Zum Interpretieren von Architektur
Theorie des Interpretierens

12. Jg., Heft 2, Dezember 2008

 

___Sandra Lippert-Vieira
Karlsruhe / Cottbus
  Wege zu einer Rezeptionsästhetik in der Architektur:
Das implizite Leben der gebauten Umwelt

 

   

Auch wenn sich Literaturwissenschaft und Kunstwissenschaft mit ganz anderen Realitäten – mit Texten und mit Bildern – beschäftigen als die Architekturtheorie, scheint es immer wieder interessant und stimulierend, nach dort prominenten Interpretationsmethoden zu fragen und sie auf ihre Anwendbarkeit innerhalb der Architektur zu untersuchen. Hier geht es um die Methode der Rezeptionsästhetik, wie sie in der Literatur und Kunst entwickelt wurde.


Zur Rezeptionsästhetik in der Literatur

Rezeptionsästhetik steht zunächst für den hermeneutischen Ansatz, den Hans Robert Jauß 1967 zur Analyse von literarischen Texten entwickelt hat. Mit seiner Antrittsrede „Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft“ im Jahr 1967 an der Universität Konstanz entwirft er das Projekt einer Literaturwissenschaft, die den Sinn eines Werkes weder im Bezug zur gesellschaftlichen Realität der Herstellung (Produktionsästhetik), noch allein aus den Textstrukturen ableiten will (Werkästhetik). Im Zentrum der Interpretation soll der Leser stehen. Diese Forderung geht auf H. G. Gadamers Begriff der Wirkungsgeschichte zurück und beruht auf der Beobachtung, dass der ästhetische Gehalt eines Textes nicht einfach in ihm enthalten ist und mittels einer einschlägigen Analyse herausgelöst werden kann. Die Bedeutung eines Textes wird im Akt des Lesens – im ‚dialogischen‘ Kommunikationsprozess zwischen Text und Leser – immer wieder von Neuem gebildet, und das heißt, das gleiche Werk wird aufgrund des geschichtlichen Wandels immer wieder anders gelesen. Der Leser ist keine passive Instanz, sondern stellt einen aktiven Faktor dar, der das geschichtliche Leben von Werken in entscheidendem Maße beeinflusst. Über die hermeneutische Rekonstruktion des Erwartungshorizonts der Leser, d. h. über die Rekonstruktion jener Fragen, auf die der Text [den zeitgenössischen Lesern] eine Antwort gab,[1] will H. R. Jauß den Zusammenhang zwischen der vergangenen und heutigen Erscheinung und Wirkung literarischer Texte aufschreiben (Rezeptionsgeschichte).

Der Literaturwissenschaftler Wolfgang Iser radikalisierte dann Jauß’ Überlegungen. Für ihn wird nicht der ästhetische Gehalt literarischer Werke, sondern das literarische Werk selbst im Akt des Lesens generiert. Lesen ist nicht allein die zentrale Vorbedingung für alle Prozesse der Interpretation eines Textes, sondern für die Entstehung literarischer Werke.  Erst durch ein Lesen, in dem der Leser die unterschiedlichen angebotenen Perspektiven durchläuft, die unterschiedlichen Sichtweisen und Muster aufeinander bezieht, setzt er das Werk und sich selbst in Bewegung. Das literarische Werk ist etwas, das im Fortgang der kommunikativen Interaktion zwischen „fiktivem“ Text und Leser geschieht; es wird im buchstäblichen Sinn „gemacht“. Es ist weder auf die Subjektivität des Lesers (ästhetischer Pol), noch auf die Realität des Textes (künstlerischer Pol) zu reduzieren.  Der Text an sich leistet allein „schematisierte Aspekte“, die es erlauben, seinen Inhalt zu produzieren, doch die eigentliche Produktion entsteht erst im Akt des Lesens. Iser spricht von Konkretisation. Der Begriff stammt von Roman Ingarden[2] und bezeichnet das Hervorbringen eines ästhetischen Werkes abhängig von der Textstruktur und dem Bewusstsein des Lesers. Erst in der Dualität von Textstruktur und bedeutungsproduzierender Verstehensleistung des Lesers wird der Textgegenstand in der Vorstellung realisiert. Lesen ist für ihn – im Sinne Northrop Fryes – „wie ein Picknick, zu dem der Autor die Wörter und der Leser die Bedeutung bringt.[3] Das literarische Werk ist keine rekonstruierbare Substanz, sondern Produkt der Interaktion von Text und Leser. Dabei interessiert das Ergebnis nicht. Was ein Leser am Ende einer Lektüre in Sätzen festhalten kann, ist eine Reduktion dessen, was während des Lesens in und mit ihm geschieht. Somit ist das Leseereignis das eigentliche literarische Werk. Dieses ist nicht das Produkt, sondern der kommunikative Akt des Lesens, die ästhetische Erfahrung selbst.

Um diese zu greifen, entwickelt Iser die Figur des „impliziten Lesers“. Dieser ist weder eine historisch konkrete Person, noch die abstrakte Summe des historischen Publikums. Er entfernt sich sowohl vom intendierten Leser, den ein Autor stets im Blick hat, wenn er seine Texte schreibt, als auch vom realen empirischen Leser. Ebenso wenig ist er mit einem fiktiven oder idealen Leser zu verwechseln, der bei der Lektüre alles, was der Text an Bedeutungsangeboten enthält, vollständig realisieren könnte. Der „implizierte Leser“ ist überhaupt kein Leser. Er ist ein Textmerkmal, die Wirkungsstruktur des Textes.[4] Grundlegend hierfür ist der Gedanke, dass jedem Werk eine Leserrolle eingeschrieben ist. In der Art und Weise, in der ein Autor dem Leser mittels eines Textes seine Weltperspektive zu vermitteln versucht, legt er Leer- und Unbestimmtheitsstellen an, gibt Rezeptionsvorgaben und macht Rezeptionsangebote, die der Leser zu erfüllen hat bzw. denen er folgen kann. Wie der Bauplan den Hausaufbau regelt, so sollen sie den Textaufbau und damit die Vorstellungsbildung im Bewusstsein des Lesers regeln. Iser spricht von einer Textstruktur, die die Gegenwart eines Empfängers voraussieht, ohne ihn dabei jedoch zu definieren. Diese im Text vorstrukturierte Leserrolle nennt er den „impliziten Leser“. Er ist ein Netzwerk von response-inviting structures, die dem Leser ermöglichen, einen Text zu begreifen. Alle im Text angelegten Bedingungen, die notwendig sind, damit ein Text seinen Effekt bewirken kann, sind in ihm enthalten.  Iser spricht von Bedingungen, die nicht von außen herangetragen werden, sondern im Text selbst angelegt sind. Der implizite Leser – als Konzept – hat seine Wurzeln allein in der Struktur des Textes. In ihm sind die Rolle des Lesers als Textstruktur und die Rolle des Lesers als strukturierter Akt verbunden. Textuelle Struktur und strukturierter Akt, üblicherweise wie Intention und Erfüllung aufeinander bezogen, sind in der Figur des „impliziten Lesers“ zusammengebracht.

Hiermit entfernt sich Iser von der gesamten Rezeptionsforschung. Er will weder mittels des Autors, noch realer, fiktiver oder ideeller Leser, noch mittels der hermeneutischen Rekonstruktion eines Erwartungshorizonts die Rezeption von Texten rekonstruieren.
Ihn interessieren weder die historischen Rezeptionsbedingungen, noch reale, fiktive oder ideelle Rezeptionsvorgänge. Ihn interessiert allein die Textstruktur. Allein daraus will er den kommunikativen Akt zwischen Text und Leser analytisch rekonstruieren. Nur mittels der Rekonstruktion der im Text vorstrukturierten Leserrolle scheint es ihm möglich, das literarische Werk als ästhetischen Gegenstand theoretisch zu greifen, ohne den Charakter seiner Leser oder deren historische Situation vorzubestimmen. Die Tatsache, dass die Rolle des Lesers unterschiedlich erfüllt werden kann, gemäß unterschiedlicher historischer oder individueller Gegebenheiten, ist allein ein Hinweis, dass die Struktur eines Textes – der „implizite Leser“ – unterschiedliche Formen der Konkretisation erlaubt. Reales Lesen immer eine selektive Realisation des impliziten Lesers.

Sein Konzept gibt den allgemeinen Beschreibungsrahmen für die bewusstseinshafte Form vor, in der sich alle individuellen Realisierungen eines Textes vollziehen.[5] Dessen Struktur wird von einem Referenzrahmen gebildet, innerhalb dessen die individuellen Antworten auf einen Text zu anderen kommuniziert werden können. Mittels des „impliziten Lesers“ ist es möglich, eine Verbindung zwischen allen historischen und individuellen Aktualisierungen eines Textes zu finden. Hier sieht Iser die vitale Funktion der Figur des implizierten Lesers. Sie ist ein Mittel, um die Art und Weise zu beschreiben, wie textuelle Strukturen durch Idealisierung in persönliche Erfahrungen transformiert werden. Sie ist ein transzendentales Modell, das es ermöglicht, die vorstrukturierten Wirkungen eines Textes zu beschreiben.


Zur Rezeptionsästhetik in der Kunst

Als erster übertrug Wolfgang Kemp 1985 die Methoden Isers auf die Kunstwissenschaft. Genauso wie Wolfgang Iser fünfzehn Jahre früher, will auch er den Blick auf die Bedeutung des Betrachters für die Realisierung von Kunstwerken richten. Ausgangspunkt ist hier in Analogie zur Situation in der Literatur die fundamentale, aber selten reflektierte Tatsache, dass jedes Bild betrachtet wird bzw. dass der Betrachter die wesentliche Ursache für die Existenz des Bildes darstellt. Das Bild ist auf Rezeption angelegt und verfügt über Mittel, die geeignet sind, erstens den Bezug zum Rezipienten aufzunehmen, zu gestalten und wach zu halten, und zweitens den Rezipienten durch ästhetische und außerästhetische Normen und Verhaltensweisen zu disponieren. Jedes Kunstwerk ist adressiert, es entwirft dabei seinen Betrachter. Dabei gibt es zwei Informationen preis. Indem es mit uns kommuniziert, spricht es über seinen Platz und seine Wirkungsmöglichkeiten in der Gesellschaft, und es spricht über sich selbst. Die Rezeptionsästhetik hat demzufolge in der Kunst (mindestens) drei Aufgaben: „(1) Sie muss die Zeichen und Mittel erkennen, mit denen das Kunstwerk in Kontakt zu uns tritt, sie muss sie lesen im Hinblick (2) auf ihre sozialgeschichtliche und (3) auf ihre eigentliche ästhetische Aussage.“[6]

Dabei unterscheidet Kemp zwischen äußeren Zugangsbedingungen, in, an oder mit denen das Werk zur materiellen Präsenz gelangt, und inneren Rezeptionsvorgaben, innerbildlichen, innerplastischen und innerarchitektonischen. Unter äußeren Zugangsbedingungen ist der Kontext, in welchem die Werke in Erscheinung traten und treten, zu verstehen, sei dieser materieller Natur (z. B. Architektur) oder immaterieller Natur (soziologisch oder persönlich). Es geht darum, die rezeptionsästhetische Situation oder Rezeptionsrealität ihrer Objekte im vollen Umfang zu rekonstruieren, denn ohne Kontext – so setzt es der rezeptionsästhetische Akt der Interpretation voraus – gibt es keine Bedeutung. Damit hebt die Rezeptionsästhetik die Isolierung der Werke auf und stellt sie in ihrer historischen Bedingtheit dar.

Innerbildliche Orientierungen sind erstens die Diegese bzw. die Art, in der ein Betrachter in der Kommunikation der Dinge und Personen im Werk ein- oder ausgeschlossen wird; zweitens die Personenperspektive bzw. inwieweit dem Betrachter im Bild eine Identifikationsfigur zur Verfügung gestellt wird; drittens der Bildausschnitt und die daraus resultierende Ergänzung des Betrachters; viertens die Perspektiven, durch die der Betrachter zum Bild gestellt wird und fünftens die Leerstellen, die den Betrachter dazu nötigen, sie zu füllen, um dadurch das Werk zu vollenden. Anhand dieser Punkte analysiert die Rezeptionsästhetik in der Kunst, wie der Betrachter durch innere Orientierungen am Aufbau des Werkes beteiligt ist. Schließlich werden das Verhältnis zwischen äußeren Bedingungen und inneren Rezeptionsvorgaben sowie das Verhältnis der inneren Präsentation zur Darstellung analysiert.

Es ist eine Eigenart der künstlerischen Kommunikation, dass Autor und Rezipient nicht direkt miteinander verkehren wie in der alltäglichen face-to-face-Kommunikation. Autor und Betrachter kennen sich nicht, sie müssen sich den anderen jeweils nur denken. Sie vollziehen dabei beide eine Abstraktion von der realen Individualität, wie sie im faktischen Dialog gegenwärtig ist. In diese Abstraktionsleistung fließen Projektionen geschichtlicher und gesellschaftlicher Idealbilder von Funktion und Wirkung der Kunst ein. Die Rezeptionsästhetik ist dafür bereit, ihr Material, die Appelle und Signale, die die Kunst an ihre Betrachter richtet, auch als Symptome angewandter Kunsttheorie und Kunstpolitik zu verstehen und sich an ihnen zu orientieren. Mit Hilfe dieses Materials wird versucht, sich über die Betrachterfunktion der Beziehung zwischen Werk und Gesellschaft theoretisch zu nähern, fern von realen Betrachtern oder Hypothesen.

Ziel ist es dann, wie in der literaturwissenschaftlichen Rezeptionsästhetik, dem Dialog zwischen Werk und Betrachter nachzuspüren und die ursprünglichen historischen und ästhetischen Aussagen des Einzelwerkes aufzudecken. Durch das „Lesen“ der im Werk vorhandenen Rezeptionsvorgaben unter Berücksichtigung äußerer Zugangsbedingungen, werden sein Platz und seine Wirkungsmöglichkeiten in der Gesellschaft beschrieben.


Zur Rezeptionsästhetik in der Architektur

Bezogen auf Architektur ist die Rezeptionsästhetik kein Novum[7], doch der Betrachter bleibt als Kategorie der Architekturanalyse bisher vernachlässigt. Dies bezieht Ralf-Peter Seippel auch auf die Innenraumanalyse. Hier wird der Betrachter, abgesehen von vereinzelten wahrnehmungspsychologischen Analysen, ebenso wenig berücksichtigt. Diesen Tatbestand führt R.-P. Seippel auf die Tatsache zurück, dass die Architektur anders als das Bild keine Strategien entwickeln muss, um den Betrachter in das Geschehen einzubeziehen. Dieser ist – „indem er Benutzer ist, sich im Werk bewegt und daraus folgend der Architektur den gleichen Realitätscharakter zuordnet wie sich selbst[8] – immer schon am Geschehen beteiligt. Auf Grund ihrer medialen Unterschiede und unterschiedlichen Realitätsgraden zum Bild muss Architektur keine Strategien entwickeln, um einen impliziten Betrachter zu konstituieren. Dieser ist immer schon als tatsächlich und notwendig vorhanden vorausgesetzt bzw. faktisch miteinbezogen. Er ist wesentliche Voraussetzung ihrer Realisierung. Erst über die Betrachtung erschließen sich ihre Funktionen und Inhalte.[9] Das heißt, in der Architektur ist nicht nur der Benutzer involviert, sondern auch der Betrachter, und dies nicht nur, in dem er über die Betrachtung die Nutzung erschließt. Architektur billigt dem Betrachter nicht nur eine passive Rolle zu, in der er die rein pragmatischen Funktionen des Werkes erkennt und nutzt, sondern auch eine aktive Rolle bei dessen optischer Realisierung. Hier verweist R.-P. Seippel auf Vitruv, für den venustas (Anmut) – eine der drei Kategorien der Architektur – erreicht wird, „wenn das Bauwerk ein angenehmes und gefälliges Aussehen hat, und die Symmetrie der Glieder die richtigen Berechtigungen der Symmetrie hat“.[10] Hiermit ist für R.-P. Seippel, innerhalb der Architektur „neben dem konstitutiven implizierten Benutzer, also demjenigen, welcher die angebotenen Funktionen nutzen soll, auch der implizite Betrachter gegeben, als derjenige, welcher ebenso notwendig konstitutiv an der optischen Realisation des Werkes beteiligt ist.“[11] Entsprechend hält er innerhalb der Architektur eine Reflexion über den architekturimpliziten Betrachter oder allgemeiner über die Betrachterfunktion im Werk für sinnvoll. So muss gefragt werden, inwieweit die Architektur Rezeptionsstrategien entwickelt und ihn aktiv beteiligt, ihm eine Funktion im Werk zubilligt oder sogar als Funktion des Werkes unmittelbar voraussetzt, ihn involviert und somit intensive ästhetische, inhaltliche oder andere Erfahrungen ermöglicht. Diese Reflexion ist eine Bereicherung der Interpretation der Architektur von Gebäuden, da ihr weder innerhalb der tradierten Methoden noch innerhalb der Semiotik-Sigmatik nachgegangen wird. Sie ist aber auch nur eine Bereicherung, insofern sich der Interpret – so erklärt es Seippel auf das jeweilige Medium einlässt und dessen „Lesebedingungen“ akzeptiert. Erst hier ist s. E. eine möglichst intensive und deskriptive Anschauung möglich. Der Interpret muss sich auf das Erfahren und Konstatieren optischer Evidenzen und Phänomene des speziellen Mediums der Architektur einlassen, dessen Habhaftwerden weniger auf der Empirie, als vielmehr auf der Anschauung gründet.[12]

An dieser Stelle muss festgehalten werden, dass diese auf die Architektur zugeschnittene Rezeptionsästhetik allein innerhalb eines optisch-ästhetischen Verständnisses gilt, das das Grundgesetz der Schönheit der Architektur in der optischen Harmonie ansetzt.
[13]

Bereits Heinrich Wölfflin, der sich in „Prolegomena zu einer Psychologie der Architektur“ mit der Frage beschäftigt, wie es möglich ist, dass architektonische Formen Ausdruck eines Seelischen, einer Stimmung sein können, maß dem Körper eine zentrale Rolle bei der ästhetischen Beurteilung von Architektur bei: „Wären wir bloß optisch auffassende Wesen, so müsste uns eine ästhetische Beurteilung der Körperwelt stets versagt bleiben. Als Menschen aber mit einem Leibe, der uns kennen lehrt, was Schwere, Kontraktion, Kraft u. s. w. ist, sammeln wir an uns die Erfahrungen, die uns erst die Zustände fremder Gestalten mitzuempfinden befähigen“.[14]

August Schmarsow, der 1894 das Wesen der architektonischen Schöpfung sowohl von Seiten des Autors, als auch des Rezipienten als Raumgestaltung definiert, setzte dagegen Bewegung als Voraussetzung für jede Form architektonischer Wahrnehmung voraus. Erst, indem wir Räume durchschritten, erführen wir ihre tatsächliche Tiefe und damit ihre Räumlichkeit.

Ähnlich argumentiert Sörgel. Für ihn liegt die Eigenart der architektonischen Wahrnehmung in der seelischen, optischen und verstandesmäßigen Organisation der Werk-konstituierenden Elemente zu einer räumlichen Einheit.
[15]

Dagobert Frey spricht von einem Ich-Raum. Erst wenn ein Objekt als wirklich wahrgenommen wird, wenn seine räumliche Bestimmung mit dem Ich-Raum identisch ist, wenn also der Mensch sich mit ihm im gleichen Raum befindlich fühlt, wird es architektonisch betrachtet. Anders als Malerei und Plastik ist Architektur in der Raum- und Zeitidentität von Subjekt und Objekt begründet. Sie gehört der Gegenwart des Rezipienten und seinem Lebensraum an, sie ist Gestaltung seines Lebensraums oder Gestaltung in seinem Lebensraum. Das Paradox „Wie kann sie (Architektur) Kunst sein, wie kann ihre Wirklichkeit zu ästhetischer Wirklichkeit werden, wie kann sie aus der Wirklichkeit meiner Existenz isoliert, aus meinem realen Leben herausgehoben werden, um ästhetisches Objekt werden zu können, wenn sie wesenhaft räumlich-zeitlich mit meiner Existenz verknüpft ist?''
[16], löst D. Frey mit der Idee der „ästhetischen Mitisolierung“. Architektur wird zu ästhetischer Wirklichkeit, insofern sie im Prozess der Wahrnehmung ihre Rezipienten mitisoliert, ihre Existenz in die ästhetische Wirklichkeit aufnimmt und damit zu ästhetischer Wirklichkeit macht. Architektur ist für Dagobert Frey künstlerisch geformte Wirklichkeit.

In der Tradition von Dagobert Freys Überlegungen wird heute öfters argumentiert, dass Architektur ein Instrument zur „Lebensgestaltung“
[17], ein „Lebens-Mittel“[18] sei, dessen „Gebrauch ein Vollzug des Lebens selbst ist“.[19] Sie verlangt eine Verhaltensweise, die weit über die Betrachtung hinausgeht. Achim Hahn spricht von einer architektonischen Verhaltensweise. Gemeint ist „dasjenige menschliche Verhalten […], das auf Bedürfnisse reagiert, und zwar auf die Weise, die wir als Wohnen und als Bauen kennen[20]. Diese sind niemals Selbstzweck, sondern auf das Leben gerichtet, nicht allein im Sinne, es zu erhalten, sondern es bewusst leben zu wollen. „Nur weil der Mensch wohnt, ein Wohnender ist, begehrt er Architektur. Der Mensch baut, weil er wohnt. Er wohnt aber, weil er als Mensch leben will.[21]

In diesem Wollen – das nicht Überleben, sondern „bewusst-Leben-führen-Wollen“ ist
[22] – liegt für Achim Hahn die Ursache und der Inhalt architektonischen Verhaltens. Es folgt keinem Überlebensdrang, doch aber dem Drang, das eigene Leben oder das Leben anderer bewusst gestalten zu wollen.

In Analogie zur Situation in der Kunst und Literatur kann argumentiert werden, dass der Ausgangspunkt des rezeptionsästhetischen Ansatzes in der Architektur die fundamentale, aber doch noch selten reflektierte Tatsache ist, dass „Leben-gestalten-Wollen“ die wesentliche Ursache für die Existenz von Architektur ist. Ist der Mensch allein auf die Betrachtung oder Nutzung eines Gebäudes konzentriert, oder liest er es allein als Zeichen, so konkretisiert er im Akt der Rezeption allein das Gebäude als Bild, als Plastik, als Gebrauchsobjekt oder Erzählung. Architektur ist auf einen Menschen angelegt, der bereit ist, sie zu seinem Lebens-Mittel zu machen. Sie konkretisiert sich erst in der Art und Weise, in der ein Mensch die gebaute Welt nicht allein betrachtet, nutzt oder liest, sondern mittels architektonischen Verhaltens zum Teil seiner Lebensgestaltung macht. Dabei ist sie nicht das Ergebnis derartigen Verhaltens, sie ist das architektonische Verhalten selbst, und sie verschwindet, sobald das Gebäude nicht weiter als Lebens-Mittel gebraucht wird. Sie ist das sich mittels architektonischen Verhaltens in ihm und durch ihn gestaltende Leben.

Innerhalb dieser Auffassung von Architektur entfaltet sich eine solche im Sinne von Ralf-Peter Seippel nicht in der Betrachtung eines Gebäudes. Sie wird erst mittels architektonischen Verhaltens konkretisiert.

Wenn architektonisches Verhalten die Voraussetzung zur Entfaltung von Architektur ist, so ist hier die Aufgabe der Rezeptionsästhetik die Aufdeckung des architektonischen Verhaltens, das in einem Gebäude eingeschrieben ist
seines impliziten Lebens.

Das Konzept des „impliziten Lebens“ – im Sinne Dagobert Freys auch als implizite ästhetische Wirklichkeit zu bezeichnen
ist hier neu entwickelt. Gemeint ist weder das reale, noch das ideelle Leben, das ein oder mehrere Rezipienten in Interaktion mit einem Gebäude gestalten oder gestalten können. Es ist auch nicht das intendierte Leben, das ein Autor beim Entwerfen im Blick hat. Das implizite Leben ist überhaupt kein Leben. Es ist eine Konstruktion, die ihre Wurzeln allein in der Struktur des Gebäudes hat und alle in einem Gebäude angelegten Lebens-Mittel beinhaltet, die notwendig sind, damit es als solches gebraucht wird. In ihr sind architektonisches Verhalten als Gebäudestruktur und architektonisches Verhalten als strukturierter Akt verbunden. Wie im Konzept des „impliziten Lesers“ sind hier Struktur (Intention) und strukturierter Akt (Erfüllung) zusammengebracht. So wie der Leser aufgrund seiner bisherigen Erfahrungen mit dem Text an jedem Punkt seiner Lektüre neue Hypothesen und Erwartungen an den Fortgang stellt, die in der weiteren Lektüre bestätigt, modifiziert oder zurückgewiesen werden, so reagiert der Rezipient fortwährend auf das, was er mittels seines architektonischen Verhaltens hervorgebracht hat. Wie der Leser reagiert er „im Rezeptionsvorgang fortwährend auf das, was er selbst hervorgebracht hat, denn er nimmt bestimmte Ausgleichsoperationen vor, welche die Tendenzen, die der gebildeten Konsistenz abträglich sind, zu integrieren versuchen."[23]

Zur Aufdeckung des impliziten Lebens eines Gebäudes scheint zunächst das eigene architektonische Verhalten hilfreich. Über seinen Gebrauch als Lebens-Mittel können am eigenen Leib – „der Inbegriff meines handelnden Ichs“
[24], das „Zentrum räumlichen Existierens […], von dem gerichtete Felder von Wahrnehmung, Bewegung, Verhalten und Beziehung zur Mitwelt gehen[25]
die Zeichen und Mittel erkannt werden, mit denen das Gebäude in Kontakt zu uns tritt und Verhaltensangebote macht, wie diese im Fortlauf des kommunikativen Aktes mit dem Gebäude angenommen, verändert und weiterentwickelt werden.

Wie in der Phänomenologie soll zunächst der Versuch gemacht werden, „so viel wie möglich nur zu beschreiben und so wenig wie möglich zu konstruieren“, mit dem Vorsatz, „so viel wie möglich zu beobachten und so wenig wie möglich abzuleiten“ und dem Ideal nahe zu kommen, „Erfahrungen so stehenzulassen, wie sie gewachsen sind, statt sie mit raschen Erklärungen abschaffen zu wollen“.
[26]

Sowohl phänomenologische Überlegungen zu Leib, Raum und Person, als auch raumsoziologische Betrachtungen sowie Architektur- oder Wahrnehmungspsychologie sind dabei u. a. behilflich, um die eigenen Handlungen und Verhaltensweise näher zu verstehen und Klarheit über das in einem Gebäude vorstrukturierte architektonische Verhalten zu schaffen bzw. um das implizite Leben eines Gebäudes zu erleuchten.

Im Voraus auf vorgefasste Wahrnehmungs- und Verhaltenstheorien zurückzugreifen, um daraus die Verhaltensangebote eines Gebäudes abzuleiten, scheint ungeeignet, weil diese immer eine Abstraktion dessen sind, was in und mit einem Architekturrezipienten faktisch geschieht.

Das Ziel ist die Abgabe eines Referenzrahmens, innerhalb dessen erstens individuelles architektonisches Verhalten anderen kommuniziert werden kann, zweitens historische und individuelle Aktualisierungen der gebauten Welt aufeinander bezogen werden können und drittens die Art und Weise beschrieben wird, wie gebaute Strukturen durch Idealisierung in persönliche Lebensformen transformiert werden. Es ist – in Analogie zum Konzept des impliziten Lesers und Betrachters
ein transzendentales Modell, das es ermöglicht, die vorstrukturierten Wirkungen eines Gebäudes zu beschreiben.


 



Literaturnachweis:

 

Baasner, Rainer: Methoden und Modelle der Literaturwissenschaft. Eine Einführung. Berlin 1996.

Frey, Dagobert: Wesensbestimmung der Architektur. in: Kunstwissenschaftliche Grundfragen. Wien 1946, S. 93-106.

Fuchs, Thomas: Leib, Raum, Person, Entwurf einer phänomenologischen Anthropologie. Stuttgart 2000.

Führ, Eduard: Architektur als Gebrauchswert. Zur Praktognosie materieller Kultur. Bochum 1979.

Hahn, Achim: Wohnen und Bauen – Architektur als Lebens-Mittel. Bemerkungen zum Selbstverständnis einer Theorie des architektonischen Verhaltens. in: Rundgespräch zur Architekturtheorie, Wolkenkuckucksheim, 9. Jg., Heft 2, März 2005.

Hermann, Sörgel: Architektur-Ästhetik. Theorie der Baukunst. München 1921.

Ingarden, Roman: Konkretisation und Rekonstruktion, in: Rezeptionsästhetik. Theorie und Praxis, Hg. Rainer Warning, München 1994, S. 42-70.

Jauß, Hans Robert: Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft, in: Rezeptionsästhetik. Theorie und Praxis, Hg. Rainer Warning, München 1994, S. 126-162.

Kemp, Wolfgang: Der Betrachter ist im Bild. Kunstwissenschaft und Rezeptionsästhetik, Köln 1985.

Meisenheimer, Wolfgang: Das Denken des Leibes und der architektonische Raum. Köln 2004.

Müller J. E.: Literaturwissenschaftliche Rezeptions- und Handlungstheorien, in: Neue Literaturtheorien, Hg. K.-M. Bogdal, Opladen 1990, S. 176-200.

Richter, Matthias: Wirkungsästhetik, in: Grundzüge der Literaturwissenschaft, Hg. Heinz Ludwig Arnold, Heinrich Detering, München 1997, S. 516-535.

Schmarsow, August: Das Wesen der architektonischen Schöpfung. Antrittsvorlesung gehalten in der Aula der K. Universität Leipzig am 8. November 1893, Leipzig 1894.

Seippel, Ralf-Peter: Architektur und Interpretation. Methoden und Ansätze der Kunstgeschichte in ihrer Bedeutung für die Architekturinterpretation (Kunst – Geschichte und Theorie; Bd. 12), Essen 1989.

Soentgen, Jens: Die verdeckte Wirklichkeit. Einführung in die Neue Phänomenologie von Hermann Schmitz. Bonn 1998.

Wölfflin, Heinrich: Prolegomena zu einer Psychologie der Architektur.  München 1886.


 



Anmerkungen:

 

[1] Jauß 1994, S. 136.

[2] Ingarden 1994, S. 46

[3] Iser 1976, S. 159

[4] Baasner 1996, S. 183

[5] Richter 1997, S. 526

[6] Kemp 1985, S. 14

[7] Vgl. Seippel 1989, S. 99

[8] Seippel 1989, S. 102

[9] Seippel 1989, S. 105

[10] Vitruv in Seippel 1989, S. 104

[11] Seippel 1989, S. 103

[12] Seippel 1989, S. 105

[13] Sörgel 1921, S. 212

[14] Wölfflin1886

[15] Sörgel 1921, S. 180-214

[16] Frey 1946, S. 99

[17] Führ 1979

[18] Hahn 2005

[19] Hahn 2005

[20] Hahn 2005

[21] Hahn 2005

[22] Hahn 2005

[23] Müller 1990, S. 185f.

[24] Meisenheimer 2004, S. 16

[25] Fuchs 2000, S. 15

[26] Soentgen 1998, S. 11




feedback