DAS FELD, DIE FABRIK UND DIE WERKSTATT
Von Peter Kropotkin, Berlin 1901
Letzte Auflage bei Paul Cassirer, Berlin 1919
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Die gegenwärtige Tendenz der Menschheit geht dahin, eine
möglichst weitgehende
Mannigfaltigkeit der Industrien Seite an Seite mit der Landwirtschaft
in jedem Lande, in jeder einzelnen Provinz beisammen zu
haben.
Die Bedürfnisse der Gemeinschaften entsprechen so
den Bedürfnissen der Einzelnen, und während eine
vorübergehende
Teilung der Tätigkeiten am sichersten den Erfolg eines
einzelnen Unternehmens verbürgt, ist die dauernde
Teilung zum Untergang verdammt und muß durch eine
Mannigfaltigkeit von
Betätigungen .. geistigen, industriellen, landwirtschaftlichen
.. ersetzt werden, entsprechend den verschiedenen
Fähigkeiten des Einzelmenschen und ebenso
den mannigfaltigen Fähigkeiten innerhalb jeder
Menschengemeinschaft.
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12
Die politische Ökonomie hat bisher
hauptsächlich die Teilung betont. Wir
verkünden
die Vereinigung, die Integrierung, .und wir behaupten, daß
das
gesellschaftliche Ideal -. das heißt der
Zustand, zu dem die Gesellschaft bereits unterwegs ist -. eine
Gesellschaft mit
vereinter Arbeit ist; eine Gesellschaft, wo jeder Einzelne zugleich
geistig und körperlich arbeitet; wo jeder Taugliche
ein Arbeiter ist und jeder Arbeiter sowohl
im Feld wie in der industriellen Werkstatt arbeitet; wo jede
Gemeinschaft von Menschen, die groß
genug ist, über eine gewisse Mannigfaltigkeit
natürlicher Hilfsmittel zu
verfügen - sei es ein Volk oder nur ein Stamm .- den
größten Teil seiner
landwirtschaftlichen und industriellen
Produkte selbst herstellt und selbst verbraucht. Solange
natürlich die Organisation der Gesellschaft
so bleibt, daß es den Grundbesitzern und
Kapitalisten erlaubt ist, sich unter dem Schutz des Staates und der
historischer Rechtseinrichtungen den
jährlichen Mehrwert der menschlichen Arbeitskraft
anzueignen,
kann keinerlei Anderung der Art von Grund aus
durchgeführt werden. _ Aber das
gegenwärtige industrielle System, das auf eine fortgesetzte
Spezialisierung
der Tätigkeiten gegründet ist, trägt bereits
die Keime seines eigenen
Untergangs in sich. Die industriellen
Krisen, die heftiger und ausgedehnter werden und die durch die
Rüstungen und Kriege, die das jetzige System
bedingt,
noch schlimmer und heftiger werden, erschweren seinen Bestand mehr und
mehr.
Außerdem bekunden die Arbeiter die
deutliche Absicht, das Elend, das jede Krise mit sich bringt, nicht
länger geduldig zu ertragen. Und jede
Krise bringt den Tag schneller heran, wo die gegenwärtigen
Einrichtungen des
Privateigentums und der Privatproduktion in ihren Grundlagen
erschüttert werden, und zwar unter innern
Kämpfen, deren
Heftigkeit von der größeren oder
geringeren Einsicht der jetzt privilegierten Klasse abhängen
wird.
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Jedes Volk sein eigener Landwirt und Fabrikant;
jedes Individuum Feldarbeiter und irgend
wie Techniker; jedes Individuum im Besitz wissenschaftlicher Kenntnisse
und handwerklichen Könnens -- dies ist
nach unserer Behauptung die gegenwärtige Tendenz der
Kulturvölker.
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Es wäre ein grober Irrtum, wenn man annehmen
wollte, die Abnahme der ausländischen
Einfuhr sei hauptsächlich hohen Schutzzöllen
zuzuschreiben. Die Abnahme
der Einfuhr ist viel besser mit dem Wachsen der heimischen Industrien
zu
erklären.
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Der Grund: billige Arbeitskräfte, der in
Diskussionen über die „deutsche
Konkurrenz",
die in England und Frankreich geführt werden,
so oft angeführt wird, muß jetzt wegfallen, da viele
neuere Untersuchungen wohl
erhärtet haben, daß niedrige Löhne
und
lange Arbeitszeit nicht notwendig billiges Produkt bedeuten. Billige
Arbeitskräfte und Schutzzoll bedeuten
lediglich für eine Anzahl Unternehmer die
Möglichkeit, ihre Fabrikation mit veralteten und
schlechten
Maschinen fortzusetzen; aber in hoch entwickelten
Hauptindustrien, wie die Baumwoll- und
die Eisenindustrie, wird das billigste
Produkt erreicht durch hohe Löhne, kurze Arbeitszeit und beste
Maschinen. Wenn die Zahl der Handgriffe, die für je
tausend Spindeln erforderlich sind, zwischen
siebzehn (in manchen russischen Betrieben) und drei (in England)
schwanken kann, dann kann keine Verbilligung der
Löhne
imstande sein, diesen ungeheuren Unterschied
aufzuwiegen. Infolgedessen sind in den besten deutschen
Baumwollwebereien und Eisenwerken die
Löhne der Arbeiter wir erfahren es speziell für
Eisenwerke aus der oben erwähnten Enquete der
British Iron Trade
Association) nicht niedriger als in
Großbritannien.
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Wir haben einfach einen Akt der auf einander
folgenden Entwicklung der Völker vor uns.
Und anstatt darüber zu schreien oder sich dagegen zu stemmen,
wäre es
besser, wenn die zwei Pioniere der
Großindustrie - England und Frankreich - sehen wollten, ob
sie
nicht eine neue Initiative ergreifen und
wiederum etwas Neues tun können; ob ein Ausgangspunkt
für das erschöpfende
Genie dieser zwei Völker nicht in neuer Richtung
gesucht
werden muß. Nämlich der Nutzbarmachung sowohl
des Landes wie der industriellen Kräfte
des Menschen zu dem Zweck, dem ganzen Volk anstatt einigen Wenigen
den
Wohlstand zu sichern.
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36
Doch genug! Ich habe so viel Zahlen vor mir,
die alle dieselbe Geschichte erzählen,
daß die Beispiele nach Belieben vermehrt werden
könnten. Es ist Zeit,
den Schluß zu ziehen, und der Schluß
ergibt sich für jeden Geist ohne Vorurteile von selbst.
,
Industrien aller Arten werden dezentralisiert
und verstreuen sich über die ganze Erde,
und überall erwächst eine Mannigfaltigkeit von
Gewerben, Arbeitsvereinigung
statt Arbeitsteilung. Dies sind die
kennzeichnenden Züge der Zeiten, in denen wir leben.
jedes Volk wird der Reihe nach ein
Industrievolk, und die Zeit ist nicht mehr weit
wo jedes Volk Europas, und ebenso der Vereinigten Staaten, und selbst
die zurückgebliebenen Völker Asiens und Amerikas
beinahe alles, was sie
brauchen, selbst produzieren werden.
Kriege und derlei zufällige Umstände mögen
eine Zeitlang die Ausbreitung der Industrien aufhalten; sie
werden ihr kein Ende machen, sie ist unvermeidlich. Für jeden
Beginnenden sind
nur die ersten Schritte schwierig. Aber sowie eine Industrie erst
Wurzel gefaßt
hat, ruft sie hunderte andere Gewerbe ins Leben, und sowie die ersten
Schritte
getan und die ersten Hindernisse überwunden sind, geht das
Wachsen der
Industrie in beschleunigtem Tempo weiter.
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Wehe Europa, wenn es an dem
Tage, wo die Dampfmaschine ihren Einzug in China hält, sich
noch auf fremde
Abnehmer verläßtl Was die afrikanischen Halbwilden
angeht, so ist ihr Elend
keine Grundlage für den Wohlstand eines Kulturvolkes. Der
Fortschritt geht in anderer Richtung, er geht
dahin: für den heimischen Konsum zu produzieren. Die Abnehmer
für die
Baumwollwaren von Lancashire und die Messerindustrie von Sheffield, die
Seidenstoffe von Lyon oder die Mühlenprodukte Ungarns leben
nicht in Indien
oder Afrika. Sie leben mitten unter den Produzenten des Landes. Es hat
keinen
Sinn, schwimmende Kaufläden mit deutschen oder englischen
Putzwaren nach
Neuguinea zu schicken, wenn es Unzählige, die Abnehmer
für Putzwaren sein
möchten, in England und Deutschland selbst gibt. Und anstatt
daß wir uns das Hirn zermartern, wo im Auslande Abnehmer zu
finden sind, wäre
es besser, zu versuchen, die folgenden Fragen zu beantworten: Warum ist
der
britische Arbeiter, dessen industrielle Begabung in politischen Reden
so
hochgepriesen wird, warum ist der schottische Pächter und der
irische Bauer,
deren unermüdlicher Eifer, aus Torfmoor neuen fruchtbaren
Boden zu schaffen,
manchmal so viel gerühmt wird, warum sind sie keine Abnehmer
der Weber von
Lancashire, der Messerschmiede von Sheffield und der Bergleute von
Northumberland und Wales? Ich frage nicht, warum die Weber von Lyon
nicht in
Seide gekleidet sind, ich frage nur, warum sie manchmal nichts zu essen
haben? Warum verkaufen die russischen
Bauern ihr Korn und sind vier, sechs und manchmal acht Monate lang Jahr
für
Jahr gezwungen, Baumrinde und Gras mit einer Hand voll Mehl zu mengen
und
daraus ihr Brot zu backen? Warum sind die Hungersnöte in
Indien unter denen,
die Weizen und Reis kultivieren, so häufig? Unter
den jetzigen Verhältnissen der Teilung in
Kapitalisten und Arbeiter, in Eigentümer und Massen, die von
ungewissen Löhnen
leben, ist die Ausdehnung der Industrien in neue Gebiete immer von
denselben
schauderhaften Vorgängen begleitet: erbarmungslose
Unterdrückung, Kindersterben,
Verarmung und Unsicherheit des Lebens. Die Berichte der russischen
Fabrikinspektoren, die Berichte der Plauener Handelskammer und die
italienischen Enqueten sind erfüllt von den nämlichen
Enthüllungen wie die
Berichte der Parlamentskommission von 1840-42 oder die modernen
Enthüllungen
über das „Schwitzsystem" in Whitechapel und Glasgow
und die Armut in
London. Das Problem, das „Kapital und Arbeit"
heißt, ist so universell
geworden, aber zugleich ist es auch einfach geworden. Rückkehr
zu einem Zustande,
wo Korn gepflanzt und Waren fabriziert werden zum Gebrauch eben derer,
die sie
pflanzen und produzieren - dies wird ohne Zweifel das Problem sein, das
während
der nächsten Zeit der europäischen
Geschichte
zu lösen ist. Jedes Land wird sein eigener Produzent und
Konsument der,
Industrieprodukte sein. Aber dies schließt unweigerlich ein,
daß es zugleich
sein eigener Produzent und Konsument in
landwirtschaftlichen Erzeugnissen sein wird.
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Wer davon träumt, das
technische Genie zu monopolisieren, ist fünfzig Jahre hinter
der Zeit zurückgeblieben. Die Welt -- die weite,
weite Welt - ist jetzt das eigentliche
Gebiet des Wissens; und wenn jedes Volk in einem besonderen Zweige
besondere Fähigkeiten entfaltet, so wiegen die
mannigfachen Fähigkeiten der verschiedenen
Völker
einander auf, und die Vorteile, die aus ihnen
fließen könnten, wären nur
vorübergehend.
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Die Kennzeichen der neuen
Verhältnisse sind deutlich und ihre Folgen sind leicht
zu
verstehen. In dem Maße, wie die
Industrievölker Westeuropas stets wachsenden
Schwierigkeiten begegnen, ihre Waren im Auslande zu verkaufen und
dafür
Lebensmittel einzutauschen, werden sie genötigt sein, ihre
Lebensmittel im
eigenen Lande zu gewinnen; sie werden
gezwungen sein, sich auf die heimischen Abnehmer für ihre
Waren
zu verlassen und auf die heimischen
Produzenten für ihre Lebensmittel. Und je eher
sie es tun, um so besser. Zwei große Einwände jedoch
stehen der allgemeinen
Annahme solcher Schlüsse im Wege. Man
hat uns von Seiten der Nationalökonomen und Politiker belehrt,
daß die Länder
der westeuropäischen Staaten so übervölkert
seien, daß es ausgeschlossen sei, daß sie
all die
Lebensmittel und Rohprodukte selbst gewinnen,
die für die Erhaltung ihrer stets wachsenden
Bevölkerungen notwendig sind.
Daher schreibe sich die Notwendigkeit,
Waren zu exportieren und Nahrungsmittel einzuführen.
Und man sagt uns noch dazu, daß, wenn es
selbst möglich wäre, in Westeuropa all die
für seine Bewohner nötigen
Lebensmittel zu gewinnen, es doch nicht vorteilhaft
wäre,
so zu verfahren, solange dieselben
Lebensmittel im Auslande billiger zu haben seien. Dies sind
zur Zeit, die Lehren und Ideen, die
in der Gesellschaft gang und gäbe sind.
Und doch ist es leicht zu beweisen, daß beides
vollständig falsch ist:
reichliche Lebensmittel für viel mehr als die
gegenwärtigen Bevölkerungen
könnten in Westeuropa gewonnen werden, und es wäre
ein ungeheurer Vorteil, wenn
dies geschähe.
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57
Die Ursache dieses allgemeinen
Niederganges ist einleuchtend. Er kommt daher, daß
das Land verlassen und verödet wird. Überall, wo
bei der Ernte menschliche Arbeit
erfordert wird, ist das Gebiet kleiner geworden, und ein Drittel der
Landarbeiter ist seit 1861 weggeschickt
worden, damit sie die Armee der Arbeitslosen in den
Großstädten vergrößern
helfen, so daß die Felder Großbritanniens nicht nur
nicht übervölkert sind, sondern nach
menschlicher Arbeit
hungern, wie James Caird zu sagen
pflegte. Das britische Volk arbeitet nicht auf seinem Boden; es wird
daran gehindert es zu tun, und die
angeblichen Nationalökonomen jammern, daß der Boden
seine Bewohner nicht ernähren könne!
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Aber ich hörte auf, mich zu wundern, als ich
erfuhr, daß nur 1383000 Männer und Frauen
in England und Wales-auf den Feldern arbeiten, während mehr
als 16
Millionen zu den „in Gewerben,
häuslicher Tätigkeit, unbestimmten Berufen oder gar
nicht produktiv.
tätigen
Klassen" gehören, wie die unbarmherzigen
Statistiker sagen.
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75
Was die verschiedene Fruchtbarkeit
des Bodens angeht immer der Stein des Anstoßes bei denen, die
über
Landwirtschaft schreiben .. so ist es Tatsache, daß in der
Gärtnerei der Boden immer' gemacht wird,
gleichgiltig,
was er ursprünglich gewesen ist. Seite
82 jeder Tag erweitert frühere Schranken und eröffnet
neue und weite Horizonte.
Alles was wir jetzt sagen können, ist, daß 600
Menschen mit Leichtigkeit auf
einer Quadratmeile leben können und daß mit
Kulturmethoden, die schon jetzt in
großem Maße angewandt werden, 1000
Menschen .. nicht Faulenzer .. die auf 1000 Acres (1 acre =
4047 qm) leben, mit Leichtigkeit, ohne irgend
eine Art Überarbeit, von diesem Gebiet
eine üppige tierische und pflanzliche Nahrung gewinnen
könnten, und
ebenso den Flachs, die Wolle, Seide und
die Häute, die für ihre Kleidung notwendig sind. Was
unter noch vollkommeneren Methoden erreicht werden kann
.- die auch schon bekannt, aber noch
nicht in größerem Maßstab erprobt sind -
so ist es besser, sich jeder
Prophezeihung zu enthalten; so
unglaublich sind die neuen Verbesserungen der intensiven
Kultur.
Wir sehen also, daß der
Übervölkerungsschwindel nicht dem ersten Versuch, ihn
einer genaueren Prüfung zu unterziehen, stand
hält.
Nur die können von Entsetzen befallen
werden, wenn sie sehen, daß die Bevölkerung Englands
alle 1000 Sekunden
um ein Individuum zunimmt, die jeden
Menschen nur für einen neuen Verzehrer des
materiellen
Reichtums der Menschheit halten und
vergessen, daß er gleichzeitig zu diesem Reichtum
beiträgt. Aber wir die in jedem Neugeborenen
einen künftigen Arbeiter sehen, der viel
mehr produzier kann als seinen eigenen Anteil am gemeisamen Gut .. wir
begrüßen seine Ankunft. Wir wissen,
daß
eine dichte Bevölkerung eine notwendige Bedingung
ist, ohne die der Mensch die produktiven
Kräfte seiner Arbeit nicht vermehren kann.
Wir wissen, daß hochproduktive Arbeit unmöglich ist,
so lange die
Menschen in geringer Zahl über weite
Gebiete zerstreut und so nicht im stande sind, sich für die
höheren Erfordernisse der Kultur miteinander zu
verbinden. Wir wissen, welche Summe von
Arbeit aufgewandt werden muß, um den Boden mit einem
primitiven Pflug
aufzuwühlen,' um mit der Hand zu spinnen
und zu weben und wir wissen auch, wie viel weniger Arbeit es
kostet, dieselbe Menge Nahrung und
denselben Stoff mit Maschinen herzustellen. Wir sehen auch,
daß es unermeßlich
leichter ist, 200000 Pfund Lebensmittel
auf einem Acre zu bauen als auf zehn. Es ist ganz schön,
sich vorzustellen, der Weizen wachse auf
den russischen Steppen von selbst; aber wer gesehen hat, wie der
Bauer
in der Gegend der„ fruchtbaren"
schwarzen Erde sich abrackert, wird nur einen Wunsch haben:
daß die Vermehrung der Bevölkerung den
Gebrauch des Dampfpflugs und Gartenkultur in den Steppen erlauben
möge; daß sie
ihnen, die heute die Lasttiere der
Menschheit sind, erlauben möge, ihre Rücken zu
erheben und endlich
Menschen zu werden.
ÜBER AMERIKA:
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90
In wenigen Monaten war fast die ganze
Weizenernte, von der man erwartete, daß sie
glänzender als alle früheren ausfallen
würde, vernichtet; acht bis zehn
Scheffel schlechten Weizens pro Acre war
alles, was geerntet werden konnte. Das Ergebnis war, daß
die
"Mammuth Farms" in kleine Farmen
zerschlagen werden mußten und daß die
Farmer
von Iowa nach einer schrecklichen Krise von kurzer Dauer .- es geht
alles schnell in Amerika .. zu einer
intensiveren Kultur übergingen.
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90/1
In der Tat wurde immer und
immer wieder von Schaeffe, Semler, Oetken und vielen andern
Autoren betont, daß die Kraft der„
amerikanischen Konkurrenz" nicht in ihren
Mammuth Farmen liege, sondern in den unzähligen kleinen
Farmen, auf
denen der Weizen genau so gebaut wird
wie in Europa, d. h. mit Hilfe von Dünger, aber mit
einer besser organisierten Produktionsmethode
und Erleichterungen des Verkaufs und
ohne daß sie gezwungen sind, dem Grundbesitzer einen Zoll von
einem
Drittel oder mehr des Verkaufspreises
eines jeden Quarters Weizen zahlen zu müssen.
Indessen
konnte ich erst, nachdem ich selbst eine Tour
in die Prärien von Manitoba gemacht hatte,
die volle Wahrheit der oben erwähnten Anschauungen einsehen.
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91/2
Die Stärke der „amerikanischen
Konkurrenz" liegt also nicht in der Möglichkeit,
hunderte
Acres Weizen in einem Block zu haben. Sie
beruht auf dem Eigentum am Boden, auf
einem Bewirtschaftungssystem, das dem Charakter des Landes
angepaßt ist,
auf einem weit gediehenen
Genossenschaftsgeist und schließlich auf einer Anzahl
Einrichtungen und
Bräuchen, die dazu bestimmt sind, den Landwirt und seinen
Beruf
auf eine hohe Stufe zu heben, die in Europa
unbekannt ist.
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In
jedem amerikanischen Staat und in jedem besonderen Teil Kanadas gibt es
eine Versuchsfarm, und alle Arbeit
vorläufiger Versuche über neue Varietäten
Weizen, Hafer, Gerste, Futter und Obst, die der
Landwirt in Europa meistens selbst zu machen
hat, wird mit den besten wissenschaftlichen Einrichtungen in der
Versuchsfarm zunächst in kleinem und
dann in größerem Maßstab getan.
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Man
lese die Beschreibung einer landwirtschaftlichen Ausstellung, der
"State's
fair" in einer kleinen Stadt Iowas, wo an 70000 Farmer mit
ihren Familien
während der Ausstellungswoche in Zelten
kampieren und studieren, lernen, kaufen und verkaufen und
sich des Lebens freuen. Da sieht man ein
Nationalfest, und man sieht, daß man es
mit einer Nation zu tun hat, wo die Landwirtschaft gelehrt wird.
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95/6
Wir wissen, daß zwar alle
Herrschaft auf Gewalt gegründet ist, daß aber
die
Gewalt selbst zu wanken beginnt, sowie sie
nicht mehr von einem starken Glauben an
ihr eigenes Recht getragen wird.
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So
daß es keine Übertreibung wäre, zu sagen,
daß die Franzosen jetzt von ihrem Boden mindestens
sechs- oder siebenmal
so viel gewinnen als vor hundert Jahren.
Die „Existenzmittel", die der Boden hergegeben hat, sind also
fast fünfzehnmal schneller gewachsen als die
Bevölkerung.
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99
Es gibt ganze Länder.. Hessen z. B. .. wo man
erst zufrieden ist, wenn die Durch
schnittsernte 37 Scheffel bringt, während die
Versuchsgüter von
Zentralfrankreich Jahr für Jahr auf
großen Landflächen 41 Scheffel auf den Acre
produzieren, und eine Anzahl Güter in Nordfrankreich
geben
regelmäßig, Jahr für Jahr, 45 bis 68
Scheffel
auf den Acre. Manchmal auf kleinen Gebieten mit besonderer Pflege sind
sogar nicht weniger als achtzig Scheffel
erreicht worden.
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100/1
Die kleine Insel Jersey, acht
Meilen lang und weniger als sechs Meilen breit, ist immer
noch ein Land der Freilandkultur; aber obwohl
es nur 28707 Acres umfaßt, einschließlich der
Felsen, ernährt es eine
Bevölkerung von fast zwei Einwohnern auf den
Acre oder 1300 Einwohnern auf die Quadratmeile, und es gibt nicht einen
einzigen Schriftsteller, der über
Landwirschaft geschrieben, der nicht nach einem Besudle
dieser
Insel den Wohlstand der Bauern von Jersey
rühmt und die erstaunlichen Resultate,
die sie auf ihren kleinen Gütern - zwischen fünf und
zwanzig Acres -.
sehr oft weniger als fünf Acres .- durch
eine rationelle und intensive Kultur erreichen.
Die
meisten Leser werden wahrscheinlich erstaunt
sein, wenn sie hören, daß der Boden von
Jersey, der aus verwittertem Granit besteht, mit keinen organischen
Stoffen
darin, durchaus nicht von hervorragender
Fruchtbarkeit ist und das das Klima, obwohl sonniger als das
Englands, manche Nachteile hat durch
die geringe Menge Sonnenhitze im Sommer
und die kalten Winde im Frühjahr. Aber es ist in der Tat so,
und zu
Beginn dieses Jahrhunderts lebten die
Einwohner von Jersey hauptsächlich von importierten
Lebensmitteln. Die Erfolge,
die in letzter Zeit in Jersey erreicht wurden, sind völlig
der
Arbeitsleistung zu verdanken, die eine dichte
Bevölkeruug an das Land gesetzt hat,
einem System des Grundbesitzes, der Landübertragung und
Erbschaft, die
sehr verschieden -von denen sind, die sonst üblich, der
Befreiung von
Staatsteuern und der Tatsache, daß
Gemeinschaftseinrichtungen noch vor ziemlich kurzer Zeit
bestanden
haben und daß eine Reihe Gemeinschaftsbräue
und Gewohnheiten gegenseitiger
Unterstützung, die daher stammen, noch heutigen Tages leben.
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103
Fünfzig Pfund für
landwirtschaftliche Produkte von jedem Acre des Landes ist
gut
genug. Aber je mehr wir die moderne Vervollkommnung der Landwirtschaft
studieren, um so mehr sehen wir, daß die
Grenzen der Ertragsfähigkeit des Bodens nicht
erreicht
werden, auch nicht in Jersey.
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111
Es geht aus vielen verschiedenen
Versuchen (erwähnt in Prof. Garola's
vorzüglichem
Buch Le Céréales, Paris 1892) hervor,
daß,
wenn erprobter Samen von dem nicht mehr
als 6% bei der Aussaat verloren geht) in breitem Wurf gesät
wird, so daß
500 Körner auf den Quadratmeter kommen,
von diesen nur 148 Pflanzen geben. jede Pflanze gibt in
diesem Fall zwei bis vier Halme und zwei
bis vier Ahren; aber fast 360 Körner
sind völlig verloren.. Wenn in Reihen gesät wird, ist
der Verlust nicht
so groß, aber noch immer beträchtlich.
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Fig. 1. Gerstenpflanze mit 110 Halmen, von Major Hallett aus einem
einzigen geplanzten Korn erzilt.
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116
Aber das Wenige, was gesagt worden ist, ist
genügend, um zu zeigen, daß wir kein
haben,
über Übervölkerung zu klagen, und keinen
Grund, sie in Zukunft zu befürchten. Unsere Mittel,
vom
Boden alles zu verlangen, was wir unter Klima
und auf Boden, sind in letzter Zeit dermaßen
verbessert worden, daß wir jetzt noch nicht vorhersehen
können, was die Grenze der Ertragsfähigkeit
eines kleinen
Stückes Land ist. Die Grenze verlischt mit unserer
besseren Erforschung des Gegenstandes mehr und mehr und jedes Jahr
verlieren
wir sie mehr aus den Augen.
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123
Nicht nur die besten Landstriche
werden diesem Zweck gewidmet, sondern sogar die Sandwüsten der
Ardennen und
Torfmoore werden in reiche Gärtnereien verwandelt
namentlich in Haeren werden für denselben
Zweck bewässert und weite Ebenen Hier sehen wir eine einzige
kleine Gemeinde,
die 5500 Tonnen Kartoffeln und Birnen
nach Stratford und Schottland exportiert und für diesen
Zweck
im Wert von 4000 ihre eigene Dampferlinie
hat.
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134/9
Die verschiedenen Tatsachen,
die auf den vorstehenden Seiten zusammengestellt worden sind,
machen mit dem Ubervölkerungsschwindel
kurzen Prozeß. Gerade in den dichtestbevölkerten
Teilen der Welt hat die
Landwirtschaft in letzter Zeit solche Riesenschritte gemacht,
wie man es vor zwanzig Jahren
schwerlich hätte ahnen können. Eine dichte
Bevölkerung, eine hohe Entwickelung der Landwirtschaft und des
Gartenbaues
gehen Hand in Hand: sie sind
unzertrennlich. Was die Zukunft angeht, so sind die
Möglichkeiten der
Landwirtschaft der Art, daß wir in der Tat jetzt nicht
vorhersagen können, was das Maximum der
Bevölkerung wäre, die von
den Produkten eines bestimmten Gebiets
leben könnte. Neuere Fortschritte, die bereits bis zu hohem
Grade erprobt sind, haben die Grenzen der
landwirtschaftlichen Produktion bis zu ganz unerwarteter
Ausdehnung erweitert, und neue Entdeckungen,
die jetzt erst in kleinem Maßstab
erprobt sind, versprechen diese Grenzen noch weiter in einem Grade, den
wir nicht kennen, hinauszurücken... Die
gegenwärtige Tendenz der wirtschaftlichen
Entwickelung in der Welt ist - wie wir
gesehen haben - mehr und mehr jede Nation oder besser: jedes Land -. im
geographischen Sinne genommen - dazu zu bringen,
hauptsächlich sich auf die heimische Produktion
aller wichtigen Lebensbedürfnisse zu verlassen. Nicht den
Weltverkehr zu
verringern, meine ich, er mag noch
wachsen, aber ihn auf den Austausch dessen zu beschränken,
was
in der Tat ausgetauscht werden muß, und
zugleich den Austausch von Neuheiten, von
lokalen oder nationalen Kunstwerken, neuen Entdeckungen und
Erfindungen,
Kenntnissen und Ideen außerordentlich zu
steigern. Wenn das die Tendenz der gegenwärtigen Entwickelung
ist, das ist
nicht der geringste Grund, von ihr beunruhigt zu werden. Es
gibt
nicht ein einziges Volk auf der Erde, das mit
Hilfe der jetzigen landwirtschaftlichen
Kräfte nicht imstande wäre, auf seinem eigenen Gebiet
alle Nahrung und
das meiste der Landwirtschaft
entstammende Rohmaterial zu gewinnen, die für seine
Bevölkerung nötig sind, selbst wenn die
Bedürfnisse der
Bevölkerung sich schnell steigerten, wie
sie es gewiß tun sollten. Wenn wir die Kräfte des
Menschen über das, Land
und über die Naturkräfte betrachten ..
nicht anders, als wie sie heutzutage sind .dann können wir.
behaupten, daß zwei
bis drei Einwohner auf jeden bestellbaren
Acre Land noch nicht zu viel wären. Aber weder in
dem dichtbevölkerteri England
noch in Belgien sind wir schon bei dieser Zahl angelangt. In
Großbritannien kommt, grob
gerechnet, ungefähr ein Einwohner auf
einen Acre bestellbaren Landes. Nehmen
wir also an, jeder Einwohner Großbritanniens
wäre genötigt, von den Produkten seines
eigenen Landes zu leben, so wäre alles, was er zu tun
hätte, erstens den
Boden seines Landes als gemeinsames Erbe
zu betrachten, über das zum Nutzen von Allen
und Jedem bestimmtwerden muß .. das ist
selbstverständlich eine
unabweisbar notwendige Bedingung. Und
zweitens müßte er seinen Boden bestellen, nicht in
irgend außerordentlicher
Weise, vielmehr nicht besser als das Land bereits jetzt auf tausenden
und abertausenden von Acres in Europa und Amerika
bestellt wird. Er wäre nicht gehalten, irgend welche neue
Methoden zu erfinden,
sondern könnte einfach die verallgemeinern
und erweitern, die die Probe der Erfahrung bestanden haben. Er kann es
tun, und wenn er es täte, würde er eine
ungeheure Menge Arbeit sparen, die jetzt aufgebracht wird,
damit er seine Nahrung im Ausland kauft
und all die Zwischenglieder bezahlt, die
von diesem Handel leben. Bei rationeller Kultur können ohne
Zweifel die
Lebensbedürfnisse und die Luxusgüter, die aus-dem
Boden geholt werden müssen,
mit viel weniger Arbeit erlangt werden,
als jetzt darauf verwandt wird, diese Annehmlichkeiten zu
kaufen.
Ich habe an anderer Stelle (La Conquête du
Pain) ungefähre Berechnungen für diese
Behauptungen gegeben, aber an Hand der Tatsachen, die in diesem Buch
mitgeteilt sind, kann jeder sich selbst
von der Wahrheit dieser Behauptung überführen. Wenn
wir in der Tat die Mengen Produkte betrachten, die man
bei rationeller Kultur erzielt, und wenn wir
sie mit der Menge Arbeit vergleichen, die aufgewandt werden
muß, um sie
bei unzweckmäßiger Kultur zu erhalten, sie im
Ausland zu sammeln, zu
transportieren und Heere von
Zwischenhändlern zu erhalten, dann sehen wir-sofort, wie
wenige Tage und
Stunden bei richtiger Kultur auf die
Gewinnung der menschlichen Nahrung verwandt werden
müssen.
Um unsere Kulturmethoden in diesem Maße zu
verbessern, haben wir es gewiß nicht
nötig, das Land in kleine Stücke, jedes einen Acre
groß, zu teilen und
zu versuchen, unsere Bedürfnisse durch
jedermanns besondere individuelle Leistungen zu befriedigen,
auf jedermanns getrenntem Stück Land, mit
keinen besseren Geräten als dem Spaten:
unter solchen Umständen würde es uns ganz
gewiß nicht gelingen. Die
Leute, die so sehr von den erstaunlichen
Resultaten, die man in der petite culture
erreicht hat, eingenommen sind, daß sie sich den Kleinbetrieb
der
französischen Bauern oder des maraichen
als Ideal für die Menschheit vorstellen, sind offenbar auf
falschem Wege. Sie
sind ebenso sehr wie jede Anhänger des andern Extrems, die
jedes Land in eine kleine Zahl riesenhafter Bonanza-Farmen
verwandeln
möchten, die von militärisch organisierten,
„Arbeitsbataillonen" bestellt
werden. In den Bonanza-Farmen ist die Arbeit des Menschen
verringert,
aber die dem Boden abgewonnenen Ernten sind
bei weitem zu gering, und das ganze System
?st Raubbau, der sich nicht um die Erschöpfung des Bodens
kümmert;
während in der petite culture, auf
isolierten kleinen Grundstücken, die durch isolierte
Individuen oder Familien bestellt werden, zu viel menschliche
Arbeitskraft verbraucht wird, obwohl die Erträge reich sind.
Wirkliches Sparen
des Bodens wie der Arbeit erfordert ganz andere Methoden, die
eine Vereinigung der Maschinenarbeit und der
Handarbeit vorstellen. In
der Landwirtschaft wie überall sonst ist die
Vereinigung der Arbeit die einzig vernünftige
Lösung. Zweihundert Familien, jede von fünf
Personen,-jede Familie im
Besitze von fünf Acres, ohne gemeinsames
Band zwischen -den Familien, die nun gezwungen wären, ihr
Leben
zu fristen, jede Familie auf ihren fünf
Acres, das ginge fast sicher unglücklich aus. Selbst
wenn
wir alle persönlichen Schwierigkeiten
beiseite lassen, die aus verschiedener Erziehung und
verschiedenen Neigungen und aus dem
Mangel an Kenntnissen hervorgingen, was nun
mit dem Land zu gesehen habe, selbst wenn wir provisorisch annehmen,
daß
diese Gründe nicht mitspielen, so würde
das Experiment doch fehlschlagen, bloß aus
ökonomischen, aus landwirtschaftlichen
Gründen. Diese
Organisation könnte eine noch so große Verbesserung
-gegenüber den
gegenwärtigen Zuständen bedeuten, die Verbesserung
wäre nicht von Dauer; sie wäre einer
weiteren Umwandlung
unterworfen oder würde verschwinden. Aber
wenn sich diese selben zweihundert Familien,
sagte wir: als Pächter der Nation
betrachten und die tausend Acres als ihr gemeinsames Pachtgut
nähmen -
die persönlichen Umstände lassen wir wieder beiseite
- dann hätten sie,
ökonomisch gesprochen, vom
landwirtschaftlichen Standpunktaus, alle Aussicht auf Erfolg,
wenn
sie wissen, was die beste Verwendung des
Landes ist. In
diesem Falle .würden sie wahrscheinlich vor allen
Dingen sich zusammenschließen, um den
Boden, der sofortige Besserung brauchte, fortgesetzt zu verbessern,
und
würden es für nötig halten, jedes Jahr mehr
davon zu verbessern, bis sie ihn ganz
und gar in einen vollkommenen Zustand gebracht hätten.. Auf
einer Fläche
von 340 Acres könnten sie sehr leicht
alles Getreide - Weizen, Hafer usw. .- das für
die tausend Bewohner wie für ihr Vieh nötig
wäre, - gewinnen, ohne daß
sie zu diesem Zweck verpflanzten oder
gepflanzten Weizen bauen müßten. Sie
könnten
auf 400 Acres, die besonders behandelt und, wenn nötig und
möglich,
bewässert würden, alle Hackfrüchte
und
alles -Futter erlangen, das für die dreißig bis
vierzig Milchkühe nötig wäre, die
sie mit Milde und
Butter versorgten und die, sagen wir:
300 Stück Vieh, die sie brauchten, um Fleisch zu haben. Auf
zwanzig
Acres, von denen zwei unter Glas wären,
würden sie mehr Gemüse, Obst und
Luxuspflanzen
ziehen, als sie verbrauchen könnten. Und angenommen, zu jedem
Hause gehöre ein halber Acre Land .. für
besondere Liebhabereien und zum
Vergnügen (Geflügel oder Blumen und
dergleichen) -.- so hätten. sie immer noch 140 Acres
für alle möglichen Zwecke:
öffentliche Gärten, Plätze, Fabriken und
dergleichen. Die Arbeit, die eine solche intensive Kultur
verlangte,
wäre nicht die schwere Arbeit des Leibeigenen oder Sklaven.
Sie wäre für jeden
zu leisten, ob stark oder schwach, Stadtoder Landkind; sie
hätte auch überdies
viel Reizvolles. Und die Gesamtarbeitsleistung wäre viel
geringer als die
Arbeitsmenge, die irgend welche tausend Personen, aus der
einen oder der anderen Nation, heute
zu leisten haben, um jetzt ihre Nahrung
zu erlangen, die quantitativ und qualitativ viel schlechter ist. Ich
meine natürlich die technisch notwendige
Arbeit, ohne die in Betracht zu ziehen, die wir jetzt aufbringen
müssen, um
unsere Zwischenhändler, Soldaten und dergleichen zu
ernähren. Die Arbeitsleistung, die bei rationeller
Kultur notwendig ist, um unsere Nahrung
herzustellen, ist in der Tat so unbedeutend, daß die
Bewohner, die wir
angenommen haben, notwendigerweise
darauf kommen müßten, ihre Muße in
industrieller, künstlerischer und wissenschaftlicher
Betätigung zu verwenden. Vom
technischen Standpunkt aus steht einer solchen
Organisation nicht das geringste
Hindernis entgegen; sie könnte morgen mit vollem Erfolg ins
Leben
treten. Die Hindernisse sind nicht in
der Unvollkommenheitder landwirtschaftlichen Technik zu
suchen oder in der Unfruchtbarkeit des Bodens
oder im Klima. Sie bestehen lediglich in unseren Einrichtungen, in
unsern-
Überlieferungen und unserm aus der
Vergangenheit Ererbten -.in den „Gespenstern", die auf uns
lasten.
Aber bis zu gewissem
Grade bestehen sie auch .- die Gesellschaft
als Ganzes genommen in unsrer phänomenalen Unwissenheit. Wir
zivilisierten
Männer und Frauen wissen alles, wir haben feste Meinungen
über alles, wir
interessieren uns für alles. Wir wissen nur nichts davon,
woher das Brot kommt,
das wir essen -. selbst wenn wir vorgeben, wir
wüßten
doch etwas davon .- wir wissen nicht, wie es gewachsen ist, welche
Mühsal es
denen macht, die es herstellen, was geschehen kann, ihre
Mühsal zu verringern,
welche Art Menschen die sind, die uns bedeutende Personen
ernähren wir sind in
diesem Punkte unwissender als Wilde, und wir halten unsere Kinder davon
ab,
diese Art Wissen zu erlangen, selbst die von unsern Kindern, die
solches.
Wissen dem Haufen unnützen Krams vorzögen, mit denen
sie in der Schule
vollgestopft werden.
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140/1
Die zwei Schwesterkünste:
Landwirtschaft und Industrie waren einander nicht immer so entfremdet,
wie sie
es heute sind. Es gab eine Zeit, und diese Zeit ist nicht so sehr weit
zurück,
wo beide eng verbunden waren: da waren die Dörfer die Sitze
mannigfaltiger
Industrien, und die Handwerker in den Städten hatten die
Landwirtschaft nicht
aufgegeben; manche Städte waren nichts anderes als
Industriedörfer. Wenn die
Stadt des Mittelalters die Wiege solcher Industrien war, die an die
Kunst
grenzten und dazu dienten, die Bedürfnisse der reicheren
Klassen zu
befriedigen, dann war es immer noch das ländliche Gewerbe, das
für die
Bedürfnisse der Massen sorgte, wie es noch bis zum heutigen
Tage in Rußland und
bis zu sehr hohem Grade in Deutschland und Frankreich der Fall ist.
Aber dann
kam die Wasserkraft, der Dampf, die Entwicklung des Maschinenwesens,
und sie
brachen die Brücke entzwei, die früher den Bauernhof
mit der Werkstatt
verbunden hatte. Fabriken kamen auf, und sie entfernten sich aus dem
Bereich
der Felder. Sie gingen dahin, wo der Verkauf ihrer Produkte am
leichtesten war,
oder wo die Rohmaterialien und die Feuerung am vorteilhaftesten zu
erlangen waren. Neue Städte entstanden, und die
alten vergrößerten sich schnell; die Felder waren
verödet. Millionen von
Arbeitern, die durch nackte Gewalt vom Lande getrieben worden waren,
sammelten
sich in den Städten auf der Suche nach. Arbeit, und bald
vergaßen sie die
Bande, die sie einst mit dem Boden vereinigt hatten. Und wir in unserer
Bewunderung der Herrlichkeiten, die unter dem neuen Fabriksystem
erreicht
worden waren, wir übersahen die Vorzüge des alten
Systems, wo der, der den
Boden bestellte, zu gleicher Zeit industriell tätig war. Wir
verdammten all die
Zweige der Industrie, die früher in den Dörfern zu
blühen pflegten, zum
Untergang; wir duldeten keine Industrie, die nicht ein großer
Fabrikbetrieb
war. Freilich
waren die Erfolge, - was die Steigerung der
Produktivkraft des Mensen angeht, gewaltig. Aber sie stellten sich als
gräßlich
heraus, was die Millionen von Menschen angeht, die in unsern
Städten dem Elend
verfielen und in dürftigster Weise ihr Leben fristen musten.
Noch mehr: das
System als Ganzes brachte die abnormen Zustände hervor, die
ich bemüht war, in
den ersten beiden Kapiteln zu skizzieren. Wir sind also in die Enge
getrieben;
ein gründlicher Wandel in den gegenwärtigen
Beziehungen zwischen Arbeit und
Kapital wird immer mehr zur gebieterischen Notwendigkeit, und zugleich
ist ein
Neubau unserer ganzen industriellen Organisation von Grund auf
ebenfalls
unvermeidlich geworden. Die Industrievölker müssen
zur Landwirtschaft
zurückkehren, sie sind genötigt, die besten Mittel
ausfindig zu machen, sie mit
der Industrie zu vereinigen, und das müssen sie tun, ohne Zeit
zu verlieren.
Seite
152
Die Kleingewerbe sind so ein
wichtiger Faktor im industriellen Leben auch
Großbritanniens,
obwohl viele davon sich in die Städte gezogen
haben. Aber wenn wir in Großbritannien so
viel weniger ländliche Industrien finden als auf dem Festland,
so dürfen
wir uns nicht einbilden, ihr Verschwinden sei allein der
schärferen Konkurrenz
der Fabriken zu verdanken. Die
Hauptursache war die mit Gewalt bewirkte
Auswanderung aus den Dörfern. ' Wie
Jeder aus Thorold Rogers Werk oder wenigstens aus Toynbees Vorlesungen
weiß,
war das Wachstum des Fabriksystems in England eng mit dieser
zwangsweise
herbeigeführten Abwanderung verknüpft.
Ganze Industrien, die im Lande blühten, wurden durch
dieses
Bauernlegen erbarmungslos getötet. Die
Werkstätten, noch mehr als die Fabriken, vermehren
sich überall, wo sie billige Arbeit finden;
und der besondere Zug Englands ist, daß die
billigste Arbeit - das heißt, die größte
Zahl verarmter Menschen - in
den Großstädten zu finden ist.
Seite
153
Die
Zeugenvernehmung vor dem „Sweating System Committee" hat
gezeigt, wie sehr
die Möbel- und Konfektionspaläste und
die „Bonheur des Dames"-Bazare in London oft
bloße
Musterausstellungen oder Verkaufsmärkte der Produkte der
Kleinindustrien
sind. Tausende von Schwitzmeistern, von
denen einige ihre eigenen Werkstätten haben, während
andere bloß die Arbeit an Unterschwitzer verteilen,
die
sie wiederum an die Ausgebeuteten verteilen,
versorgen diese Paläste und Bazare mit Waren, die in den
Wohnungen der
Armen, den „Slums ", oder in sehr
kleinen Werkstätten verfertigt wurden. Der Handel ist in
diesen Bazaren zentralisiert - nicht die Industrie. Die
Möbelpaläste und Bazare spielen so die Rolle,
die
die Ritterburg früher in der Landwirtschaft
spielte: sie zentralisieren die Gewinne -- nicht die
Produktion. In
Wirklichkeit ist kein Grund, sich über die
Ausdehnung der Kleingewerbe, dicht neben
den großen Fabriken, zu wundern. Sie ist eine wirtschaftliche
Notwendigkeit. Daß die Kleinindustrien
von den großen Unternehmungen aufgesogen werden, ist
Tatsache; aber neben diesem Prozeß läuft
ein anderer, der in
der fortwährenden Erzeugung neuer Industrien besteht,
die gewöhnlich in kleinem Maßstab anfangen.
Seite 155 Es wird in der Tat geschätzt, daß die
Hälfte der Bevölkerung
Frankreichs von der Landwirtschaft lebt
und ein Viertel von der Industrie und daß dieser vierte Teil
sich gleichmäßig
zwischen die Großindustrie und die
Kleingewerbe verteilt, die also demnach etwa 1500000
Arbeitskräfte in Anspruch
nähmen und 4-5 Millionen Mensen erhielten. Eine
beträchtliche Zahl Bauern, die eine Kleinindustrie
betreiben,
ohne die Landwirtschaft aufzugeben, müßten
den
ebengenannten Zahlen beigefügt werden, und die
Nebenverdienste, die
diese Bauern in der Industrie finden,
sind so bedeutend, daß in mehreren Teilen Frankreichs der
bäuerliche Besitz nicht erhalten bleiben
könnte, wenn
ihnen nicht diese Hilfe von den ländlichen
Industrien käme. Die
Kleinbauern wissen, was sie an dem Tage zu
erwarten haben, wo sie Fabrikarbeiter in
einer Stadt werden, und solange sie nicht vom Geldverleiher von Land
und
Hof getrieben sind und solange die
Dorfgerechtsamkeit an den Gemeindeweiden oder dem Gemeindewald nicht
verloren
gegangen ist, halten sie an der Vereinigung der Industrie und
der
Landwirtschaft fest.
Seite
156/7
Man kann sogar von Frankreich
sagen, was man von Rußland gesagt hat: daß, wenn
eine ländliche Industrie ausstirbt, die Ursache
ihres Verfalls viel weniger in der Konkurrenz der Fabriken zu
finden ist -- in zahlreichen
Orten wird die Kleinindustrie in solchen Fällen
vollständig modifiziert oder sie schlägt eine andere
Richtung ein - als
in dem Verfall der Bevölkerung in ihrer
Eigenschaft als Landwirte. Fortwährend sehen wir,
daß erst, wenn die
Kleinbauern durch eine Reihe von Ursachen als solche ruiniert worden
sind -
Verlust von Gemeindewiesen oder abnorm
hohe Pacht oder an manchen Orten Zusammenbruch
durch die marchands de bien (Schwindler, die die Bauern verleiten, Land
auf Kredit zu kaufen) oder durch den
Bankerott irgend einer Aktiengesellschaft, deren Aktien auch
Bauern
eifrig gekauft hatten • daß sie erst dann mit
dem Land zugleich die ländliche Industrie
aufgeben und in die Städte ziehen. Andernfalls entsteht immer
eine neue
Industrie, wenn die Konkurrenz der Fabrik
zu heftig wird - eine erstaunliche, kaum zu erwartende
Anpassungsfähigkeit wird
dabei von den Kleinindustrien entwickelt; oder aber die
ländlichen Handwerker
gehen zu einer Form der intensiven Wirtschaft, Gartenbau etc.,
über, und in
der Zwischenzeit kommt irgend eine
andere Industrie zum Vorschein.
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158/9
Ein anderes wichtiges Zentrum
für ländliche Industrien war in der Nachbarschaft von
Rouen, wo nicht weniger als 110000 Personen 1863 in
der Baumwollweberei für die Fabriken der
Stadt, die die Produkte dann fertig machten, tätig waren. Im
Tal der
Andelle im Departement Eure war damals
jedes Dorf ein industrieller Bienenkarb; jedes
Flüßchen wurde benutzt, um eine kleine
Fabrik zu treiben. Reybaud
beschrieb die Lage der Bauern, die die Landwirtschaft mit Arbeit in -
der
ländlichen Fabrik vereinigten, als sehr
zufriedenstellend
insbesondere im Vergleich mit der Lage der
Bewohner des Armenviertels in Rouen und er
erwähnte sogar einen oder zwei Fälle, wo die
Dorffabriken den
Dorfgemeinden gehörten.
Seite
163
Landwirtschaft und Industrie
gehen hier Hand in Hand und wie wichtig es ist, diese Vereinigung nicht
zu
trennen, kann vielleicht am besten in Loudéana, einem
Städtchen in der
Mitte der Bretagne (Departement Côtes-du
Nord) gesehen werden. Früher trieb man in den
Dörfern dieser Gegend Industrien, indem alle Gehöfte
von Webern bewohnt
waren, die die bekannte Bretagner
Leinwand herstellten. jetzt sind, da diese Industrie sehr
danieder=
gegangen ist, die Weber einfach zum Boden
zurückgekehrt. Aus einem Industriestädtchen
ist Loudéana ein landwirtschaftliches
Marktstädtchen geworden, und. was
sehr interessant ist: diese Bevölkerung
erobert der Landwirtschaft neues Land und verwandelt die
früher ganz
unfruchtbaren Landesteile in reiche Kornfelder; und an der
Nordküste der
Bretagne, um Dol herum, wird jetzt auf
einem Boden, den man seit dem 12. Jahrhundert der See
abgewonnen
hat, die Handelsgärtnerei in sehr großem
Maßstab für den Export nach England
betrieben.
Alles in allem bemerkt man mit Erstaunen beim
Durchlesen der kleinen Bände Ardouin
Dumazet's, wie Hausindustrien 'mit allen Arten des Kleingewerbes in der
Landwirtschaft Hand in Hand gehen -
Gärtnerei, Geflügelzucht, Fabrikation von
Obstkonserven und so weiter, und wie alle Arten von Verkaufs-
und
Exportgenossenschaften mit Leichtigkeit eingeführt
werden. Mans ist, wie bekannt, ein großes
Zentrum für den Export von Gänsen und
Geflügel
aller Art nach England.
Seite
164/5
In den waldigen Gegenden des
Perche und des Maine finden wir alle Arten der Holzindustrie,
die offenbar nur auf Grund des
Kommunalbesitzes an den Wäldern bestehen bleiben konnten. In
der Nähe des
Waldes von Perseigne liegt ein kleines Städtchen, Fresnaye,
das völlig von Holzarbeitern bewohnt ist.
„Es gibt da kein
einziges Haus", schreibt Ardouin Dumazet, „in dem
nicht Holzwaren fabriziert werden. Vor
einigen Jahren war in ihren Erzeugnissen nicht
viel Abwechselung: Löffel, Salzfässer,
Schäfereien (als Kinderspiel),
Thermometer, verschiedene Holzteile für
Weber, Flöten und Hoboen, Spindeln, Holzmaße,
Trichter und Holznäpfe wurden bloß
hergestellt. Aber Paris begehrte tausenderlei Dinge, bei denen
Holz mit Eisen verbunden war:
Mausefallen, Garderobehalter, Kompottlöffel, Besen ..... Und
jetzt hat jedes Haus eine Werkstatt, die entweder eine
Drehbank enthält oder einige Werkzeugmaschinen, um Holz zu
schneiden,
Laubsägearbeit zu machen usw. Eine ganz neue Industrie ist
entstanden und die
zierlichsten Dinge werden jetzt fabriziert. Dank dieser
Industrie
ist die Bevölkerung glücklich. Die Einnahmen
sind nicht groß, aber jeder hat Haus und
Garten und manchmal ein Stückchen Feld. In
Neufchâtel werden Holzschuhe
gemacht, und das Dörfchen hat, wie man
uns berichtet, ein sehr freundliches Aussehen. Zu jedem Haus
gehört ein Garten und nichts von dem Elend
der Großstadt ist zu sehen.
Seite
174
Trotz seiner Großindustrie und
seinen Kohlengruben hat dieser Teil Frankreichs völlig sein
.
ländliches Aussehen bewahrt und ist jetzt
einer der bestbewirtschafteten Teile des Landes. Was die
größte Bewunderung verdient, ist -.
nicht so sehr die Entwicklung der Großindustrie,
die, alles in allem, hier wie anderswo, bis
zu hohem Grade in ihrem Ursprung international
ist - als die schöpferischen und erfinderischen
Kräfte und die Anpassungsfähigkeit,
die unter den großen Massen dieser
werktätigen Bevölkerung sich zeigt. Bei jedem
Schritt, im Feld, in der
Gärtnerei, im Obstgarten, in der Milchwirtschaft, in der
Technik und ihren
hunderten kleinen Erfindungen -• überall
sieht man den schöpferischen Geist des Volkes. In
diesen
Gegenden versteht man am besten, warum
Frankreich, die Masse der Bevölkerung ins Auge
gefaßt, als reichstes Lahd Europas gilt.
Seite
181/2
Aber wo der Geist der
Initiative auf dem einen oder andern Wege erweckt worden ist,
da
sehen wir die Kleinindustrien in Deutschland
einen neuen Aufschwung nehmen; wie wir
es eben hinsichtlich Frankreichs gesehen haben. Nun
wird fast für alle Kleingewerbe Deutschlands die
Lage der Handwerker und Arbeiter
einmütig als sehr elend geschildert, und die vielen Bewunderer
der
Zentralisation, die wir - in Deutschland
finden, unterstreichen immer dieses Elend; um das Verschwinden
„dieser Reste
aus dem Mittelalter" vorherzusagen und zu
verlangen. Die Wahrheit ist jedoch, daß
wir, wenn wir die elende Lage der in den Kleingewerben
Beschäftigten mit
der Lage der Lohnarbeiter in den
Fabriken vergleichen, in denselben Distrikten und denselben
Branchen,
daß wir dann sehen, daß unter den
Fabrikarbeitern genau dasselbe Elend herrscht. Sie leben von
Löhnen zwischen neun und elf Mark
die Woche, in städtischen Mietskasernen
statt auf dem Lande. Sie arbeiten elf Stunden den Tag, und sind noch
dem
Extraelend unterworfen, das während der
häufig wiederkehrenden Krisen über sie gebracht wird.
Erst nachdem sie alle Arten Elend im Kampf gegen
die Unternehmer auf sich genommen haben,
gelingt es einem Teil der Fabrikarbeiter mehr oder weniger, hie und da,
ihren Unternehmern einen Lohn, von dem
man leben kann, zu entreißen • und auch das nur in
bestimmten Branchen. Dies Elend zu
begrüßen, in ihm die
Wirksamkeit eines „Naturgesetzes" und einen notwendigen
Schritt in der
Richtung nach der notwendigen Konzentration der Industrie zu
sehen, wäre einfach absurd. Zu behaupten
nämlich, daß die Verarmung aller Handwerker
und
das Zugrundegehen aller Dorfindustrien ein notwendiger Schritt zu einer
höheren Form der industriellen
Produktion wäre, das hieße nicht nur viel mehr
behaupten, als man beim gegenwärtigen unvollkommenen
Stand des
ökonomischen Wissens zu behaupten befugt ist,
sondern auch eine vollständige Verständnislosigkeit
für die Naturgesetze
und ökonomischen Gesetze an den Tag
legen. Im Gegenteil, jeder, der die Frage des Anwachsens der
Großindustriellen
besonders studiert hat, muß zweifellos Thorold Rogers
zustimmen, der der Meinung war, das Elend, das den
Arbeiterklassen
zu diesem Zweck zugefügt wurde, sei
nicht im geringsten notwendig gewesen und nur auferlegt worden, um den
vorübergehenden Interessen der Wenigen zu dienen - keineswegs
denen der Nation.
Seite
183/4
Die moderne Fabrik zu
idealisieren, um die sogenannten „mittelalterlichen" Formen
der Kleinindustrie herabzusetzen, ist natürlich -
um das mildeste Wart anzuwenden - ebenso
unvernünftig, wie letztere zu idealisieren und zu versuchen,
die
Menschheit zur isolierten Hausspinnerei und Hausweberei in jedem
Bauernhaus
zurückzubringen. Eine Tatsache
beherrscht alle Untersuchungen, die über die Lage der
Kleinindustrie
angestellt worden sind. Wir finden sie
in Deutschland ebenso wie in Frankreich oder in Bußland. In
einer
außerordentlich großen Zahl Gewerben ist es nicht
die Dberlegenheit der
technischen Organisation des Gewerbes in
einer Fabrik und nicht die Ersparnisse an arbeitender Kraft,
die gegen die Kleinindustrien zugunsten der
Fabriken wirken, sondern die vorteilhafteren
Bedingungen für den Verkauf der Produkte und für den
Einkauf der
Rohprodukte, die von großen Geschäften
bewerkstelligt werden. Überall, wo diese Schwierigkeit
überwänden worden ist, entweder vermittelst
der
Genossenschaft oder dadurch, daß für den
Verkauf
der Produkte ein sicherer Markt zur Verfügung
steht, hat man gefunden - erstens, daß die
Lage der Arbeiter oder Handwerker sich sofort verbesserte, und
zweitens,
daß die technische Seite der Industrie
sehr rasche Fortschritte machte: neue Verfahren wurden
eingeführt, um die Produkte zu verbessern oder die
Schnelligkeit der Herstellung zu erhöhen; neue
Werkzeugmaschinen wurden
erfunden oder neue Motoren wurden eingeführt, oder das
Gewerbe
wurde so reorganisiert, daß die
Produktionskosten sich verringerten.
Seite
185
Wenn man mit mehr als
oberflächlicher Aufmerksamkeit das Leben der Kleinindustrien
und ihren Kampf ums Dasein untersucht, dann sieht
man, daß, wenn sie untergehen, dies nicht
daher kommt, daß „durch Benutzung eines Motors mit
hundert Pferdekräften
anstatt von hundert kleinen Motoren eine
Ersparnis bewirkt werden kann" - dieser Umstand wird
unentwegt angeführt, obwohl man ihm in
Sheffield, in Paris und vielen anderen Plätzen
dadurch begegnet, daß man Werkstätten mit Dampfkraft
mietet und noch
mehr, wie sehr richtig von Prof. Unwin
bemerkt wurde, durch die elektrische Kraftübertragung. Sie
gehen nicht unter, weil eine materielle Ersparnis
in der fabrikmäßigen Produktion erzielt
werden
kann - in viel mehr Fällen, als gewöhnlich angenommen
wird, steht die
Sache sogar umgekehrt - sondern weil der Kapitalist, der eine Fabrik
errichtet,
sich von den Groß- und Kleinhändlern in
Rohmaterialien emanzipiert, und hauptsächlich, weil er sich
von den Käufern seiner
Produkte emanzipiert und direkt mit dem
Großkäufer und Exporteur in Beziehungen
tritt, oder aber er konzentriert die verschiedenen Fabrikationsstadien
_
eines bestimmten Produktes in einen
Betrieb.
Seite
187
Ihre gegenwärtigen Erfolge
dagegen erklären sich vollständig aus dem Netzwerk
von Konsumgenossenschaften,
die zu ihrer Verfügung stehen. Der Verkauf ist vereinfacht
worden und die Produktion ist möglich geworden:
dadurch,
daß zuerst der Markt organisiert wurde. Das
sind ein paar Schlüsse, die aus einem Studium der
Kleinindustrien in
Deutschland und anderswo gewonnen werden
können. Und es kann hinsichtlich Deutschlands getrost
gesagt
werden: wenn nicht Maßregeln getroffen
werden, die die Bauern dermaßen von ihrem Land
vertreiben, wie es in England der Fall war, wenn sich im Gegenteil die
Zahl der kleinen Grundbesitzer vermehrt, dann werden sie sich
notwendigerweise
neben der Landwirtschaft verschiedenen
Kleinindustrien zuwenden, wie sie es in Frankreich getan haben und
noch
tun. *jeder Schritt, der getan werden kann,
entweder zur Erweckung des geistigen Lebens
in den Dörfern oder zur Sicherung der Rechte des Bauern oder
der
Landwirtschaft auf Grund und Boden, wird
notwendigerweise das Wachstum der Industrien in den Dörfern
fördern.
Seite
191/3
Die unfruchtbaren Provinzen
Zentralrußlands .sind seit undenklichen Zeiten der Sitz
von
allen möglichen Kleingewerben gewesen, doch
verschiedene Hausindustrien modernen
Ursprungs sind gerade in den Provinzen in der Entwicklung begriffen,
die
nach Boden und Klima sehr günstig daran
sind. So ist der Regierungsbezirk Stawropol im Nordkaukasus,
wo die Bauern eine Menge fruchtbaren Boden
haben, der Sitz einer weitverbreiteten Seidenweberei
in den Bauernhäusern geworden und
versorgt Rußland mit billigen Seidenstoffen,
die die früher aus Frankreich bezogenen einfachen Seidenwaren
völlig vom
Markt verdrängt haben. In Orenburg und am Schwarzen
Meer ist die
kleinindustrielle Fabrikation landwirtschaftlicher Geräte, die
in letzter Zeit
hochkommen, ein anderes hierher gehöriges Beispiel.
Die Fähigkeiten der russischen Hausindustriearbeiter
zur genossenschaftlichen Organisation
verdienten mehr als eine flüchtige Erwähnung. Was die
Billigkeit der in
den Dörfern hergestellten Produkte
angeht, die wirklich erstaunlich ist, so kann sie nicht lediglich
durch
die außerordentlich lange Arbeitszeit und die
Hungereinnahmen erklärt werden, weil Ueber,
arbeit (12 bis 16 Arbeitsstunden) und sehr niedrige Löhne
für die
russischen Fabriken ebenfalls
charakteristisch sind. Sie kommt auch von dem Umstand, daß
der Bauer, der
seine Lebensmittel selbst erntet, aber
dem es fortwährend an Geld fehlt, die Produkte
seiner
industriellen Arbeit zu jedem Preise
verkauft. Daher sind alle Industrieprodukte, die die
russischen Bauern benutzen, außer der
bedruckten Baumwolle, das Produkt ländlicher
Industrien. Aber außerdem werden auch viele Luxusartikel auf
den
Dörfern, besonders um Moskau herum, von
Bauern hergestellt, die fortfahren, ihre Grundstücke zu
bestellen. Die Seidenhüte, die in den feinsten
Moskauer
Läden verkauft werden und den Stempel
„Nouveautés
Parisiennes" tragen, sind von den Moskauer Bauern gemacht; und
desgleichen die „Wiener" Möbel der
besten „Wiener" Geschäfte, selbst wenn sie in
Paläste verkauft werden. Und was am meisten
erstaunlich ist,
das ist nicht die Handfertigkeit der Bauern -.
Feldarbeit ist kein Hindernis für die Erlangung industriellen
Geschicks
- sondern die Schnelligkeit, mit der
sich die Fabrikation feiner Artikel in solchen Dörfern
verbreitet hat, die früher nur Waren der rohesten
Art
hergestellt hatten. Hinsichtlich
der Beziehungen zwischen Landwirtschaft
und Industrie kann man die von den
russischen Statistikern gesammelten Dokumente nicht durchgehen, ohne zu
dem Schluß zu kommen, daß die
Hausindustrie ganz gewiß die Landwirtschaft nicht
schädigt, sondern im Gegenteil das Mittel ist, sie
zu verbessern,
und das um so mehr, als der russische Bauer
mehrere Monate im Jahr nichts in den Feldern zu tun hat. Es gibt
Gegenden, wo die Landwirtschaft um der
Industrie willen völlig aufgegeben wurde, aber dies sind
Gegenden, wo sie unmöglich gemacht war durch die
sehr
kleinen Anteile, die den befreiten Leibeigenen
bewilligt wurden, und insbesondere durch die schlechte Beschaffenheit
oder den gänzlichen Mangel von Wiesen,
und ferner durch die allgemeine Verarmung der Bauern infolge
hoher
Besteuerung und sehr Scher Ablösungstaxen.
Aber überall, wo die Anteile genügend und
die Bauern nicht so sehr hoch eingeschätzt sind, fahren sie
fort, das Land zu bestellen und ihre Felder werden in
besserer Ordnung
gehalten und auch die Durchschnittszahl ihres
Viehstandes ist höher, wo die Landwirtschaft in Verbindung mit
Hausindustrien betrieben wird.
Selbst solche Bauern, deren Anteile klein sind,
finden die Mittel, mehr Land zu
pachten, wenn sie aus ihrer industriellen Arbeit etwas Geld einnehmen.
Was den verhältnismäßigen Wohlstand
-angeht, so braue ich kaum hinzuzufügen,
daß er immer auf der Seite der Dörfer
sich befindet, die beiderlei Arbeit verbinden. Vorsma und Pawlowo
-.
zwei Messerschmiededörfer, von denen eines
rein industriell ist, während die Einwohner
des andern fortfahren, den Boden zu beackern -- könnten als
treffendes
Beispiel für solche Vergleichung genannt
werden.
Seite
193
Die Tatsachen, die- wir kurz
durchgegangen sind, zeigen einigermaßen die Vorteile,
die aus einer Verbindung zwischen
Landwirtschaft und Industrie entspringen könnten,
wenn die Industrie nicht in ihrer
gegenwärtigen Gestalt einer Kapitalisten-Fabrik, sondern in
Gestalt einer
sozial organisierten industriellen Produktion aufs Dorf käme
mit voller
Unterstützung durch Maschinerie und technisches Wissen. In der
Tat ist es der auffallendste Zug der Kleingewerbe,
daß ein relativer Wohlstand nur gefunden
wird, wo sie mit der Landwirtschaft verbunden sind: wo die Arbeiter im
Besitz des Bodens geblieben sind und
fortfahren, ihn zu bestellen. Selbst unter den
Webern Frankreichs oder Moskaus, die mit der Konkurrenz der Fabrik zu
rechnen haben, herrscht relativer Wohlstand,
solange sie nicht gezwungen sind, den Boden
zu lassen. Sowie anderseits hohe Steuern oder die Verarmung
während
einer Krise den Hausarbeiter genötigt
hat, sein letztes Stückchen Land dem Wucherer zu
lassen,
schleicht das Elend in sein Haus. Der
Schwitzer wird allmächtig, man hilft sich mit
fürchterlicher Uberarbeit und das Gewerbe geht oft zu Grunde.
Seite
195/8
Aber es erhebt sich die Frage:
Warum sollten nicht die Baumwollstoffe, das Wolltuch und die
Seidenwaren, die jetzt in den Dörfern mit
der Hand gewebt werden, in denselben Dörfern
mit der Maschine gewebt werden, ohne daß die Dorfbewohner
darum aufhören, mit Feldarbeit in Verbindung zu
bleiben?
Warum sollten nicht hunderte von Hausindustrien, die jetzt
gänzlich mit der Hand betrieben
werden, zu den arbeitsparenden Maschinen übergehen, wie sie es
bereits in den
Strickereigewerben und vielen andern tun? Es gibt keinen
Grund, warum nicht der kleine Motor viel
allgemeiner als jetzt überall da verwendet
werden könnte, wo es nicht not tut, eine Fabrik zu haben; und
ebenso
gibt es keinen Grund, warum nicht das
Dorf seine kleine Fabrik überall da haben sollte, wo die
Fabrikarbeit vorzuziehen ist, wie wir es jetzt schon
manchmal in französischen Dörfern finden.
Noch
mehr: es gibt keinen Grund, warum nicht die Fabrik, mit ihrer
motorischen Kraft und ihrer Maschinerie,
der Gemeinde gehören sollte, wie es schon hinsichtlich der
Kraftanlage in
den oben erwähnten Werkstellen und
kleinen Fabriken in dem französischen Teil des Jura
der
Fall ist. Es ist offenbar, daß jetzt, unter
dem kapitalistischen System, die Fabrik der Fluch des Dorfes
ist, da sie es dahin bringt, daß
die Kinder sich überarbeiten und die
männlichen
Einwohner verarmen; und es ist ganz natürlich, daß
die arbeitende
Bevölkerung sich ihr in jeder Weise
entgegenstemmt, wenn es ihr gelungen ist, die altüberlieferten
Organisationen ihrer Gewerbe zu erhalten
(wie in Sheffield oder Solingen), oder wenn sie bisher noch
nicht dem nackten Elend preisgegeben sind
(wie im Jura). Aber unter einer rationelleren
sozialen Organisation würde die Fabrik auf keine solchen
Hindernisse
stoßen: sie wäre ein Segen für
das Dorf.
Und es ist schon jetzt eine unverkennbare Tatsache, daß eine
Bewegung in dieser Richtung in einigen Dorfgemeinden
bereits im Gange ist. Die
moralischen und physischen Vorteile, die sich für
den Menschen aus einer Teilung seiner
Arbeit zwischen Acker und Werkstatt ergeben würden, liegen auf
der Hand.
Aber die Schwierigkeit liegt, so sagt
man uns, in der notwendigen Zentralisation der modernen
Industrien. In der Industrie wie in der
Politik hat die Zentralisation so viele Verehrer! Aber auf
beiden Gebieten bedarf das Ideal
der, Zentralisten dringend der Korrektur.
Wenn wir in der Tat den modernen Industrien auf den Grund gehen, dann
finden wir bald heraus, daß für einige
allerdings das Zusammenarbeiten von hunderten oder sogar
tausenden
auf demselben Fleck wirklich notwendig ist.
Die großen Eisenwerke und Bergwerks,
unternehmen gehören 'entschieden zu dieser Kategorie;
Ozeandampfer
können nicht in dörflichen Fabriken
gebaut werden. Aber sehr viele unserer großen Fabriken sind
nichts anderes als Ansammlungen mehrerer
verschiedener Industrien unter gemeinsamer Leitung;
während viele andere bloße Ansammlungen von
hunderten von Exemplaren derselben
Maschine sind; so sind die meisten unserer riesenhaften Spinnereien und
Webereien. Da
die Fabrik ein streng privates Unternehmen ist,
finden' es ihre Eigentümer vorteilhaft, alle
Zweige einer bestimmten Industrie unter ihrer eigenen Leitung zu haben;
so häufen sie die Gewinne aus den
verschiedenen Verwandlungen des Rohmaterials. Und wenn
mehrere
tausend mechanische Webstühle . in einer
Fabrik vereinigt sind, findet der Unternehmer
seinen Vorteil dabei, da er dadurch imstande ist, den Markt zu
beherrschen. Aber vom technischen
Standpunkt aus sind die Vorteile einer solchen Häufung
unbedeutend und oft zweifelhaft. Selbst eine so
zentralisierte
Industrie wie die Baumwollbranche leidet nicht
im geringsten darunter, daß der Produktionsprozeß
einer bestimmten
Warengattung in seinen verschiedenen
Stadien unter mehrere getrennte Fabriken verteilt wird: wir sehen es
in
Manchester und seinen Nachbarstädten. Was das
Kleingewerbe angeht, so hat man in einer
noch größeren Unterteilung bei den
Werkstätten in der Uhrenindustrie und
sehr vielen andern keinen Nachteil
finden können. Wir hören oft, eine Pferdekraft sei in
einer kleinen Maschine so teuer, und in einer zehnmal so
starken Maschine so viel billiger; das Pfund
Baumwollgarn koste viel weniger, wenn die Fabrik die Zahl ihrer
Spindeln
verdoppele. Aber nach der Meinung der
besten Autoritäten im Ingenieurfach, wie z. B. Professor
W.Unwin, beseitigt die hydraulische und besonders die
elektrische Kraftübertragung von einer Zentral,
station aus den ersten Teil des Argumentes. Was den zweiten Teil
angeht,
so taugen Berechnungen dieser Art nur
etwas für die Industrien, die das halbfertige Produkt
für weitere Umwandlungen herstellen. Was die
zahllosen
Warengattungen angeht, deren Wert hauptsächlich aus der
Mitwirkung gelernter
Arbeit stammt, so können sie am besten in kleineren
Fabriken hergestellt werden, die ein paar
Hundert oder auch ein paar Dutzend Arbeiter
beschäftigen. Selbst unter den jetzigen Zuständen
haben die
Riesenfabriken große Unzuträglichkeiten
im Gefolge, da sie ihre Maschinerie nicht schnell den stets
wechselnden
Anforderungen der Abnehmer entsprechend
umwandeln können. Wie viele Zusammen,
brüche großer Unternehmungen sind auf diese Ursache
zurückzuführen! Was
die neuen Industriezweige angeht, die
ich zu Anfang des vorigen Kapitels erwähnt habe, so
müssen sie immer in kleinem Maßstab
anfangen; und
sie können im kleinen Städten ebensogut
vorwärts kommen, wie in der Großstadt, wenn die
kleineren Gemeinwesen
Einrichtungen haben, die den
künstlerischen Geschmack und die Erfindungsgabe anregen. Der
Fortschritt der in letzter Zeit in der
Spielwarenindustrie erreicht wurde, ferner die hohe Vollendung, zu
der die Fabrikation physikalischer und optischer
Instrumente, die Möbelindustrie, die
Herstellung kleiner Luxusartikel, die Töpferei gelangte, sind
hierher
gehörige Beispiele. Kunst und
Wissenschaft sind nicht länger das Monopol der
Großstädte, und in ihrer
Zerstreuung über das ganze Land werden weitere
Fortschritte gemacht
werden. Die
geographische Verteilung der Industrien in einem
bestimmten Lande hängt offenbar zu
großem Teil von einem Zusammentreffen von Naturbedingungen
ab; es ist
offenbar, daß es Orte gibt, die für die
Entwicklung bestimmter Industrien am besten geeignet sind.
Die
Ufer des Clyde und des Tyne sind sicher für Schiffsbauwerften
hervorragend
geeignet, und solche Werften müssen von
einer Menge Werkstätten und Fabriken umgürtet
werden.
Die Industrien werden immer gewisse Vorteile
daran finden, bis zu einer bestimmten Grenze
den natürlichen Eigenschaften bestimmter Gegenden entsprechend
sich zu
gruppieren. Aber wir müssen zugeben, daß
sie jetzt nicht diesen Eigenschaften gemäß gruppiert
sind. Historische Ursachen - hauptsächlich
Religionskriege und
nationale Eifersucht - haben zu ihrem Wachsen
und ihrer gegenwärtigen Verteilung viel beigetragen, und noch
mehr
Erwägungen, die sich auf die
Leichtigkeit des Verkaufs und Exports beziehen; also
Erwägungen, die eb,en
dabei sind, ihren Wert mit der wachsenden
Erleichterung des Transports zu verlieren, und die ihn noch
mehr verlieren werden, wenn die
Produzenten für sich selbst produzieren und nicht für
weit entfernte Abnehmer.
Warum soll in einer vernünftig organisierten
Gesellschaft
London ein großes Zentrum der Marmeladen- und
Konservenfabrikation bleiben, warum soll
es Schirme für fast das ganze Vereinigte Königreich
herstellen? Warum
sollen die zahllosen Kleingewerbe
Whitechapels bleiben, wo sie sind, anstatt sich über das ganze
Land zu
zerstreuen? Es liegt nicht der geringste Grund vor, warum die
Mäntel,
die die englischen Damen tragen, in Berlin und Whitechapel
eher als in Devonshire oder Derbyshire genäht werden
sollen. Warum soll Paris den Zucker
für fast ganz Frankreich raffinieren? Warum
soll die Hälfte der Schuhe und Stiefel, die in in den
Vereinigten
Staaten getragen werden, in den 1500
Werkstätten von Massachusetts hergestellt werden? Es gibt
absolut nicht den geringsten
Grund, warum diese und ähnliche
Sinnlosigkeiten bestehen bleiben sollen.
Die Industrien' müssen sich über die ganze Welt
verstreuen, und ihrer
Zerstreuung urfiter alle zivilisierten
Nationen wird eine weitere Zerstreuung innerhalb des Gebietes
einer jeden Nation notwendig folgen.
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199/200
Die Landwirtschaft kann
nicht ohne. Extrakräfte im Sommer betrieben werden; aber
noch
mehr braucht sie vorübergehende Hilfskräfte
für die Verbesserung des Bodens, für die
Verzehnfachung seiner Ertragsfähigkeit. Der Dampfpflug, die
Drainage und
die Düngung würden den schweren Lehm im
Nordwesten Londons zu einem viel reicheren Boden machen, als
es der in den amerikanischen Prärien ist. Um
fruchtbar zu werden, braucht dieser Boden
nur einfache, ungelernte Menschenarbeit, wie sie erforderlich ist, um
den Boden umzugraben, Drainagerohre
anzulegen, Phosphorfite zu pulverisieren und dergl.; und diese Arbeit
würde von den Fabrikarbeitern mit Freude
getan werden, wenn sie in einer freien Gemeinschaft zum
Nutzen der ganzen Gesellschaft richtig
organisiert wären. Der Boden verlangt diese
Hilfe, und er hätte sie in einer richtigen Organisation,
selbst wenn es
notwendig wäre, manche Werke zu diesem
Zweck im Sommer zu schließen. Ohne Zweifel würden es
die jetzigen Fabrikbesitzer für ihren Ruin
halten, wenn sie ihre Werke mehrere Monate im
Jahr schließen müßten, weil von dem
Kapital, das in einer Fabrik angelegt
ist, erwartet wird, daß es jeden -Tag
und, wenn möglich, jede Stunde Geld heckt. Aber, das ist
der
Gesichtspunkt des Kapitalisten, nicht der
Gemeinschaft. Was
die Arbeiter angeht, die die wirklichen Leiter
der Industrien sein sollten, so werden
sie es gesund finden, nicht dieselbe monotone Arbeit das
ganze
Jahr über zu verrichten, sie werden sie im
Sommer gern verlassen, wenn sie nicht
etwa Mittel und Wege finden, den Betrieb der Fabrik aufrecht zu
erhalten, indem sie einander
gruppenweise ablösen. Die
Verteilung der Industrien über das Land .. sodaß die
Fabrik mitten zwischen die
Felder gestellt wird, daß die
Landwirtschaft alle die Vorteile genießt; die sie immer in
der Verbindung mit der Industrie findet (siehe die
Oststaaten Amerikas) und daß eine Vereinigung von In-
dustriearbeit und
Landarbeit hergestellt wird .. das ist fraglos der nächste
Schritt, der
getan wird, sowie eine Reorganisation
unserer gegenwärtigen Zustände möglich ist.
Man fängt jetzt schon an, ihn zu tun, wie wir auf
den vorhergehenden
Blättern sahen. Diesen Schritt legt die
Notwendigkeit auf, für die Produzenten selbst zu produzieren;
ihn legt die
Notwendigkeit auf, daß jeder gesunde
Mensch einen Teil seines Lebens mit Handarbeit in freier Luft
verbringen
soll; und er wird erst recht notwendig
werden, wenn die großen sozialen
Umwälzungen,
die nun unvermeidlich geworden sind, den internationalen Handel unserer
Zeit in Unordnung gebracht haben werden,
so daß jedes Volk gezwungen wird, zu seiner Erhaltung zu den
eigenen Quellen zurückzukehren. Die Menschheit im
ganzen wie jedes einzelne Individuum werden bei dem Wandel gewinnen und
der
Wandel wird eintreten. Indessen schließt eine solche
Umwandlung auch eine
vollständige Änderung in unserem
gegenwärtigen Erziehungssystem ein. Sie bedeutet
eine Gesellschaft, die aus
Männern und Frauen zusammengesetzt ist, von denen
jeder und Jede imstande ist, mit eigenen
Händen wie mit eigenem Hirn zu arbeiten, und
das in mehr als einer Richtung zu tun.
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201
In alten Zeiten verachteten die
Männer der Wissenschaft und insbesondere solche, die
am
meisten getan haben, um die allgemeine
Naturwissenschaft hochzubringen, keineswegs Hand arbeit und
Handwerk. Galilei machte seine
Fernrohre eigenhändig. Newton lernte in seiner
Jugend die Kunst, mit Werkzeug umzugehen.
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Kurz, unsern großen Genies war
das Handwerk kein Hindernis für abstrakte Untersuchungen
..
es begünstigte sie eher. Wenn anderseits die
Handwerker von ehedem nur wenig Gelegenheit
fanden, sich wissenschaftlich zu betätigen, so war doch
wenigstens
vielen von ihnen der Verstand gerade
durch die Vielseitigkeit der Arbeit angeregt, die in den damals noch
nicht
spezialisierten Werkstätten vollbracht wurde.
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224
Kurz, es gibt nicht eine einzige
Wissenschaft, deren Entwicklung nicht unter einem Mangel an
Männern und Frauen leidet, die einen
philosophischen Begriff vom Weltall haben und bereit sind,
ihre Forschergaben einem bestimmten,
wenn schon begrenzten, Gebiet zuzuwenden, und
die Muße haben, sich wissenschaftlicher Betätigung
zu widmen. In einer
Gemeinschaft, wie wir sie annehmen,
wären tausende Arbeiter bereit, jedem Aufruf zur Forschung
Folge zu leisten. Darwin verwandte fast dreißig
Jahre dazu, für
die Ausarbeitung der Theorie vom
Ursprung der Arten Tatsachen zu sammeln und zu untersuchen.
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224/6
Die Geschwindigkeit des
wissenschaftlichen Fortschrittes wäre verzehnfacht, und wenn
das Individuum nicht dieselben Ansprüche wie
jetzt auf die Dankbarkeit der Nachwelt hätte, so
hätte dafür die unbekannte Masse das Werk mit
größerer Schnelligkeit und mit mehr
Aussicht
auf weiteren Fortschritt vollbracht, als das Individuum sein ganzes
Leben lang hätte tun können. Die modernen
Nachschlagewerke sind ein Beispiel für diese Art Arbeit - die
Arbeit der Zukunft. Es gibt jedoch noch einen andern Zug der
modernen Wissenschaft, der noch stärker zugunsten
der Umbildung spricht, für die wir eintreten.
Während die Industrie, besonders am Ende des vorigen und
während des ersten
Teils dieses Jahrhunderts in solchem Maße
Erfindungen
gemacht hat, daß geradezu das Aussehen der
Erde verändert worden ist, hat die Wissenschaft
ihre Erfinderkraft verloren. Die Männer der Wissenschaft
erfinden nicht
mehr oder sehr wenig. Ist es nicht
äußerst auffallend, daß die Dampfmaschine
- ja sogar ihr Prinzip - die
Lokomotive, das Dampfschiff, das
Telephon, der Phonograph, die Webmaschine, die Spitzenmaschine,
der
Leuchtturm, die macadamisierte Straße, die
Photographie, die Farbenphotographie und tausend weniger
wichtige Dinge nicht von
berufsmäßigen Männern der Wissenschaft
erfunden wurden, obwohl keiner von ihnen sich geweigert
hätte,
seinen Namen mit einer der obengenannten
Erfindungen zu verknüpfen? Männer, die kaum ein
bißchen Schulbildung
erhalten hatten, die bloß die Krumen des
Wissens von den Tischen der Reichen aufgelesen hatten und die
ihre
E)cperimente mit den primitivsten Mitteln
anstellten -. der Schreiber eines Rechtsanwalts, Smeaton, der
Instrumentenmacher Watt,
Stephenson, der die Fördermaschine bediente, der
Juwelierlehrling
Fulton, der Maschinenbauer
Rennie, der Maurer Telford und hundert andere,
deren Namen sogar unbekannt geblieben sind, waren, wie Mr. Smiles
richtig sagt, „die eigentlichen Schöpfer der
modernen Kultur"; während die
berufsmäßigen Männer der
Wissenschaft,
die alle Mittel besaßen, um sich Wissen und Erfahrung
anzueignen, in der
ungeheuren Reihe von Geräten, Maschinen und Triebwerken, die
der Menschheit
gezeigt hat, wie die Naturkräfte zu
benutzen und anzuwenden sind, wenig erfunden haben. Die Tatsache ist
auffallend, aber ihre Erklärung sehr einfad; die Watts und die
Stephensons - kannten etwas, was die
Gelehrten nicht kennen: den Gebrauch ihrer Hände; ihre
Umgebung regte ihre
Erfinderkraft an; sie kannten Maschinen,
ihr Prinzip und ihre Arbeit; sie hatten die Luft der
Werkstatt
und des Bauhofes geatmet.
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227
Der Name „angewandte
Wissenschaft" ist ganz irreführend, weil in der
großen Mehrheit der Fälle die Erfindung
durchaus keine Anwendung
der Wissenschaft ist, sondern im Gegenteil
einen neuen Zweig der Wissenschaft erzeugt.
Seite
228
...aber in der ungeheuren
Mehrheit der Fälle ist die Entdeckung oder die Erfindung
in
ihrem Anfang unwissenschaftlich. Sie gehört
viel eher ins Gebiet der Kunst -. die Kunst
geht der Wissenschaft voraus, wie Helmholtz in einem seiner
populären
Aufsätze so schön gezeigt hat - und erst
nachdem die Erfindung gemacht ist, kommt die Wissenschaft und
interpretiert sie.
Seite
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Der geniale Flug, der die
Arbeiter im Beginn der modernen Industrie ausgezeichnet hat,
ist
unsern berufsmäßigen Männern der
Wissenschaft
abhanden gekommen. Und sie werden ihn
nicht wieder gewinnen, solange sie der Welt inmitten ihrer staubigen
Bücherregale
fremd bleiben; solange sie nicht selbst
Arbeiter sind, mitten unter andern Arbeitern, bei der Glut
des Hochofens, bei der Maschine in der
Fabrik, bei der Drehbank in der Schlosserwerkstatt; Seeleute
unter Seeleuten und Fischer im
Fischerboot, Holzfäller im Wald, Pflüger des
Acker,
bodens. Unsere Kunstschriftsteller haben uns
in jüngster Zeit wiederholt versichert, daß
wir
keinen neuen Aufschwung der Kunst erwarten dürfen, solange das
Handwerk
bleibt, was es ist; sie haben gezeigt,
wie die griechische und mittelalterliche Kunst Töchter des
Handwerks waren, wie
sie einander gegenseitig nährten. Dasselbe gilt für
Handwerk und Wissenschaft;
ihre Trennung ist der Verfall beider. Was die große
Inspiration angeht, die
leider ich den meisten jüngst
gepflogenen Diskussionen über die Kunst unbeachtet geblieben
ist und sie ist der Wissenschaft ebenso abhanden
gekommen - so kann ihre Wiederkehr nur
erwartet werden, wenn die Menschheit ihre gegenwärtigen
Fesseln
zerreißt, sich von neuem auf die hohen Prinzipien
der Solidarität besinnt und den jetzigen Zwiespalt zwischen
Moral und Philosophie entfernt. Es
ist indessen klar, daß nicht alle Männer und
Frauen sich in gleicher Weise der wissenschaftlichen Tätigkeit
erfreuen können.
Die Verschiedenheit der Neigungen ist so groß,
daß
manche mehr Freude an der Wissenschaft haben,
manche andere an der Kunst und wieder
andere an einem der zahllosen Berufe der Güterproduktion. Aber
mögen die
Beschäftigungen, die Jeder vorzieht,
noch so verschieden sein, Jeder wird in seinem Beruf um so
nützlicher sein, je mehr er im Besitz einer
ernsthaften
wissenschaftlichen Bildung ist. Und wer er auch. sei .-
Gelehrter oder Künstler, Physiker oder
Arzt, Chemiker oder Soziologe, Historiker oder
Dichter - er würde gewinnen, wenn er einen Teil seines Lebens
in der
Werkstatt oder der Landwirtschaft verbrächte
(der Werkstatt und der Landwirtschaft), wenn er mit der
Menschheit
in ihrer täglichen Arbeit verbunden bliebe
und die Genugtuung hätte, zu wissen, daß
er
selbst seine Pflicht als nichtprivilegierter Produzent von
Gütern
erfüllt. Wieviel besser würden der
Historiker und der Soziologe die Menschheit verstehen, wenn sie sie
nicht bloß
aus Büchern, nicht in wenigen
Vertretern, sondern als Ganzes in ihrem täglichen Erleben
kennten! Wieviel mehr noch würde die Medizin der
Hygiene
vertrauen, und wieviel weniger den Rezepten,
wenn die jungen Arzte die Pfleger der Kranken wären und die
Pfleger die
Erziehung der Arzte unserer Zeit
erhielten! Und wie sehr würde der Dichter in seinem
Gefühl für die Schönheit der Natur
gewinnen, wieviel besser
würde er das Menschenherz kennen, wenn
der Sonnenaufgang ihn, der selbst ein Pflüger wäre,
unter den Pflügern
auf dem Felde träfe, wenn
er mit den Seeleuten auf dem Schiff gegen den
Sturm kämpfte, wenn er die Poesie der
Arbeit und des Ausruhens der Sorgen und der Freuden des Kampfes und der
Eroberung kennte! Greift nur hinein ins
volle Menschenleben! sagte Goethe; ein jeder lebt's •
nicht
Vielen ist's bekannt. Aber wie wenig Dichter
folgen seinem Ratel Die
sogenannte Teilung der Arbeit .ist unter einem
System groß geworden, das die Massen
dazu verdammte, den ganzen langen Tag und das ganze lange Leben sich
mit
derselben ermüdenden Arbeit abzuquälen. Aber wenn wir
erwägen, wie gering die
Zahl der wirklichen Güterproduzenten in
unserer Gesellschaft ist, und wie ihre Arbeit vergeudet wird,
dann
müssen wir einsehen, daß Franklin recht
hatte, als er sagte, fünf Arbeitsstunden am Tage
würden im allgemeinen genügen, um jedes
Mitglied eines Kulturvolkes mit den Annehmlichkeiten zu versorgen, die
jetzt
nur den Wenigen erreichbar sind, vorausgesetzt, daß
jeder
in der Produktion, soweit auf ihn kommt,
seine Schuldigkeit tut. Aber wir haben seit Franklins Zeit
einige Fortschritte gemacht, und einige
dieser Fortschritte in dem bisher am .meisten
zurückgebliebenen Produktionszweig sind in den vorhergehenden
Kapiteln
aufgezeigt worden. Selbst in diesem
Beruf kann die Produktivität der Arbeit ungeheuer
verstärkt werden und die Arbeit selbst leicht und
freudig gemacht
werden. Mehr
als die Hälfte des Arbeitstages würde so einem
jeden für die Betätigung in Kunst,
Wissenschaft oder jeder Liebhaberei, die ihm am Herzen liegt,
verbleiben; und seine Arbeit auf diesen Gebieten
würde um
so ersprießlicher sein, wenn er die
andere Hälfte des Tages in produktiver Arbeit verwendete .-
wenn Kunst und Wissenschaft lediglich aus Neigung betrieben
würden, nicht zu Erwerbszwecken.
Überdies wäre eine Gemeinschaft, die auf dem Prinzip
der Arbeit Aller
aufgebaut wäre, reich genug,
festzustellen, daß jeder Mensch nach Erreichung eines
gewissen
Alters -. sagen wir vierzig oder mehr .- von
der moralischen Verpflichtung, einen
direkten Anteil an der Leistung der notwendigen Handarbeit zu nehmen,
befreit und so im Stande wäre, sich
völlig dem hinzugeben, was er -. oder sie -- auf dem
Gebiet
der Kunst oder Wissenschaft oder sonst irgend
welcher Betätigung sich erwählt. Freies
Schaffen in neuen Zweigen der Kunst und des Wissens, und freie
Entwickelung wären so völlig
gewährleistet.
Eine solche Gemeinschaft würde kein Elend mitten
unter
dem Reichtum kennen. Sie kennte nicht den
Dualismus des Gewissens, der unser Leben
erfüllt und jedes edle Streben erstickt. Sie würde
frei ihren Flug nach
den höchsten Zielen lenken, die dem
Menschen erreichbar sind.
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Auf dem Gebiet der
Landwirtschaft kann es als bewiesen genommen werden, daß .-
wenn nur ein kleiner Teil der Zeit, die jetzt in
jedem Volk oder jedem Lande der Feldkultur
gewidmet wird, auf wohlüberlegte und sozial
durchgeführte fortgesetzte
Bodenverbesserung verwandt würde - die
Dauer der Arbeit, die künftig erforderlich wäre, um
eine Durchschnitts, familie von fünf Köpfen
mit der jährlichen
Brotnahrung zu versorgen, weniger.als vierzehn
Tage im Jahr betragen würde, und daß die
für diesen Zweck erforderte
Arbeit nicht das schwere Abrackern des
alten Sklaven wäre, sondern Arbeit, die für die
Körperkräfte jedes gesunden Mannes und
jeder Frau im Lande
erquicklich wäre. Es
ist bewiesen worden, daß durch die Befolgung der
Methoden der intensiven Gärtnerei -zum Teil unter Glas -
Gemüse und Obst in
solchen Mengen gezogen werden können, daß
die Mensen mit reichlicher Gemüsenahrung und einer
Fülle Obst versorgt
werden könnten wenn
sie nur der Aufgabe, es zu ziehen, die Stunden
widmeten, die jedermann gern mit Arbeit
im Freien verbringt, nachdem er den größten Teil des
Tages in der Fabrik,
dem Bergwerk oder dem Studierzimmer
verbracht hat. Vorausgesetzt natürlich, daß die
Erzeugung der Lebensmittel nicht das Werk isolierter
Individuen sein wird, sondern die planmäßige
und
vereinte Aktion von Menschengruppen. Es ist
auch bewiesen worden - und wer geneigt ist, von sich aus die Wahrheit
zu
prüfen, kann es leicht tun, wenn er den
tatsächlichen Verbrauch von Arbeit beim Bau von
Arbeiterhäusern einmal durch
Privatunternehmer, das andere Mal durch die Stadtverwaltung nachrechnet
- daß
bei richtiger Arbeitvereinigung zwanzig bis vierundzwanzig Monate
Arbeit
eines Mannes genügen würden, um einer Familie
von fünf Köpfen eine Wohnung oder ein .
Haus mit allen Bequemlichkeiten, die moderne Hygiene und moderner
Geschmack verlangen können, für immer zu
sichern. Und
es ist durch den tatsächlichen Versuch
nachgewiesen worden, daß es durch Anwendung
von Erziehungsmethoden, die seit langem empfohlen und zum Teil hie und
da angewandt worden sind, sehr leicht
ist, Kindern mit Durchschnittsintelligenz, bevor sie vierzehn
oder
fünfzehn Jahre alt geworden sind, eine
umfassende allgemeine Kenntnis der Natur wie der menschlichen
Gesellschaft beizubringen; ihren
Geist mit gesunden Methoden der wissenschaftlichen Forschung und der
technischen Arbeit zu erfüllen und ihrem Seelenleben
tiefe
Gefühle der menschlichen Solidarität und
Gerechtigkeit einzuprägen. Und ferner, daß
es
äußerst leicht ist, während der
nächsten vier oder fünf Jahre ihnen eine
tüchtige, logisch zusammenhängende
Kenntnis der Naturgesetze und eine sowohl logische wie
praktische
Kenntnis der technischen Methoden zu
verschaffen, die dazu dienen, die materiellen
Bedürfnisse
des Menschen zu befriedigen. Weit entfernt,
den „spezialisierten" jungen Menschen, die
unsere Universitäten fabrizieren, unterlegen zu sein,
übertrifft sie der
„völlige" Mensch, der im Gebrauch
von Hirn und Händen geschult ist, vielmehr in jeder Hinsicht,
besonders
als Anreger und Erfinder in Wissenschaft
und Technik. All
das ist bewiesen worden. Es ist eine
Errungenschaft der Zeit, in der wir leben
eine Errungenschaft, zu der wir
trotz der unzähligen Hindernisse gekommen sind, die
jedem
Geist, der mit -frischer Initiative auf Neues
sinnt, in den Weg gelegt werden. Sie ist erobert worden durch
die unbekannten Pflüger des
Bodens, denen gierige Staaten, Grundeigentümer
und Zwischenhändler die Frucht ihrer Arbeit, noch ehe sie reif
ist,
unter den Händen weg nehmen;
durch unbekannte Lehrer, die nur zu oft unter
dem Druck der Kirche, des Staates, der
Konkurrenz von Erwerbsbeflissenen, Geistesträgheit und
Vorurteil
zusammenbrechen. Und nun, angesichts all
dieser Eroberungen - wie sehen die Dinge in Wirklichkeit aus?
Neun Zehntel der ganzen Bevölkerung
kornexportierender Länder, wie Rußland, die
Hälfte der Bevölkerung in Ländern,
wie Frankreich,
die von im Lande erzeugten Lebensmitteln
leben, sind in der Landwirtschaft tätig - die meisten in
derselben
Weise, wie die Sklaven des Altertums,
nur um eine magere Ernte von einem Boden und mit einer Maschinerie
zu
erzielen, die sie nicht verbessern können,
weil die Steuern, die Pacht und der Wucher sie
immer ganz nahe am Rande des Hungers halten. Zu Anfang dieses 20.
Jahrhunderts pflügen ganze Bevölkerungen
mit demselben Pflug, wie ihre mittelalterlichen Vorfahren, leben
in
derselben Unsicherheit, was der morgige Tag
bringen wird, und sind ebenso sorgfältig von
der Bildung abgeschnitten; und sie sehen; wenn sie ihren Anteil am Brot
verlangen, ebenso mit Weib und Kind die
Bajonette ihrer eigenen Söhne gegen sich gerichtet, wie es
ihren Großvätern vor hundert und vor
dreihundert
Jahren ergangen ist. In
industriell entwickelten Ländern würde die Arbeit
von zwei Monaten oder gar noch viel weniger genügen, um
für eine Familie gute
und abwechslungsreiche tierische und pflanzliche Nahrung zu schaffen.
Aber die
Forschungen Engels (in Berlin) und seiner vielen Nachfolger berichten
uns, daß
die Familie des Arbeiters die volle Hälfte ihres
Jahreseinkommens für die
Ernährung ausgeben muß .- das heißt, sechs
Monate Arbeit und noch mehr. Und was
für eine Nahrungl Ist nicht Brot und Bratenschmalz die
Hauptnahrung von mehr
als der Hälfte der englischen Kinder? Ein
Monat Arbeit im Jahr wäre völlig genügend,
um dem
Arbeiter -eine gesunde Wohnung zu verschaffen. Aber er muß 25
bis 40 Prozent
seines Jahreseinkommens -. also drei bis fünf Monate seiner
jährlichen
Arbeitszeit .- ausgeben, um eine Wohnung zu erlangen, die in den
meisten Fällen
ungesund und viel zu klein ist; und diese Wohnung ist nie seine eigene,
obwohl
er im Alter von 45 und 50 Jahren sicher sein kann, von der Fabrik
entlassen zu
werden, weil die Arbeit, die er getan hat, zu der Zeit von einer
Maschine oder
einem Kind verrichtet wird. Wir
wissen alle, daß das Kind zum mindesten mit den
Naturkräften vertraut sein sollte, die es eines Tages anwenden
soll; daß es
gerüstet sein sollte, mit dem stetigen Fortschritt der
Wissenschaft und Technik
in seinem Leben Schritt zu halten; daß es Wissenschaften
studieren und ein
Gewerbe lernen sollte. jedermann wird das zugeben; aber was tun wir? Im
Alter
von zehn oder schon neun Jahren schicken wir das Kind in ein Bergwerk,
wo es
Kohlenwagen zu schieben hat; oder wir lassen es mit affenartiger
Geschwindigkeit die zwei zerrissenen Fäden in einer
Spinnmaschine
zusammenknüpfen. Im Alter von dreizehn Jahren zwingen wir das
Mädchen •- das
noch ein Kind ist - die Arbeit einer „Frau" im Webstuhl zu
tun oder in der
vergifteten, überhitzten Luft eines Baumwollwerks zu schmoren
oder vielleicht
in den Todesräumen einer Töpferei in Staffordshire
vergiftet zu werden. Was die
angeht, die das verhältnismäßig seltene
Glück haben, eine etwas bessere
Erziehung zu erhalten, so beladen wir ihren Geist mit nutzlosen
Überstunden,
berauben sie bewußt aller Möglichkeit, selbst
Produzenten zu werden, und unter
einem Erziehungssystem, dessen Motiv
„Profit" heißt und dessen Mittel
„Spezialisierung", lassen wir die Lehrerinnen, die ihre
Erziehungspflichten ernst nehmen, sich einfach zu Tode arbeiten. Welche
Fluten
zweckloser Leiden verheeren jedes sogenannte Kulturland der Welt! Wenn
wir in vergangene Zeiten zurückblicken und da
dieselben Leiden sehen, mögen wir sagen, daß sie
vielleicht damals wegen der herrschenden Unwissenheit unvermeidlich
waren. Aber
uns hat der Menschengeist, von unserer modernen Renaissance getrieben,
den Weg
zu ' neuen Möglichkeiten gewiesen. Tausende
von Jahren hintereinander war die Erlangung
der Nahrung die Last, wenn . nicht der Fluch des Menschengeschlechts.
Aber es
braucht nicht länger mehr so zu sein. Wenn man sich den Boden
und zum Teil auch
die Temperatur und die Feuchtigkeit, die jede Anpflanzung braucht,
selbst
macht, dann wird man sehen, daß die Gewinnung der
jährlichen Nahrung für eine
Familie unter rationellen Kulturbedingungen so wenig Zeit erfordert,
daß sie
fast eine Erholung von andern Beschäftigungen bedeuten kann.
Wenn die Menschen
zum Boden zurückkehren und mit ihren Nachbarn zusammenwirken,
anstatt hohe
Mauern zu errichten, um sich vor ihren Blicken zu verbergen; wenn sie
benutzen,
was der Versuch uns bereits gelehrt hat,
und die Wissenschaft und technische
Erfindung zu Hilfe nehmen, die sich unsern Anforderungen nie versagen
man sehe nur, was sie für die Kriegsführung
getan haben - dann werden sie erstaunt sein, wie leicht es
ist, dem Boden eine reiche und
mannigfaltige Nahrung abzugewinnen. Man
wird staunen, welch tüchtige Kenntnisse unsere Kinder an
unserer Seite
erwerben, wie schnell ihre Intelligenz
wächst, und wie leicht sie die Gesetze der belebten und
unbelebten
Natur erfassen werden. Habet
die Fabrik und die Werkstatt dicht neben euren
Feldern und Gärten und arbeitet ' in
ihnen. Natürlich nicht solche Großbetriebe, in denen
riesige Massen Metall
zu verarbeiten sind, die besser an
bestimmten Stellen stehen, wie sie die Natur angewiesen hat,
sondern die zahllosen verschiedenen
Werkstellen und Fabriken, deren man bedarf,
um die unendliche Verschiedenartigkeit des Geschmacks unter
zivilisierten Menschen zu befriedigen.
Nicht solche Fabriken, in denen Kinder das ganze Aussehen von
Kindern in der Atmosphäre einer
Industriehölle verlieren, sondern die luftigen und
hygienischen und also auch wirtschaftlich
zweckmäßigen Fabriken, in denen das
Menschenleben mehr gilt als Maschinen und das Herausschlagen von
Extragewinnen, Fabriken, von denen wir
hie und da bereits jetfit ein paar Beispiele finden; Fabriken
'und Werkstätten, in die Männer, Frauen und
Kinder nicht vom Hunger getrieben,
sondern von der Lust gezogen werden, eine Tätigkeit zu finden,
die ihren
Neigungen entspricht und wo sie, vom
mechanischen Triebwerk und der Maschine unterstützt,
den
Beruf ausüben, der ihnen am besten zusagt. Diese
Fabriken und Werkstätten mögen errichtet
werden, nicht um durch den Verkauf von
wertlosen und schädlichen Dingen an geknechtete Afrikaner
Profite zu
erzielen, sondern um Millionem von
Europäern mit dem zu versorgen, was sie brauchen,
aber
nicht haben. Und wiederum wird man staunen,
wenn man sieht, mit welcher Leichtigkeit
und in wie kurzer Zeit die Bedürfnisse der Menschen nach
Kleidung und
tausend Luxusartikeln
befriedigt werden können, wenn die
Produktion im Gange ist, um wirklicheBedürfnisse zu
befriedigen, anstatt
Aktienbesitzer mit hohen Profiten zu befriedigen oder in die
Taschen von Gründern und Schwindeldirektoren
Gold zu schütten. Sehr bald werden die
Menschen voller Interesse für diese Arbeit sein und werden
Gelegenheit haben, sich des Eifers ihrer Kinder zu
freuen, mit der Natur und ihren Kräften vertraut zu
werden, die Mächte der Maschinerie kennen zu
lernen und neueVerbesserungen zu erfinden.
So ist die Zukunft - die bereits möglich, bereits erreichbar
ist; und so
ist die Gegenwart • die bereits verurteilt und im Begriff ist
zu verschwinden.
Und was uns hindert, dieser Gegenwart
den Rücken zu kehren und dieser Zukunft zuzugehen, oder
wenigstens die ersten Schritte in ihrer Richtung zu tun,
ist nicht der „Bankerott der Wissenschaft", sondern
vor allem unsere krasse Habgier - die
Gier des Mannes, der die Henne tötete,
die die goldenen Eier legte -. und dann unsere Geistesträgheit
.. die
Denkfeigheit, die in der Vergangenheit so sorgsam gepflegt wurde.
Jahrhunderte
hindurch haben die Wissenschaft und der
sogenannte gesunde Menschenverstand dem Menschen gesagt: „Es
ist gut, reich zu
sein, imstande, wenigstens die materiellen
Bedürfnisse zu befriedigen; aber das einzige Mittel, reich zu
sein,
besteht darin, den Geist und die Anlagen
so zu schulen, daß ihr imstande seid, andere Menschen
Sklaven,
Leibeigene oder Lohnarbeiter .- zu zwingen,
für euch diese Reichtümer zu erzeugen. Ihr habt keine
Wahl. Entweder müßt ihr
in den Reihen der Bauern und
Handarbeiter stehen, die jetzt, die Nationalökonomen und
Moralisten
mögen ihnen für die Zukunft versprechen,
was sie wollen, von Zeit zu Zeit nach jeder schlechten Ernte
oder während ihrer Streiks zum Hungern
verdammt sind und von ihren eigenen Söhnen
niedergeschossen werden müssen, sowie sie die Geduld
verlieren, oder ihr
müßt eure Anlagen so ausbilden,
daß ihr
ein militärischer Befehlshaber der Massen seid
oder ein Rad in der Regierungsmaschinerie des Staates bilden
dürft oder
in Handel und Industrie ein Unternehmer
und Aufseher von Menschen werdet." Viele
Jahrhunderte lang gab es keine andere Wahl, und
die Menschen folgtem diesem Rat, ohne
ihr Glück darin zu finden, entweder für sich und ihre
eigenen Kinder, oder für die, die sie .- wie sie
behaupten - vor
schlimmerem Mißgeschick bewahrten. Aber
das moderne Wissen kann denkende Menschen einen
andern Weg weisen. Es sagt ihnen, daß sie, um reich zu sein,
nicht andern das
Brot vom Munde nehmen müssen; sondern
daß es ein vernünftiges Resultat gäbe, wenn
eine Gesellschaft von Menschen mit der Arbeit ihrer eigenen
Hände
und Hirne und mit Hilfe der bereits
erfundenen und noch zu erfindenden Maschinen sich alle denkbaren
Reichtümer schaffen würde. Die Technik
und Wissenschaft werden nicht zurückbleiben, wenn die
Produktion eine solche Richtung einschlägt: Geleitet
von
Beobachtung, Untersuchung und Versuch,
werden sie allen denkbaren Anforderungen entsprechen. Sie werden die
Zeit
verkürzen, die zur Herstellung von
Gütern in jeder gewünschten Menge notwendig ist,
sodaß jedem Menschen so viel Muße bleibt,
wie er
begehrt. Sie können gewiß nicht das
Glück garantieren, weil das Glück ebenso sehr, wenn
nicht mehr, vom
Individuum selbst abhängt, wie von
seiner Umgebung. Aber sie garantieren wenigstens das Glück,
das
in dem vollständigen und mannigfachen
Gebrauch der verschiedenen Fähigkeiten des
Menschen gefunden werden kann, in der Arbeit, die keine
übermäßige
Arbeit zu sein braucht, und in dem
Bewußtsein, daß man sich nicht bemüht,
sein Glück auf dem Elend Anderer aufzubauen. Das
sind die Aussichten, die diese nun beendete
Untersuchung einem unparteiischen Geiste
eröffnet.
Das Land
der Techniker.
Das
Kommissariat'für Volksaufklärung in
Sowjetrußland
hat kürzlich auf dem Kongreß der
Vertreter der technischen Hochschulen bekanntgegeben, daß es
beabsichtige,
der ganzen russischen Jugend eine
technische Ausbildung zu geben. Auch das gehört zur
Arbeitsmobilisierung Sowjetrußlands. Kein
Land der Erde hat jemals an eine derartige
Verallgemeinerung des technischen Fachunterrichts gedacht, wie man sie
jetzt in Bußland in Angriff nimmt, und
zwar höchst realpolitisch, in Anlehnung an das
Vorhandene.
Andererseits aber nicht engherzig
fachtechnisch, sondern auf einer breiten allgemeinen
Bildungsgrundlage stehend. Man denkt nicht
daran, ein Volk von Fachmenschen zu
schaffen, wohl aber ein Volk, das imstande ist, den
Arbeitsprozeß
wissenschaftlich zu - verfolgen und
somit seine Förderung energisch zu betreiben.
„DER WOHLSTAND FÜR ALLE" (la conquête du
pain)
von Peter Kropotkin.
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149
Die Litteratur, die Wissenschaft
und die Kunst müssen von Freiwilligen bedient
werden.
Nur unter dieser Bedingung werden sie dazu
gelangen, sich vom Joche des Staates, des
Kapitals und der bürgerlichen
Mittelmäßigkeit, worunter sie heute
ersticken, zu befreien.
Seite
154
Heute hat die Stadt aufgehört,
ein Ganzes zu sein. Keine Ideengemeinschaft besteht mehr. Die
Stadt ist nur ein Haufen zufällig
zusammengewürfelter Menschen, die sich nicht kennen,
die keine gemeinschaftlichen Interessen
haben, ausgenommen das Interesse, sich zu bereichern, und
zwar auf Kosten der großen Masse; das
Vaterland existiert nicht..... Welches Vaterland könnte auch
der internationale
Bankier und der Lumpensammler gemeinsam haben?
Seite
312
Wenn wir die Ziffern
rekapitulieren, die wir über den Ackerbau gegeben haben,
Ziffern, die beweisen, daß die Bewohner der beiden
Departements Seine und Seine-et-Oise voll=
kommen auf diesem Territorium leben können, indem sie im Jahre
nur sehr
wenig Zeit darauf verwenden, um ihre
Nahrung zu erzielen, so erhalten wir:
Departements Seine et Seine-et-Oise:
Zahl
der Bewohner im Jahre 1886................................ 3600000
Oberfläche
in Hektaren................................................... 610000
Durchschnittszahl
der Bewohner pro Hektar...................... 5,90
Oberfläche,
erforderlich bei der
Einwohnerzahl:
Zum
Bau der nötigen
Cerealien...................................... 200000
Zur
Erhaltung der notwendigen Wiesen......................... 200000
Zur
Kultur der Gemüse und Lu)cusfrüchte
(7000)........... 10000
Verbleibt
für Häuser, Verkehrswege, Parks,
Forsten..... 200000
Die
Quantität jährlicher Arbeit, die
notwendig, um die oben
angegebenen Flächen zu ameliorieren
und zu kultivieren
(in Arbeitstagen ä 5 Stunden):
Getreide
(Bau und Ernte)............................................ 15000000
Wiesen,
Milde, Aufziehen von Schlachtvieh............... 10000000
Kultur
von Gemüse und Lu)cusfrüchten
etc...............
33000000
Unvorhergesehenes....................................................
12000000
Summa........................................................................
70000000
Wenn
man annimmt, daß nur die Hälfte der
Erwachsenen (Männer wie Frauen) sich mit
dem Ackerbau beschäftigen wollte, so müßten
sich die 70000000
Arbeitstage auf 1200000 Individuen
verteilen. Dies hieße für jeden dieser Arbeiter 58
Arbeitstage ä 5 Stunden.
Seite
313
Man sieht klar die neuen
Horizonte, die der kommenden sozialen Revolution eröffnet
sind
jedesmal, wenn wir von der Revolution
sprechen, furcht der ernsthafte Arbeiter, der seine Kinder
einst ohne Brot gesehen hat, die Stirn
und wiederholt uns: „Und das Brot?" Wird
man nicht dessen ermangeln, wenn jedermann nach Verlangen essen kann?
Und wenn dasfladhe Land, unwissend,
von der Reaktion bearbeitet, die Stadt aushungert, wie es die
schwarzen Banden im Jahre 1793 getan haben?
Was wird dann werden?
Möge
es das flache Land nur versuchenl Die Großstädte
werden des
flachen Landes entbehren können. Welcher
Mühe sollten sich jene Hunderttausende von
Arbeitern, die heute in den kleinen
Werkstätten und Manufakturen dahinsiechen, an dem Tage widmen,
wo sie
ihre Freiheit erlangen? Werden sie auch
nach der Revolution in ihren ungesunden Arbeitsräumen hocken?
', Werden sie fortfahren, Luxusspielsachen für
den Export zu produzieren zu einer Zeit, wo
sie sehen, daß das Getreide ausgeht, das Fleisch rar wird,
das Gemüse
aufgebraucht wird, ohne durch neues
ersetzt zu werden? Offenbar nein! Sie werden die Stadt verlassen,
sie
werden auf die Felder ziehen! Unterstützt von
der Maschine, die selbst den Schwächsten
unter uns gestattet, mit Hand anzulegen, werden sie die Revolution in
die Landwirtschaft einer sklavischen
Vergangenheit tragen, ebenso wie sie dieselbe in die Institutionen und
in die Ideen getragen haben. Dann
werden sich Hunderte von Hektaren mit
Wärmhäusern bedecken, und Mann und Weib
werden daselbst die jungen Pflanzen mit behutsamen Fingern pflegen.
Dort
werden andere
Hunderte Hektare mit dem Dampfschälpflug bestellt und mittels
Düngers oder künstlicher
Erde, die man aus der Pulverisation von Felsen gewonnen, verbessert
werden.
Legionen freudiger gelegentlicher
Feldarbeiter werden auf diesen Hektaren eine bienenhafte
Tätigkeit entfalten,
geleitet, geführt bei ihrer Arbeit und bei
ihren Versuchen zum Teil von denen, die
der Landwirtschaft kundig sind, hauptsächlich aber durch den
großen und
praktischen Geist eines Volkes, das von
einem langen Schlummer erwacht ist und welchem der Weg von
jener herrlichen Leuchte erhellt und gewiesen
wird - von dem Glücke Aller.
AUS DEM BRIEFE EINES CHINESEN
mitgeteilt
von G. L.
Dickinsson. („Republik", 23. 1. 19.)
„In
einer Euerer Zeitungen las ich kürzlich, daß die
Zivilisierung Chinas das Endziel der
westlichen Nationen sei. Die Frage, die mir immer vorschwebt, wenn ihr
von Zivilisation sprecht, ist diese:
„Was
für Menschen hat Eure Zivilisation
hervorgebracht?" " Es ist
möglich, daß jede Kultur, unsere sowohl wie Eure,
nur ein oberflächlicher Anstrich ist, und
daß tief in den Höhlen des
menschlichen Herzens das Raubtier
lauert, welches bereit ist, sich auf seine Beute zu stürzen,
wenn durch
Zufall oder Absicht
die Tür seines Käfigs offen gelassen wurde
... Ich gehe deshalb von solchen Szenen zu den alltäglichen
Lebensverhältnissen
über. Welche Art Menschen, frage ich, sind wir, welche Art
Menschen seid Ihr,
daß Ihr es auf Euch nehmen könntet, uns Barbaren zu
nennen? Welche
Art sind wir? Die Frage ist schwer zu
beantworten. Um Euch von dem, was ich im Sinne habe, einen Begriff zu
geben,
kann ich nichts Besseres tun, als, so treu es mir gelingt, ein Bild
dessen zu
malen, das mir immerfort in Erinnerung ist, während ich in
trostlosen
Wintertagen durch die rauchgeschwärzten Straßen
Euerer Großstädte gehe. Fern
im Osten, unter einem Sonnenscheine, wie ich ihn
hier nie gesehen denn das Licht, das Ihr habt, verdunkelt Ihr mit
rußigem
Rauch, am Ufer eines breiten Flusses steht das Haus, wo ich geboren
wurde. Es
ist eines unter Tausenden; aber ein jedes steht in seinem eigenen
Garten,
einfach weiß oder grau angestrichen, bescheiden, freundlich
und rein.
Wohlhabende Bauern bevölkern die ganze Gegend, die Felder
besitzend und
bebauend, welche vor ihnen ihre Väter besaßen und
bebauten. Vom Boden, den sie
bearbeiteten, können sie behaupten, daß sie und ihre
Vorfahren ihn selbst
gemacht haben. Denn siehe! Beinahe bis zum Gipfel der einst
unfruchtbaren Hügel
weht es grün mit Baumwollpflanzungen und Reisfeldern, mit
Zuckerrohr,
Orangebäumen und Teesträuchern. Wasser, aus dem
Fluß emporgepumpt, umgürtet die
Abhänge mit einem Silberband, und in tausend kleinen Kaskaden,
von Kanal zu
Kanal fallend, in Zisternen plätschernd, den Boden
tränkend und durchdringend,
spendet er allen freigebig und in gleichem Maße Fruchtbarkeit
und grünendes
Leben. Wenn wir in China Manieren, Kunst und Moral haben, so ist die
Ursache
davon für die, die sehen können, nicht weit zu
suchen. Die Natur hat uns
gelehrt; und soweit haben wir nur mehr Glück gehabt als Ihr.
Aber wir haben
auch den Verstand gehabt, zu lernen, was uns gelehrt wurde; und dies,
denke
ich, kann man unserer Intelligenz zuschreiben. Denn bedenkt: in diesem
lieblichen Tal leben Tausende von Menschen ohne irgendwelche Gesetze,
außer
jenen der Gewohnheit, ohne jede Herrschaft, außer jener ihres
eigenen Herzens.
Arbeitsam sind sie, von einem Arbeitsfleiß, wie ihn Ihr im
Westen kaum kennt,
aber es ist die Arbeit freier Menschen, die für jene arbeiten,
die ihnen
nahestehen, auf dem Land, welches sie von ihren Vätern
übernommen, um es,
bereichert durch ihre Arbeit, ihren Kindern zu überliefern.
Sie haben keinen
anderen Ehrgeiz, sie sind nicht bestrebt, sich Reichtümer
zusammenzuscharren.
Unter solchen Menschen kann es keinen wilden, unziemlichen Wettbewerb
geben.
Keiner ist Herr, keiner ist Diener, sondern die Gleichheit, die
wirkliche
tatsächliche Gleichheit regelt und erhält ihre
gegenseitigen Beziehungen.
Gesunde Arbeit, genügende Muße, offene
Gastfreundschaft, eine Zufriedenheit,
welche durch die Gewohnheit begründet und durch keinen
unerfüllbaren Ehrgeiz
gestört wird. Sinn
für Schönheit, durch die denkbar schönste
Natur
wachgehalten und seinen Ausdruck in
anmutigen und ehrwürdigen Umgangsformen findend, und
zum
Schaffen wunderbarer Kunstwerke anregend -
das sind die wesentlichen Eigenschaften der Menschen, unter denen ich
geboren
bin. Malt
meine Erinnerung ein allzu schönes Bild? Doch
dieses eine weiß ich: daß ein solches
Leben, wie ich es beschrieben, entstanden auf der Grundlage der
Arbeit
auf dem Lande, von Gleichheit und
Gerechtigkeit, tatsächlich in ganz China
besteht und gedeiht. Was
könnt Ihr uns dagegen bieten, die Ihr Euch
anmaßt, uns zu zivilisieren? Euere
Religion? Ach, es ist in ihrem Namen, daß Ihr unnennbare
Greuel verübt!
Euere Moral? Wo ist denn die zu finden?
Euere Intelligenz? Wohin hat sie Euch geführt?
Was für ein Gegenbild könnt Ihr uns bieten zu dem,
welches ich vom
Leben in China gezeichnet? . . . "
NIETZSCHE: VOM NEUEN GÖTZEN
Irgendwo
gibt es noch Völker und Herden, doch nicht
bei uns, meine Brüder: da gibt es
Staaten. Staat? Was ist das? Wohlan! Jetzt tut mir die Ohren
auf, denn jetzt sage ich euch mein Wort
vom Tode der Völker. Staat
heißt das kälteste aller kalten Ungeheuer. Kalt
lügt es auch, und diese Lüge kriecht aus
seinem Munde: „Ich, der Staat, bin das Volk." Lüge
ist's. Schaffende waren es, die schufen die
Völker und hängten einen Glauben und
eine Liebe über sie hin: also dienten sie dem Leben.
Vernichter sind es, die stellen Fallen auf
für Viele und heißen sie Staat: sie hängten
ein Schwert und hundert Begierden
über sie hin. Wo
es noch Volk gibt, da versteht es den Staat nicht
und haßt ihn als bösen Blick und
Sünde
an Sitten und Rechten. Dieses
Zeichen gebe ich euch: jedes Volk spricht
seine Zunge des Guten und Bösen: die
versteht der Nachbar nicht. Seine Sprache erfand es sich in
Sitten
und Redeten. Aber
der Staat lügt in allen Zungen des Guten und
Bösen; und was er auch redet, er lügt
und was er auch hat, gestohlen hat er's Falsch
ist alles an ihm; mit gestohlenen Zähnen beißt
er, der Bissige. Falsch sind selbst
seine Eingeweide. Sprachverwirrung
des Guten und Bösen:
dieses Zeichen gebe ich euch als Zeichen
des Staates. Wahrlich, den Willen zum Tode
deutet dieses Zeichen! Wahrlich, es
winkt den Predigern des Todes. Viel
zu viele werden geboren: für die
Überflüssigen
ward der Staat erfunden! Seht mir doch,
wie er sie an sich lockt, die Viel-zu-Vielen! Wie er sie
schlingt
und kaut und wiederkäut! „Auf
der Erde ist nichts Größeres als ich: der
ordnende Finger bin ich Gottes"
also brüllt das Untier. Und nicht nur Langgeohrte und
Kurzgeäugte sinken auf die Kniel Ach,
auch in euch, ihr großen Seelen, raunt er seine
düsteren Lügenl Ach, er errät die
reichen Herzen, die gerne sich verschwenden! ja,
auch euch errät er, ihr Besieger des alten
Gottesl Müde wurdet ihr im Kampfe, und
nun dient eure Müdigkeit noch dem neuen
Götzen!
Helden und Ehrenhafte möchte er um sich aufstellen, der neue
Götze!
Gerne sonnt er
sich im Sonnenschein guter
Gewissen -- das kalte Untier! Alles
will er euch geben, wenn ihr ihn anbetet, der
neue Götze: also kauft er sich den Glanz
eurer Tugenden und den Blick eurer stolzen Augen.
Ködern will er mit euch die Viel-zu-Vielen:
ja, ein Höllenkunststück ward da erfunden,
ein Pferd des Todes, klirrend im
Putz göttlicher Ehren! Ja,
ein Sterben für viele ward da erfunden, das sich
selber als Leben preist: wahrlich, ein
Herzensdienst allen Predigern des Todes! Staat
nenne ich's, wo Alle Gifttrinker sind, Gute und
Schlimme':. Staat, wo Alle sich selber
verlieren, Gute und Schlimme: Staat, wo der langsame Selbstmord Aller
.- „das Leben"
heißt. Seht
mir doch diese Überflüssigen! Sie stehlen sich
die Werke der Erfinder und die Schätze
der Weisen: Bildung nennen sie ihren Diebstahl -. und alles
wird ihnen zu Krankheit und Ungemach! Seht
mir doch diese Überflüssigen! Krank sind sie immer,
sie erbrechen ihre Galle und nennen es Zeitung. Sie
verschlingen
einander und können sich nicht einmal
verdauen. Seht
mir doch diese Überflüssigen! Reichtümer
erwerben sie und werden ärmer damit. -
Macht wollen sie, und zuerst das Brecheisen der Macht, viel Geld,
-diese
Unvermögenden! Seht,
sie klettern, diese geschwinden Affen! Sie
klettern über einander hinweg und zerren
sich also in den Schlamm und die Tiefe. Hin
zum Throne wollen sie alle: ihr Wahnsinn ist es
als ob das Glück auf dem Throne
säßel
Oft sitzt der Schlamm auf dem Thron - und oft auch der Thron
auf dem Schlamme. Wahnsinnige
sind sie mir alle und kletternde Affen
und Überheiße. Übel riecht mir
ihr
Götze, das kalte Untier; übel riechen sie mir alle
zusammen, diese Götzendiener. Meine
Brüder, wollt ihr denn ersticken im Dunste
ihrer Mäuler und Begierden? Lieber
zerbrecht doch die Fenster und springt ins Freie. Geht doch
dem schlechten Geruche aus dem Wegel
Geht fort von der Götzendienerei der
Überflüssigen. Geht
doch dem schlechten Geruche aus dem Wege! Geht
fort von' dem Dampfe dieser
Menschenopferl Frei steht
großen Seelen auch jetzt noch
die Erde. Leer
sind noch viele Sitze für Einsame und Zweisame,
um die der Geruch stiller Meere weht. Frei
steht noch großen Seelen ein freies Leben.
Wahrlich, wer wenig besitzt, wird um so
weniger besessen: gelobt sei die kleine Armut
Dort, wo der Staat aufhört, da beginnt erst der Mensch, der
nicht über flüssig
ist: da beginnt das Lied des Notwendigen, die einmalige und
unersetzliche Weise. Dort,
wo der Staat aufhört -- so seht mir doch hin, meine
Brüder! Seht ihr ihn nicht, den
Regenbogen und die Brücken des
Übermenschen?
Also sprach Zarasthustra.
LENIN, STAAT UND REVOLUTION
Von
einer plötzlichen restlosen Beseitigung des
Beamtentums an allen Orten kann keine
Rede sein. Dies wäre Utopie, aber den alten Beamtenapparat
sofort zu
zertrümmern und gleichzeitig mit dem Bau
eines neuen zu beginnen, der die allmähliche Beseitigung
jeglichen Beamtentums ermöglicht - das ist keine
Utopie, sondern eine Erfahrung der Kommune, es
ist die direkte auf der Tagesordnung des revolutionären
Proletariats
stehende Aufgabe.
ENGELS
Der
Staat ist nicht von Ewigkeit her. Es hat
Gesellschaften gegeben, die ohne ihn
fertig wurden, die von Staat und Staatsgewalt keine Ahnung hatten. Auf
einer bestimmten Stufe der ökonomischen Entwicklung, die mit
Spaltung der
Gesellschaft in Klassen notwendig
verbunden war, wurde durch diese Spaltung der Staat eine Notwendigkeit.
Wir
nähern uns jetzt mit raschen Schritten einer Entwicklungsstufe
der Produktion, auf der das Dasein dieser Klassen
nicht nur aufgehört hat, eine Notwendigkeit
zu sein, sondern ein positives Hindernis der Produktion wird. Sie
werden
fallen, ebenso unvermeidlich, wie sie
früher entstanden sind. Mit ihnen fällt unvermeidlich
der Staat. Die Gesellschaft, die die Produktion auf
Grundlage freier und gleicher Assoziation der
Produzenten neu organisiert, versetzt die ganze Staatsmaschine dahin,
wohin sie dann gehören wird: ins Museum für
Altertümer, neben das Spinnrad und
die bronzene Axt.
ENGELS
in „Herrn Eugen
Dührings Umwälzung der Wissenschaft.
Das
Proletariat ergreift die Staatsgewalt und
verwandelt die Produktionsmittel zunächst
in Staatseigentum. Aber damit hebt es sich selbst als Proletariat,
damit
hebt es alle Klassenunterschiede und
alle Klassengegensätze auf und damit auch den Staat als
Staat.
Die bisherige, sich in Klassengegensätzen
bewegende Gesellschaft hat den Staat nötig,
das heißt eine Organisation der jedesmaligen ausbeutenden
Klasse zur
Aufrechterhaltung ihrer äußeren
Produktionsbedingungen, also namentlich zur gewaltsamen
Niederhaltung
der ausgebeuteten Klasse in den durch die
bestehende Produktionsweise gegebenen
Bedingungen der Unterdrückung Sklaverei, Leibeigenschaft oder
Hörigkeit,
Lohnarbeit). Der Staat war der
offizielle Repräsentant der ganzen Gesellschaft, ihre
Zusammenfassung in einer
sichtbaren Körperschaft, aber er war- dies nur, insofern er
der Staat derjenigen Klasse war, welche selbst für
ihre
Zeit die ganze Gesellschaft vertrat: im
Altertum Staat der sklavenhaltenden Staatsbürger, im
Mittelalter des
Feudaladels, in unserer Zeit der
Bourgeoisie. Indem er endlich tatsächlich
Repräsentant der ganzen Gesellschaft wird, macht er
sich selbst
überflüssig. Sobald es keine
Gesellschaftsklasse
mehr in der Unterdrückung zu erhalten gibt,
sobald mit der Klassenherrschaft und dem
in der bisherigen Anarchie der Produktion begründeten Kampf
ums
Einzeldasein auch die daraus
entspringenden Kollisionen und Exzesse beseitigt sind, gibt es nichts
mehr zu reprimieren (unterdrücken), das eine
besondere Repressionsgewalt, einen Staat, nötig
machte. Der erste Akt, worin der Staat wirklich als
Repräsentant der
ganzen Gesellschaft auftritt • die
Besitzergreifung der Produktionsmittel im Namen der Gesellschaft .-
ist
zugleich sein letzter selbständiger Akt als
Staat. Das Eingreifen einer Staatsgewalt in
gesellschaftliche Verhältnisse wird auf . einem Gebiete nach
dem anderen
überflüssig und schläft dann von
selbst
ein. An die Stelle der Regierung über Personen tritt
die
Verwaltung von Sachen und die Leitung von
Produktionsprozessen. Der Staat wird nicht „abgeschafft", er
stirbt ab.
Hieran ist die Phrase vom „freien Volksstaat" zu
messen, also sowohl nach ihrer zeitweiligen
agitatorischen Berechtigung, wie nach ihrer
endgültigen wissenschaftlichen Unzulänglichkeit;
hieran ebenfalls die
Forderung der sogenannten Anarchisten,
der Staat solle von heute auf morgen abgeschafft werden. Das
kommunistische Manifest von Fr. Engels fordert in
Artikel 28, Absatz 6: Beseitigung aller
ungesunden und schlecht gebauten Wohnungen und Stadtviertel.
Aus „Friedrich
Hölderlin, HYPERION", 1798.
Es
ist auf Erden alles unvollkommen, ist das alte
Lied der Deutschen. Wenn doch einmal
diesen Gottverlassenen einer sagte, daß bei ihnen nur so
unvollkommen alles ist, weil sie nichts Reines
unverdorben, nichts Heiliges unbetastet lassen mit den
plumpen Händen, daß bei ihnen nichts
gedeiht, weil sie die Wurzel des
Gedeihens, die göttliche Natur nicht achten, daß bei
ihnen eigentlich
das Leben schal und sorgenschwer und
übervoll von kalter stummer Zwietracht ist, weil sie
den Genius verschmähen, der Kraft und Adel in
ein menschlich Tun, und Heiterkeit ins Leiden, und Lieb und
Brüderschaft den Städten
und Häusern bringt. Und darum fürchten
sie auch den Tod so sehr, und leiden, um des Austernlebens
willen alle Schmach, weil Höheres sie nicht
kennen, als ihr Machwerk, das sie sich
gestoppelt. O
Bellarmin! Wo ein Volk das Schöne liebt, wo es den
Genius in seinen Künstlern ehrt, da
weht, wie Lebensluft, ein allgemeiner Geist, da öffnet sich
der scheue Sinn, der Eigendünkel schmilzt, und fromm
und
groß sind alle Herzen, und Helden
gebiert die Begeisterung. Die Heimat aller Menschen ist bei solchem
Volk
und gerne mag der Fremde sich verweilen.
Wo aber so beleidigt wird die göttliche
Natur und ihre Künstler, ach! da ist des Lebens beste Lust
hinweg, und
jeder andere Stern ist besser, denn die
Erde. Wüster immer,öder werden da die
Menschen,
die doch alle schön geboren sind; der Knechtsinn
wächst, mit ihm der
grobe Mut, der Rausch wächst mit den
Sorgen, und mit der Uppigkeit der Hunger und die
Nahrungsangst; zum Fluche wird der Segen
jedes Jahr und alle Götter fliehn.
DAS VERKEHRTE EINER AUF GEWALT GEGRÜNDETEN LEBENSEINRICHTUNG
von
Tolstoi
Warum
ist das Christentum so verdorben, warum ist die
Sittlichkeit so tief gesunken? Das hat
nur eine Ursache: es ist der Glaube an die wohltätigen Folgen
der auf Gewalt gegründeten Institutionen. Nichts
ist der Verwirklichung des Reiches Gottes auf
Erden so im Wege, wie die Tatsache, daß
die Menschen es durch Taten herbeiführen wollen, die ihm
direkt
zuwiderlaufen, nämlich durch Gewalt. Nur
wenn dem Bösen nicht mit Gewalt Widerstand
geleistet wird, kommt es dahin, daß an
Stelle der Gewalt die Liebe trittl Dem
Menschen ist nur Macht über sich selbst gegeben.
Nur sein eigenes Leben kann man so
gestalten, wie man für gut und nötig findet. Dabei
sind aber fast alle Menschen damit beschäftigt, das
Leben Anderer zu regeln, und um das zu
erreichen, unterwerfen sich die Menschen den Maßregeln, die
Andere für sie
ergreifen. Die Beeinflussung des
sozialen Lebens durch Gewaltmaßregeln, die nichts mit
der
Arbeit am eigenen Innern zu tun haben, ist
gerade so, wie das Wederaufbauen eines
eingestürzten Gebäudes aus unbehauenen Steinen ohne
Kalk nach einem neuen Plan. Wie man auch baut, es hat niemals
Sinn;
das Gebäude wird immer wieder
einstürzen.
Tolstoi, TAGEBUCH
2.
Oktober 99. Anarchie heißt nicht das
Fehlen aller lnstitutionen, sondern das Fehlen
von lnstitutionen, denen sich zu unterwerfen die Menschen durch Gewalt
gezwungen werden; nur solche
Institutionen gelten, denen die Menschen sich aus freien
Stücken, aus Vernunft fügen. Es scheint,
daß
eine Gesellschaft von vernunftbegabten Wesen anders nicht sein
könnte.
27.
Oktober 99. Unser Leben ist Befreiung
des Eingeschlossenen, Erweiterung der
Grenzen, in denen ein unendliches Prinzip wirkt.
18.
Dezember 99. Die Grausamkeit hat vor
allem auf Grund der neueren Arbeitsteilung zugenommen, die die
Vermehrung der
materiellen Güter des Menschen fördert.
.Alle sprechen von den .Vorteilen der Arbeitsteilung, ohne
einzusehen,
daß eine notwendige Folge der Arbeitsteilung
- außer der Maschinisierung des Menschen
auch die Ausschaltung aller Bedingungen ist, die einen
menschlichen,
moralischen Verkehr unter den Menschen
erzeugen.
6. Juli
98. Das Leben Christi ist
besonders als Beispiel dafür wichtig, daß
der Mensch die Früchte seiner Arbeit unmöglich sehen
kann. Und dies um so weniger, je bedeutender sein Werk ist.
13.
Januar 98. Eine Frage von ungeheurer
Wichtigkeit, und ich müßte gut auf sie
eingehen.
Die Frage der Organisation, jeder
Organisation, die uns von irgendwelchen menschlichen,
persönlichen, moralischen
Verpflichtungen entbindet. Alles Übel der Welt kommt
davon. Menschen werden zu Tode geprügelt,
prostituiert, betäubt .. und niemand hat
schuld. Dagegen-müssen
die Anbeter der Macht vor der Macht zu
Kreuze kriechen.
5.
Januar 97. Man mag einen Kristall
stoßen, auflösen, drücken so viel
man
will bei der ersten Gelegenheit nimmt er wieder seine alte
Form
an. So wird die Gesellschaftsordnung dieselbe
bleiben, welchen Veränderungen man sie auch unterwerfen mag.
Die Form des
Kristalles wird erst dann eine andere
werden, wenn in ihm eine innere chemische
Veränderung sich vollzogen haben wird. So ist es auch mit der
Gesellschaft. Niedergang der
Volksdichtung und Musik; Versklavung des Volkes und -
Buchdruckerkunst.
Wichtig ist der Inhalt, dann bildet sich die
nötige Form von selbst. Das Leben
ist eine Vermehrung von Liebe,
eine Erweiterung unserer Grenzen.
Ludwig Rubiner.
Das
Reich der Liebe, der geistigen Gemeinschaft, das
Gottesreich, staatlos, grenzenlos,
gewaltlos - auf der wirklichen Erde aufgebaut: eine neue
Unsterblichkeit
tut sich auf. Eine Unsterblichkeit, die
nicht auf dem Ruhme des Einzelnen ruht, sondern auf dem
wissenden Einherschreiten im ungeheuren Zuge
der Mitmenschen. Ein ewiges Leben öffnet
sich auf Erden; das ist: sich wissend als Blutstropfen fühlen,
der durch
den Körper des Menschengeschlechtes
rinnt.
Die Leitsätze der
„Clarté".
1.
Das soziale Gesetz, das unsre Gesellschaft
beherrscht, ist schlecht. Es bedeutet: Vorrechte,
Willkür, Zusammenbruch und Mord.
2.
Der größte Teil der Menschheit hat bis auf den
heutigen Tag in Sklaverei gelebt, die
Willkür einiger Weniger, deren Stärke in der
Zauberkraft der
Uberlieferungen bestand, hat sie
zermalmt, hat sie gemetzelt. Also, daß die Unwissenheit sich
stärker erwies,
als die wahre Kraft. Auf solchem Unsinn
ist alles aufgebaut.
3.
Die Mißbräuche stützen einander, die
Fortschritte
heben einander auf. Was zur Hälfte
schlecht ist, wird schlimmer. Wenn man nicht alles ändert,
ändert man
nichts.
4.
Die Grundsätze einer gerechten Gesellschaftsordnung
sind einfach. Alle großen Denker, alle
großen Sittenlehrer, alle Religionsstifter waren immer einig
über die
Grundsätze. Die Wirklichkeit ist
vernünftig.
5.
Die Macht soll Allen gemeinsam sein, wie das
Ideal. Nur die Arbeit ist ehrenhaft, gleichgültig, ob es die
Hände sind, die
sie verrichten, oder der Geist. Sie allein hat ein Recht auf
Entlohnung. Spekulation ist ein
Verbrechen an der Masse, Erbschaft ist Diebstahl.
6.
Die Gleichheit soll darin bestehen, daß für alle
Mitglieder der Gemeinschaft genau die
gleichen sozialen Lebensmöglichkeiten bestehen. Das Ziel des
Klassenkampfes ist die Aufhebung der
Klassen.
7. In der
sozialen Gemeinschaft soll kein
Unterschied des Geschlechtes gelten.
8.
Wer einen Krieg vorbereitet, bereitet den ewigen
Krieg vor. Die Landesgrenzen und die
wirtschaftlichen Grenzen sind, eine nach der andern, immer schlimmer,
eine als die andere.
9.
Auf dieser Erde gibt es nur: persönliche
Interessen und ein einziges gemeinsames Interesse. In
Wahrheit gibt es keine Ausländer. Logik
und Moral sind international.
10.
Das noch unsichere, aber so ergreifende Tasten
der heutigen Völker nach mehr Glück
kündet ein neues Zeitalter an, das an Reinheit und
Größe das christliche
übertreffen wird.
11.
Durch den Geist sind die Dinge fortgeschritten.
Die geistigen Menschen haben die Pflicht,
ihr Leben für den Fortschritt hinzugeben.
12.
Wer nichts tut, kämpft für das Bestehende.
Aus „Paul Scheerbart, Ich
liebe dich" Verlag Schuster & Löffler, Berlin 1897.
Seite
14
„Herr Doktorl Sie wissen, daß sich in den
letzten Jahren in den letzten Jahrzehnten unseres
Jahrhunderts - bei allen denen, die mit der
Welt mitzuleben gewöhnt sind, eine
merkwürdige
Hinneigung zum Landleben entwickelte. Wir wollen alle raus! Auch die
größte Großstadt ist
für uns zu engl Der
Zug nach dem freien Lande, nach dem freiliegenden Hause, ist,
wie
Sie wissen, ein gewaltiger Zug unserer Zeit,
und der hat mich naturgemäß auch ergriffen
..
mitgerissen! Es wurde mir daher vor ein paar Jahren so schrecklich
klar,
daß die Lösung aller möglich=
Fragen nur
durch „eine radikale Dezentralisation der Menschen und
ihrer
Wohnstätten" herbeigeführt werden
könnte. Herr Doktor, Sie wissen auch, daß ich
in
einem besonderen Buche, das leider auch heute
noch nicht gedruckt ist, für die großen
Dezentralisationsideen leidenschaftlich ins Zeug ging. Diese Ideen
ließen sich, wie ich ausführte, nur nach einer
radikalen Umwälzung unserer
Verkehrsverhältnisse durchführen. Sollten
die einzelnen Menschen in freier Natur im eigenen Hause :-
ungestört von
Nachbarn- und Straßenlärm .- fern von
allen Verkehrs-, Vergnügungs- und Arbeitszentren die besten
Stunden ihres Lebens verbringen, so müßten
die
einzelnen Menschen zu diesen Verkehrs-, Vergnügungsund
Arbeitszentren mit den
flinkesten Bahnen gelangen können, da ja die
erwähnten
Zentren von den Wohnstätten sehr weit
entfernt liegen würden. - Hören Sie, Herr
Rechtsanwalt, noch einen Augenblick
zu! Ich bin gleich zu Endel Ich trat bekanntlich ganz
energisch
für eine Abschaffung sämtlicher
Dampfeisenbahnen ein und wollte überall elektrische, wo
möglich noch schnellere
Bahnverbindungen. Diese zweifellos eklig revolutionären
Ideen
und Forderungen erregten nun in gewissen
Kreisen, die ich Ihnen leider nicht näher bezeichnen
kann, Furcht und Entsetzen. Das wird Ihnen ja
ganz erklärlich erscheinen, wir haben ja oft
genug über meine „Muster-Revolution" gesprochen. Was
war also die
Folge, als ich mein Buch endlich
herausgeben wollte? Wissen Sie, was die Folge war? Zwischen
Champagner
und Austern nahm man mir das Versprechen ab,
mein Buch vorläufig in meinem Schreibtisch
noch weiter lagern zu lassen. Und damit ich meinen Haß gegen
die
Dampfeisenbahnen ein bißchen abkühlen
könnte, verpflichtete man sich, mir Fahrkarten erster Klasse
für sämtliche Länder der Erde zu
überreichen, - wenn ich
Reiselust verspüren sollte. Knausern taten die
Leute natürlich auch hierbei, denn ich bekomme immer nur
Fahrkarten für
meine eigene Person, meine Begleitung
will man mir nicht bezahlen. Infolgedessen sehen Sie mich
anitzo
hier ganz allein Ihnen gegenüberl Ist Ihnen jetzt der ganze
Rummel
klar?" Müller
begriff allmählich; ich zeigt' ihm noch einige
Papiere und Briefe, die das Gesagte bewiesen.
Seite
19
Die Lampen erlöschten. Das verschlafene
Morgenlicht drang durch die offenen Fenster, und ich
erinnerte meinen Freund an meine
Glaspaläste, von denen ich ihm schon öfters
vorgeschwärmt hatte. Ich
wollte ja mit meinen Dezentralisationsideen nicht
zu bäurischer Einfachheit zurück im Gegenteill Der
Zukunftsmensch sollte mitten
im freien Lande, ungestört von Nachbarn und
Straßenlärm, auf den Glanz der üppigsten
Kultur und Kunst nicht
verzichten. Das Haus des Zukunftsmenschen
sollte palastähnlich mit dem kostbarsten Email und Mosaik, mit
den
entzückendsten Glasgemälden ausgestattet werden;
gerade das Glas, das
glänzendste Baumaterial der Erde, sollte
die erste Rolle in den Zukunftshäusern spielen.
Seite
202/3
Ich faßte also wieder mal
meine Ansichten über die Bedeutung des Eremitentums
zusammen.
„Wenn der Mensch," sprach ich, „ein
Mensch ist und als solcher das Höchste leisten
möchte
das Höchste .. so kann er doch heutzutage, wo
die Menschen immer noch an der Ober
fläche
der Erde kleben, höchstens dieser Oberfläche
der Erde ein anderes Aussehen geben er kann nur die Erdphysiognomie
verändern
wollen! Ich bin mir natürlich bewußt, das
diese
Idee nicht meine Idee ist, sondern daß diese Idee von der
Mutter Erde
ausgeht. Mir scheint es nun -. ich kann mich ja
täuschen • aber es scheint mir, daß
die Erde sich momentan auf einer
Entwickelungshöhe befindet, die ihr nicht mehr ganz recht ist;
der Stern
„Erde" ist nach meiner Meinung zu
idyllisch und zu ruhig in unserer Zeit; er möchte wieder
sensibler werden. Die Sensibilität eines kosmischen
Wesens wird
indessen durch eine Vervielfältigung und Verfeinerung seiner
Organe
herbeigeführt. Nehmen wir an, daß die
Städte und Dörfer, die von Menschen bewohnt
werden, die vorzüglichsten
Organe der Erde sind, so werden wir, wenn
wir eine Vervielfältigung und Verfeinerung dieser Organe
erstreben, eine
radikale Dezentralisation der Menschheit herbeizuführen suchen
müssen.
Hoffentlich ist Dir diese Titanenidee nicht zu stark!"
Müller
lachte und tat so, als könnte ihm jemand auf
der Erde noch was Größeres und Bedeutenderes
vorerzählen! Ich ärgerte mich beinahe, fuhr jedoch
eifrig fort: „Sieh,
Egon, ich geh' in die Einsamkeit, um den
Leuten das Einsamleben vorzumachen, damit
sie's mir nachmachen und auf diese Weise die Dezentralisation
durchführen! Verstehst du nun? Ich gehe
noch weiterl Soll die Sensibilität der Erde
vergrößert werden, so ist es nicht
genügend, daß ihre Organe an allen
Punkten einzeln vorstechen - ich meine: es ist
noch nicht genug, daß die Menschen bloß einsam
leben - sondern sie
müssen. in ihrer Einsamkeit
auch sensibler werden. Um diese
Sensibilität der Menschen zu erzeugen, befürwortete
ich in der Architektur eine
umfangreichere Verwendung des Glases, da dieses
glänzende und leicht herstellbare Material in intensivster
Weise auf die
menschlichen Nerven einwirkt. Aus meiner
Eremitenhöhle heraus werde ich daher für das Glas in
der Architektur eine lebhafte Propaganda machen. Das
untätige
Eremitentum liegt mir fern. Ich will ja
noch außerdem durch das, was ich schreibe und dichte, die
Sensibilität
der Menschheit erhöhen. Weißt Du nun,
warum ich in die Einsamkeit gehe und was ich da machen will?
Gut! Noch einmal hätt' ich's Dir auch nicht
gesagt!"
„Von der Form des
Menschen"
U.
Rukser in „Der
Einzige"
Aber:
diese Atomisierung der Menschheit geschieht
nicht als Selbstzweck. Vielmehr entsteht
dann, wenn alle Menschen zu der ihnen gemäßen Form,
d. h. zur inneren Organisierung nach einem bestimmten
Harmoniegesetz gelangen, etwas Allen Gemeinsames. Wenn übet
und in Allen das
Gesetz steht: sei dir selbst getreu, sei
du selbstl dann sind sie eben durch dies ihnen gemeinsame Prinzip
verbunden. Ist aber die Atomisierung so
weit gelungen, daß dieses Gesetz, statt von außen
gegeben zu sein, in die Person herein genommen und eine Allen
gemeinsame Bindung und Verwandtschaff vorhanden ist, dann muß
gleichzeitig
etwas entstehen, was auch der Sache nach
neu ist. Dann wird an die Stelle der durch zufällige Addition
gebildeten
Masse bei Fortbestehen der
Individualitäten eine durch innere Uebereinstimmung
und
organische Notwendigkeit entstandene formale
Wesenheit treten, eine höhere Einheit
als Staaten sein können, die Menschheit. Dann wird es erlebt
werden, daß diese nicht einfach eine Addition aller
nur möglichen Menschentiere ist, sondern
ein Organismus auf einer höheren Existenzstufe, und erst in
dem Sinne
kann es heißen: Nur alle Menschen machen
die Menschheit aus, nur alle Kräfte zusammen die Welt.
Novalis.
Die
Menschheit ist der,höhere Sinn unseres Planeten,
der Nerv, der dieses Glied mit der obern
Welt verknüpft,-das Auge, was er gen
Himmel hebt. Wir sind auf
einer Mission: zur Bildung der Erde sind wir berufen.
Aus „Paul Scheerbart,
Glasarchitektur", Berlin
Verlag
„Der Sturm", 1914.
Seite
38
Die Großstädte sind in der jetzigen Form noch
nicht fünfzig Jahre alt. Sie können
ebenso schnell verschwinden, wie sie gekommen sind. Auch die
Schienenwege der Dampfeisenbahn sind
nicht unsterblich.
Seite
79
„... die unnatürliche Ansammlung von
Menschen in größeren Städten..."
Die freien Sekten in Amerika werden mit dem Bau von Glastempeln wohl
die
ersten sein, die auf religiösem Gebiete
die Glasarchitektur einen guten Schritt vorwärts
bringen.
Es wäre nötig, hier zu betonen, daß die
ganze
Glasarchitektur von den gotischen Domen
ausgeht. Ohne diese wäre die Glasarchitektur garnicht denkbar;
der
gotische Dom ist ihr Präludium.
Seite
107
XCIV.
Das
zukünftige „Reisen".
"In
der-Zukunft wird man
„reisen", um sich neue Glasarchitektur anzusehen, die an
allen
Orten der Erde immer wieder anders aussehen
wird. Der
„Glasarchitektur" wegen zu reisen, hat doch
jedenfalls einen Sinn; man darf doch an
anderen Orten sehr wohl neue Glaseffekte „erwarten". Es ist
ja auch
anzunehmen, daß neun Zehntel der
Tagespresse nur von neuen Glaseffekten berichten wird. Die
Tagespresse „braucht" das Neue .• darum wird
sie dem Glase nicht feindlich gesinnt sein.
Seite 115 Die
Umwandlung der
Erdoberfläche. Immer
wieder klingt uns manches so märchenhaft,
während es garnicht phantastisch oder utopistisch
ist. Vor achtzig Jahren kam die Dampfbahn und wandelte
tatsächlich, wie
niemand leugnen wird, die ganze
Erdoberfläche um. Nach
dem bislang Gesagten soll also die Erdoberfläche
abermals umgewandelt werden -- und zwar
durch die Glasarchitektur. Kommt sie, so „wandelt" sie die
Erdoberfläche
„um". Dazu gehören natürlich noch
andere Faktoren, die hier nicht erörtert werden sollen. Durch
die Dampfbahn ist die heutige
Backsteingroßstadtkultur erzeugt, an der wir
alle leiden. Die
Glasarchitektur wird erst kommen, wenn die
Großstadt in unsrem Sinne aufgelöst ist.
Daß
diese Auflösung kommen muß, ist allen denen, die
eine weitere Entwicklung unserer Kultur
im Auge haben, vollkommen klar. Darüber
zu reden, lohnt sich nicht mehr.
Seite
119
Wenn die Häuslichkeit so ist,
daß in ihr auch die kühnsten Phantasieen realisiert
erscheinen, so hört die
Sehnsucht nach dem Anderen einfach auf.
C. Ballod in der „Freiheit"
vom
B. Februar 1919:
Um
die volle städtische Selbstversorgung mit allen
Nahrungsmitteln und Faserstoffen (Flachs,
Wolle) zu erreichen, sind auch bei hohen Ernten (Ernten in der
doppelten
Höhe der bisherigen deutschen statistischen
Durchschnittsernten) je ein Morgen
gleich 1/4 ha Land auf je einen Kopf der
Bevölkerung erforderlich. Für Berlin brauchte man
danach rund 1h Million Hektar, für
Groß-Berlin 900000 bis 1 Million
Hektar. Das heißt also: einschließlich
von
40 Prozent nichtlandwirtschaftlichen Bodens brauchte man für
Groß-Berlin
etwa ein Quadrat von 120 Kilometer
Seitenlänge, um die volle reichliche Selbstversorgung zu
ermöglichen. Die Ränder eines solchen
Quadrates würden reichen
im Süden bis nahe an Wittenberg, im Norden
bis Schwedt und Neuruppin, im Osten bis zum Oderbruch, im Westen bis
Brandenburg an der Havel. Wir wollen uns
aber zunächst bescheiden mit der Frage, eine wie
große Landfläche etwa
erforderlich ist, um der Bevölkerung ungefähr die
heutige „Kriegsration"
an Nahrungsmitteln zu gewährleisten. Die
Antwort ist, daß der Bodenbedarf dazu
überraschend
klein ist, kaum über 120000 Hektar Felder und
30000 Hektar Wiesen, d. h. nur 30 Prozent der
für eine reichliche Ernährung in Aussicht genommenen
Fläche. 120000
Hektar Adler bedeuten allerdings fast
das Vierzehnfache der heutigen „agtierten" Berliner
Rieselfelder. Die
Rieselfelder würden aber gerade noch ausreichen, um die
für Höchsternten nötige
Wassermenge und die nötigen Dungstoffe
zu verabreichen, Zuschüsse sind erforderlich an
Kalidünger.
(Hiernach
erforderliche Landfläche für
Groß-Berlin........
24400 qkm
Einwohnerzahl
von Groß-Berlin rund 31/2 Millionen
Gesamtfläche
der Mark Brandenbur...............................
39836 qkm
Also
bleiben für die 2112 Millionen Menschen außer
Groß-Berlin......................................................................
39836 - 24400 qkm = 15436 qkm
Danach
könnte sich die Mark Brandenburg
einschließlich Berlin vollkommen selbst versorgen.)
In
Deutschland kommen auf einen Kopf 7700 qm Land.
“
Belgien
“
“
“
“ 3700
“
“
“
Holland
“
“
“
“ 5300
“
“
“
England
“
“
“
“
6300
“
“
“
Frankreich
“
“
“
“ 12800
“
“
Aus der
“FreienwissenschafiLsoziaLAgrar-Correspondenz"
Max
Dieckgräber.
In
Belgien gibt es keinen Großgrundbesitz und in
systematischer Weise ist hier der Grundbesit3 verteilt, zum Segen des
Landes.
Eine wohlüberlegte Einteilung hat zugleich
dafür
gesorgt, daß je nach der Beschaffenheit des
Bodens die Erzeugnisse gezüchtet werden, und
nach der Ernte findet ein entsprechender Austausch statt. Es
ist demnach wohl verständlich, daß die Besitzer
solcher befriedigender Lebensverhältnisse
entsetzt waren, als sie erfahren mußten, daß die
Deutschen ihr lediglich
auf rein friedliche Entwicklung und die
Wohlfahrt des Einzelnen bedachtes Gemeinwesen überfielen. Mit
einem uns heute wohl verständlichen Zorn versuchten
die so überraschten Belgier vielfach, an in ihren
Händen befindlichen Angehörigen des deutschen
Volkes, Gleiches mit Gleichem zu vergelten. Noch
im Süddeutschen findet man, daß dort ein
Großgrundbesie zu den Seltenheiten gehört
,
doch schon ist dort der Besie nicht in gewissen Schranken gehalten,
sondern ausdehnungsfähig, welches sich immer mehr verbreitet,
je weiter wir nach
dem Osten kommen. Mit dem
Großgrundbesitz nimmt aber auch
das Elend, die Unfreiheit und das Tierische, oder
drücken
wir uns nachsichtiger aus: maschinenmäßige
Betätigung der Volksmehrheit zu, während
der
einzelne Herrenmensch immer brutalere Formen annimmt. In
Rußland hat nun
der Großgrundbesite eine ganz widersinnige Form angenommen,
daß es gar nicht
verwunderlich ist, daß ein
Zusammenbruch, der über kurz oder lang unabwendbar war,
erfolgte. Nun
erleben wir es aber, daß die Formen, welche den
Großgrundbesitz aufzuteilen bemüht sind,
derartige sind, daß das Volksganze dabei zugrunde geht. Daher
soll es wohl
unser Ziel sein, derartige Verhältnisse
zu erlangen, wie sie z. B. in Belgien zu unserer Bewunderung
gefunden wurden, aber jedenfalls ist der Weg
dahin und darüber hinaus doch ein anderer
und jedenfalls längerer, als einige Stürmer
für gut befinden, denn die
teilweise habsüchtige und knechtische,
von allem aber zum großen Teil bisher unfreie Natur der
östlichen
Bevölkerungsschichten, girrt lediglich zusammen und
reißt nur nieder, anstatt
an eine Herbeiführung gesunder
Verhältnisse zu denken. Die
Mehrzahl dieser Menschen 'ist nur bemüht, nachdem
sie selbst für sich etwas errafft hat,
andere in ihre Arbeitsfrohn wieder zu pressen. Wenn ich nur habel ist
ihre Devise. Darum erst nach der
Erziehung dieser Zeitgenossen werden wir den Großgrundbesitz
voll-. kommen abbauen können, bis dahin aber
dürfte
ein solcher, wo er besteht, erhalten bleiben,
am besten allerdings in Form von Genossenschaften, welche
möglichst den
Großgrundbesitz übernehmen sollten, denn
nur einer klarblickenden und ruhigen Zeitepoche kann es
vorbehalten
sein und bleiben, eine exakte Regelung dieser
Frage herbeizuführen. Allerdings dürfte
dann
der Besitz des Einzelnen kein größerer werden
dürfen, als er allein zu
bearbeiten, ev. mit einem oder zwei
Eleven zu bearbeiten imstande ist, freilich unter
Berücksichtigung der jeweiligen Bodenbeschaffenheit
(schwer oder
leicht etc.), mit dem ganz besonderen Verbot,
daß schulpflichtige Kinder zu keiner Landarbeit herangezogen
werden
dürfen, denn jedes Kind hat das
Recht auf eine spielfrohe
Jugend.
Walt Whitman, ZERSTREUTE NOTIZEN:
Im
gewöhnlichen Erdboden, in Getreide, Vieh, Luft,
Bäumen usw. und in der unmittelbaren Berührung damit
liegt ein feines Etwas,
welches das einzig reinigende und '
dauernde Element für Individuum und Gesellschaft bildet. Ich
würde es gerne
sehen, wenn
die unmittelbare Beschäftigung mit
Landwirtschaft immer allgemeiner würde.
Ihre Ergebnisse sind die einzigen, auf welche Gott
herabzulächeln
scheint. Welche anderen -.. welches
Geschäft, welcher Profit, Reichtum ohne Makel? Welches
Vermögen sonst .-
welcher Dollar .- ist nicht mehr oder weniger Zeichen und
Resultat
von Betrug, Lüge, Unnatur?
Leo Tolstoi, Mein Glaube. Kap. X.
Seite
255/6
Eine der ersten und von Allen
anerkannten Bedingungen zum Glück ist ein
Leben, in welchem der Zusammenhang des Menschen mit der Natur nicht
zerstört ist, d. i. ein Leben unter freiem Himmel, bei
Sonnenlicht und freier Luft; Gemeinschaft mit der Erde, mit
Pflanzen und
Tieren.
Aus „Gustav Theodor
Fechner, Tagesansicht".
Die
Schritte der Religion sind groß, aber langsam.
Sie braucht Jahrtausende zu einem Schritt. Der zum Fortschritt
aufgehobene
Fuß schwebt schon sich senkend in der
Luft; wann wird sie ihn niederselten?
DER TOD DES ROTEN REGIMENTS
(aus dem Englischen von Richard A. Schaefter)
Der
Herausgeber einer Soldatenzeitung für die
russische weiße Armee erzählte dem
Korrespondenten der in New-York erscheinenden antibolschewistischen
jüdischen Zeitung „Der Tag"
folgende Begebenheit. Der Korrespondent versicherte wegen der
Ungeheuerlichkeit der Geschehnisse
seinen Lesern ausdrücklich, daß er die
Erzählung buchstäblich so
wiedergebe, wie er sie Wart für Wort von
dem Russen vernommen habe. „
... wie Sie wissen werden, änderten die Bolschewiki
die Namen ihrer alten Regimenter, So
tragen die Moskauer Truppen z. B. alle die Initialen Karl Liebknechts
auf ihren
Schulterklappen. Wir nahmen einmal ein ganzes Regiment gefangen, das zu
diesen
Karl LiebknechtTruppen gehörte. Die Gefangenen wurden
verhört. Diese Verhöre an
der weißen Front sind kurz und bündig:
jeder Gefangene wird gefragt, ob er Kommunist sei, und wenn er
es
zugibt, sogleich zum Tode des Hängens oder des
Erschießens verurteilt. Und die Roten
wußten
sehr wähl um dieses unser abgekürztes Verfahren!
Leutnant
K., der mit -der Exekution der Verurteilten
betraut war, trat vor die Front des
Regiments und sagte streng und kalt: „Diejenigen unter euch,
die wirklich
Kommunisten sind, können jetzt ihren Mut
beweisen, indem sie zwei Schritte vortretenl" Eine
entsetzliche, atemlose Pause ... die Gefangenen
wußten, was diese Frage bedeutete.. Dann
. . . erst zögernd, dann entschlossen, tat über die
Hälfte des Regiments die
beiden verhängnisvollen Schritte. Ich
hatte noch niemals vorher Gelegenheit, der
Vollziehung eines solchen Urteils beizuwohnen.
Doch halt! Ich vergaß: ich sah schon einige Zeit
früher einmal einen
gefangenen Kommunisten. Ihm hatte man
den Vorzug gewährt, von hinten erschossen zu werden. Mit
seinem Rücken den Gewehren zugekehrt, wurde er
erschossen
und fiel vornüber in das hohe Gras . .
Und noch eine Episode hat sich meinem Gedächtnis
eingeprägt: der Tod des
Generals Nikalajew, einer von Trotzkis
befähigsten Armeekommandanten. Er wurde gefangen und
bekannte, Kommunist zu sein. Er wurde
verurteilt, sich selbst zu hängen. Wir bereiteten
ihm den Galgen in Hamburg j. auf dem Marktplatze neben dem dortigen
Karl Marx-Denkmal, einer Kopie der in Moskau
aufgestellten Statue...
Richard A. Schaefter.
Doch
ja, das Regiment... Die Herausgetretenen
wurden natürlich erschossen. Aber vorher
hatten sie noch ihr eigenes Grab zu graben. Gewöhnlich fand
die
Hinrichtung von Kommunisten nach
Sonnenuntergang statt auf einem Felde nahe der Kirche. Es
ist Dämmerung, die Luft ist angefüllt mit
Blumenduft und der grüne Turm der Dorfkirche
schaut über die Pappeln hinweg, die ihn umrahmen. Sie schlafen
schon. Am
Tage niemals ruhend, stehen sie fett in
der Dämmerung, da auch nicht das kleinste Lüftchen
weht, bewegungslos und scheinen sorgenvoll auf die
hölzernen Kreuze des Friedhofs hinabzublicken.
Das traurige Geschehen hat eine Menge Zuschauer angelockt: Bauern,
Frauen, Kinder, Soldaten. Scheu
zusammengedrängt stehen sie, wie Schafe bei einem Sturm. Die
Verurteilten
werden aufgefordert, ihre Kleider
abzulegen. Die Front ist arm und die Uniformen sind bitter
nötig; sie werden von den weißen Soldaten
gebraucht.
Und um die Uniformen vorm Beschädigen
durch die Kugeln und vorm Besudeln mit Blut zu bewahren, werden die
Gefangenen gezwungen, sich zu
entkleiden, bevor man sie erschießt. Zögernd
entledigen sie sich ihres Hemdes,
rollen ihre Kleider zu einem Bündel und
legen es beiseite. Es ist sehr sonderbar: Man könnte
meinen, sie entkleideten sich, um zu baden. Dort
standen sie frierend in dem Feld. und ihre Haut
erschien im Mondlicht von ungewöhn,
licher Weiße, fast durchscheinend. Einige von ihnen erhalten
Spitzhacke,
andere Spaten, und sie beginnen große
gemeinsame Gräber auszuwerfen. Ich erinnere mich genau,
daß mir der Gedanke kam, wie entsetz1ich es sein
müsse,
das kalte Eisen des Spatens mit dem bloßen
Fuß in die Erde zu pressen; es muß ins Fleisch
schneiden. Es dauerte
geraume Zeit, bis die Kommunisten ihre
Gräber ausgehoben hatten. Nach einer Viertelstunde war erst
ein halber Meter Tiefe erreicht. Zufällig
berührten
meine Finger meine Seite. Ich fühlte, daß
meine
Kleider vollständig feucht vom Tau waren, der gleich einem
feinen milden
Regen herabfiel. Das Gras bog sich unter
schweren Tropfen. Mit den Stiefmütterchen .. diesen
kleinen
Blümchen in der Farbe von Menschenaugen -
glich das Feld einem Teppich. Und in jedem
Auge hing gleichsam eine Träne. Und die nackten Kommunisten
gruben... Als
eine halbe Stunde vergangen war, befahl Leutnant
K. seinen Leuten, beim Ausschachten zu
helfen. Er war sehr nervös und die ganze Sache schien ihm
peinlich: das Graben,
das Warten, die ganze schreckliche
Umgebung. Die Soldaten treten an die Seite der Verurteilten
Es wird dunkler und dunkler und ist immer
schwieriger, die Nackten von den Uniformen zu
unterscheiden: nur noch ein Gewimmel wogender Glieder ist dort.
Leutnant
K. und ich treten näher hinzu und nun
erkenne ich die Einzelnen auch wieder. Hier haben drei oder vier
ein
gemeinsames Grab ausgehoben. Ich kann nur
ihre Schultern noch sehen, ihre Körper verbirgt
mir die Grube, in der sie stehen. Aber
schließlich haben die Gräber die nötige
Tiefe.
Die Verurteilten seufzen vor Erschöpfung.
Viele von ihnen werfen sich auf die weiche feuchte Erde, um zu
verschnaufen. Es ist ihre letzte Ruhe.
Jett erst sehe ich, daß viele von ihnen Verbände
tragen: sie sind verwundet
... Nervös und unzusammenhängend,
beinahe als ob er stottere, fragt Leutnant K. nach ihren
letzten Wünschen. Ein paar streifen dünne
Ringe von den Fingern und geben sie dem
Leutnant. Zwei waren von Petersburg. Einer hat Familie, der andere
hinterläßt
eine Frau . . . Die. meisten haben
keinen Wunsch mehr; ihr Gefühl ist schon tot, als ob sie
längst gestorben seien. Ich kann mir ihre
völlige Ruhe und
Gleichgültigkeit nicht erklären. Es ist eine
typische
russische Gleichgültigkeit. Ich
fragte einen von ihnen, was ihn zum Kommunisten
gemacht. Eigentümlich kalt und abweisend
antwortete er: „Das verfluchte Leben. Die Welt braucht
Glückt"
Richard A. Schaefter.
Die
Soldaten halten ihre Gewehre schußbereit. Die
nackten Kommunisten stehen an ihren
Gräbern, dicht aneinander; eine weiße Mauer im
Mondlicht . . . Ein
Kommando, ihm folgt grelles Aufblitzen
und Knall der Salve ... Sie stehen noch gerade und stolz
aufgerichtet.
Eine zweite Salve ... Die Kugeln trafen
einige in die Brust, Blut quillt hervor. Aber die meisten
sind nur leicht verwundet. jetfit
folgt Salve auf Salve. Nach jeder eine kleine Pause, in der
ich tiefe wehklagende Seufzer höre. Es
werden ihrer weniger und weniger. jetzt rufen
die noch Lebenden aus: „He, ihr cal Nehmt besser Ziell"
Einige
zeigen auf ihr Herz: „Hierher
zielen!" ... Und Schüsse knallen: Und Blut fließt
... Endlich
sind alle tot ... Einige fielen am Rande der
Grube, die meisten sind hineingefallen
in ihr Grab. Es ist alles vorbei. Nichts stört die Ruhe ...
Novalis.
„Es
wird so lange Blut über Europa strömen, bis die
Nationen ihren fürchterlichen Wahnsinn
gewahr werden, der sie im Kreise herumtreibt. ... Keine hoffe
die
andre zu vernichten, alle Eroberungen wollen
hier nichts sagen, denn die innerste
Hauptstadt jedes Reiches liegt nicht hinter Erdwällen und
läßt sich
nicht erstürmen ... Die anderen Weltteile warten auf Europas
Versöhnung und
Auferstehung, um sich anzuschließen und Mitbürger
des Himmelreichs zu
werden. Sollte es nicht in Europa bald
eine Menge wahrhaft heiliger Gemüter wieder geben? Sollten
nicht alle wahrhaft Religionsverwandte voll
Sehnsucht werden, den Himmel auf Erden
zu erblicken, und gern zusammentreten und heilige Chöre
anstimmen?"
Peter von Ulm in Claudels
Verkündigung:
Gewiß
ist Justitia schön. Aber um wie vieles schöner Ist
dieser fruchtreiche Baum ,der Menschheit, der vom
wachsenden Abendmahlssamen (erzeugte
Baum. Er gibt eine einzige Gestalt, nach einem einzigen
Punkte gerichtet. Ah,
wenn doch alle Menschen den Bau gleich mir
verstünden, Wer möchte dann sich seinem
Gesetz entziehen und seiner ihm von der Kirche bestimmten Stelle?
Aus „Friedrich
Hölderlin, Hyperion".
„Du
räumst dem Staate denn doch zu viel Gewalt ein.
Er darf nicht fordern, was er nicht
erzwingen kann. Was aber die Liebe gibt und. der Geist, das
läßt sich
nicht erzwingen. Das laß er unangetastet, oder
man nehme sein Gesetz und schlag' es an
den Pranger! Beim Himmell der weiß nicht, was er
sündigt, der den Staat zur
Sittenschule machen will. Immerhin hat das den Staat zur Hölle
gemacht, daß ihn
der Mensch zu seinem Himmel machen wollte. Die
rauhe Hülse um den Kern des Lebens und nichts
weiter ist der Staat. Er ist die Mauer um den Garten menschlicher
Früchte und
Blumen. Aber
was hilft die Mauer um den Garten, wo der Boden
dürre liegt? Da hilft der Regen vom Himmel allein. O
Regen vom Himmel! O Begeisterung! Du wirst den
Frühling der Völker uns wiederbringen. Dich kann der
Staat nicht hergebieten.
Aber er störe dich nicht, so wirst du kommen, kommen wirst du
mit deinen
allmächtigen Wonnen, in goldne Wolken wirst du uns
hüllen und empor uns tragen
über die Sterblichkeit, und wir werden staunen und fragen, ob
wir es noch
seien, wir, die Dürftigen, die wir die Sterne fragten, ob dort
uns ein Frühling
blühe -- fragst du mich, wann dies sein wird? Dann, wenn die
Lieblingin der
Zeit, die jüngste, schönste Tochter der Zeit, die
neue Kirche, hervorgehen wird
aus diesen befleckten, veralteten Formen, wenn das erwachte
Gefühl des
Göttlichen dem Menschen seine Gottheit und seiner Brust die
schöne Tugend
wiederbringen wird, wann .. ich kann sie nicht verkünden, denn
ich ahne sie
kaum, aber sie kommt gewiß, gewiß. Der
Tod ist ein Bote des Lebens, und daß wir jetzt
schlafen in unsern Krankenhäusern, dies zeugt von nahem
gesunden Erwachen.
Dann, dann erst sind wir, dann, dann ist das Element der Geister
gefunden!" Alabanda
schwieg und sah eine Weile erstaunt mich an. Ich war hingerissen von
unendlichen
Hoffnungen: Götterkräfte trugen wie' ein
Wölkchen mich fort „Komm!" rief ich, und
faßt'
Alabanda beim Gewande, „komm, wer hält es
länger
aus im Kerker, der uns
umnachtet!"
Emerson.
Die Städte sind für
des Menschen Sinne zu eng.
Walt Whitman Pioniere!"
_ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _
_ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _
_ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _
Ruhen aus die alten Rassen?
Sinken. sie mit ihrer Lehre, müde hin jenseits der See?
Unser wird die ewige Arbeit und die Last und auch die Lehre,
Pioniere! Pioniere!
_____
Hinter uns liegt das Vergangene,
Vor uns eine neue weitere Welt und wechselvoller,
Frisch und stark ergreifen wir sie, Welt der
Mühsal und des Marsches,
Pioniere! Pioniere!
_____
Senden unsere Bataillone
In die Schluchten, durch die Pässe, zu den Bergen steil empor,
Wir erobern, fassen, halten, wagen unbekannte Wege,
Pioniere! Pioniere!
_____
Fällen Urwald-Riesenstämme,
Quälen Ströme,
dämmen Flüsse, reißen tief die Minen
auf,
Messen weite Bodenflächen, furchen
jungfräuliche
Erde,
Pioniere! Pioniere!.
_____
Alle Pulse dieser Erde
Fallen ein und schlagen mit uns, mit des Westens Werdegang,
Einzeln oder allzusammen, stetig vorwärts, alle für
uns,
Pioniere! Pioniere!
_____
Lebenswirren, Schaugepränge,
Alle Formen, alle Farben, alle Menschen an der Arbeit,
Die zur See und die zu Lande, Herren mit den Sklaven alle:
Pioniere! Pioniere!
_____
Alle, die aus Liebe leiden,
Die Gefangenen in den Zellen, die Gerechten und die Schlechten,
Die Beglückten, die Bedrückten, Lebende und Sterbende:
Pioniere! Pioniere!
_____
Ich, mein Leib und meine Seele,
Seltsam Trio, die wir tasten, -wandern unsern weiten Weg,
An den Küsten, durch die Schatten, wo Gestalten uns
umdrängen,
Pioniere! Pioniere!
_____
Unsere Erde, rollend, kreisend,
Und die vielen Brudersphären, Nebelsonnen und Planten,
Glänzend helle heitere Tage und die traumerfüllten
Nächte,
Pioniere! Pioniere!
_____
Sie sind unser, sie sind mit uns,
Für die erste Vorarbeit, weil noch Ungeborene warten.
Heute haben wir die Führung, bahnen Wege, legen Gleise,
Pioniere! Pioniere!
_____
O ihr Töchter aus dem Westen!
Junge Weiber, ältere Weiber, o ihr Gattinnen und
Mütter!
Nicht getrennt, mit uns verbunden steht ihr fest und treu zusammen,
Pioniere! Pioniere!
_____
Sänger harren in der Prärie,
Tote Barden andrer Länder, ihr dürft ruhen nach der
Arbeit.
Doch die Neuen hör ich nahen, singend unter unsern Scharen:
Pioniere! Pioniere!
_____
Nicht zu müßigem Behagen,
Polsterkissen und Pantoffeln; nicht der stille Fleiß und
Friede;
Nicht den Reichtum sicher sammeln, nicht das Ausruhn im
Genießen,
Pioniere! Pioniere!
_____
Schwelgen sie, die satten, Schlemmer?
Schlafen fest die fetten Schläfer? Riegeln ängstlich
ihre Türen?
Unser bleibt die rauhe Nahrung, eine Decke, harter Boden,
Pioniere! Pioniere!
_____
Ist die Nacht herabgesunken?
War der Weg zu hart und steinig, hielten wir entmutigt inne?
Nun so rastet eine Stunde, ruht in seligem Vergessen,
Pioniere! Pioniere!
_____
Bis, zum Ruf der Morgenhörner
Weit, weither vor Tagesanbruch... Horch, wie laut und klar getragen!
Auf! Nun stellt euch an die Spitze. Schnell an die gewohnten
Plätze:
Pioniere! Pioniere!
__________
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