Bruno Taut (Fortsetzung)

V.     DIE WENDUNG

Das soeben behandelte Gebiet ist bei aller Simplizität vielleicht viel bedeutungsvoller als alles andere. Kann hier doch schon der einfache Baukörper ohne die geringste Zutat alles ausdrücken, was auszudrücken ist; weswegen es auf diesem Gebiet tatsächlich einzelne Beispiele von Häusern gibt, die sich irgendein Arbeitsmann errichtet hat, ganz nach eigenem Entwurf, und die beinahe von Tessenow entworfen sein könnten. Bei diesen Bauten tritt es am allerdeutlichsten zutage, ob die äußere Erscheinung des Hauses dem inneren Gefüge, also dem Grundriß und der gewohnten Konstruktion des Daches entspricht, ob sie also wahr ist. Es kommt ja letzten Endes gar nicht darauf an, ob ein Haus ein flaches oder ein steiles Dach hat. Es kommt allein auf die Wahrhaftigkeit seiner Erscheinung an.
Darüber hinaus aber wirft der Kleinhausbau von selbst die andere Frage auf, die heute das Grundprinzip des Wohnungsbaus für die Masse sein muß. Es ist die allergrößte Sparsamkeit in der Raumlösung und in den Baumaterialien. Für die Grundrißlösung hat sich im Siedlungsbau schon eine gewisse Konvention gebildet, die vor der Erstarrung bewahrt werden muß; bis auf geringe Schwankungen ist seit den ersten vorbildlichen Siedlungen vor dem Kriege eine kleine Zahl von Typen entwickelt worden, die heute nur geringfügig abgewandelt werden und es gestatten, eine kurze übersichtliche Auswahl als Norm zu verwenden. Besonders für das Reihenhaus sind kleine Typen von 4½ bis 6 m Frontbreite entwickelt, die sich selbst in den verschiedenen Gegenden kaum wesentlich, oft leider zu wenig ändern (im Auslande allerdings mehr, entsprechend den veränderten Gewohnheiten). Wenigstens kann die weitere Arbeit auf diesem Gebiet einen stetigen Entwicklungsverlauf nehmen, der darauf zielt, die Wohnung in ihrer Benutzungsweise immer weiter zu verbessern und die Hausarbeit durch eingebaute Kücheneinrichtungen, Schränke usw. zu erleichtern. Von dieser Seite her bildet der ganz prätentionslose Siedlungsbau die Überleitung zur vollkommenen und restlosen Durchbildung der Wohnungsbauten, die zusammenhangslose Kette zu den letzten "modernen" Lösungen, die in ihrer ungewohnten Form das Publikum vielfach erregen. Denn die auf die Ökonomie gerichtete Bestrebung bleibt nicht allein bei der Grundrißlösung stehen; sie muß das Technische und Konstruktive mit in ihr Arbeitsbereich hineinziehen, da die Ersparnis an Baumaterialien neben der Ersparnis im Hauskörper als solchem ungeheuer mitrechnet. Bei allen Ersparnisversuchen auf Grund der bisherigen Maurer- und Zimmermannskonstruktionen kommt man zu der Überlegung, daß der altgewohnte Weg durch die heutigen Leistungen der Technik und Industrie bereits überholt sein könnte. Schon seit langem versuchen einige Architekten und Ingenieure hier durch Anwendung von Materialien der Gegenwart (Schlacken-, Gas-, Bimsbeton, Thermos usw.), durch Veränderung der Dachform und der Dachdeckung neue Wege zum Hausbau unserer eigenen Zeit zu finden (und z. B. den Unsinn unmöglich zu machen, daß man auf ein Stahlplattenhaus ein mittelalterliches Dach aufsetzt u. dgl.). Während noch 1908 der erwähnte Ministerialerlaß vor dem Aufgreifen "großstädtischer Materialien" warnte und solche Versuche als "Geringschätzung der Überlieferung" verurteilte, hat infolge dieser Vorstöße das preußische Wohlfahrtsministerium seit 1920 sich dieser Ersparnisbestrebungen angenommen, eine Reihe Druckschriften darüber erscheinen lassen, und heute wird sogar seitens des Reichsarbeitsministeriums die Frage des Serienbaus auf Grund weniger Typen offiziell verfolgt. Es wird dabei sogar auf unsere alte Forderung eingegangen, die industriemäßige Fabrikation des Hauses probeweise zu untersuchen und womöglich zu gewissen Ergebnissen zu führen (siehe z. B. das Architekturprogramm des Arbeitsrates für Kunst 1919). Die letzte und wichtigste Verbilligung des Massenwohnhauses wird schließlich dann erreicht sein, wenn die Hausteile fertig aus der Fabrik auf die Baustelle kommen und unabhängig vom Wetter aufmontiert werden können. Die gleichmäßige Beschäftigung der Bauarbeiter, deren Tätigkeit bisher nur ein "Saisongewerbe" war, würde erst einen wirklich ökonomischen und großzügigen Wohnungsbau nach einheitlichem Plan gestatten. Sein wesentlichster finanzieller Vorteil liegt vor allem auch darin, die Kapitalien für einen zusammenhängenden und wesentlich umspannenderen Wohnungsbau wirklich planmäßig zu verteilen und den Baugeldzinsverlust durch die abgekürzte Bauzeit aufs äußerste einzuschränken. Die letzte Reduzierung der Wohnungsmieten kann allerdings durch alle noch so weitgehenden technischen Bemühungen nicht erreicht werden; selbst bei einer Ermäßigung der heutigen Baukosten um ein Drittel bleibt die Verringerung der Miete geringfügig, solange die Hypothekenzinsen höher sind, als es berechtigt ist. Diese Frage greift zwar auf ein anderes Gebiet über; es soll aber an dieser Stelle doch mit aller Deutlichkeit ausgesprochen werden, daß man von der Rationalisierung des technischen Teils keine Wunder erwarten darf, wenn nicht auch die Banken und Beleihungsinstitute die gleichen Grundsätze verfolgen.
Was uns hier angeht, so ist es in der Tat der Typenbau der Flachsiedlungen, der alle diese Fragen aufgeworfen hat. Es kommt bei ihm ja nicht so sehr auf das einzelne Haus, sondern vielmehr auf die Aufreihung einer größeren Zahl gleicher Häuser an. Die Schönheit einer Siedlung liegt im wesentlichen in den Zusammenhängen der Gruppen und Reihen; deshalb gaben die schlichten alten Haustypen mit ihren einfachen Giebeln eine gute Anknüpfung. Die Giebel blicken zum nächsten Hause hinüber, schliessen dieses Haus nicht ab, sondern verbinden es als Glied einer Kette mit dem Ganzen, das allein durch seine große Gruppierung und durch seinen Rhythmus zum Gefühl spricht. Die in gleichem Winkel geneigten Dächer und die Anwendung der Farbe im Sinne der melodischen Abtönung des Ganzen sorgen für die letzte Harmonie. Dies sind die unverkennbaren Kennzeichen eines wirklichen Kollektivbaues, eines Bauens, das die Gesamtheit zusammenfaßt und der schönste Ausdruck für überpersönliche Empfindungen ist.

TautBAUEN36.gif (65713 Byte) Abb. 84 SIEDLUNG FREIE SCHOLLE IN TEGEL BEI BERLIN, 1925

Gerade durch die Betonung des Serienbaus hat der Siedlungsbau, wie er bisher behandelt ist, die eigentliche Brücke zu seiner neuen Weiterentwicklung, zur neuen Baukunst geschlagen. Er hat einen besonderen Wert damit, daß er auch dem Nichtfachmann leichte Mittel gibt, um den Wert der Leistung des Architekten zu beurteilen. Jedermann kann hier leicht feststellen, ob ein gesunder Organismus geschaffen worden ist, der sich von schulmäßigen Dogmen und Sentimentalitäten freihält, ob das Ganze im wahren Sinne wohnlich und richtig ist. Er kann es sogar mit dem Rechenstift ausrechnen. Besonders wichtig ist dies aber hinsichtlich der am Anfang erwähnten Mitläuferschaft, welche die sog. neue Baukunst zweifellos im Gefolge haben wird. Es ist ja so einfach, ein flaches Dach zu machen und die holländischen oder sonstigen Äußerlichkeiten an den Mauern anzubringen, die Fenster bündig in der Außenfläche zu setzen, sie mehr breit als hoch zu machen und all dergleichen mehr. Daß sich die neue Baukunst durchsetzen wird, steht außer Frage. Und es wird wichtig genug sein, dann den Wert der Leistungen voneinander unterscheiden zu können. Es ist ja schließlich zu begrüßen, wenn dieser und jener nach einer Richtung hin umsattelt, die er bisher bekämpft hat. Tut er es aus Überzeugung und bemüht er sich, alles aus der praktischen Lösung zu entwickeln, so kann das nur ein Segen für den allgemeinen Bauzustand sein. Aber gerade in Deutschland bildet das oberflächliche Mitläufertum eine besondere Gefahr. In Frankreich z. B. läßt man die neuen Architekten ungestört bauen, wie sie wollen, aber man hütet sich, ihnen auch nur einen Schritt entgegenzukommen und das, was man wirklich kann, was man auf der école des beaux arts gelernt hat, gleich über Bord zu werfen. Bei uns dagegen gibt es nach kurzem Geplänkel sofort eine Masse jener Erscheinungen, die die Äußerlichkeiten dessen, was sie noch eben bekämpft haben, aufgreifen, ohne innere Beziehung dazu anwenden, ob es gerade paßt oder nicht, und infolgedessen das Erreichte in schlimmster Weise kompromittieren, indem weder Publikum noch Behörden sich in der allgemeinen Verwirrung zurechtfinden und entscheiden können, was denn eigentlich gesund ist. Und doch sollte dies gerade beim Wohnhausbau gar nicht so schwer sein. Man braucht ja nur in solche Wohnhäuser hineinzugehen und nachzusehen, ob die sonderbaren Fenster für die Beleuchtung der Zimmer richtig und vorteilhaft sind, ob der Wohnungsgrundriß in seinem Gefüge zu der architektonischen Erscheinung mit einem sachlichen Zwang geführt hat, ob die flache Dachform vom praktischen Gesichtspunkt aus notwendig und vorteilhaft ist und all dergleichen mehr. Werden diese Fragen bejaht, so wird das Äußere als logische Konsequenz daraus nicht allzu schwer verstanden werden; im anderen Fall aber wird man mit Recht seine gefängnisartige, kasernen- und kulissenhafte oder sonstige Erscheinung als modische Heuchelei und theatralisches Getue genau so gut verwerfen wie die bisherigen akademischen Stilnachahmungen; denn es handelt sich hier im Grunde um ein und dasselbe.

TautBAUEN37.gif (40195 Byte) Abb. 85 LANDESIRRENANSTALT IN WIEN, gebaut 1904-05, Wien XIII I 12, Baumgartnerhöhe

Diese Abschweifung vom Serienbau hängt zwar nicht direkt mit der folgenden Darstellung zusammen, hat aber insofern auch dabei eine große Bedeutung, als die heutige neue Baukunst sich keineswegs nach Art dieses Mitläufertums als eine zufällige formale Laune herausstellt, sondern als eine geschichtliche Entwicklung, die weit zurückgreift und weit ausholt.
Die große kollektive Linie des Serienbaus knüpfte nicht ganz zufällig an die Reste alter Baukultur an, die noch bis in die 80er Jahre hinein lebendig waren. Was hier auf dem Gebiet des ländlichen Bauens auftrat, findet durchaus seine Parallele im städtischen Bauen. Bei aller hohlen Pathetik wurde zu Ende des 19. Jahrhunderts die strenge architektonische Gesinnung, die in der trockenen damaligen Renaissance auszusterben schien, doch von einem festgehalten: es war Otto Wagner in Wien, der Gegenpol zu seinem Namensvetter Richard Wagner. Otto Wagner hat in jener Zeit, als der Gefühlsausbruch seine wildesten Triumphe feierte und als nur wenige Baukünstler eine Sublimierung dieser undisziplinierten Gefühle versuchten, als erster und einziger die Linie der Großstadt, die Bedeutung der Geradlinigkeit in Straßenzügen und Bauten und deren kubische Form betont und gelehrt. Der Einzige, der nicht in jener Sturmflut die Besinnung verlor, sondern streng architektonisch in seinem ganzen Denken blieb und eine große Lehre aufstellte, die im Prinzip heute noch alles enthält, was wir jetzt verwirklichen wollen. Er forderte die zusammenfassende kollektive Formung der Stadt und die entsprechende ebenso wissenschaftliche wie geschmackliche Haltung des Architekten, den er auf Grund seiner Lehre mit vollem Recht an die Spitze aller geistigen Kräfte stellen und dessen Kunst er die Königin der Künste nennen konnte. Seine Lehre hatte das gute Recht dazu, denn sie fußte auf dem architektonischen Geist aller Zeiten und sie leuchtete ebenso weit in die Zukunft hinein. Die Entwicklung der Großstadt und ihrer Technik sowie ihre Ausbreitung über das Land war der Inhalt seiner bis heute vollgültigen Vision. Bei seiner frühen historischen Erscheinung konnte er naturgemäß wenig Gelegenheit zur Verwirklichung dieser Anschauungen finden; immerhin zeigt die große Anlage der Irrenanstalt auf der Baumgartnerhöhe bei Wien, die er beeinflußte und deren Kirche er baute, auch heute noch jedem Laien den schönen Einklang von kubischen Baukörpern (und der goldenen Kuppel der Kirche als Bekrönung) mit der Landschaft des Wiener Waldes. Für den Wohnhausbau nimmt sein Wohnhaus in Wien VII, entstanden um die Jahrhundertwende, schon fast alles vorweg, was wir heute gern haben: die einfachen gleichmäßig aufgereihten Fenster mit großen Glasflächen, die horizontale Lagerung der Läden, das Leichtmachen ihrer Stützen und schließlich sogar die Plattenbekleidung der Hauswand, die uns an unsere heutigen Versuche zu einer veränderten Konstruktion erinnert.

BTABB86.gif (115652 Byte) Abb. 86 LANDESIRRENANSTALLT IN WIEN, gebaut 1904-05, Wien XIII I 12, Baumgartnerhöhe
BTABB87.gif (432079 Byte) Abb. 87 OTTO WAGNER, Wohnhaus in Wien VII, 1907-08

Im zweiten Abschnitt wurde gesagt, daß die vorletzte Generation für uns die wichtigere ist; hier sehen wir, daß uns eine direkte Verbindung mit ihr geschaffen worden ist. Otto Wagners Werk und seine Lehre setzte sich in seinen Schülern fort (Josef Hoffmann, Adolf Loos u. a.), doch in Wien schien sie abgerissen zu sein, um sich statt dessen die Welt zu erobern und auf internationalem Boden auszuwirken. Zu ihr trat das große Bekenntnis von der Schönheit der neuen Zweck- und Maschinenform, das van de Velde in herrlichen Worten niederlegte. Für das hier behandelte Thema des Wohnhausbaues ist das Schaffen Frank Lloyd Wrights von großem Einfluß gewesen. Auch von ihm sind geistige Ströme ausgegangen, die bei dem Wiedererwachen des architektonischen Geistes in Holland mitgespielt haben - neben der dortigen tief gehenden Pionierarbeit de Bazels und vor allem des bahnbrechenden H. P. Berlage. Von dem erstaunlichen Aufschwung in Holland ist bereits gesprochen worden; das Schönste an dieser Erscheinung ist, daß sie in keiner Engherzigkeit befangen blieb, daß sie keinem Schlagwort einseitig folgte, sondern die verschiedenartigsten Temperamente im Sinne wahrhaft baumeisterlicher Arbeit zur Entfaltung brachte.

BTABB88.gif (202633 Byte) Abb. 88 JOSEF HOFFMANN, SANATORIUM PURKERSDORF, um 1910
BTABB89.gif (384469 Byte) Abb. 89 PETER BEEHREND, SIEDLUNG DER AEG IN HENNIGSDORF, um 1917 erste Schlackenbetonbauten

Was als bestes Resultat dasteht, ist ein Ergebnis des Suchens nach der werkgerechten Form, nach der Harmonie von innerem Gefüge und neuem konstruktivem Aufbau, ganz gleich, ob es sich um Stockwerksbauten oder Siedlungs¬bauten handelt, jedenfalls mit einer Entschlossenheit und von einem wahren Baugeist beseelt, der jetzt schon kunstgeschichtlich als ein Ereignis erster Ordnung gelten kann.

BTABB90.gif (226031 Byte) Abb. 90 "DAAL EN BERG" IM HAAG, 1920
BTABB91.gif (238127 Byte) Abb. 91 PAPAVERHOF IM HAAG, 1920
BTABB92.gif (529150 Byte) Abb. 92 S' HERTOGENBOSCH, BETONSIEDLUNG 1924/1925
BTABB93.gif (376549 Byte) Abb. 93 TUSCHENDYKEN, INNENHOF, ROTTERDAM
BTABB94.gif (156425 Byte) Abb. 94 BETONWOHNHÄUSER ROTTERDAM 1922
BTABB95.gif (97426 Byte) Abb. 95 TUSCHENDYKEN, 1920, GYSINGSTRAAT, ROTTERDAM
BTABB96.gif (235106 Byte) Abb. 96 TUSCHENDYKEN (1920) TAANDERSTRAAT, ROTTERDAM
BTABB97.gif (117150 Byte) Abb. 97 RRÜSSEL, WOHNHAUS
BTABB99.gif (426340 Byte) Abb. 98 HOTEL PARTICULIER DE MONSEUR I. L. PARIS CITÉ SEURAT, ENTREE, 1924/25
BTABB98.gif (326243 Byte) Abb. 99 LA CITÉ MODERNE, RRÜSSEL
BTABB100.gif (163134 Byte) Abb. 100 BRÜSSEL, WOHHAUS
BTABB101.gif (352096 Byte) Abb. 101 LA CITE MODERNE, BRÜSSEL, 1922
BTABB102.gif (478124 Byte) Abb. 102 HOTEL PARTICULIER DE MADAME E. B. JARDIN, PARIS, CITE SEURAT 1925
BTABB103.gif (459144 Byte) Abb. 103 HOTEL PARTICULIERS DE MADAME A. Q; & DE MONSIEUR I. L., PARIS, CITÉ SEURAT 1924/25
BTABB104.gif (242632 Byte) Abb. 104-108. ARBEITERSIEDLUNG PESSAC BEI BORDEAUX, 1926
BTABB105.gif (193202 Byte)
BTABB106.gif (192203 Byte) 
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BTABB108.gif (232890 Byte) 

Von großem Interesse sind die Erklärungen, die der Architekt selber abgegeben hat, als im Mai 1926 der französische Kultusminister De Monzie die im Bau befindliche Siedlung besichtigte. Er sagte etwa folgendes.
Herr Frugès erklärte mir: "Ich autorisiere Sie, Ihre Theorie in der Praxis bis zum Äußersten durchzusetzen; ich wünsche zu wirklich umwälzenden Ergebnissen auf dem Gebiete der Reform des billigen Wohnungsbaues zu kommen: Pessac muß ein Laboratorium werden. Ich bevollmächtige Sie, vollständig mit allen seitherigen Konventionen zu brechen, alle bisherigen Methoden zu verlassen; kurz gesagt: Ich fordere von Ihnen, daß Sie in Bezug auf den Grundriß des Wohnhauses eine Normallösung finden. Die Mauern, Balken und Dächer usw. sollen von den besten Qualitäten sein und Sie sollen zur Herstellung derselben Maschinen benutzen, die ich Sie hiermit bevollmächtige zu kaufen, um hierdurch ein wirkliches Taylorsystem zu ermöglichen. Die Häuser sollen im Innern derart ausgebaut werden, daß das Wohnen in diesen Räumen leicht und angenehm ist. Die Ästhetik dieser Räume soll sich grundsätzlich von unseren bisherigen traditionellen Wohnungen unterscheiden. Ihr Bau und ihre Unterhaltung dürfen nicht mehr kostspielig sein, ihr Ausdruck soll rein und wahr in der Proportion und zeitgemäß sein."

Mit infolge dieses imposanten Geschehens ist eine internationale architektonische Bewegung in Fluß gekommen, die offensichtlich immer weiter um sich greift. Ihre Erscheinungen in Polen, Böhmen, Rußland oder Belgien und Frankreich sind zwar ähnlich im Wesen, wie es jeder frühere Baustil ebenfalls war, doch national je nach dem Boden, auf dem sie wachsen, gefärbt, teils auch in ihren Symptomen klimatisch zu erklären, wie besonders in Frankreich. Die deutschen Arbeiten beruhen trotz der Einflüsse von außen her doch mehr oder weniger auf den Leistungen ihrer Vorgänger, der van de Velde, Peter Behrens, Poelzig usw., wie andrerseits auch einige Architekten dieser Art Schüler Theodor Fischers und Alfred Messels sind und von ihrem Meister nicht gelernt haben, "wie er sich räuspert und wie er spuckt", sondern die Sorgfalt und unermüdliche Durchbildung jeder kleinen Einzelheit. Die vielfache Nuancierung dieser Arbeiten gibt diese verschiedenen Einflüsse wieder; trotzdem vereinigt sie alle die unbedingte Bemühung um eine einfache, übersichtliche und saubere Bauform. Man kommt allmählich darauf zurück, dem Wohnhaus seine ihm zukommende Stellung zuzuweisen, die im einzelnen eine bescheidene, für das Ganze aber wiederum eine ungeheuer bedeutungsvolle ist. Das Erkennen der Grenzen jeder Aufgabe ist allein schon ein großer Gewinn. Daneben aber liegt hierin die eigentliche Einsicht in das Ökonomische der Sache enthalten.

BTABB109.gif (264593 Byte) 
BTABB110.gif (289754 Byte) Abb. 109 und 110 MEISTERHÄUSER BAUHAUS DESSAU,1926
BTABB111.gif (107806 Byte) Abb. 111 SIEDLUNG TÖRTEN, DESSAU 1926/27, im Bau (Beton)
BTABB112.gif (206508 Byte) 
BTABB113.gif (143925 Byte) Abb. 112 und 113 STAHLHAUS, SIED LUNG TÖRTEN, DESSAU
BTABB114.gif (214958 Byte) Abb. 114-116 LA JOLLA, CALIFORNIEN. S0MMIERHÄUSER IN GUSSBETON AM MEERE 11926. (Nach NEUTRA "Wie baut Amerika". Verlag Julius Hoffmann, Stuttgart.)
BTABB115.gif (323622 Byte) 
BTABB116.gif (306223 Byte) 
BTABB117.gif (240118 Byte) Abb. 117 SIEDLUNG DER GEHAG IN ZEHLENDORF BEI BERLIN, 1926/27, im Bau
BTABB118.gif (248196 Byte) Abb. 118 SIEDLUNG DER GEHAG IN ZEHLENDORF BEI BERLIN, 1926/27, im Bau, vgl. Abb. 166
BTABB119.gif (409986 Byte) Abb. 119 SIEDLUNG IN MAGDEBURG, 1925/26
BTABB120.gif (329193 Byte) Abb. 120 SIEDLUNG DESSAUZIRBIGK, 1926/27, IM BAU

Wir sind schon dabei, in einigen Beispielen großer zusammenhängender Komplexe die Folgerungen aus dieser Einsicht in bezug auf Serienbau, Konstruktion, Normierung und Handhabung des Bauplatzes sowie seiner Einrichtung zu ziehen: das erste Korn der Lawine ist ins Rollen gekommen. Über alle Verunstaltungsfanatiker und Heimatschützler hinweg bricht sich die Wahrheit Bahn, ja sogar darin, daß die neuen Bauten auch mit flachem Dach sich der Landschaft vorzüglich einfügen und sogar dieser Landschaft oft erst zu ihrem Recht verhelfen, wo die Mützendächer und die überspitzten Giebel eine schreckliche Zappelei hineinbrachten.

BTABB121.gif (62023 Byte) Abb. 121 SIEDLUNG DESSAU-ZIEBIGK, 1926/27, IM BAU
BTABB122.gif (387575 Byte) Abb. 122 FLIEGERBILD DER SIEDLUNG BUCHFELDSTRASSE NIEDERRAD FRANKFURT A. M. 1926/27
BTABB123.gif (108270 Byte) Abb. 123 STRASSENANSICHT ZU BILD 122
BTABB124.gif (455904 Byte) Abb. 124 GESAMTANSICHT DER SIEDLUNG PRAUNHEIM BEI FRANKFURT A.M. 1926/27
BTABB125.gif (143160 Byte) Abb. 125 FLIEGERBILD DER SIEDLUNG PRAUNHEIM
BTABB126.gif (130081 Byte) Abb. 126 FRANKFURT A.M. SIEDLUNG HÖHENBLICK
BTABB127.gif (253321 Byte) Abb. 127-129 SIEDLUNG GEORGESGARTEN IN CELLE 1926
BTABB128.gif (182180 Byte) 
BTABB129.gif (74773 Byte) 
BTABB130.gif (136430 Byte) Abb. 130 SIEDLUNG ITALIENISCHER GARTEN IN CELLE BEI HANNOVER, 1924
BTABB131.gif (213075 Byte) Abb. 131 und 132 SIEDLUNG IN HELMSTEDT IN THÜRINGEN, 1925/26
BTABB132.gif (398543 Byte) 
BTABB133.gif (523968 Byte) Abb. 133 BAUBLOCK AM SCHILLERPARK IN BERLIN N, 1924/25
BTABB134.gif (96177 Byte) Abb. 134 WOHNHAUSGRUPPE IN DAHLEM, SCHORLEMER ALLEE, 1924
BTABB135.gif (275676 Byte) Abb. 135/136 SIEDLUNG AN DER GR: DIESDORFERSTRASSE IN MAGDEBURG, 800 Wohnungen, Baubeginn 1924, vgl. Abb. 165
BTABB136.gif (73769 Byte) 
BTABB137.gif (97615 Byte) Abb. 137 WOHNHAUS DER GEMEINDE WIEN XVII, 1924, NORDSEITE
BTABB138.gif (321942 Byte) Abb. 138 WOHNHAUS DER GEMEINDE WIEN XVII, 1924, SÜDSEITE
BTABB139.gif (319770 Byte) Abb. 139 STÄDT. BAUBLOCK, ALTONA, HELMHOLTZSTRASSE, 1926.
BTABB140.gif (330466 Byte) Abb. 140 BUCHDRUCKERHAUS BERLIN-TEMPELHOF, DREIBUNDSTRASSE, 1925
BTABB141.gif (251993 Byte) Abb. 141 STÄDT. BAUBLOCK, ALTONA, SCHÜTZENSTRASSE, 1926
BTABB142.gif (386174 Byte) Abb. 142 BAUBLOCK NEUKÖLLN, LEINESTRASSE,1925/26
BTABB143.gif (201541 Byte) Abb. 143 HOF ZU ABB. 142 (HOFEINRICHTUNG UNFERTIG)
BTABB144.gif (120405 Byte) Abb. 144 und 145 BAUBLOCK BERLIN-WEISSENSEE, BUSCHALLEE, 1926
BTABB145.gif (231310 Byte) Abb. 144 HOF ZU ABB. 145
BTABB146.gif (801759 Byte) Abb. 146 BLOCK WEISSENSEE, TRIERERSTR: 1926, vgl. Abb. 164
BTABB147.gif (209594 Byte) Abb. 147 GEHAG-SIEDLUNG BRITZ, 1925/26, 1000 Wohnungen
BTABB148.gif (124204 Byte) Abb. 148 GANZE  FRONT zu Abb. 150
BTABB149.gif (241491 Byte) Abb. 149 GEHAG-SIEDLUNG BERLIN-BRITZ, Nordstraße
BTABB150.gif (232822 Byte) Abb. 150 BERLIN-BRITZ, FRONT AM GRÜNEN RING
BTABB151.gif (193399 Byte) Abb. 151 GEHAG-SIEDLUNG BRITZ
BTABB152.gif (464735 Byte) Abb. 152 "HUFEISEN" IN BRITZ (Gartenanlage fehlt)
BTABB153.gif (122683 Byte) Abb. 153 und 154 BAUBLOCK AFRIKANISCHE STRASSE IN BERLIN, 1926
BTABB154.gif (233076 Byte) 
BTABB155.gif (280686 Byte) Abb. 155 GEHAG-SIEDLUNG BRITZ, Hufeisen, - Gärten und Straßen unfertig
BTABB156.gif (146080 Byte) Abb. 156 DICKELSBACHSIEDLUNG DUISBURG, 1926/27, im Bau
BTABB157.gif (55006 Byte) Abb. 157, 158, 161 DICKELSBACHSIEDLUNG DUISBURG, 1926/27, im Bau
BTABB158.gif (72385 Byte) 
BTABB161.gif (148562 Byte) 
BTABB159.gif (168873 Byte) Abb. 159 BAUBLOCK DER STADT WIEN
BTABB160.gif (166454 Byte) Abb. 160 STÄDT: BAUBLOCK, ALTONA, HELMHOLTZSTRASSE, ERBAUT 1926

Wir sind glücklich so weit, auch die Frage der Dachform ohne Voreingenommenheit nach ihrer technischen und ökonomischen Seite hin zu untersuchen und uns allein danach zu entscheiden. Beim Stockwerkshause mit drei Geschossen und mehr bietet das flache Dach so große Vorteile, daß es dort selbstverständlich sein sollte, wie ja auch die Bauunternehmer vor dem Kriege die Mietskasernen ebenso behandelt haben, nur daß sie aus "Schönheitsgründen" ein krüppelhaftes steiles Scheindach an der Front vor die große flache Dachfläche vorstülpten. Das größere Mietshaus braucht im Dach eine Anzahl Bodenkammern, die Waschküche und den Trockenboden, also die volle Fläche, die bei spitzem Dachanlauf zum Teil verloren geht. Außerdem müssen die Schornsteine dabei sehr hoch geführt werden, es sind eine Menge Dachanschlüsse, Dachaufbauten u. dgl. notwendig, so daß mit der viel komplizierteren Zimmermannskonstruktion und der Dachdeckung erheblich höhere Kosten gegenüber dem flachen Dach mit seiner einfacheren Ausbesserungsmöglichkeit entstehen. Beim kleinen Hause ist diese Frage noch nicht so eindeutig entschieden. Doch gibt es auch hier schon eine Anzahl Meinungen, die sich für eine Verbilligung durch das flache Dach aussprechen (in der Bauwelt Nr. 37/1926 hat Stadtbaurat Kleefeld die Ersparnis bei Verwendung von Betonbau und massiven Decken unter dem flachen Dach auf 18 % der gesamten Baukosten berechnet). Aber selbst wenn auch hier keine einseitig entschiedene Antwort gefunden werden sollte, so wäre das noch kein Schaden. Es muß durchaus nicht sein, daß sämtliche Bauten, die wir um uns sehen, einem Schema folgen. Das sichtbare und das flache Dach sind durchaus keine Gegensätze, die sich nicht vertragen, im Gegenteil kann die Verwendung beider Elemente eine Bereicherung bedeuten. Der Gegensatz liegt allein in der architektonischen Haltung: ein Haus mit flachem Dach kann ebenso leicht aufgeblasen und unwahr aussehen wie ein Haus mit sichtbarem Dach knapp, klar und von größter Bestimmtheit. Das Verbindende liegt eben allein in der Gesamthaltung, die ihren Ursprung in der grundsätzlichen Durchbildung des Hauskörpers und seines Grundrisses hat. Dasselbe gilt natürlich auch für die Farbe, die von der völligen Abstinenz bis zur stärksten Verwendung ebenfalls ein Zeichen ein und derselben Gesinnung oder des gleichen Sauberkeitsgefühls sein kann.

BTABB162.gif (55374 Byte) Abb. 162 VERGLEICHENDE DACHQUERSCHNITTE

Von der Architektur zu reden, gilt allgemein als eine mehr oder weniger harmlose Unterhaltung, als eine Art Teegespräch über Ästhetik. Doch geht die Sache schon mehr an den Nerv, wenn die Baukosten gestreift WERDEN *), und noch mehr, wenn mit der Architektur die Güte der Wohnungen, die hinter dieser Architektur stecken, auf eine Stufe gestellt wird.
Diese Parallele ist hier des öfteren gezogen worden, doch soll zum Schluß noch auf ein Kennzeichen hingewiesen werden, das die Eigenschaft jedes Architekten ist, der eine neue Gestaltung seiner Bauten sucht. Es liegt darin, daß kein solcher Architekt sich mit den vorhandenen Grundrißlösungen zufrieden geben kann. Wir wissen alle, daß unsere Gegenwart noch erst die Art und Weise finden muß, wie man am besten wohnt. Wir wissen deshalb, daß auf dem Gebiet des Wohnungsbaues hierin allein, d. h. im Suchen nach dem besseren Wohnungsgrundriß die Aufgabe des wirklichen Architekten liegt. Ist es darum schon ein Kriterium für die vorhandenen Bauten, ob in ihnen diese Frage wenigstens einen kleinen Schritt weitergeführt ist, so liegt für die an der Zukunft Arbeitenden darin das alleinige Urteilsmaß ihrer Projekte und Zeichnungen. Nicht, wie hübsch die Fassade oder das Schaubild ist, sondern wie die bisherigen Erfahrungen weitergeführt und sich zu neuen berechtigten Forderungen kristallisiert haben - das allein ist der einzige Maßstab des Urteils.

BTABB163.gif (64815 Byte) Abb. 163 AUFGESCHWMMTER GRUNDRISS MIT CHARAKTERISTISCHER VERGEUDUNG VON "TOTEM" RAUM

*) Besonders dann, wenn die "Wirtschaftlichkeit" gar nicht vom Standpunkt des Produzenten, sondern allein von dem des Konsumenten untersucht wird. Wohnungsmiete und Baukosten nach dem Kubikmeter des gesamten Baukörpers sind durchaus nicht immer parallellaufende Zahlen. Ein Grundriß kann unnötige "tote" Räume (Korridore usw.) haben, wodurch die Baukosten zwar, auf den Kubikmeter bezogen, billiger, für die ganze Wohnung aber teurer werden, also den Mieter belasten. Trotzdem bei einem guten Grundriß der Kubikmeter umbauten Raumes vielleicht M 29.- gegenüber M 27.- bei einem schlechteren kosten kann, weil eben die Zwischenwände bei Küche, Bad, Korridor kleine Abstände voneinander haben und sonst die Ausstattung besser ist - trotzdem können gleichwertige 2-Zimmerwohnungen in der Miete bis zu M 10.- monatlich verschieden sein. Der aufgeschwemmte Grundriß ist ökonomischer vom Standpunkt desjenigen Unternehmers, der mit dem niedrigen Kubikmeterpreis paradieren will, der auf Raumersparnis durchdachte dagegen vom Standpunkt des Mieters. Es brauchen nicht beide Interessen zu kollidieren; doch liegt - das kann nicht bestritten werden - oft genug der schlechte Grundriß im Interesse von Unternehmern, weshalb z. B, auch gerade aus ihren Kreisen heraus die Unzufriedenheit des harmlosen Publikums gegen kleine Räume geschürt wird. Denn natürlich kostet ein Schlafzimmer von 22 Quadratmetern weniger im Bau als zwei kleine von je 11 Quadratmetern. Im ersten Fall schlafen vielleicht 4 bis 5 Personen zusammen, in dem anderen je 2 und 2 bis 3 getrennt. Der Unternehmer dieser Art aber sagt: ich baue euch "schöne" große Räume und dazu billiger. - So zeigt sich, daß die Qualitätsleistung des Architekten sogar mit "wirtschaftlicher" Begründung bedroht wird und, worauf es hinauskommt, damit auch die entsprechende Gestaltung. Die ehrliche Baukunst hat die ehrliche Wirtschaft zum Bundesgenossen, während die Kehrseite der ehrlichen Wirtschaft ihr grimmigster Feind ist.

Abb. 164 - 166 DURCHGEARBEITETE GRUNDRISSE
BTABB164_1.gif (105735 Byte) Abb. 164 (Gehag Weißensee)
BTABB164_2.gif (58363 Byte) Abb. 165. (Stadterweiterungsamt Magdeburg)
BTABB164_3.gif (75344 Byte) Abb. 166. (Gehag Zehlendorf)

Ob und wieweit es gelungen ist, einen Einblick in den Wohnungsbau der Gegenwart und damit den wichtigsten Teil der gesamten Bautätigkeit von heute zu geben, wird der Leser entscheiden. Wenn er veranlaßt wird, manches, das er bisher für schön und auf der andern Seite für häßlich hielt, unter die Lupe zu nehmen, so ist der Zweck dieser Schrift erfüllt. Man kann das Gebiet auch selbst in dieser Fassung des Themas nicht erschöpfen und man kann den Begriff des Architektonischen letzten Endes nicht durch Bilder fassen. Man kann höchstens auf eine gewisse verbindende Linie hinweisen, die eine Zeiterscheinung durchzieht. Wichtig ist dabei, die Überbrückung der Grenzen zwischen Stadt und Land zu beachten, die wohl das Kennzeichen der nächsten Entwicklung sein wird. Wir sahen, daß vom Bauernhaus über den Siedlungsbau eine unmittelbare Verbindung zum modernen Serienbau führt, wir sahen, daß seine Quellen sogar zeitlich mit jenen zusammenfallen, die zur Erneuerung des städtischen Wohnhauses führten. Diese von dem Großstadtgedanken ausgehende Erneuerung führte in einer zusammenhängenden Linie wiederum bis zum Siedlungshause und seinem Serienbau, so daß sich also in den Erscheinungen der neuen Baukunst tatsächlich schon eine Einigung von Stadt und Land vollzieht. Es ist ein Band gegenseitiger Auffrischung und Erneuerung, ein pulsierender Blutstrom von den stillsten Landschaftsgegenden her bis in das Innere der Städte hinein und ebenso zurück. Diese Tatsache kann uns die Gelassenheit des unbeirrten Weiterarbeitens geben; sie trägt die Ruhe der sicheren Hoffnung in sich.

Wir Bauenden haben einen einfachen geraden Weg vor uns. Wohin er führt, ist nicht genau zu umreißen, wenn man nicht Prophet spielen will. Wir stellen unseren Beruf wieder auf die Basis des allgemein Vernünftigen und, wenn man will, Menschlichen. Hier gibt es keine Begriffsspaltungen und Klügeleien. Hier gibt es nicht den Künstler auf der einen Seite und den Techniker und Konstrukteur oder den Rechner auf der anderen Seite, sondern hier ist eins mit dem anderen unlöslich verbunden. Selbst da, wo sich die Fähigkeiten des Einzelnen in einer besonderen Richtung entwickeln, muß dies im Zusammenhang mit dem Ganzen geschehen und kann nur das Glied einer Kette sein. Für uns ist das Bauen keine Bauerei mehr, etwa in dem Sinne, wie das Malen zur Malerei wurde. Wir wollen unter keinen Umständen unsere Häuser so bauen, daß sie nachher in einem gerahmten Bilde hübsch aussehen, daß also aus Bauen Bauerei und schließlich Malerei wird. Ebenso wie die Malkunst an Stelle des Begriffs Malerei den Rahmen des einzelnen Bildes sprengt und alles umfaßt, was nur irgend mit der Farbe und ihrer Anwendung zu schaffen hat, ebenso weit spannt sich unser Beruf, sobald wir an Stelle des bisherigen Wortes und Begriffes Architektur oder Bauerei die Baukunst oder das Bauen setzen.
Wie weit diese veränderte Berufsauffassung in Parallele zu den überberuflichen sozialen Geschehnissen und denen der sich verändernden Wirtschaftsstruktur tritt, ja, wie weit sie in ihrer eigenen Formveränderung der allgemeinen Entwicklung sogar schon voraneilt, zeigte sich aus der Überbrückung der Grenzen von Stadt und Land. Infolge unserer gesamten Entwicklung auf dem Gebiete des Verkehrs, der Gütererzeugung im gewerblichen, industriellen und landwirtschaftlichen Leben und der veränderten sozialen Schichtung hat die Abgrenzung der einzelnen Stadtgebiete heute keinen Sinn mehr. Das ist nach und nach schon zu einem Besitz des allgemeinen Denkens und Wissens geworden. - Jede einzelne Stadt muß bei ihren Ausbreitungsplänen mit dem umliegenden Lande rechnen. Und die Großstadt kann die Linie ihrer weiteren Entwicklung nur noch aus den Beziehungen zum ganzen Lande und darüber hinaus zu ihrer Verflochtenheit im Weltverkehr erkennen. Früher beschäftigte sich der "Städtebau" mit der Ausbildung und Lösung einzelner Straßen und Plätze und schließlich auch einzelner Gebiete. Heute ist er längst über diese Fassung hinausgekommen - er ist zu einer Wissenschaft geworden, zur sogenannten Landesplanung, d. h. der Städtebau sucht die praktischen Ergebnisse aus der vorhin entwickelten Erkenntnis zu ziehen. Ein großer Gegensatz zwischen der Zeit vor 50Jahren und heute: damals wurde die Stadt noch als eine von Mauern und Festungswällen umgebene Häusermasse betrachtet, heute dagegen bedeutet sie einen Zusammenfluß von den weitesten Landgebieten her und ein Ausströmen in diese zurück, ein lebendes Wesen, das wie ein Polyp seine Fühler weit ausstreckt und dessen Lebenselement diese Fühler in dem weiten Lande suchen müssen; - und diese neue Betrachtungsweise kommt nicht etwa aus ästhetischen Erwägungen, sondern solchen Erwägungen oft geradezu entgegengesetzt aus dem Zwang des Geschehens, aus der Erkenntnis der Wirklichkeit und aus der Notwendigkeit, diese Tatsachen in eine vernünftige und menschenwürdige Form zu fassen.
Solche die Form des Menschendaseins völlig verändernden Entwicklungen können nicht an der Oberfläche bleiben, selbst wenn die Gewohnheit sich noch so sehr gegen die Folgerungen auf baulichem Gebiet wehrt. Sie greifen an den Nerv der Völker und erzwingen unerbittlich ihre Konsequenzen.
Wie sich äußerlich die Grenzen zwischen Stadt und Land verwischen, so wird dies auch im Innern der Stadt in Erscheinung treten. Luft, Licht und Grün werden die Stadt durchspülen, sie wird wie ein Filter sein und wird dies in deutlichster Weise zeigen, wenn man nach Ablauf einer Generation mit dem Flugzeug über sie hinwegfahren wird. Es kommt dabei nicht auf die Höhe der Gebäude an; doch werden die neuen Wohngebiete ganz bestimmt zu einer völlig anderen als der heutigen Anordnung gebracht werden, in der die hygienische und soziale Seite die erste Rolle spielt und in der die Erscheinung der Bauten nichts weiter ist als die Folge davon. Dieser Weg bahnt sich heute schon sehr deutlich an; es werden die ersten tastenden Versuche gemacht, die Baublöcke grundsätzlich aufzureißen, damit Licht und Luft in die Höfe kommt, der Unterschied von Hinterfront und Vorderfront wird verwischt, ja fast in sein Gegenteil verkehrt, indem die Höfe durch große Gartenflächen zum besseren Teil werden und die Straßen nur noch zum Durchlaufen bleiben. Es gibt schon eine Reihe solcher Beispiele, und das in Städten, in denen die Bauordnung das geschlossene Umbauen eines Hofes vorschreibt und wo jedesmal für das Aufreißen des Blockes eine besondere Erlaubnis erteilt werden muß. Ja, es ist schon so weit, daß die Baupolizei selbst oft das Bestehen einer solchen Vorschrift für unsinnig erklärt. Dieser beginnende Vorgang wird zu entscheidenden Veränderungen des Stadtbildes führen. Bisher verstand man unter "Stadtbild" hübsch photographierte Ecken, Straßen oder Plätze, bald wird man darunter etwas ganz anderes verstehen, nämlich das, was man von der Straße aus an hygienischem und sozialem Wert der Häuser erkennen kann, und das, was man vom Flugzeug aus sieht. Heute sieht man - ob es nun Berlin oder eine andere Großstadt ist - von dort jenes entsetzliche Gewirr von engen Höfen in Hinter- und Seitenhäusern, hinter breiten Straßen jene furchtbaren Schluchten, jene grauenhaften Rattenlöcher (siehe Gerh. Hauptmann "Die Ratten"). Das neue Bauen wird aber weiter um sich greifen, man wird diese Dinge eines Tages nicht mehr ertragen können und man wird schließlich dazu schreiten, sie - niederzureißen.
Unser Weg ist weit, weiter als wir ihn vom Standpunkt des eigenen Lebens aus übersehen können. Wir stehen aber nicht mehr ganz an seinem Anfang; die Generation vor uns erhob zum erstenmal die leuchtende Fackel, nach kurzem Niederglimmen flammt ihr Licht jetzt wieder hell auf und wir wissen, welche Richtung wir einzuschlagen haben.

DIE ABGEBILDETEN POSITIVEN ARBEITEN (Abbildungen 38-166, mit Ausnahme von Abbildungen 47-52, 57 und 162/63) STAMMEN VON FOLGENDEN ARCHITEKTEN:
PETER BEHRENS, Berlin-Wien 89*
VICTOR BOURGEOIS, Brüssel 99, 101
LE CORBUSIER, Paris 104-8
RICHARD DÖCKER, Stuttgart 73, 75
JOSEF FRANK, Wien 68, 137-38
LEOPOLD FISCHER, Dessau (mit LEBERECHT MIGGE, Worpswede) 120—21
KAY FISKER, Kopenhagen 45, 46
WALTER GROPIUS, Dessau 109-11
OTTO HAESLER, Celle 127-30
HARDEVELD, Rotterdam 92, 94
I. F. HOEBEN, Brüssel 97
ARNOLD HOECHEL, Genf 66-67
JOSEF HOFFMANN, Wien 88
H. HOSTE, Brüssel 100
ADOLF LOOS, Wien 37, 159
ANDRÉ LURÇAT, Paris 98, 102-3
H. & W. LUCKHARDT, Berlin 134
ERNST MAY, Frankfurt a. M. (die  Frankfurter Bauten mit RUDLOFF) 70, 74,122-26
LUDWIG MIES VAN DER ROHE, Berlin 153-54
GEORG MUCHE, Dessau  112-13
OELSNER, Altona (mit SCIIRÖDER) 38, 139, 141, 160
I. I. P. OUD, Rotterdam 82-83, 93, 95-96
PAUL PARAVICINI = , Frankfurt a. M. 62
HANS POELZIG, Berlin 39
KARL PREGIZER, Duisburg mit BRÄUHÄUSER und BÄHR 156-58, 161
ADOLF RADING, Breslau 41
KONRAD RÜHL, Magdeburg (mit GAUGER, OTTO, ZABEL) 135-36, 165
R. M. SCHINDLER, Los Angeles 114-16
KARL SCHNEIDER, Hamburg 63-65
THILO SCHODER, Gera 131-32
FRANZ SCHUSTER, Wien 69
BRUNO TAUT, Berlin 40, 43/44, 59, 61, 72, 76-81, 84 ,117,133, 142-48,152/55,164/66
MAX TAUT, Berlin 53, 54, 140
HEINRICH TESSENOW; Berlin  60
MARTIN WAGNER, Berlin 147, 149, 151, 155
OTTO WAGNER = Wien 85-87
JAN WILS, Haag 90-91
WILLY ZABEL, Magdeburg. 119
* Die Zahlen beziehen sich auf die Abbildungen.