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„Im großen gesehen dürfen wir behaupten, die
Architektur sei ein von Menschen geschaffenes Produkt, das unsere
Beziehungen zur Umwelt ordnen und verbessern soll. Deshalb erweisen sich
Untersuchungen über das Entstehen menschlicher Produkte als notwendig. Wir
müssen fragen: Was ist der Zweck der
Architektur als menschliches Erzeugnis?“
Christian Norberg-Schulz: Logik der Baukunst
Das architektonische Verhalten wollen wir dasjenige menschliche Verhalten
nennen, das auf Bedürfnisse reagiert, und zwar auf die Weise, die wir als Wohnen
und als
Bauen kennen. Das Handeln des Architekten nennen wir das tätige
Verhalten, das vernünftig und wissenschaftlich angeleitet zu bestimmten
Resultaten (Werken) kommt. Eine Theorie des architektonischen Verhaltens
stellt vier Fragen ins Zentrum ihrer Überlegungen: Was ist der Mensch? Wie
begegnet ihm seine (Außen-)Welt? Warum „baut“ der Mensch? Was bedeutet (in
diesem Zusammenhang) „Kunst“? Eine Theorie, die das Handeln des Architekten
(Entwerfen) ins Zentrum ihrer Überlegungen stellt, fragt nach der
besonderen Wissenschaftlichkeit dieses Tuns.
Ich gehe von der These aus, dass Architektur, ob es sich nun um Tempel oder
um Wohnbauten handelt, Lebens-Mittel ist. Architektur ist ein Lebens-Mittel.
Sie ist Mittel zum Zweck, welcher Leben heißt. Leben bedeutet, dass der
Mensch in der Welt ist, dass er in Geschichten und Situationen verstrickt
ist, dass er sich stets neu in seine Umwelt einpassen muss. Das
Lebens-Mittel Architektur befriedigt Bedürfnisse, die mit unserem
In-der-Welt-Sein zusammenhängen. Engel brauchen und bauen keine Häuser, wie
Ferdinand Fellmann einmal gesagt hat. Wir müssen deshalb zunächst die
Bedürftigkeit des Menschen feststellen und aufhellen, um
von hier aus nach dem Bauen zu
fragen. Nur weil der Mensch wohnt, ein Wohnender ist, begehrt er
Architektur. Der Mensch baut, weil er wohnt. Er wohnt aber, weil er als
Mensch leben will.
1. Mensch und Kultur
Es war vor allem die mit Helmuth Plessner und Arnold Gehlen einsetzende
Philosophische Anthropologie, die ein Verständnis vom Menschen vorschlug, das
auch den Begriff der Kultur (und darin der Kunst) neu belebte. Plessner
verabschiedet sich von allen Dualismen, mit denen bislang das Wesen des
Menschen begriffen werden sollte, solche Gegensätze wie: Geist und Leben,
Seele und Leib, Bewusstsein und Körper spielen keine Rolle mehr. Plessner
zielt auf etwas völlig anderes, er untersucht das jeweilige Verhältnis des
Lebendigen zu seiner jeweiligen „Sphäre“. Pflanze, Tier und Mensch werden in
Hinblick auf Umfeld, Umwelt und Welt interpretiert. Dieses Verhältnis nennt
Plessner „Positionsform“. Für Mensch und Tier wird die Positionsform, in
welcher Leib und Umwelt zueinander stehen, zum Schlüssel der Theorie.
Typisch für den Menschen ist seine
exzentrische Position, die nicht nur seine intelligenten, sondern
einheitlich alle leiblichen Eigenarten auszeichnet. „Exzentrizität ist
die Positionalität des Menschen, die Form seiner Gestelltheit gegen das
Umfeld“.
Der Mensch lebt nicht nur, sondern erlebt sein Leben. Er ist deshalb das
Subjekt seines Erlebens, seiner Wahrnehmungen, seiner Aktionen und
Initiativen. Zu diesem Subjektsein gehört, dass er es weiß und es will.
Exzentrizität heißt auch: wir müssen uns erst zu dem machen, was wir schon
sind. Wir können nicht lediglich aus unserer leiblichen Mitte heraus leben
wie das Tier, sondern wir müssen unser Leben führen, es gestalten, wir
handeln nach unseren Überzeugungen und Wünschen.
Der Mensch muss also sein Leben selbst in die Hand nehmen, zwischen Bedürfen
und
Begehren unterscheiden, seine Zukunft planen. Weil diese bewusste
Lebensführung etwas nur dem Menschen Zustehendes ist, ist der Mensch von
Natur aus künstlich. Die „Hälftenhaftigkeit“ der exzentrischen Lebensform,
die den Menschen von Natur aus nackt und ungeschützt erscheinen lässt, führt
dazu, dass der Mensch des „Ersatzes“ bedarf. Seine spezifische Natürlichkeit
bedarf der Kompensation durch eine Künstlichkeit. „In dieser
Bedürftigkeit oder Nacktheit liegt das Movens für alle spezifisch
menschliche, d. h. auf Irreales gerichtete und mit künstlichen Mitteln
arbeitende Tätigkeit, der letzte Grund für das Werkzeug und dasjenige, dem
es dient: die Kultur“.
Damit hat Plessner einen interessanten Vorschlag gemacht, wie die
„kulturelle Sphäre“ des Menschen überhaupt entstanden ist bzw. gleichsam
entstehen musste. Kultur ist Ausdruck der menschlichen Natur.
Nach Arnold Gehlen, dem zweiten Vertreter einer modernen Philosophischen
Anthropologie, der sich selbst in die Tradition des Aristoteles stellt, lebt
der Mensch „als ‚Kulturwesen’, d. h. von den Resultaten seiner
voraussehenden, geplanten und gemeinsamen Tätigkeit, die ihm erlaubt, aus
sehr beliebigen Konstellationen von Naturbedingungen durch deren
voraussehende und tätige Veränderung sich Techniken und Mittel seiner
Existenz zurechtzumachen. Man kann daher die ‚Kultursphäre’ jeweils den
Inbegriff tätig veränderter urwüchsiger Bedingungen nennen, innerhalb deren
der Mensch allein lebt und leben kann“.
Was den Menschen auszeichnet: Organische Mittellosigkeit und
kulturschaffende Tätigkeit müssen aufeinander bezogen werden, sie bedingen
sich gegenseitig. Der Mensch kann deshalb auch nicht als in irgendeine
natürliche Umwelt „eingepasst“ vorgestellt werden. Vielmehr benötigen wir
einen Begriff der Umwelt, der nicht von der Tierverhaltenslehre abgeleitet
ist. Der Mensch ist von Geburt in jeder natürlichen Umwelt gleich
lebensunfähig. Deshalb muss er sich eine zweite Natur erst schaffen. Diese
Ersatzwelt ist entsprechend künstlich bearbeitet und passend
gemacht. Der Mensch lebt also in
einer Kultursphäre, insofern er die vorhandene Natur
ins Lebensdienliche verändert hat. Oder anders gesagt: die Kultur
gehört zu den physischen Existenzbedingungen des Menschen. Es besteht kein
Zweifel: Wir müssen das Bauen zu dieser Kultursphäre rechnen, zu dieser
Ersatzwelt, die der Mensch sich schaffen musste, weil er organisch mittellos
ist.
Für Gehlen wird die Ausbildung von Intelligenz und das planende Voraussehen
geradezu durch die biologischen Anlagen des Menschen erzwungen. „Nur in
voraussehender Veränderung der Natur ist ein organisch so beschaffenes Wesen
lebensfähig“.
Der Mensch ist also ein kulturschaffendes, d. h. handelndes Wesen. Jedes
Handeln verfolgt eine Absicht, versteht sich vom Erfolg her. Der Handelnde
antizipiert gewissermaßen schon die Folgen des noch auszuführenden Tuns. Er
entwirft sich in die Zukunft. Vor allem dass der Mensch sich nicht nur an
das Vorhandene und in diesem Sinne Wirkliche hält, dass dies ihm vielmehr
nur Durchgang wird und das Vorgefundene durch Neugruppierung vorstellend
erweitert, kombiniert, verändert, dies ist das eigentlich Bedeutsame. Die
Wirklichkeit ist lediglich der Ausgangspunkt, ihre Veränderung aber das Ziel
des menschlichen Eingriffs. Gehlen: „Man kann sogar einfach den Menschen
in höherem Grade ein vorstellendes als wahrnehmendes Wesen nennen, und
gerade davon lebt er, denn er verhält sich mehr von den vorausgedachten und
entworfenen Umständen her, als von den vorgefundenen und ‚wirklichen’. Mit
dieser Bestimmung ist das umrissen, was man die Weltoffenheit des Menschen
nennen muß“.
Hat Plessner die exzentrische
Positionalität herausgehoben und an den Anfang eines Verstehens des
Menschen gestellt, so ist es bei Gehlen die Handlung. Handlung soll dabei
nichts Besonderes oder Außergewöhnliches meinen, sondern „jeder Griff
nach etwas, jeder Arbeitsgang“.
Gehlen nennt die folgende Bedeutung von Handlung: „Unter Handlung soll
die voraussehende, planende Veränderung der Wirklichkeit verstanden werden,
und der Inbegriff der so veränderten bzw. neugeschaffenen Tatsachen samt den
dazu nötigen Mitteln, sowohl der ‚Vorstellungsmittel’, als der ‚Sachmittel’,
soll Kultur heißen“.
So ist keine menschliche Gemeinschaft vorstellbar, in der es nicht „Kultur“
gibt. So lässt sich auch ein entsprechendes Verständnis von Natur
entwickeln, für das Natur die nichtmenschliche, urwüchsige und sich selbst
überlassene Natur meint. In diese Natur hat der Mensch gewissermaßen
kulturelle Schneisen hineingearbeitet, „um sie zu nötigen, ihn zu tragen“:
Kultur ist dort, wo Natur nicht mehr ist.
Weder Plessner noch Gehlen entwickeln dann ein weiteres Verständnis von
Umweltaneignung durch menschliche
Wohnbedürfnisse. Aber schon ein Blick auf die komparative Archäologie
zeigt eine Übereinstimmung jenes Verständnisses vom Menschen mit den
Ergebnissen einschlägiger menschheitsgeschichtlicher Forschungen. Bereits
für den ältesten Abschnitt der Menschheitsgeschichte, die Altsteinzeit (Paläolithikum),
den Zeitraum von 35000-8000 v. Chr., sind artifiziell hergerichtete
Lagerplätze und künstlich in den Boden eingelassene Behausungen festgestellt
worden. Einige besaßen senkrechte Wände, die mit einer Holzverkleidung
versehen waren. Dabei handelt es sich um in jeweiligen Umwelten vorgefundene
und als menschlich brauchbare Mittel, wie Stein und Holz, gedeutete Natur-
bzw. Landschaftsfunde, die zu menschlichen Lagerstätten hergerichtet wurden.
Vor allem dem Schutz vor Wetter und Tieren dienten diese „ersten“
künstlichen Mittel, den Menschen als etwas Lebendiges zu halten. Und diese
ersten Wohnstätten wurden von mehreren Sozialeinheiten, vermutlich Familien,
benutzt. Auf dieser primitiven Stufe kann man allenfalls von zeltartigen
bzw. zelthüttenartigen Behausungen sprechen, nicht jedoch schon von Häusern,
bei denen Dach und Wand selbständige tektonische Elemente sind.
Für unseren jetzigen Zusammenhang ist nur wichtig, dass wir einsehen, dass
schon das vor-architektonische Verhalten auf den Gebrauchscharakter seiner
Hervorbringungen großen Wert legte: Um sich im Leben zu halten, das Leben
als Mensch führen zu können, bedarf der Mensch der Naturdinge, die er für
seine Zwecke nutzt und bearbeitet. Er verhält sich also zu seiner Umwelt
kreativ, indem er kluge Vorrichtungen trifft und sich Stätten herrichtet,
die seinen Bedürfnissen entsprechen. Das Überlegen und kluge Handeln
zeichnet die menschliche Praxis aus. Die Herstellung von Lebens-Mitteln ist
immer wieder Folge dieser praktischen Klugheit. Zwischen Handeln (praxis)
und Herstellen (poiesis)
begrifflich zu unterscheiden, ist zwar eine Entdeckung der
klassischen Antike und ihrer Philosophen gewesen, jedoch haben beide
Verhaltensweisen die menschliche Art wohl schon immer geführt. Auf die
Bedeutung der begrifflichen Unterscheidung für eine Theorie des
architektonischen Verhaltens
werde ich später noch ausführlich zu sprechen kommen.
Gerade dieser Zusammenhang von Handeln und Herstellen kann also schon für
die Altsteinzeit angenommen werden, insofern nämlich die Frage ansteht,
warum die Menschen zwar schon Feuer gebrauchten, nicht jedoch Höhlen als
Unterschlupf nutzten. „So hilfreich bei der Inbesitznahme längerfristigen
Lagernutzung von Höhlen die Verwendung von Feuer war, so wenig lässt sich
allein damit dieser siedlungs- und kulturgeschichtlich bedeutsame Vorgang
erklären, denn die Kenntnis des Feuergebrauchs begann bereits vor dem Ende
des Altpaläolithikums. Es musste ein weiterer Faktor hinzukommen, der wohl
in der psychischen Konstitution und dem Willen des Menschen vermutet werden
darf, ein früher Entwicklungsschritt des Altpaläolithikers, der ihn dazu
brachte, Eingriffe in die Gegebenheiten der natürlichen Umwelt zu seinem
Nutzen vorzunehmen. So verstanden, wäre der am Ende des Paläolithikums
vollzogene Beginn der Höhlennutzung indirekt Ausdruck des sich festigenden
Selbstbewusstseins des frühen Menschen“.
Die Kultur oder die Kultursphäre lässt sich vom Menschen und seiner
Geschichte nicht loslösen. Kultur ist gewissermaßen das Äquivalent zur
Naturseite des Menschen.
Die Architektur, das Bauen und Wohnen kompensieren im Sinne einer
pragmatischen „Weltgewinnung“ die Hälftigkeit des Menschen. Mit dem
Errichten von Architektur gleichen wir sozusagen die Natürlichkeit des
Menschen aus. Architektur steht somit im Dienst der Bedürftigkeit des
Naturwesens Mensch. Kompensation heißt hier nicht, dass das eine mit
dem anderen verrechnet werden soll. Vielmehr muss das Bauen Rücksicht nehmen
auf das, was der Mensch von Natur aus ist und bleibt. Das Doppelpaar Welt
und Umwelt soll auf diese Aspekte hinweisen. Jede Bauaufgabe ist deshalb in
diesen Kontext von Kultur und Natur zu stellen. Innerhalb dieser Grenzen hat
das Entwerfen indes alle denkbaren Spielräume.
Damit ist unser Problem aber nur zum Teil geklärt. Der Mensch, so haben wir
gehört, muss sein Leben führen. Es geht ihm also immer schon um mehr, als
nur das Leben sich zu erhalten. Der Mensch
entschließt sich dazu, sein Leben
„zu können“. Z. B. liegt in der Bildung, zu der sich der Mensch bringen
will, eine Antwort auf sein Machen-Können. Im
Leben-Können steckt darüber
hinaus die Einsicht, dass man etwas mehr oder weniger „gekonnt“ bewältigt
und beherrscht. In der Erfahrung des Gelingens und Misslingens erkennt der
Mensch, dass er sein Leben mehr oder weniger „gut“ führen kann. Gerade das
Sprechen und Handeln hebt den Menschen aus dem übrigen Naturgeschehen
insofern heraus, dass er vorausschauend sich um sein Leben und
möglicherweise um das der anderen sorgt und kümmert. Die Frage nach dem
Leben-Können
ist umgangssprachlich die nach dem „lebenswerten Leben“. Sie umfasst immer
schon die Güter, die der Mensch braucht, damit das Leben gelingen kann und
nicht unerfüllt bleibt. Zur „vorblickenden“ Beschreibung dieser Güter ebenso
wie zu ihrer Herstellung bedarf es einer gewissen Könnerschaft und
Kunstfertigkeit.
2. Das architektonische Verhalten als Antwort (Architektur als Werk und
als Lebens-Mittel)
Auch die „Kunst“ gehört zum Menschen, sofern er Lebewesen ist, d. h. sofern
er zu seiner Erhaltung angewiesen ist auf Dinge außerhalb seines Seins, die
er herstellen oder sich vom Leibe halten muss. Eigentlich ist seine
Einzigartigkeit als Lebewesen ganz allgemein die Fähigkeit des Verstandes,
aber diese Meisterschaft tritt doch als unterscheidendes Merkmal gegenüber
dem Tier am offensichtlichsten an der
Kunst hervor, weil sich auf diesem Können ein Verhalten gründet, das
man auch beim Tier zu finden glaubt, und das
so überhaupt einen direkten Vergleich möglich macht. Das Verhalten, das hier
die Vergleichsbezug hergibt, ist das Hervorbringen oder Herstellen (griech.:
poiesis). Dieses Verhalten gibt es doch auch beim Tier (das
Vogelnest, der Bienenstock, der Ameisenhügel), aber eben ohne Kunst. Die
Kunst ermöglicht dem Menschen einen freieren Gebrauch der Dinge seiner
natürlichen Umwelt und macht seine Lebenserhaltung der der Tiere mindestens
ebenbürtig, wenn nicht überlegen, obwohl er von Natur doch als „Mängelwesen“
(Herder) ausgebildet ist.
Der Vernunftbegabung des Menschen entspringt die Möglichkeit und
Notwendigkeit, in der Gemeinschaft zu leben, die wiederum auf Kommunikation
und Austausch beruht. Der kommunikative Austausch bildet sich auch zu einem
Verständnis des Gerechten und Ungerechten, des Guten und Schlechten aus. Zu
allem menschlichen Handeln gehört dann auch ein „Werk“. Mit dem Begriff des
Werkes bezeichnen wir dasjenige, was aus dem Handeln hervorgeht und durch es
in Erscheinung tritt, in der Welt auftaucht, sich zeigt. Werk bedeutet nicht
allein etwas handwerklich Angefertigtes, ein gestaltetes Ding. Der Mensch
erwirkt etwas auf dieser Erde auf Grund eines Vermögens. Als Mensch etwas
vermögen bedeutet: zu etwas imstande sein, etwas können. Das Vermögen ist
das Mögliche, das Erscheinende, das (vollendete) Werk, ist das Wirkliche.
Wichtig ist die Unterscheidung zwischen dem, was das Handeln, das Tun, als
es selbst ist, und dem, was in diesem Handeln und aus ihm hervorgeht, aus
ihm folgt, jenseits und außerhalb der Handlung in Erscheinung tritt. Damit
greifen wir die Unterscheidung zwischen praxis und poiesis
auf, indem wir auf deren je unterschiedlichen Werkcharakter hinweisen: So
kann einmal das Handeln selbst das Werk oder Ziel sein (z. B. einem Menschen
gut zureden, ihn beraten, ihn trösten), dann sind gefasster Mut, Trost oder
Rat das Ziel des Handelns. Solche Werke sind aber nicht Dinge oder
Gegenstände in der Welt, die sinnlich in Erscheinung treten. Davon zu
unterscheiden ist dann zum anderen das vom Menschen ablösbare Werk, das das
Resultat eines Hervorbringungsprozesses ist, z. B. das Bauwerk oder sonst
etwas Hergestelltes: ein Tisch, eine Zeichnung, ein Plan.
Was ein Werk ist, und warum der Mensch überhaupt der Werke bedarf, dies ist
aus unserem Bild und Verständnis vom Menschen, das wir haben, zu deuten. Die
Werke des Menschen entsprechen der Eigentümlichkeit der menschlichen Natur.
Seine Werke sind gleichsam typisch für die menschliche Eigenart. Bezeichnend
für diese Eigenart, die auch jedes Tun als menschlich ausweist, ist das Wort
(logos: Rede, Überlegung, Verstand, Beratung, Entscheidung usw.), d.
h. das Vermögen, über das Wort zu verfügen und es anzuwenden: zuhören
und ansprechen, fragen und antworten. Alles Weisen des logos, die nur
innerhalb einer sozialen Mitwelt überhaupt sinnvoll sein können.
Die Tüchtigkeit, auch eine menschliche Eigenschaft, liegt in der Fähigkeit,
sowohl ein Werk gut auszuführen als auch in der Fertigkeit, die Mitte und
das rechte Maß zu finden und sie im Werk festzuhalten bzw. umzusetzen. Es
bleibt hier weiterhin die Unterscheidung zwischen dem Herstellen (poiesis)
und dem Handeln (praxis) zu berücksichtigen, auch und gerade
hinsichtlich des Guten. Die Tüchtigkeit des handwerklichen Handelns hat es
immer nur zu tun mit Gutem, das im Dienst des Handelns (hier: Gebrauchens)
steht.
Diese Unterscheidung zwischen Handeln & Gebrauchen auf der einen und
Hervorbringen & Herstellen auf der anderen Seite ist wesentlich: sie
bestimmt nämlich, dass sich das handwerkliche Tun am mitweltlichen
Handeln orientiert. Dazu gehört z.
B. das Wohnen, denn es ist für den Menschen pragmatisch unmöglich, nicht zu
wohnen. Einmal auf der Welt, muss er irgendwo
bleiben
und kann sich nicht in Luft auflösen. Nur weil der Mensch Verstand hat und
über verständige Einbildungskraft verfügt, kann er Dinge wie Gebäude und
Wohnungen herstellen. Das angestrebte Werk soll aber gut für den
menschlichen Gebrauch, hier wieder das Wohnen, sein.
Welche menschliche Haltung bezeichnen wir aber als Kunst im Sinne des
Sich-Verstehens-auf? Die Kunst ist eine Haltung des praktischen Verstandes
(im Unterschied zum theoretischen Verstand). Ihre besondere Bedeutung liegt
darin, dass die „Kunst“ (techné) in der Praxis ihre Wurzel hat.
„Praxis“ heißt, dass der Mensch als soziales Wesen in den Bezügen der
Gemeinschaft und der Gesellschaft immer schon drin ist. Er wird in eine Welt
hineingeboren, die immer schon auf eine bestimmte gesellschaftliche Weise
organisiert ist. Die kulturelle Existenz in Gemeinschaft (Recht, Tradition,
Sitte und Moral usw.) bedarf aber eines Herstellungskönnens und daraus
hervorgehender Artefakte.
Es gibt verschiedene Arten, das Leben als Handeln zu vollziehen. Eine ist
das Gebrauchen. Solches Handeln, zu dem wesentlich das Gebrauchen
gehört, sind Handlungen wie: wohnen, essen, sich kleiden, schlafen. Diese
Handlungen sind selbst ein Bestandteil des Lebens, in ihnen findet zum Teil
das Leben selbst seine Erfüllung. Wohnen
z. B. ist aber nur möglich im Gebrauchen von etwas anderem, in diesen
Handlungen ist der Gebrauchende auf anderes Faktisches bezogen (auf ein
Haus; darin auf eine Wohnung, darin auf Einrichtungsgegenstände). Solche
Dinge wie Wohnhäuser werden deshalb
Lebens-Mittel genannt. Ihr Gebrauch ist ein Vollzug des Lebens
selbst. So ist der Gebrauch des Hauses das geschützte Beisammen-Sein mit
anderen, und das Leben besteht dann in der mitweltlichen Kommunikation und
im sozialen Austausch. Oder es ist der Gebrauch des Bettes, das Ruhen; und
das Leben besteht dann im Ruhen.
Der Mensch bedarf dieser Lebensmittel, und nur in ihrem Gebrauch vollzieht
sich das Streben, sich im Leben zu erhalten. Die Bedingung des Gebrauches
ist deren Besitz (nicht deren Eigentum), und insofern dieses Verfügen nicht
schon verwirklicht ist, begleitet die auf das Verfügen gerichtete
Aufmerksamkeit die auf die Beschaffung. Das Besorgen von Lebens-Mitteln,
deren Gebrauch der Mensch bedarf, gerade auch um sein Leben „gut“ zu können,
ist Herstellung im weitesten Sinne (poiesis). Dieses besorgende
Streben ist also nach Beschaffung und Besitz von Lebens-Mitteln aus, und das
entsprechende Verhalten sorgt für die Bereitstellung dieser Mittel, so dass
sie für den Gebrauch verfügbar sind. Dieses Verhalten, insofern es sich auf
die Besorgung, die Beschaffung und den Besitz von architektonischen Werken
richtet, nenne ich das architektonische
Verhalten. Dieses Verhalten bildet eine eigene Weise des
Fürwahrhaltens
der benötigten Dinge aus und darin einen besonderen Ausblick auf die
Lebens-Mittel, der die Bedingung ihrer Hervorbringung einschließt.
Fürwahrhalten heißt: der Mensch hat „immer schon“ ein erfahrungsgemäßes
Verständnis von dem Lebensmittel, das er braucht. Er muss ja auf den
Gebrauch schon vorblicken können, damit er überhaupt weiß, was er warum und
wie herstellen muss. Der Mensch antizipiert den erst noch „umzusetzenden“
Gebrauch. Im Herstellen macht er dann gleichsam seine Vorstellung wahr,
indem er das bloß Mögliche nun wirklich hervorbringt, so dass es tatsächlich
in den Gebrauch gehen kann.
Das Leben kann sich in der Herstellung allein nicht erfüllen, weil diese
immer auf etwas anderes gerichtet ist, da es ihr um den Gebrauch des
Hergestellten geht. Gebraucht wird das Lebens-Mittel, um zu leben: „Wir
wohnen nicht, um zu wohnen, sondern wir wohnen, um zu leben“, heißt es
beim Religionsphilosophen Paul Tillich.
Das Wohnen, das Schlafen, das Essen usw. sind nicht Selbstzweck, sondern sie
stehen im Dienst der Erhaltung des Menschen.
Die Herstellung der Lebens-Mittel ist also zu unterscheiden von ihrem
Gebrauch. Das Hervorbringen von Architektur ist eine andere Handlung im
Leben des Menschen als der Gebrauch des Gebäudes. Letzteres können wir das
Wohnen nennen. Unter „Kunst“ (techné) ist nun aber das menschliche
Vermögen zu verstehen, das sich allgemein auf die Herstellung (poiesis)
von Lebensmitteln richtet. Die „Kunst“ des Hervorbringens von Lebens-Mitteln
hat ihr Interesse nicht nur vordergründig auf das jeweilige Werk zu richten,
sondern darüber hinaus hat sie das Ziel des Werks, nämlich dass es für den
Gebrauch bestimmt ist, mit zu berücksichtigen. Und der Gebrauch wiederum ist
bezogen auf das Leben selbst, nämlich dass es
gut gelingen soll. Insgesamt steht
also auch die Herstellung im Zeichen jenes Fürwahrhaltens und Wahrmachens,
die überhaupt erst ein Hervorbringen ermöglicht, und auf das gekonnt sich zu
beziehen erst „Kunst“ ist.
3. Über die Möglichkeiten des Erscheinens des architektonischen Werkes
Der Mensch ist der Wahrnehmende, der, um zu leben, sein Leben führen, d. h.
es selbst in die Hand nehmen muss. Er muss sein natürliches Handicap, nicht
in eine Umwelt eingepasst zu sein, durch Kultur (sprechen, handeln,
hervorbringen und herstellen) überwinden. Der Mensch bringt etwas hervor,
stellt etwas her, weil er sich als etwas Lebendiges im Leben erhalten und
halten muss und darüber hinaus, es könnend bewältigen will. Das
architektonische Werk ist etwas, das erscheint, das auftaucht, das aussieht,
das eine Gestalt hat. (Ästhetisch) Wahrnehmen heißt: Gestalten erfassen.
Am Anfang des Bauens steht immer ein leibliches Bedürfnis, das wir allgemein
„Wohnen“
nennen können. Die architektonische „Kunst“ liegt in der spezifischen
Anwendung eines bestimmten Wissens:
Ein Sich-Auskennen in etwas, ein Sich-Verstehen auf etwas, und damit ist
„Kunst“ auch ein bestimmtes Tun, nämlich Mittel für Zwecke zu bestimmen,
einzusetzen und für den Menschen als bedürftiges Wesen „dienliche“ Dinge und
Werke herzustellen, hervorzubringen. Die architektonische „Kunst“ umfasst
dieses Wissen des Hervorbringens und Herstellens von Lebens-Mitteln. Sie
bezeichnet das Vermögen, etwas herzustellen, nämlich etwas „werden“ zu
lassen, etwas zur Erscheinung zu bringen.
Das architektonische Verhalten versammelt all diese Bestimmungen, die das
Material, die Gestalt und den Zweck des Lebens-Mittels umfassen. Es
durchdenkt und nimmt die drei Arten des Herstellens und Hervorbringens auf:
a) Material, Stoff;
b) Aussehen, Gestalt;
c) Grenze des Gebrauchs, Ziel und Zweck.
Das architektonische Verhalten veranlasst, dass überhaupt etwas
„Bewohnbares“ zum Vor-Schein kommt.
Eine Theorie des architektonischen Verhaltens fragt
nicht danach: Was ist überhaupt
Gegenstand der Ästhetik?, sondern:
Wie kann Architektur als Produkt des architektonischen Verhaltens Gegenstand
der Ästhetik sein? Denn Ästhetik (aisthesis = wahrnehmen) hat es mit
dem Auftauchen und Erscheinen von Werken/„Wozudingen“ (Wilhelm Schapp) zu
tun, und zwar erstens:
insofern die menschliche Wahrnehmung (das Gestaltsehen bei Ludwik Fleck) die
Wirklichkeit von Architektur in
der Begegnung erst konstituiert, uns in ihren Bann schlägt, auf uns wirkt,
etwas spüren lässt, Eindruck machen lässt, also eine
ästhetische Erfahrung
zulässt. Wahrnehmung, im Zusammenhang einer ästhetischen Erfahrung mit
Architektur, bedeutet das Auftauchen
von ästhetischen Qualitäten. Qualitäten sind keine Eigenschaften,
Bestimmungen oder Bestandteile von Dingen, sondern Phänomene ihres Wirkens.
Sie erscheinen in der Weise des Empfindens und Spürens.
Und zweitens:
insofern Architektur in diesem Auftauchen in der Welt zugleich auf etwas
Hergestelltes, Hervorgebrachtes, einen Charakter verweist, auf Zwecke,
Ziele, einen Gebrauch usw., also auf einen
Sinnzusammenhang zeigt.
Das Erscheinen und Auftauchen ist stets von „irgendeiner gefassten Art“. Das
heißt: Was gleichsam in einem Eindruck „qualitativ“ liegt, muss erst
gefunden werden, z. B. indem ich dem Gedanken nachgehe, den jener Eindruck
in mir erweckt. Die Dinge werden auf das Wort gebracht. Man schließt auf
ihren „Charakter“.
Sie werden darin erkannt, nämlich ausgelegt. Dabei kann jedoch niemals der
Eindruck „falsch“ sein, sondern nur der Gedanke und das deutende Wort, zu
dem mich der Eindruck führt.
Der griechische Ausdruck aisthesis bezeichnet zum einen den Begriff
für das Grundvermögen der Einbildungskraft. Zum anderen ist aisthesis
der Begriff für eine bestimmte Art des
hermeneutischen, verstehend-deutenden Bezuges, in dem der Mensch zu
den Dingen und Werken seiner Welt steht. Das griechische Wort bedeutet
sowohl dieses Vermögen als auch die Handlung des Vermögens, im Unterschied
zum deutschen Wort: Wahrnehmung, das die Handlung und das zugehörige „Werk“,
nicht aber das Vermögen meint. Dieses Grundvermögen, das im Wahrnehmen
liegt, nennen wir also Einbildungskraft.
Es sind vor allem zwei Aspekte, die eine Theorie des architektonischen
Verhaltens beschäftigen müssen, erstens das Phänomen, dass Architektur den
Menschen unter Gebrauchsaspekten etwas angeht,
zum anderen, dass Architektur nur in der Begegnung mit ihr in Erscheinung
tritt. Der Gebrauchsaspekt führt uns zur ethischen Bestimmung von
Architektur, der Erscheinungs- oder Ausdrucksaspekt führt uns zur
ästhetischen Erfahrung mit Architektur.
Wir können sagen; was Architektur dem Menschen
bedeutet, erwächst sowohl aus der
Gebrauchserfahrung als auch aus der Ausdrucks- oder ästhetischen Erfahrung.
Ausdruck und Gebrauch, Erscheinung und Form – in dieser Gegenüberstellung
haben wir über eine Theorie der Architektur zu sprechen. Die Architektur hat
ihr telos (Ziel) nicht in der Herstellung, sondern sie vollendet sich
erst im Gebrauch. Jedes Werk ist im Voraus in einen bestimmten Bereich des
Gebrauches eingegrenzt.
Das Erscheinen des architektonischen Werkes bezieht sich in einem
pragmatischen Sinne sowohl auf seine Wirkung als auch auf die Beschreibung
dieser Wirkung.
Beides – Wirkung und Beschreibung – sind Formen des Umgangs. Darin beziehe
ich mich auf das, was architektonisch-ästhetische Erfahrung ist, nämlich
Sinn im Sinnlichen (er-)finden, Eindrücken das sie deutende Wort zuführen.
Die architektonisch-ästhetische Erfahrung geht über das bloße Wahrnehmen
hinaus, obwohl sie auf einer Wahrnehmung beruht. Ich habe deshalb von der
pragmatisch-ästhetischen Architekturauffassung gesprochen,
auf die eine Theorie des architektonischen Verhaltens bezogen ist.
Anmerkungen:
Vgl. dazu: Achim Hahn: Das Entwerfen als wissenschaftliches Handeln der
besonderen Art. AUSDRUCK UND GEBRAUCH, Heft 5, II/2004.
„Nur sofern man sich bewegt unter den Dingen, mit ihnen zu tun hat,
nur sofern man in der Welt steht, nicht aber sie gegenüber hat, kann man
empfinden. Man l e r n t sehen und hören.“ Hans Lipps (1941), Die
Natur des Menschen, Frankfurt/Main, S. 77f.
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