn eigentlich gesund ist. Und doch sollte dies gerade beim
Wohnhausbau gar nicht so
schwer sein. Man braucht ja nur in solche Wohnhäuser
hineinzugehen und nachzusehen, ob
die sonderbaren Fenster für die Beleuchtung der Zimmer richtig
und vorteilhaft sind, ob
der Wohnungsgrundriß in seinem Gefüge zu der
architektonischen Erscheinung mit einem
sachlichen Zwang geführt hat, ob die flache Dachform vom
praktischen Gesichtspunkt aus
notwendig und vorteilhaft ist und all dergleichen mehr. Werden diese
Fragen bejaht, so
wird das Äußere als logische Konsequenz daraus nicht
allzu schwer verstanden werden; im
anderen Fall aber wird man mit Recht seine gefängnisartige,
kasernen- und kulissenhafte
oder sonstige Erscheinung als modische Heuchelei und theatralisches
Getue genau so gut
verwerfen wie die bisherigen akademischen Stilnachahmungen; denn es
handelt sich hier im
Grunde um ein und dasselbe.
Abb. 85 LANDESIRRENANSTALT IN WIEN, gebaut 1904-05, Wien XIII I 12,
Baumgartnerhöhe
Diese Abschweifung vom Serienbau hängt zwar nicht direkt
mit der folgenden Darstellung zusammen, hat aber insofern auch dabei
eine große
Bedeutung, als die heutige neue Baukunst sich keineswegs nach Art
dieses Mitläufertums
als eine zufällige formale Laune herausstellt, sondern als
eine geschichtliche
Entwicklung, die weit zurückgreift und weit ausholt.
Die große kollektive Linie des Serienbaus knüpfte
nicht ganz zufällig an die Reste
alter Baukultur an, die noch bis in die 80er Jahre hinein lebendig
waren. Was hier auf dem
Gebiet des ländlichen Bauens auftrat, findet durchaus seine
Parallele im städtischen
Bauen. Bei aller hohlen Pathetik wurde zu Ende des 19. Jahrhunderts die
strenge
architektonische Gesinnung, die in der trockenen damaligen Renaissance
auszusterben
schien, doch von einem festgehalten: es war Otto Wagner in Wien, der
Gegenpol zu seinem
Namensvetter Richard Wagner. Otto Wagner hat in jener Zeit, als der
Gefühlsausbruch seine
wildesten Triumphe feierte und als nur wenige Baukünstler eine
Sublimierung dieser
undisziplinierten Gefühle versuchten, als erster und einziger
die Linie der Großstadt,
die Bedeutung der Geradlinigkeit in Straßenzügen und
Bauten und deren kubische Form
betont und gelehrt. Der Einzige, der nicht in jener Sturmflut die
Besinnung verlor,
sondern streng architektonisch in seinem ganzen Denken blieb und eine
große Lehre
aufstellte, die im Prinzip heute noch alles enthält, was wir
jetzt verwirklichen wollen.
Er forderte die zusammenfassende kollektive Formung der Stadt und die
entsprechende ebenso
wissenschaftliche wie geschmackliche Haltung des Architekten, den er
auf Grund seiner
Lehre mit vollem Recht an die Spitze aller geistigen Kräfte
stellen und dessen Kunst er
die Königin der Künste nennen konnte. Seine Lehre
hatte das gute Recht dazu, denn sie
fußte auf dem architektonischen Geist aller Zeiten und sie
leuchtete ebenso weit in die
Zukunft hinein. Die Entwicklung der Großstadt und ihrer
Technik sowie ihre Ausbreitung
über das Land war der Inhalt seiner bis heute
vollgültigen Vision. Bei seiner frühen
historischen Erscheinung konnte er naturgemäß wenig
Gelegenheit zur Verwirklichung
dieser Anschauungen finden; immerhin zeigt die große Anlage
der Irrenanstalt auf der
Baumgartnerhöhe bei Wien, die er beeinflußte und
deren Kirche er baute, auch heute noch
jedem Laien den schönen Einklang von kubischen
Baukörpern (und der goldenen Kuppel der
Kirche als Bekrönung) mit der Landschaft des Wiener Waldes.
Für den Wohnhausbau nimmt
sein Wohnhaus in Wien VII, entstanden um die Jahrhundertwende, schon
fast alles vorweg,
was wir heute gern haben: die einfachen gleichmäßig
aufgereihten Fenster mit großen
Glasflächen, die horizontale Lagerung der Läden, das
Leichtmachen ihrer Stützen und
schließlich sogar die Plattenbekleidung der Hauswand, die uns
an unsere heutigen Versuche
zu einer veränderten Konstruktion erinnert.
Abb. 86 LANDESIRRENANSTALLT IN WIEN,
gebaut 1904-05, Wien XIII I 12, Baumgartnerhöhe
Abb. 87 OTTO WAGNER, Wohnhaus in Wien
VII, 1907-08
Im zweiten Abschnitt wurde gesagt, daß die vorletzte
Generation für uns die wichtigere ist; hier sehen wir,
daß uns eine direkte Verbindung
mit ihr geschaffen worden ist. Otto Wagners Werk und seine Lehre setzte
sich in seinen
Schülern fort (Josef Hoffmann, Adolf Loos u. a.), doch in Wien
schien sie abgerissen zu
sein, um sich statt dessen die Welt zu erobern und auf internationalem
Boden auszuwirken.
Zu ihr trat das große Bekenntnis von der Schönheit
der neuen Zweck- und Maschinenform,
das van de Velde in herrlichen Worten niederlegte. Für das
hier behandelte Thema des
Wohnhausbaues ist das Schaffen Frank Lloyd Wrights von großem
Einfluß gewesen. Auch von
ihm sind geistige Ströme ausgegangen, die bei dem
Wiedererwachen des architektonischen
Geistes in Holland mitgespielt haben - neben der dortigen tief gehenden
Pionierarbeit de
Bazels und vor allem des bahnbrechenden H. P. Berlage. Von dem
erstaunlichen Aufschwung in
Holland ist bereits gesprochen worden; das Schönste an dieser
Erscheinung ist, daß sie
in keiner Engherzigkeit befangen blieb, daß sie keinem
Schlagwort einseitig folgte,
sondern die verschiedenartigsten Temperamente im Sinne wahrhaft
baumeisterlicher Arbeit
zur Entfaltung brachte.
Abb. 88 JOSEF HOFFMANN, SANATORIUM
PURKERSDORF, um 1910
Abb. 89 PETER BEEHREND, SIEDLUNG DER
AEG IN HENNIGSDORF, um 1917 erste Schlackenbetonbauten
Was als bestes Resultat dasteht, ist ein Ergebnis des
Suchens nach der werkgerechten Form, nach der Harmonie von innerem
Gefüge und neuem
konstruktivem Aufbau, ganz gleich, ob es sich um Stockwerksbauten oder
Siedlungs¬bauten
handelt, jedenfalls mit einer Entschlossenheit und von einem wahren
Baugeist beseelt, der
jetzt schon kunstgeschichtlich als ein Ereignis erster Ordnung gelten
kann.
Abb. 90 "DAAL EN BERG" IM HAAG, 1920
Abb. 91 PAPAVERHOF IM HAAG, 1920
Abb. 92 S' HERTOGENBOSCH,
BETONSIEDLUNG 1924/1925
Abb. 93 TUSCHENDYKEN, INNENHOF,
ROTTERDAM
Abb. 94 BETONWOHNHÄUSER
ROTTERDAM 1922
Abb. 95 TUSCHENDYKEN, 1920,
GYSINGSTRAAT, ROTTERDAM
Abb. 96 TUSCHENDYKEN (1920)
TAANDERSTRAAT, ROTTERDAM
Abb. 97 RRÜSSEL, WOHNHAUS
Abb. 98 HOTEL PARTICULIER DE MONSEUR
I. L. PARIS CITÉ SEURAT, ENTREE, 1924/25
Abb. 99 LA CITÉ MODERNE,
RRÜSSEL
Abb. 100 BRÜSSEL, WOHHAUS
Abb. 101 LA CITE MODERNE, BRÜSSEL, 1922
Abb. 102 HOTEL PARTICULIER DE MADAME E. B. JARDIN, PARIS, CITE SEURAT
1925
Abb. 103 HOTEL PARTICULIERS DE MADAME A. Q; & DE MONSIEUR I.
L., PARIS, CITÉ SEURAT 1924/25
Abb. 104-108. ARBEITERSIEDLUNG PESSAC BEI BORDEAUX, 1926
Von großem Interesse sind die Erklärungen, die
der Architekt selber abgegeben hat, als im Mai 1926 der
französische Kultusminister De
Monzie die im Bau befindliche Siedlung besichtigte. Er sagte etwa
folgendes.
Herr Frugès erklärte mir: "Ich autorisiere Sie,
Ihre Theorie in der Praxis bis zum
Äußersten durchzusetzen; ich wünsche zu
wirklich umwälzenden Ergebnissen auf dem
Gebiete der Reform des billigen Wohnungsbaues zu kommen: Pessac
muß ein Laboratorium
werden. Ich bevollmächtige Sie, vollständig mit allen
seitherigen Konventionen zu
brechen, alle bisherigen Methoden zu verlassen; kurz gesagt: Ich
fordere von Ihnen, daß
Sie in Bezug auf den Grundriß des Wohnhauses eine
Normallösung finden. Die Mauern,
Balken und Dächer usw. sollen von den besten
Qualitäten sein und Sie sollen zur
Herstellung derselben Maschinen benutzen, die ich Sie hiermit
bevollmächtige zu kaufen,
um hierdurch ein wirkliches Taylorsystem zu ermöglichen. Die
Häuser sollen im Innern
derart ausgebaut werden, daß das Wohnen in diesen
Räumen leicht und angenehm ist. Die
Ästhetik dieser Räume soll sich
grundsätzlich von unseren bisherigen traditionellen
Wohnungen unterscheiden. Ihr Bau und ihre Unterhaltung dürfen
nicht mehr kostspielig
sein, ihr Ausdruck soll rein und wahr in der Proportion und
zeitgemäß sein."
Mit infolge dieses imposanten Geschehens ist eine
internationale architektonische Bewegung in Fluß gekommen,
die offensichtlich immer
weiter um sich greift. Ihre Erscheinungen in Polen, Böhmen,
Rußland oder Belgien und
Frankreich sind zwar ähnlich im Wesen, wie es jeder
frühere Baustil ebenfalls war, doch
national je nach dem Boden, auf dem sie wachsen, gefärbt,
teils auch in ihren Symptomen
klimatisch zu erklären, wie besonders in Frankreich. Die
deutschen Arbeiten beruhen trotz
der Einflüsse von außen her doch mehr oder weniger
auf den Leistungen ihrer Vorgänger,
der van de Velde, Peter Behrens, Poelzig usw., wie andrerseits auch
einige Architekten
dieser Art Schüler Theodor Fischers und Alfred Messels sind
und von ihrem Meister nicht
gelernt haben, "wie er sich räuspert und wie er spuckt",
sondern die Sorgfalt
und unermüdliche Durchbildung jeder kleinen Einzelheit. Die
vielfache Nuancierung dieser
Arbeiten gibt diese verschiedenen Einflüsse wieder; trotzdem
vereinigt sie alle die
unbedingte Bemühung um eine einfache, übersichtliche
und saubere Bauform. Man kommt
allmählich darauf zurück, dem Wohnhaus seine ihm
zukommende Stellung zuzuweisen, die im
einzelnen eine bescheidene, für das Ganze aber wiederum eine
ungeheuer bedeutungsvolle
ist. Das Erkennen der Grenzen jeder Aufgabe ist allein schon ein
großer Gewinn. Daneben
aber liegt hierin die eigentliche Einsicht in das Ökonomische
der Sache enthalten.
Abb.
109 und 110 MEISTERHÄUSER BAUHAUS DESSAU,1926
Abb.
111 SIEDLUNG TÖRTEN, DESSAU 1926/27, im Bau (Beton)
Abb.
112 und 113 STAHLHAUS, SIED LUNG TÖRTEN, DESSAU
Abb.
114-116 LA JOLLA, CALIFORNIEN. S0MMIERHÄUSER IN GUSSBETON AM
MEERE 11926. (Nach NEUTRA "Wie baut Amerika". Verlag Julius Hoffmann,
Stuttgart.)
Abb.
117 SIEDLUNG DER GEHAG IN ZEHLENDORF BEI BERLIN, 1926/27, im Bau
Abb.
118 SIEDLUNG DER GEHAG IN ZEHLENDORF BEI BERLIN, 1926/27, im Bau, vgl.
Abb. 166
Abb.
119 SIEDLUNG IN MAGDEBURG, 1925/26
Abb.
120 SIEDLUNG DESSAUZIRBIGK, 1926/27, IM BAU
Wir sind schon dabei, in einigen Beispielen großer
zusammenhängender Komplexe die Folgerungen aus dieser Einsicht
in bezug auf Serienbau,
Konstruktion, Normierung und Handhabung des Bauplatzes sowie seiner
Einrichtung zu ziehen:
das erste Korn der Lawine ist ins Rollen gekommen. Über alle
Verunstaltungsfanatiker und
Heimatschützler hinweg bricht sich die Wahrheit Bahn, ja sogar
darin, daß die neuen
Bauten auch mit flachem Dach sich der Landschaft vorzüglich
einfügen und sogar dieser
Landschaft oft erst zu ihrem Recht verhelfen, wo die
Mützendächer und die überspitzten
Giebel eine schreckliche Zappelei hineinbrachten.
Abb.
121 SIEDLUNG DESSAU-ZIEBIGK, 1926/27, IM BAU
Abb.
122 FLIEGERBILD DER SIEDLUNG BUCHFELDSTRASSE NIEDERRAD FRANKFURT A. M.
1926/27
Abb.
123 STRASSENANSICHT ZU BILD 122
Abb.
124 GESAMTANSICHT DER SIEDLUNG PRAUNHEIM BEI FRANKFURT A.M. 1926/27
Abb.
125 FLIEGERBILD DER SIEDLUNG PRAUNHEIM
Abb.
126 FRANKFURT A.M. SIEDLUNG HÖHENBLICK
Abb.
127-129 SIEDLUNG GEORGESGARTEN IN CELLE 1926
Abb.
130 SIEDLUNG ITALIENISCHER GARTEN IN CELLE BEI HANNOVER, 1924
Abb.
131 und 132 SIEDLUNG IN HELMSTEDT IN THÜRINGEN, 1925/26
Abb.
133 BAUBLOCK AM SCHILLERPARK IN BERLIN N, 1924/25
Abb.
134 WOHNHAUSGRUPPE IN DAHLEM, SCHORLEMER ALLEE, 1924
Abb.
135/136 SIEDLUNG AN DER GR: DIESDORFERSTRASSE IN MAGDEBURG, 800
Wohnungen, Baubeginn 1924, vgl. Abb. 165
Abb.
137 WOHNHAUS DER GEMEINDE WIEN XVII, 1924, NORDSEITE
Abb.
138 WOHNHAUS DER GEMEINDE WIEN XVII, 1924, SÜDSEITE
Abb.
139 STÄDT. BAUBLOCK, ALTONA, HELMHOLTZSTRASSE, 1926.
Abb.
140 BUCHDRUCKERHAUS BERLIN-TEMPELHOF, DREIBUNDSTRASSE, 1925
Abb.
141 STÄDT. BAUBLOCK, ALTONA, SCHÜTZENSTRASSE, 1926
Abb.
142 BAUBLOCK NEUKÖLLN, LEINESTRASSE,1925/26
Abb.
143 HOF ZU ABB. 142 (HOFEINRICHTUNG UNFERTIG)
Abb.
144 und 145 BAUBLOCK BERLIN-WEISSENSEE, BUSCHALLEE, 1926
Abb.
144 HOF ZU ABB. 145
Abb.
146 BLOCK WEISSENSEE, TRIERERSTR: 1926, vgl. Abb. 164
Abb.
147 GEHAG-SIEDLUNG BRITZ, 1925/26, 1000 Wohnungen
Abb.
148 GANZE FRONT zu Abb. 150
Abb.
149 GEHAG-SIEDLUNG BERLIN-BRITZ, Nordstraße
Abb.
150 BERLIN-BRITZ, FRONT AM GRÜNEN RING
Abb.
151 GEHAG-SIEDLUNG BRITZ
Abb.
152 "HUFEISEN" IN BRITZ (Gartenanlage fehlt)
Abb.
153 und 154 BAUBLOCK AFRIKANISCHE STRASSE IN BERLIN, 1926
Abb.
155 GEHAG-SIEDLUNG BRITZ, Hufeisen, - Gärten und
Straßen unfertig
Abb.
156 DICKELSBACHSIEDLUNG DUISBURG, 1926/27, im Bau
Abb.
157, 158, 161 DICKELSBACHSIEDLUNG DUISBURG, 1926/27, im Bau
Abb.
159 BAUBLOCK DER STADT WIEN
Abb.
160 STÄDT: BAUBLOCK, ALTONA, HELMHOLTZSTRASSE, ERBAUT 1926
Wir sind glücklich so weit, auch die Frage der Dachform
ohne Voreingenommenheit nach ihrer technischen und
ökonomischen Seite hin zu untersuchen
und uns allein danach zu entscheiden. Beim Stockwerkshause mit drei
Geschossen und mehr
bietet das flache Dach so große Vorteile, daß es
dort selbstverständlich sein sollte,
wie ja auch die Bauunternehmer vor dem Kriege die Mietskasernen ebenso
behandelt haben,
nur daß sie aus "Schönheitsgründen" ein
krüppelhaftes steiles Scheindach an
der Front vor die große flache Dachfläche
vorstülpten. Das größere Mietshaus braucht
im Dach eine Anzahl Bodenkammern, die Waschküche und den
Trockenboden, also die volle
Fläche, die bei spitzem Dachanlauf zum Teil verloren geht.
Außerdem müssen die
Schornsteine dabei sehr hoch geführt werden, es sind eine
Menge Dachanschlüsse,
Dachaufbauten u. dgl. notwendig, so daß mit der viel
komplizierteren
Zimmermannskonstruktion und der Dachdeckung erheblich höhere
Kosten gegenüber dem
flachen Dach mit seiner einfacheren Ausbesserungsmöglichkeit
entstehen. Beim kleinen
Hause ist diese Frage noch nicht so eindeutig entschieden. Doch gibt es
auch hier schon
eine Anzahl Meinungen, die sich für eine Verbilligung durch
das flache Dach aussprechen
(in der Bauwelt Nr. 37/1926 hat Stadtbaurat Kleefeld die Ersparnis bei
Verwendung von
Betonbau und massiven Decken unter dem flachen Dach auf 18 % der
gesamten Baukosten
berechnet). Aber selbst wenn auch hier keine einseitig entschiedene
Antwort gefunden
werden sollte, so wäre das noch kein Schaden. Es muß
durchaus nicht sein, daß
sämtliche Bauten, die wir um uns sehen, einem Schema folgen.
Das sichtbare und das flache
Dach sind durchaus keine Gegensätze, die sich nicht vertragen,
im Gegenteil kann die
Verwendung beider Elemente eine Bereicherung bedeuten. Der Gegensatz
liegt allein in der
architektonischen Haltung: ein Haus mit flachem Dach kann ebenso leicht
aufgeblasen und
unwahr aussehen wie ein Haus mit sichtbarem Dach knapp, klar und von
größter
Bestimmtheit. Das Verbindende liegt eben allein in der Gesamthaltung,
die ihren Ursprung
in der grundsätzlichen Durchbildung des Hauskörpers
und seines Grundrisses hat. Dasselbe
gilt natürlich auch für die Farbe, die von der
völligen Abstinenz bis zur stärksten
Verwendung ebenfalls ein Zeichen ein und derselben Gesinnung oder des
gleichen
Sauberkeitsgefühls sein kann.
Abb.
162 VERGLEICHENDE DACHQUERSCHNITTE
Von der Architektur zu reden, gilt allgemein als eine mehr
oder weniger harmlose Unterhaltung, als eine Art Teegespräch
über Ästhetik. Doch geht
die Sache schon mehr an den Nerv, wenn die Baukosten gestreift WERDEN
*), und noch mehr,
wenn mit der Architektur die Güte der Wohnungen, die hinter
dieser Architektur stecken,
auf eine Stufe gestellt wird.
Diese Parallele ist hier des öfteren gezogen worden, doch soll
zum Schluß noch auf ein
Kennzeichen hingewiesen werden, das die Eigenschaft jedes Architekten
ist, der eine neue
Gestaltung seiner Bauten sucht. Es liegt darin, daß kein
solcher Architekt sich mit den
vorhandenen Grundrißlösungen zufrieden geben kann.
Wir wissen alle, daß unsere
Gegenwart noch erst die Art und Weise finden muß, wie man am
besten wohnt. Wir wissen
deshalb, daß auf dem Gebiet des Wohnungsbaues hierin allein,
d. h. im Suchen nach dem
besseren Wohnungsgrundriß die Aufgabe des wirklichen
Architekten liegt. Ist es darum
schon ein Kriterium für die vorhandenen Bauten, ob in ihnen
diese Frage wenigstens einen
kleinen Schritt weitergeführt ist, so liegt für die
an der Zukunft Arbeitenden darin das
alleinige Urteilsmaß ihrer Projekte und Zeichnungen. Nicht,
wie hübsch die Fassade oder
das Schaubild ist, sondern wie die bisherigen Erfahrungen
weitergeführt und sich zu neuen
berechtigten Forderungen kristallisiert haben - das allein ist der
einzige Maßstab des
Urteils.
Abb.
163 AUFGESCHWMMTER GRUNDRISS MIT CHARAKTERISTISCHER VERGEUDUNG VON
"TOTEM" RAUM
*) Besonders dann, wenn die "Wirtschaftlichkeit"
gar nicht vom Standpunkt des Produzenten, sondern allein von dem des
Konsumenten
untersucht wird. Wohnungsmiete und Baukosten nach dem Kubikmeter des
gesamten Baukörpers
sind durchaus nicht immer parallellaufende Zahlen. Ein
Grundriß kann unnötige
"tote" Räume (Korridore usw.) haben, wodurch die Baukosten
zwar, auf den
Kubikmeter bezogen, billiger, für die ganze Wohnung aber
teurer werden, also den Mieter
belasten. Trotzdem bei einem guten Grundriß der Kubikmeter
umbauten Raumes vielleicht M
29.- gegenüber M 27.- bei einem schlechteren kosten kann, weil
eben die Zwischenwände
bei Küche, Bad, Korridor kleine Abstände voneinander
haben und sonst die Ausstattung
besser ist - trotzdem können gleichwertige 2-Zimmerwohnungen
in der Miete bis zu M 10.-
monatlich verschieden sein. Der aufgeschwemmte Grundriß ist
ökonomischer vom Standpunkt
desjenigen Unternehmers, der mit dem niedrigen Kubikmeterpreis
paradieren will, der auf
Raumersparnis durchdachte dagegen vom Standpunkt des Mieters. Es
brauchen nicht beide
Interessen zu kollidieren; doch liegt - das kann nicht bestritten
werden - oft genug der
schlechte Grundriß im Interesse von Unternehmern, weshalb z.
B, auch gerade aus ihren
Kreisen heraus die Unzufriedenheit des harmlosen Publikums gegen kleine
Räume geschürt
wird. Denn natürlich kostet ein Schlafzimmer von 22
Quadratmetern weniger im Bau als zwei
kleine von je 11 Quadratmetern. Im ersten Fall schlafen vielleicht 4
bis 5 Personen
zusammen, in dem anderen je 2 und 2 bis 3 getrennt. Der Unternehmer
dieser Art aber sagt:
ich baue euch "schöne" große Räume und dazu
billiger. - So zeigt sich, daß
die Qualitätsleistung des Architekten sogar mit
"wirtschaftlicher" Begründung
bedroht wird und, worauf es hinauskommt, damit auch die entsprechende
Gestaltung. Die
ehrliche Baukunst hat die ehrliche Wirtschaft zum Bundesgenossen,
während die Kehrseite
der ehrlichen Wirtschaft ihr grimmigster Feind ist.
Abb. 164 - 166 DURCHGEARBEITETE GRUNDRISSE
Abb.
164 (Gehag Weißensee)
Abb.
165. (Stadterweiterungsamt Magdeburg)
Abb.
166. (Gehag Zehlendorf)
Ob und wieweit es gelungen ist, einen Einblick in den
Wohnungsbau der Gegenwart und damit den wichtigsten Teil der gesamten
Bautätigkeit von
heute zu geben, wird der Leser entscheiden. Wenn er veranlaßt
wird, manches, das er
bisher für schön und auf der andern Seite
für häßlich hielt, unter die Lupe zu
nehmen, so ist der Zweck dieser Schrift erfüllt. Man kann das
Gebiet auch selbst in
dieser Fassung des Themas nicht erschöpfen und man kann den
Begriff des Architektonischen
letzten Endes nicht durch Bilder fassen. Man kann höchstens
auf eine gewisse verbindende
Linie hinweisen, die eine Zeiterscheinung durchzieht. Wichtig ist
dabei, die
Überbrückung der Grenzen zwischen Stadt und Land zu
beachten, die wohl das Kennzeichen
der nächsten Entwicklung sein wird. Wir sahen, daß
vom Bauernhaus über den Siedlungsbau
eine unmittelbare Verbindung zum modernen Serienbau führt, wir
sahen, daß seine Quellen
sogar zeitlich mit jenen zusammenfallen, die zur Erneuerung des
städtischen Wohnhauses
führten. Diese von dem Großstadtgedanken ausgehende
Erneuerung führte in einer
zusammenhängenden Linie wiederum bis zum Siedlungshause und
seinem Serienbau, so daß
sich also in den Erscheinungen der neuen Baukunst tatsächlich
schon eine Einigung von
Stadt und Land vollzieht. Es ist ein Band gegenseitiger Auffrischung
und Erneuerung, ein
pulsierender Blutstrom von den stillsten Landschaftsgegenden her bis in
das Innere der
Städte hinein und ebenso zurück. Diese Tatsache kann
uns die Gelassenheit des unbeirrten
Weiterarbeitens geben; sie trägt die Ruhe der sicheren
Hoffnung in sich.
Wir Bauenden haben einen einfachen geraden Weg vor uns.
Wohin er führt, ist nicht genau zu umreißen, wenn
man nicht Prophet spielen will. Wir
stellen unseren Beruf wieder auf die Basis des allgemein
Vernünftigen und, wenn man will,
Menschlichen. Hier gibt es keine Begriffsspaltungen und
Klügeleien. Hier gibt es nicht
den Künstler auf der einen Seite und den Techniker und
Konstrukteur oder den Rechner auf
der anderen Seite, sondern hier ist eins mit dem anderen
unlöslich verbunden. Selbst da,
wo sich die Fähigkeiten des Einzelnen in einer besonderen
Richtung entwickeln, muß dies
im Zusammenhang mit dem Ganzen geschehen und kann nur das Glied einer
Kette sein. Für uns
ist das Bauen keine Bauerei mehr, etwa in dem Sinne, wie das Malen zur
Malerei wurde. Wir
wollen unter keinen Umständen unsere Häuser so bauen,
daß sie nachher in einem
gerahmten Bilde hübsch aussehen, daß also aus Bauen
Bauerei und schließlich Malerei
wird. Ebenso wie die Malkunst an Stelle des Begriffs Malerei den Rahmen
des einzelnen
Bildes sprengt und alles umfaßt, was nur irgend mit der Farbe
und ihrer Anwendung zu
schaffen hat, ebenso weit spannt sich unser Beruf, sobald wir an Stelle
des bisherigen
Wortes und Begriffes Architektur oder Bauerei die Baukunst oder das
Bauen setzen.
Wie weit diese veränderte Berufsauffassung in Parallele zu den
überberuflichen sozialen
Geschehnissen und denen der sich verändernden
Wirtschaftsstruktur tritt, ja, wie weit sie
in ihrer eigenen Formveränderung der allgemeinen Entwicklung
sogar schon voraneilt,
zeigte sich aus der Überbrückung der Grenzen von
Stadt und Land. Infolge unserer
gesamten Entwicklung auf dem Gebiete des Verkehrs, der
Gütererzeugung im gewerblichen,
industriellen und landwirtschaftlichen Leben und der
veränderten sozialen Schichtung hat
die Abgrenzung der einzelnen Stadtgebiete heute keinen Sinn mehr. Das
ist nach und nach
schon zu einem Besitz des allgemeinen Denkens und Wissens geworden. -
Jede einzelne Stadt
muß bei ihren Ausbreitungsplänen mit dem umliegenden
Lande rechnen. Und die Großstadt
kann die Linie ihrer weiteren Entwicklung nur noch aus den Beziehungen
zum ganzen Lande
und darüber hinaus zu ihrer Verflochtenheit im Weltverkehr
erkennen. Früher
beschäftigte sich der "Städtebau" mit der Ausbildung
und Lösung einzelner
Straßen und Plätze und schließlich auch
einzelner Gebiete. Heute ist er längst über
diese Fassung hinausgekommen - er ist zu einer Wissenschaft geworden,
zur sogenannten
Landesplanung, d. h. der Städtebau sucht die praktischen
Ergebnisse aus der vorhin
entwickelten Erkenntnis zu ziehen. Ein großer Gegensatz
zwischen der Zeit vor 50Jahren
und heute: damals wurde die Stadt noch als eine von Mauern und
Festungswällen umgebene
Häusermasse betrachtet, heute dagegen bedeutet sie einen
Zusammenfluß von den weitesten
Landgebieten her und ein Ausströmen in diese zurück,
ein lebendes Wesen, das wie ein
Polyp seine Fühler weit ausstreckt und dessen Lebenselement
diese Fühler in dem weiten
Lande suchen müssen; - und diese neue Betrachtungsweise kommt
nicht etwa aus
ästhetischen Erwägungen, sondern solchen
Erwägungen oft geradezu entgegengesetzt aus
dem Zwang des Geschehens, aus der Erkenntnis der Wirklichkeit und aus
der Notwendigkeit,
diese Tatsachen in eine vernünftige und
menschenwürdige Form zu fassen.
Solche die Form des Menschendaseins völlig
verändernden Entwicklungen können nicht an
der Oberfläche bleiben, selbst wenn die Gewohnheit sich noch
so sehr gegen die
Folgerungen auf baulichem Gebiet wehrt. Sie greifen an den Nerv der
Völker und erzwingen
unerbittlich ihre Konsequenzen.
Wie sich äußerlich die Grenzen zwischen Stadt und
Land verwischen, so wird dies auch im
Innern der Stadt in Erscheinung treten. Luft, Licht und Grün
werden die Stadt
durchspülen, sie wird wie ein Filter sein und wird dies in
deutlichster Weise zeigen,
wenn man nach Ablauf einer Generation mit dem Flugzeug über
sie hinwegfahren wird. Es
kommt dabei nicht auf die Höhe der Gebäude an; doch
werden die neuen Wohngebiete ganz
bestimmt zu einer völlig anderen als der heutigen Anordnung
gebracht werden, in der die
hygienische und soziale Seite die erste Rolle spielt und in der die
Erscheinung der Bauten
nichts weiter ist als die Folge davon. Dieser Weg bahnt sich heute
schon sehr deutlich an;
es werden die ersten tastenden Versuche gemacht, die Baublöcke
grundsätzlich
aufzureißen, damit Licht und Luft in die Höfe kommt,
der Unterschied von Hinterfront und
Vorderfront wird verwischt, ja fast in sein Gegenteil verkehrt, indem
die Höfe durch
große Gartenflächen zum besseren Teil werden und die
Straßen nur noch zum Durchlaufen
bleiben. Es gibt schon eine Reihe solcher Beispiele, und das in
Städten, in denen die
Bauordnung das geschlossene Umbauen eines Hofes vorschreibt und wo
jedesmal für das
Aufreißen des Blockes eine besondere Erlaubnis erteilt werden
muß. Ja, es ist schon so
weit, daß die Baupolizei selbst oft das Bestehen einer
solchen Vorschrift für unsinnig
erklärt. Dieser beginnende Vorgang wird zu entscheidenden
Veränderungen des Stadtbildes
führen. Bisher verstand man unter "Stadtbild" hübsch
photographierte Ecken,
Straßen oder Plätze, bald wird man darunter etwas
ganz anderes verstehen, nämlich das,
was man von der Straße aus an hygienischem und sozialem Wert
der Häuser erkennen kann,
und das, was man vom Flugzeug aus sieht. Heute sieht man - ob es nun
Berlin oder eine
andere Großstadt ist - von dort jenes entsetzliche Gewirr von
engen Höfen in Hinter- und
Seitenhäusern, hinter breiten Straßen jene
furchtbaren Schluchten, jene grauenhaften
Rattenlöcher (siehe Gerh. Hauptmann "Die Ratten"). Das neue
Bauen wird aber
weiter um sich greifen, man wird diese Dinge eines Tages nicht mehr
ertragen können und
man wird schließlich dazu schreiten, sie -
niederzureißen.
Unser Weg ist weit, weiter als wir ihn vom Standpunkt des eigenen
Lebens aus übersehen
können. Wir stehen aber nicht mehr ganz an seinem Anfang; die
Generation vor uns erhob
zum erstenmal die leuchtende Fackel, nach kurzem Niederglimmen flammt
ihr Licht jetzt
wieder hell auf und wir wissen, welche Richtung wir einzuschlagen
haben.
DIE ABGEBILDETEN POSITIVEN ARBEITEN (Abbildungen 38-166,
mit Ausnahme von Abbildungen 47-52, 57 und 162/63) STAMMEN VON
FOLGENDEN ARCHITEKTEN:
PETER BEHRENS, Berlin-Wien 89*
VICTOR BOURGEOIS, Brüssel 99, 101
LE CORBUSIER, Paris 104-8
RICHARD DÖCKER, Stuttgart 73, 75
JOSEF FRANK, Wien 68, 137-38
LEOPOLD FISCHER, Dessau (mit LEBERECHT MIGGE, Worpswede)
120—21
KAY FISKER, Kopenhagen 45, 46
WALTER GROPIUS, Dessau 109-11
OTTO HAESLER, Celle 127-30
HARDEVELD, Rotterdam 92, 94
I. F. HOEBEN, Brüssel 97
ARNOLD HOECHEL, Genf 66-67
JOSEF HOFFMANN, Wien 88
H. HOSTE, Brüssel 100
ADOLF LOOS, Wien 37, 159
ANDRÉ LURÇAT, Paris 98, 102-3
H. & W. LUCKHARDT, Berlin 134
ERNST MAY, Frankfurt a. M. (die Frankfurter Bauten mit
RUDLOFF) 70, 74,122-26
LUDWIG MIES VAN DER ROHE, Berlin 153-54
GEORG MUCHE, Dessau 112-13
OELSNER, Altona (mit SCIIRÖDER) 38, 139, 141, 160
I. I. P. OUD, Rotterdam 82-83, 93, 95-96
PAUL PARAVICINI = , Frankfurt a. M. 62
HANS POELZIG, Berlin 39
KARL PREGIZER, Duisburg mit BRÄUHÄUSER und
BÄHR 156-58, 161
ADOLF RADING, Breslau 41
KONRAD RÜHL, Magdeburg (mit GAUGER, OTTO, ZABEL) 135-36, 165
R. M. SCHINDLER, Los Angeles 114-16
KARL SCHNEIDER, Hamburg 63-65
THILO SCHODER, Gera 131-32
FRANZ SCHUSTER, Wien 69
BRUNO TAUT, Berlin 40, 43/44, 59, 61, 72, 76-81, 84 ,117,133,
142-48,152/55,164/66
MAX TAUT, Berlin 53, 54, 140
HEINRICH TESSENOW; Berlin 60
MARTIN WAGNER, Berlin 147, 149, 151, 155
OTTO WAGNER = Wien 85-87
JAN WILS, Haag 90-91
WILLY ZABEL, Magdeburg. 119
* Die Zahlen beziehen sich auf die Abbildungen. |