Zum Interpretieren von Architektur
Konkrete Interpretationen

13. Jg., Heft 1, Mai 2009

 

___Silke Langenberg
Zürich
  Geplante Gestaltung – gebauter Prozess
Architektur der 1960er und 1970er Jahre

 

    Die Debatte um die Qualität der in den 1960er und 1970er Jahren entstandenen Bauten ist noch immer relativ wenig differenziert. Die großmaßstäbliche Architektur und oft serielle Herstellung erschließt sich rein gestalterischen Analysen nur schwer. Für Verständnis und Umgang mit den „Bauten der Boomjahre“ scheinen andere Bewertungsmaßstäbe notwendig, als bei Gebäuden früherer Jahrzehnte – denn ihre historische Bedeutung liegt eben auch im „Phänomen der Masse“, der architekturgeschichtliche Wert zum Teil in der Prozessorientierung der architektonischen Konzepte selbst.

Die Kenntnis der Planung und Konstruktion wesentlich beeinflussenden Strategien zur Optimierung des Planungs- und Rationalisierung des Bauprozesses scheint grundlegend für jede Interpretation der in den 1960er und 1970er Jahren entstandenen Bauten. Die das Bauwesen in den Boomjahren beeinflussenden Aspekte sind vielfältig, die entstandenen Bauten nicht nur als architekturhistorisches, sondern auch kulturelles, wirtschaftliches und vor allem bautechnisches Phänomen bemerkenswert. Die Einschätzung der historischen Bedeutung – sowohl der Boomjahre als auch ihrer Bauten – sollte daher nur aufgrund eines komplexen und breiten Kriterienkatalogs erfolgen. Neuere Publikationen und Forschungsprojekte zur Architektur der 1960er und 1970er Jahre sind meist kunstgeschichtlich oder architekturtheoretisch ausgerichtet. Sie beschäftigen sich eher mit den visionären Theorien und Projekten, den utopischen Planungen und in diesem Kontext entstandenen Bauwerken, als mit dem Phänomen der großen Masse – deren Errichtung und Bedeutung für das Baugeschehen des 20. Jahrhunderts bislang bestenfalls ansatzweise untersucht worden ist. Für das Verständnis der konstruktiven Hintergründe – in den Boomjahren meist wesentlich beeinflusst durch die Herstellungsweise von Bauteilen, den Bauablauf oder wirtschaftliche Aspekte – scheint eine mehr ingenieurwissenschaftlich ausgerichtete Herangehensweise hilfreich.
In den 1960er und 1970er Jahren entstehen in der Bundesrepublik Deutschland infolge sinkender Arbeitslosigkeit und wachsenden gesellschaftlichen Wohlstands[1] rund fünf Millionen Bauten mit insgesamt mehr als anderthalb Milliarden Quadratmetern Nutzfläche:[2] neben Wohn-, Verkehrs- und Infrastrukturbauten werden verstärkt öffentliche sowie Freizeit, Kultur und Sport dienende Bauten errichtet; das Streben nach finanziellem und sozialem Aufstieg und der damit einhergehende Wunsch nach höherer Bildung führt gleichzeitig zum Ausbau des Schul- und Hochschulnetzes[3] – einer der wichtigsten Bauaufgaben der 1960er und 1970er Jahre. Wie die Sicherstellung der medizinischen Versorgung fällt die „Bildungsaufgabe“ in die Zuständigkeit der Länder.

Parallel zu Wirtschaftswachstum und Wohlstand nimmt in der Bundesrepublik auch die Bevölkerung zu – zwischen 1950 und 1970 wächst sie um 10 Millionen.[4] Damit steigen nicht nur die qualitativen Anforderungen und Ansprüche der Bevölkerung an den Gebäudebestand – es werden vor allem auch größere Kapazitäten benötigt.
Für die Errichtung dieser großen Baumasse werden zum Teil bereits in den 1920er und 1930er Jahren entwickelte Ideen zur Rationalisierung der Herstellung von Bauteilen oder des gesamten Bauablaufes aufgegriffen und unter Zuhilfenahme neuer Techniken, Materialien und Maschinen umgesetzt. Die große Anzahl der in den Boomjahren zu errichtenden Gebäude ermöglicht erstmals die Erprobung verschiedener Rationalisierungsstrategien in der Breite: serielle Fertigung verlangt grundsätzlich nach einer sehr großen Zahl immer wiederkehrender, gleicher Elemente um überhaupt wirtschaftlich zu sein; auch der Einsatz bestimmter Konstruktionen, Maschinen oder Schaltechniken lohnt sich erst bei Errichtung großer Volumen. Darüber hinaus zeigen sich verstärkt Bestrebungen zur Entwicklung vom Standort unabhängiger und flexibler Systembauten – der Planungsprozess wird zu rationalisieren, das Bauwerk unter Berücksichtigung aller es betreffenden Anforderungen und sogar Möglichkeiten zu optimieren versucht. Die Zunahme bautechnischer Vorschriften und Normen führt dabei zu immer komplexeren Strukturen.


Optimierung der Herstellung

Die größten, baulichen Bestände der Boomjahre entstehen im Bereich des Wohnungsbaus – das jährliche Bauvolumen beträgt allein in der Bundesrepublik 1/2 Million Wohnungseinheiten[5] – in der Deutschen Demokratischen Republik werden zwischen 1960 und 1980 rund 80.000 Wohnungseinheiten pro Jahr errichtet.[6] Die neuen Siedlungen entstehen meist am Rand der Städte und führen zunächst das in den 50er Jahren begonnene Konzept der „gegliederten und aufgelockerten Stadt“[7] weiter, bis die monofunktional strukturierten Städte aufgrund des steigenden Verkehrsaufkommens, der Verödung innerstädtischer Bereiche sowie den immer weniger funktionierenden Wohngebieten in die Kritik geraten. Erst Mitte der 70er Jahre führt die zunehmende „Unwirtlichkeit der Städte“[8] zu einem Umdenken der Planer. Die Möglichkeiten der Vorfertigung von Bauteilen und auch der Großtafelbau werden bei der Errichtung von Wohnraum in den 60er und 70er Jahren in beiden Teilen Deutschlands verstärkt genutzt. Zahlreiche Firmen entwickeln in Zusammenarbeit mit Architekten und Ingenieuren, meist im Zusammenhang mit einem größeren Bauvorhaben, unterschiedliche Fertigteilsysteme, die nach ihrer Erprobung patentiert und zum Teil auch für andere Bauvorhaben vermarktet werden.[9]

Ähnlich den großen Wohnsiedlungen entstehen auch die in den 60er und 70er Jahren zahlreich erweiterten oder neu gegründeten Hochschulen als große Baumassen auf freiem Feld. Aufgrund ihres Volumens, der mit ihrer Errichtung verbundenen großen Anzahl von Bauten sowie Organisation auf einem Campus stellen sie eine dankbare Bauaufgabe für die Umsetzung von Planungstheorien oder die Realisierung städtebaulicher Visionen dar. Sie bieten die Möglichkeit zur Erschaffung und Erprobung neuer räumlicher Konzepte, ohne dass sie bestehende, gewachsene Stadtstrukturen berücksichtigen müssten oder beeinträchtigen würden. Gleichzeitig ermöglicht die Errichtung auf einem meist zusammenhängenden Bauplatz je nach Planungskonzept den Einsatz in einer auf der Baustelle eingerichteten Feldfabrik oder aber in einem Werk seriell gefertigter Bauteile; seit Ende der 60er Jahre ist dann auch verstärkt das „Lift-Slab“- oder Hubdeckenverfahren[10] sowie die Verwendung neuer Schaltechniken zu beobachten.[11] Da es sich bei den Hochschulen wie auch den großen Kliniken um eine staatliche, mit öffentlichen Mitteln finanzierte Bauaufgabe handelt, gelten die Mehrinvestitionen zur Erprobung neuer Systeme, Konzepte oder Bautechniken – ungeachtet dessen, ob sie erfolgreich sind oder letztendlich scheitern – in jedem Fall als „Industrialisierungsförderung des Bauwesens“[12]. Bereits 1982 fragt Leonardo Benevolo, „inwieweit die neuen städteplanerischen und architektonischen Projekte tatsächlich den realen Bedürfnissen der Bevölkerung entsprechen oder ob damit die Ansprüche der Bevölkerung nicht nur künstlich hochgeschraubt werden, um eine ständige Expansion der industriellen Maschinerie zu gewährleisten.“[13]

Während im Bereich des Wohnungsbaus in erster Linie die Großtafelbauweise zu beobachten ist, werden die meisten der in den Boomjahren entstehenden Universitäten als Skelettbauten errichtet; die Verwendung von Platten bleibt auf den Bereich der horizontalen Raumabschlüsse und zum Teil die Fassaden beschränkt. Der Plattenbau bietet im Gegensatz zum Skelettbau den Vorteil einer Reduzierung der auf der Baustelle notwendigen Montage- und weiteren Ausbaustufen. Die Verwendung großformatiger, nur mit einem Kran beweglicher Platten schränkt dafür jedoch die Flexibilität und Variabilität des fertig gestellten Gebäudes deutlich ein oder schließt sie sogar aus. Trotz ähnlicher Zielvorstellungen bezüglich der Optimierung und Rationalisierung des Herstellungsprozesses unterscheiden sich die großen Wohnungsbauprojekte daher in diesem Punkt sehr deutlich vom Hochschulbau: Der Großtafelbau wäre aufgrund der die Hochschulplanung in den 1960er und 1970er Jahren wesentlich beeinflussenden Forderung nach Flexibilität und Variabilität der Bauten zur Anpassung an veränderte Anforderungen weniger geeignet. Die Erweiterbarkeit ist dagegen auch bei der Verwendung der Plattenbauweise möglich – die lineare Fortsetzung gilt in den 1960er Jahren als eines der günstigsten Konzepte für die Erweiterung von Hochschulen und ist nicht zwangläufig an die Skelettbauweise gebunden.

Die auf eine Optimierung des Bauablaufes zielenden Konzepte zur Errichtung großer Volumen verlangen grundlegend veränderte Planungsprozesse – das System rückt in den Vordergrund. Mit zunehmender Berücksichtigung verschiedenster Produktionstechniken, Funktionsabläufe und auch Nutzungsmöglichkeiten wird die Planung komplexer, das Tätigkeits- und Aufgabenfeld der Architekten beginnt sich zu wandeln: dem ingenieur-wissenschaftlichen Teil ihrer Ausbildung scheint plötzlich eine größere Bedeutung zuzukommen[14] und viele Architekten fühlen sich auch selbst den technisch-konstruktiven Aufgaben eher verpflichtet als den ästhetischen.[15] Konstruktion, Bautechnik und Herstellungsart haben in den 60er und 70er Jahren einen ähnlich hohen Stellenwert wie „der Bedarf und die Funktionserfüllung, die Gestaltung und die wirtschaftliche Nutzung“ des ausgeführten Bauwerks.[16] Es werden Systeme und Maßordnungen entwickelt, die den Einsatz vorgefertigter Bauteile oder Elemente begünstigen und damit Einsparungen von Herstellungskosten durch serielle Fertigung ermöglichen sollen.[17] Gleichzeitig zielen die Strategien der Planer auf eine Verkürzung der Bauzeit – wobei allerdings die infolge steigender Anforderungen verlängerte Planungsphase meist unberücksichtigt bleibt. Ebenso sind die Versuche zur Kostenoptimierung allein auf eine Reduktion der Baukosten ausgerichtet – die Betriebskosten werden gesondert behandelt.

Die Gestaltung großer Bauvolumen folgt in den 60er und 70er Jahren in der Regel ihrem Konstruktionsprinzip:[18] Tragwerke werden gezeigt, Materialien roh belassen, rein funktionale Bauteile wie beispielsweise Fluchtbalkone oder Abluftkanäle zur Gestaltung und Gliederung von Fassaden genutzt, seriell gefertigte Bauteile durch konsequente Wiederholung sichtbar gemacht, Farben meist nur zur Orientierung im Gebäude eingesetzt. Die Bauten scheinen damit eher, den Arbeiten von Max Bense folgend,[19] einer kybernetischen Theorie verpflicht, als der Ästhetik einer philosophischen Disziplin. Es werden Untersuchungs- und Berechnungsmethoden entwickelt, mit deren Hilfe der Informationsgehalt eines Bauwerks und seiner äußeren Erscheinung ermittelt werden soll, Bewertungskriterien sind beispielsweise Komplexität des Objektes, Redundanz oder Wahrnehmung: „Die Informationsästhetik (stellt) den Versuch dar, die Ästhetik (...) zu einer exakten Wissenschaft zu machen.“[20] Zum Teil erscheinen die Ergebnisse – auch aus heutiger Sicht – plausibel: „In der Redundanz von 98,3 % drückt sich der hohe Grad an Ordnung und Regelmäßigkeit aus, der subjektiv als Langweiligkeit empfunden wird.“[21]

Die ein Bauwerk wesentlich beeinflussenden Faktoren Material, Struktur, Konstruktion, Herstellungstechnik und Funktion sollen deutlich ablesbar, seine Architektur in jeder Hinsicht klar begründet und dadurch nachvollziehbar sein: „In der idealen Kombination der Anwendung aller Kenntnisse und Möglichkeiten der Technik, des Erkennens der Psyche des modernen Menschen, seines Anspruchs und seiner fortschreitenden Urteilsfähigkeit, wird sich der Bau formen, einfach, natürlich, anonym und von allen verstanden, weil er dem Gedanken der Zeit entspricht.“[22]

Das Verständnis von „Baukunst“ scheint damit grundlegend verändert, die künstlerische Gestaltung zunehmend auf die, durch das deutlich vergrößerte Bauvolumen auch zu einem wirtschaftlichen Faktor gewordene, „Kunst am Bau“ reduziert zu werden.


Planungsoptimierung

Neben den Bausystemen für an einem Ort entstehende Baumassen werden in den Boomjahren auch zahlreiche System- und Typenplanungen für ähnliche Gebäude an verschiedenen Standorten entwickelt. Sie sind vor allem im Bereich von Verkehrs-, Gewerbe- und Industriebauten, aber auch bei Sportstätten oder Schulen zu beobachten. Gleiche Anforderungen ermöglichen eine standardisierte Planung, welche jedoch aufgrund unterschiedlicher Standortbedingungen flexibel gestaltet und an örtliche Gegebenheiten anpassbar sein muss. Wie bei den großen Bauvolumen ist die Entwicklung solcher Typenplanungen erst mit Errichtung einer großen Anzahl von Bauten sinnvoll, wenn sich der erhöhte Planungsaufwand rentieren kann. Gleichzeitig ist auch die Möglichkeit gegeben, durch serielle Herstellung gleicher Bauteilen für verschiedene Standorte Produktionskosten zu sparen, aufgrund sehr hoher Transportkosten zunächst jedoch wenig sinnvoll. Die seit Anfang der 1960er Jahre stark ansteigende Zahl von Fertigteilwerken eröffnet schließlich neue Möglichkeiten – allein zwischen 1961 und 1963 vervielfacht sich ihre Zahl in der Bundesrepublik von 14 auf 500.[23]

Neben den Anforderungen verschiedener Standorte müssen die standardisiert geplanten Bauten zum Teil auch Bedürfnisse unterschiedlicher Nutzer, bei den gewerblichen Bauten oft auch allfällige Änderungen des Markes von Anfang an berücksichtigen. Sie werden zur Bewältigung eine Planungsaufgabe entwickelt, deren Quantitäten und Inhalte zwar bekannt, Persönlichkeit und Bedürfnisse späterer Nutzer jedoch zu einem großen Teil auf Annahmen beruhen: „Man hat nicht nach Gebäuden gefragt, die dieser oder jener Funktion dienen sollen, sondern nach Systemen, die bestimmten Kriterien gerecht werden.“[24] Berücksichtigt werden nicht nur tatsächlich bedingte, sondern auch eine Vielzahl möglicher Anforderungen, Einflussfaktoren und Entwicklungen, die daraus entstehenden Zwänge als gegeben angesehen, akzeptiert und selten hinterfragt – in der Hoffnung auf Wissenschaftlichkeit und damit Glaubwürdigkeit der meist aufwändig ermittelten Grundlagen. Die Planung sieht daher meist nicht nur verschiedene Bautypen und Alternativen vor, sondern auch eine grundsätzlich flexibel gehaltene Konstruktion und Struktur. In den 1960er und 1970er Jahren errichtete Warenhäuser beispielsweise sind fast immer statisch überdimensioniert um Nutzungsänderungen und die Aufstockbarkeit um mindestens ein Geschoss zuzulassen, ihre Fassaden so gestaltet, dass die ständigen, inneren Umbauten Außen nicht in Erscheinung treten. Ebenso werden alle Hochschulbausysteme in den 1960er und 1970er Jahren unter der Zielsetzung Flexibilität, Variabilität und Erweiterbarkeit entwickelt, die kleineren Schulbausysteme zumindest erweiter-, meist aber auch veränderbar gestaltet. Die für die Errichtung von Schulen entwickelten Optimierungsstrategien zielen jedoch wie die der Universitäten nicht nur auf eine Kosten- und Zeitersparnis in der Planungsphase, sondern auch bei der baulichen Umsetzung ab – der Anteil des Fertigteilbaus im Bereich von Schulgebäuden steigt zwischen 1965 und 1970 von 4,8 % auf 23 %.[25]

Für das Verständnis der Bauten ist die Kenntnis der Hintergründe unabdingbar, ihre Struktur, Organisation und Gestaltung ohnehin schwer nachvollziehbar; dass sie Teil einer Serie und in einem größeren Zusammenhang entstanden sind, einem bestimmten Bautyp entsprechen, konstruktive Innovationen, neuartige Materialen oder Techniken berücksichtigen, lässt sich am Gebäude selbst oft nicht ablesen. Der Planungs- und Bauprozess beziehungsweise der Versuch seiner Optimierung wirkt sich jedoch entscheidend auf die Architektur der Boomjahre aus – sein Einfluss ist je nach Bauaufgabe größer als der baulicher Vorläufer, gesellschaftlicher und sozialer Ansprüche, über Jahre gewonnenen Wissens über bewährte Materialien, Konstruktionen und Bautechniken. Gründe hierfür sind zum einen sicher im in den 60er Jahren noch vorherrschenden Glauben an Fortschritt und Technik zu finden, zum anderen im Wunsch, den steigenden Bedarf beziehungsweise bei vielen Bauaufgaben die infolge wirtschaftlichen Wachstums und Wohlstands steigende Nachfrage in kürzester Zeit zu befriedigen. Obwohl die Planungs- und Bauphase eines Gebäudes verglichen mit seiner potentiellen Lebensdauer relativ gering ist, scheint gerade ihr in den 1960er und 1970er Jahren die größte Aufmerksamkeit geschenkt zu werden. Nach einer Lebensdauer von rund 50 Jahren kommen die Bauten nun in die erste Phase ihrer baulichen Erneuerung.


Umgang mit den Bauten der 1960er und 1970er Jahre

Die Bauten der Boomjahre sind mittlerweile in die Kritik geraten, die Gründe für den Boom und in dessen Folge entwickelten Konzepte in Vergessenheit: „Wer erinnert sich heute noch an das Wort Sputnik?[26] Während die Wiederaufbauleistung der 1940er und vor allem 1950er Jahre in der Gesellschaft weitgehend anerkannt ist, wird die finanzielle, konstruktive und auch organisatorische Leistung der Boomjahre kaum gewürdigt. In Unkenntnis der architektonischen Konzepte, der den Planungen zugrunde liegenden Theorien sowie der sie stark beeinflussenden Optimierungs- und Rationalisierungsbestrebungen erscheint die Architektur der Boomjahre meist unverständlich: Primär- und Sekundärwahrnehmung unterscheiden sich deutlich – oftmals noch verstärkt durch die schlechte Alterung der Bauten.

Für die große Masse der in den 1960er und 1970er Jahren entstandenen Bauten werden in den kommenden Jahren Überlebensstrategien zu entwickeln sein, denn viele der Boombauten sind bereits jetzt aufgrund des rückläufigen Bedarfs ihrer Nutzung ein Problem: die vermehrt errichteten Freizeit, Konsum und Sport dienenden Gebäude beispielsweise, aber auch kulturelle Einrichtungen und Kirchen werden in der vorhandenen Größenordnung nicht mehr benötigt oder sind in diesem Umfang nicht mehr zu unterhalten. In den neuen Bundesländern stellt sich vor allem die Frage nach dem Erhalt obsolet werdender Großwohnsiedlungen, Industrieanlagen sowie staatlicher Repräsentationsgebäude. Ein großer Teil der Bauten ist im Hinblick auf eine Weiternutzung nach den Prinzipien ihrer Entstehungszeit derzeit wirtschaftlich unrentabel. Die externen Kosten der Entsorgung, des Abrisses oder des Umbaus, werden in der Regel sozialisiert, das heißt, den Kommunen beziehungsweise der öffentlichen Hand aufgebürdet – egal, ob es sich um ein öffentliches oder ein privates Gebäude handelt. Monofunktionale und technische Bauten stellen dabei natürlich ein größeres Problem dar, als grundsätzlich flexible Strukturen. Ein hohes Niveau haustechnischer Anlagen ist im Hinblick auf die laufenden Kosten meist besonders kritisch: Der Unterhalt von Schwimmbädern beispielsweise ist mit relativ hohen Dauerkosten verbunden und zahlreiche Städte diskutieren die Aufgabe der Objekte. Die Frage „Streichen und Weichen oder Klasse statt Masse“[27] bringt die Debatte auf den Punkt: Die Gesellschaft kann sich die große Masse der in den Boomjahren errichteten Infrastrukturbauten nicht mehr leisten und versucht über eine Qualitätssteigerung weniger Objekte den tatsächlichen Verlust zu relativieren. Für den Erhalt von Schwimmbädern werden momentan in erster Linie Konzepte vorgeschlagen, die mit finanzieller Hilfe von Investoren versuchen die Objekte in derzeit gefragte Wellness- oder Spaßbäder umzubauen – anstatt sie als Stätte sportlicher Betätigung zu erhalten. Auch wenn ihre Nutzung dadurch vorübergehend gesichert ist, erscheinen die Konzepte als Langfristperspektive eher fragwürdig.

Anfang der 1990er Jahre machen die Bauten der Boomjahre rund ein Drittel des existierenden, gesamtdeutschen Bestandes aus[28] – ihr vollständiger oder auch nur teilweiser Austausch wird der Gesellschaft sehr wahrscheinlich in kürzerer Frist nicht möglich sein wird. Die Debatte um die große Masse der in den 1960er und 1970er Jahren errichteten Gebäude – aber auch der besonders qualitätvollen darunter – ist sicher anders zu führen, als beim Umgang mit den Bauten vorhergehender Jahrzehnte. Der Wert als bauliches Zeugnis steht bei den hochwertigen Objekten außer Frage, dennoch ist die historische Bedeutung allein über diesen Begriff schwer zu definieren. Bereits Mitte der 1930er Jahre stellt Walter Benjamin die Frage nach dem Wert eines Kunstwerkes im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit.[29] Bei der Diskussion um den Erhalt der Architektur der 1960er und 1970er Jahre stehen wir vor einem ähnlichen Problem: Welchen architekturgeschichtlichen Wert messen wir Bauten bei, die unter der Zielsetzung einer industriellen Herstellung und seriellen Produktion von Bauteilen entstanden sind? Wie sollen Entscheidungen zur Überlieferung von Massengütern getroffen werden?

Die in den Boomjahren errichtete Baumasse ist als zeitgenössisches Phänomen bemerkenswert und im Hinblick auf die Visionen industrialisierter Massenfertigung auch planungsgeschichtlich bedeutend – Erhaltungsstrategien müssen sich aber primär an Kriterien einer nachhaltigen Bewirtschaftung des Gebäudebestandes orientieren. Die Chance ihres Überlebens wird vermutlich eher nach ökonomischen und ökologischen, im weiteren Sinne auch immobilienwirtschaftlichen Kriterien zu diskutieren sein. Der Großteil der in den Boomjahren errichteten Bauten wird nicht als Zeitzeugnis, sondern als Ressource zu erhalten, zu nutzen und wertzuschätzen sein.

 


 


A
nmerkungen:

[1] Die Arbeitslosenquote liegt in den 1960er Jahren im Schnitt bei 1,03 % (1967 Höchststand mit 2,1%), in den 1970er Jahren bei 2,83 % (1975 Höchststand mit 4,7 %). Arbeitslosenquote im früheren Bundesgebiet ohne Berlin. Nach: Statistisches Bundesamt (Hrsg.): Lange Reihen – Registrierte Arbeitslose, Arbeitslosenquote. Gleichzeitig steigen die Konsumausgaben privater Haushalte deutlich an, zwischen 1970 und 1980 beispielsweise von insgesamt 186,43 Mrd. Euro auf 416,26 Mrd. Euro. Nach: Statistisches Bundesamt (Hrsg.): Lange Reihen – Konsumausgaben privater Haushalte.
Beide Statistiken unter: http://www.statistisches-bundesamt.de. Aktualisiert am 21.04.2005.
©
Statistisches Bundesamt Deutschland 2005. Seite aufgesucht im August 2005.

[2] Zwischen 1960 und 1980 werden insgesamt 4.954.107 Wohn- und Nichtwohngebäude fertig gestellt. Die Wohn- und Nutzfläche beträgt 886.781.000 qm bei den Wohngebäuden und 635.574.000 qm bei den Nichtwohngebäuden, also insgesamt 1.522.355.000 qm. Zahlen nach: Statistisches Bundesamt (Hrsg.): Lange Reihen. Baufertigstellungen neuer Wohn- und Nichtwohngebäude. Wiesbaden 2001.

[3] Vgl. Picht, Georg: Die Deutsche Bildungskatastrophe. In: Christ und Welt: Dt. Zeitung. Wochenzeitung für Deutschland. 17. Jg. Stuttgart 1964. Buchpublikation Freiburg 1964.

[4] Die Bevölkerung wächst in der Bundesrepublik zwischen 1950 und 1970 von rund 51 auf rund 61 Millionen. Die Verteilung nach Altergruppen sieht in der BRD folgendermaßen aus: 1950 sind rund 16 Mill. 1 bis 21 Jahre alt (32 %), 13 Mill. 21 bis 40 Jahre alt (25 %), 14 Mill. 40 bis 60 Jahre alt (27 %) und rund 7 Mill. älter als 60 Jahre 16%). 1960 sind 17 Mill. 1 bis 21 Jahre alt (30 %), 15 Mill. 21 bis 40 Jahre alt (27 %), 14 Mill. 40 bis 60 Jahre alt (25 %) und rund 10 Mill. älter als 60 Jahre (18 %). 1970 sind 19 Mill. 1 bis 21 Jahre alt (31 %), 16 Mill. 21 bis 40 Jahre alt (26 %), 14 Mill. 40 bis 60 Jahre alt (23 %) und rund 12 Mill. älter als 60 Jahre (20 %). In der DDR fällt die Bevölkerungszahl im gleichen Zeitraum um 1 Mill. von rund 18 (1950) auf 17 Mill. (1970). Nach: Statistisches Bundesamt (Hrsg.): Bevölkerung nach Altersgruppen. Wiesbaden 2002.

[5] Nach: Statistisches Bundesamt (Hrsg.): Lange Reihen. Baufertigstellungen neuer Wohn- und Nichtwohngebäude. Wiesbaden 2001.

[6] Nach: Hoscislawski, Thomas: Bauen zwischen Macht und Ohnmacht. Architektur und Städtebau in der DDR. Berlin 1991. S. 145 und 285.

[7] Göderitz, Johannes: Die gegliederte und aufgelockerte Stadt. Tübingen 1957.

[8] Mitscherlich, Alexander: Die Unwirtlichkeit unserer Städte. Anstiftung zum Unfrieden. Frankfurt 1965.

[9] Das von der Firma Hochtief entwickelte System „IMBAU“ wird beispielsweise sowohl für den Hochschulbau, als auch für Büro- und Verwaltungsbauten, Krankenhäuser, Wohnheime, Einkaufszentren etc. entwickelt und genutzt. Vgl.: Instituts-Container oder Architektur für morgen? In: Baumeister 67, 1970, S. 1346-1351. Aus Sicht des Herstellers, S. 1350f.

[10] Bereits 1913 beschäftigt sich A. Peltzer in Chicago theoretisch mit dem Hubdeckenverfahren, kann seine Ideen aufgrund des unzureichenden Standes der Hebetechnik jedoch nicht umsetzen. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg wird die Idee wieder aufgegriffen. 1946 entwickelt B. Lafaille auf Initiative des französischen Bauministeriums ein Hubdeckenverfahren, welches in der Nähe von Paris erprobt wird. In den USA erkennen der P. Youtz und T. Slick zunächst unabhängig voneinander die Vorteile des Verfahrens, bringen es aber nach zweieinhalbjähriger Prüfung schließlich gemeinsam als Youtz-Slick Lift-Slab-Verfahren heraus. Es folgen Lizenzen in Kanada, Australien und Westeuropa sowie weitere Patente und Versuche im internationalen Rahmen. In Deutschland entwickelt F. Vaessen ein Hubdeckenverfahren für Hochtief. Nach erfolgreichen Versuchen im Experimentanbau wird das Verfahren in Deutschland erstmals 1967 beim Bau des Verwaltungsgebäudes der Oberfinanzdirektion in Münster (Westfalen) eingesetzt. Nach: Büttner, Oskar: Hubverfahren im Hochbau. Stuttgart 1972. Beschreibung des Hubdeckenverfahrens S. 71-82.

[11] Zu verschiedenen Schaltechiken siehe: Kowalski, Rolf-Dieter: Schaltechnik im Betonbau. Düsseldorf 1977. Ebenso: Schmitt, Oskar M.: Einführung in die Schaltechnik des Betonbaues: Schalungsmaterial – Schalungssysteme – Schalungskonstruktionen. Düsseldorf 1981. Zu Schaltechniken in der DDR: Kluge, Fritz: Standschalungen. Rationelle Schaltechnik, Band 1. Berlin 1977. Und: Braun, Joachim; Forner, Gottfried; Röhling, Stefan: Gleitschalungen. Rationelle Schaltechnik, Band 2. Berlin 1978.

[12] Vgl. Deutsches Institut für Wirtschaftsförderung (Hrsg.): Enquete über die Bauwirtschaft. Im Auftrag der Bundesregierung. Stuttgart 1973. Hektografierte Fassung des DIW von 1974.

[13] Zitat: Benevolo, Leonardo: Storia della città. Roma/ Bari 1975. Deutsche Ausgabe nach sechster Auflage von 1982: Die Geschichte der Stadt. Frankfurt/ New York 1993. Zitat S. 1058. (Kapitel 15. Die heutige Situation S. 945ff.)

[14] Ein Indiz hierfür ist die im Jahr 1976 durchgeführte Befragung zur Selbsteinschätzung von Architekten, in welcher die technischen Fähigkeiten für wichtiger erachtet werden, als die künstlerischen und die organisatorischen Fähigkeiten. Es folgen systematisch-analytische und persönlich-individuelle Fähigkeiten. Nach: Feldhusen, Gernot: Berufsbild und Weiterbildung des Architekten. Stuttgart 1974. Ebenso: Rühl, Manfred: Das Selbstbildnis des Architekten. Eine Untersuchung von Image-Faktoren im Prozeß des Image-Wandels. Bamberg 1986. Tab. 22, S. 45.

[15] Im Jahr 1985 fühlen sich 70 % der zu ihrer Selbsteinschätzung befragten Architekten stark bzw. sehr stark technisch-konstruktiven Aufgaben verpflichtet. Ästhetischen Aufgaben fühlen sich nur 53 % stark und sehr stark verpflichtet, 40 % werten diese Aufgaben als weniger stark oder gar nicht bedeutend. Die wirtschaftlichen Aufgaben werden dagegen ebenfalls von 70 % der Befragten als bedeutend gewertet, wobei knapp die Hälfte sich den wirtschaftlichen Aufgaben sogar sehr stark verpflichtet fühlt. Nach: Rühl, Manfred: Das Selbstbildnis des Architekten. Bamberg 1986. Auswertung Frage 6, Anlage A 21.

[16] Zitat: Assmann, Martin: Architektenleistung und Bauwirtschaft. In: Gleichmann, Peter R.; Schweger, Peter P.; Sozialwissenschaftliches Seminar, Lehrstuhl A für Gebäudekunde und Entwerfen, Technische Universität Hannover (Hrsg.): Aspekte des Strukturwandels der Architektenleistung. Hannover 1974. S 65-98. Zitat S. 65.

[17] Bei Abnahme großer Stückzahlen können Einsparungen tatsächlich erreicht werden:

Im Stückzahlenbreich 1 bis 2 (10-100 Stück) bringt die handwerkliche Produktion heute noch eindeutige Kostenvorteile, im Stückzahlenbereich 2 bis 3 (100-1000) liegen die Kostenvorteile bei der mechanisierten und im Bereich 3 bis 4 (1000-10.000) bei der automatisierten Produktion.

Nach: Weller, Konrad: Industrielles Bauen 1. Grundlagen der Entwicklung des industriellen, energie- und rohstoffsparenden Bauens. Stuttgart/ Berlin/ Köln/ Mainz 1985. Grafik S. 29.

[18]Das konstruktive Gefüge des tragenden Gerüstes (...) drängt (...) als entscheidende technische Komponente zur Gestaltung.“ Zitat: Siegel, Curt: Strukturformen der modernen Architektur. München 1960. S. 7.

[19] Bense, Max: Aesthetica: Aesthetica I. Stuttgart 1954. Aesthetica II (Ästhetische Information). Krefeld/ Baden-Baden 1956. Aesthetica III (Ästhetik und Zivilisation). Krefeld/ Baden-Baden 1958. Aesthetica IV (Programmierung des Schönen). Krefeld/ Baden-Baden 1960.

[20] Zitat: Kiemle, Manfred: Ästhetische Probleme der Architektur unter dem Aspekt der Informationsästhetik. Quickborn 1967. S. 11.

[21] Ergebnis der Berechnung zur Redundanz eines Fassadenbeispiels in: Kiemle, Manfred: Ästhetische Probleme der Architektur unter dem Aspekt der Informationsästhetik. Quickborn 1967. S 65-74. Zitat S. 68.

[22] Zitat: Wachsmann, Konrad: Wendepunkt im Bauen. Wiesbaden 1959. S. 11.

[23] Nach: Meyer-Bohe, Walter: Vorfertigung. Handbuch des Bauens mit Fertigteilen. Essen 1964. Tabelle S. 174.

[24] Bereits 1978 formuliert Gerd Fesel dies in ähnlicher Form in seiner kritischen Reflexion zum Thema Hochschulbau. Bausysteme bezeichnet er als „Systeme zur Machtausübung“, welche seiner Ansicht nach der Rationalisierung der Produktionskontrolle dienen. Siehe: Fesel, Gerd: Planungsirrtümer. Polónyi, Stefan: Konstruktionsirrtümer. In: Bauwelt 23, 69. Jg. 1978. S. 867f und 869ff. Zitat Stefan Polónyi S. 870.

[25] In der Bundesrepublik liegt der Anteil der Vorfertigung 1967 im Bauwesen insgesamt bei 6,3 %. Nach: Marktdaten zum Fertigteilbau 1971. Bundesgemeinschaft Fertigteilbau. Siehe auch: Meyer-Bohe, Olinde und Walter: Neue Schulbauten. Tübingen 1974. S. 91f.

[26] Der so genannte Sputnik-Schock beziehungsweise die damit einhergehende Befürchtung, in der technologischen Entwicklung hinter dem Ostblock zurückzubleiben, beeinflusst den Ausbau des deutschen Hochschulnetzes entscheidend. Siehe auch: Maier, Hans: Eine Kultur oder viele? Politische Essays. Stuttgart 1995. Die Zukunft unserer Bildung S. 80-96. Zitat S. 80.

[27] Zitat beziehungsweise Titel: Verein Bürgernetz büne e.V.: Was passiert mit Münsters Schwimmbädern? in: Stadtgespräch im publikom.
Onlinepublikation 2005 unter http://pub.muenster.de/artikel/baeder_gutachten.cfm.

[28] 1991 umfasst der deutsche Gesamtbaubestand eine Nutzfläche von rund 5,4 Mrd. qm, wovon rund 1,5 Mrd. qm, also ca. 30 Prozent, aus den 1960er und 1970er Jahren stammen. Nach: Tabelle 2-1: Gebäudebestand 12/91 in Deutschland in Mio. qm Nutzfläche. In: Kohler, Niklaus; Hassler, Uta; Paschen, Herbert (Bandhrsg.): Stoffströme und Kosten in den Bereichen Bauen und Wohnen. Berlin/ Heidelberg 1999. S. 24.

[29] Vgl. Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. 1935 In: Illuminationen. Ausgewählte Schriften 1. Frankfurt a. M. 1977.

 

 


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