Thema
4. Jg., Heft 2
Februar 2000

Hildegard Schröteler-von Brandt

Statement: Erfahrungen aus dem Rheinischen Braunkohlenrevier

 

Der Erfahrungsbericht bezieht sich auf die Forschungs- und Lehrtätigkeit mit dem Thema „Umsiedlungen im Rheinischen Braunkohlenrevier". Als langjährige wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Planungstheorie der RWTH-Aachen haben wir das Problem der Umsiedlungspraxis in der Region aufgegriffen und versucht, Verbesserungsvorschläge zu erarbeiten und insbesondere alternative räumliche Modelle in Studienarbeiten zu entwickeln. Im Zuge der Beschäftigung mit dem Thema wuchs die Bedeutung einer Anwaltsrolle für die betroffenen Menschen im Braunkohlenrevier bis hin zur Position, als Sachbeistand der Betroffenen im Erörterungsverfahren zum Braunkohlenplan Garzweiler II zu fungieren. In der wissenschaftlichen Auseinandersetzung sollten die ganzen Facetten der Umsiedlungsproblematik erforscht, verständlich dargestellt und vor allem veröffentlicht werden. Durch Ausstellungen und Diskussionen vor Ort begann eine verstärkte Auseinandersetzung über Umsiedlung. Die Bürgerinitiativen wurden stärker und stellten Anforderungen an die Umsiedlungspraxis auf. Das Land NRW gab schließlich die vielbeachtete Untersuchung „Sozialverträglichkeit von Umsiedlungen im Rheinischen Braunkohlenrevier" in Auftrag (Büro Prof. Peter Zlonicky, 1990) und 1991 wurde die Untersuchung zur Sozialverträglichkeit im Landesplanungsgesetz aufgenommen.

Das Rheinische Braunkohlenrevier umfaßt eine ca. 2.500 qkm große Fläche im Städtedreieck Köln, Aachen und Düsseldorf. Hier wird in den drei Großtagebauen Inden, Garzweiler und Hambach die Braunkohle in einer Tiefe von 300 bis 500 m abgebaut. Seit 1945 mußten fast 30.000 Menschen dem Tagebau weichen und wurden umgesiedelt. Bei vollständiger Umsetzung des in NRW hochpolitisch gehandelten Tagebaus Garzweiler II werden weitere ca. 4000 Menschen umgesiedelt werden müssen.

Die Tagebau- und damit Umsiedlungsplanung stellt einen extremen Eingriff in die Lebensplanung der Betroffenen dar, die jahrzehntelang mit der Erwartung leben, daß die Bagger kommen. Im Revier leben die Menschen mit den wandernden Löchern, mit der Veränderung der Landschaft, der Verlegung der Straßen, dem zeitweisen Abreißen von Wegeverbindungen, dem Anwachsen der Halden etc.: Landschaft verändert sich ständig und nachhaltig.

Aus der Sichtweise der Betroffenen stand und steht bis heute jedoch nicht die Forderung nach einer Verbesserung der Umsiedlungspraxis an erster Stelle, sondern die Forderung, die Umsiedlung zu verhindern und den umstrittenen Tagebau zumindest nicht mehr in seiner langfristigen Planung umzusetzen.

Aus ihrer Sicht geht es nicht um das Thema „Landschaft machen", sondern um die Verhinderung von Landschaftszerstörung und den Erhalt von Lebensraum und ökologischer Vielfalt. Auch dieses Thema sollte m.E. hier bei der Diskussion in der Lausitz nicht vergessen werden, da hier neben der Rekultivierung der aufgelassenen Tagebaue nach wie vor der Abbau weitergeht, täglich Landschaft aufs Neue zerstört wird und nach wie vor Menschen ihre Heimat verlieren.

„Landschaft machen" geschieht im Rheinischen Braunkohlenrevier im Rahmen der unverzüglichen Rekultivierung durch den Bergbautreibenden: Halden werden direkt bepflanzt, Freizeitanlagen angelegt, neue landwirtschaftlichen Flächen eingeteilt oder neue Straßen mit Alleebäumen versehen. Um es etwas zynisch auszudrücken, wird versucht schnell wieder blühende Landschaften herzustellen, um die Wunden, die der Tagebau in Landschaft und Natur gräbt, schnell vergessen zu machen. Die Wunden werden jedoch oft nur kaschiert, denn die hohe Qualität der Lößböden, die Vielfalt der Landschaftselemente und ökologischen Besonderheiten sind unwiederbringbar verloren. Widrigkeiten, die bei der Rekultivierung oder dem Umgang mit Restlöchern entstehen, sind offensichtlich. So werden zum Teil technisch höchst komplizierte Laborlandschaften hergestellt, um die künstliche Bewässerung der trockengefallenenen Feuchtgebiete über Jahrzehnte abzusichern. Da die Grundwasserneubildung in den sehr tiefen Tagebaurestlöchern nur langsam erfolgt, soll durch ein eigens gebautes Kanalsystem eine künstliche Wasserzufuhr vom Rhein aus erfolgen. Mit all diesen Maßnahmen wird die ökologische Beherrschbarkeit des Landschaftseingriffes propagiert.

Wenn bei der „IBA Fürst - Pückler - Land" über das Spannungsverhältnis von „Wildnis oder Kunst" bei dem Sanierungskonzept der Tagebaue gesprochen wird, so taucht im Rheinischen Braunkohlenrevier diese Frage nicht auf. Hier wird versucht, sich möglichst an dem Bild des Vorhergehenden zu orientieren. Durch die Herstellung des neuen „alten" Bildes werden die Phase der Abbaggerung und der Tagebaulöchern im Bewußtsein der Region einfach übersprungen. Doch dies gelingt mit dem hoch gelobten und in den neuen Bundesländern zum Vorbild avancierten Rekultivierungsverfahren nicht unwiedersprochen.

Ich möchte dabei auf den Zusammenhang eingehen, den Prof. Hahn so eindrücklich formulierte und in dem Satz „Landschaftserfahrung ist Lebenserfahrung" zusammenfasste.

Es wird eine der ältesten, seit der Jungsteinzeit besiedelten Kulturlandschaften Mitteleuropas abgebaggert; mit all ihren kulturellen Zeugnissen und gebauten Merkzeichen in Dorf und Landschaft. Im Leben der Dorfbewohner spielt die Verbindung zur Landschaft und zur Natur ein große Rolle: die Rotbuche oder Linde am Wegrand begleitet sie oft seit der Kindheit, die Bachläufe, die kleine Wäldchen, die Wegekreuze und Bänke am Weg, die Prozessionsstationen und vieles mehr sind eingebunden in die Erinnerungen und Stationen des Lebens. Durch die Umsiedlung und die Abbaggerung der Dörfer und der Landschaft gehen all diese Orte des Erinnerns verloren. Die so bedeutende Möglichkeit des Menschen, durch eine Rückkehr an die alten Orte das Erinnern wachzurufen und zu reflektieren geht für alle Umsiedler verloren. Die sehr eng mit der Lebensgeschichte verbundenen Bilder der Räume des Dorfes und der Landschaft gehen verloren, können nur noch im Kopf oder über Fotos hergestellt werden. Durch die Rekultivierung oder Sanierung entsteht eine nivellierte Landschaft. Eine neue Identität und Erkennbarkeit muß sich langsam wieder herausbilden.

Bei der Frage des Umgangs mit den Relikten des Abbaus sollte m.E. der Verlust dieser Landschaftsbilder und der zerstörten Erinnerungen offen diskutiert und mit den in der Lausitz lebenden Betroffenen aufgearbeitet werden. Ihr Verlust und ihre für die „Allgemeinheit" erlebte Beeinträchtigung könnten damit nachträglich eine Wertschätzung erfahren.

Ein weitere Verquickung zwischen Dorf und Landschaft besteht im Rheinischen Braunkohlenrevier darin, daß die Dörfer traditionell in einem sehr engen Netz zueinander liegen und miteinander verwoben sind. Die Dörfer sind mit oft 1.000 bis 2.500 Einwohnern relativ groß, da sie seit dem 19. Jahrhundert auch Wohnsitz der Industriearbeiterschaft der nahen Textil- oder Bergbauindustrie wurden. Die Dörfer sind in der Regel infrastrukturell gut versorgt: kleinere Läden, Handwerksbetriebe, Kindergarten, Schule, Kirche etc.. Die Dorfgemeinschaften sind sehr ausgeprägt und das Vereinsleben wird intensiv geführt. Die Dorfgemeinschaft fällt bei der Umsiedlung weitgehend auseinander, weil zum einen nur Teile der Bewohnerschaft an der sog. geschlossenen Umsiedlung teilnehmen und zum anderen keine neue dörfliche Wohnstrukturen entstehen, sondern die Umsiedlungsstandorte an bestehende Wohnsiedlungsbereiche angehängt werden. Das Dorf wird zum Wohnvorort und damit geht die erlebte und erfühlte Eigenständigkeit des Dorflebens verloren.

Viele dörfliche Landschaftselemente, die den Lebensalltag betrafen, gehen bei der Umsiedlung verloren: die prägenden Ränder des Dorfes aus den Obstbaumwiesen, die großen Freiflächen im Dorf als Reservebauflächen für die Kinder, die ungenutzten Flächen und nicht gestalteten Ecken, die vielen Scheunen und Schuppen für die vielfältigen Freizeitaktivitäten sowie die landwirtschaftlichen Betriebe einschließlich der dörflichen Tierwelt. Für diese differenzierte Flächennutzungsstruktur bieten die neuen Wohnvororte keinen Platz. Jede Fläche ist als Bauland ausgewiesen und damit wirtschaftlich belegt. Diese Veränderung des neuen Lebensraumes spüren die Menschen schmerzlich und trotz des schönen, neuen Hauses fehlt ein wichtiger Bereich der Umwelterfahrung: Nutzgärten, Tauben- oder Kaninchenzucht oder das Herumbasteln am Karnevalswagen stellen im neuen Ort einen eher auffälligen Sonderfall dar, während sie zum alten Dorf dazugehörten. Die Landschaftsbilder und die individuellen Strukturen weichen in der Regel einer standardisierten Vorortlösung.

Im Zuge der Rekultivierung gerät die Landschaft aus dem Gleichgewicht. Ich denke dabei nicht allein an die ökologischen Probleme, sondern möchte den Aspekt des neuen räumlichen Musters der Besiedlung ansprechen. Das enge Netz von Besiedlung und Landschaft wird aufgehoben. Die Dörfer lagen oft auf Sichtweite 2 bis 5 km voreinander entfernt. Das Nachbardorf wurde in der sehr flachen Bördenlandschaft über den Kirchturm und die umgebenden Baumbestände ausgemacht. Die alte, erlebte Landschaft bestand aus genau dieser Distanz: Die Nähe und das „Wir-Gefühl" entstand zum eigenen Dorf. Das „Deren-Gefühl" entstand durch die sichtbare und oft greifbare Nähe, aber auch klare Abgrenzung zum Nachbardorf. Diese Distanz schloß durchaus verwandtschaftlichen Bindungen oder die gemeinsame Zugehörigkeit zum Kirchspiel nicht aus. Die Landschaft als Bindeglied zwischen den Dörfern hatte somit eine bedeutende und ausgepägte sozialräumliche Funktion: sie bildete das notwendige Distanzstück des Sozialraumes und war damit eng verwoben mit dem Dorf.

Auf den rekultivierten Flächen im Rheinischen Braunkohlengebiet erfolgt keine Umsiedlung; lediglich neue Straßen oder landwirtschaftliche Gehöfte und Weiler entstehen. Die Umsiedlung findet durch Angliederung an bestehende Ortsteile - in der Regel in der Altgemeinde – statt. Damit verdichtet sich in den nicht abgebaggerten Flächen der Gemeinde die Bevölkerung, während die später wieder zur Gemeinde gehörenden rekultivierten Flächen frei von Besiedelung bleiben. Das Siedlungsbild und das damit verbundene Bild der räumlichen Dichte gerät aus dem Gleichgewicht. Die Umsiedler und auch die nicht von Umsiedlung betroffenen Menschen in den Ortsteilen erleben ein neues Gefühl von räumlicher Enge und Dichte, welches sich wenig vereinbaren läßt mit ihren Erfahrungen des Lebens auf dem Lande. Hinzu kommen die kleineren Grundstücke in den Umsiedlungsorten und die oft genannte Einschätzung, daß man jetzt „aufeinandersitzt und sich ins Schlafzimmer schauen kann".

Diesen wenigen Beispiele habe ich in der Absicht angeführt, um bei der Frage der Sanierung und Rekultivierung der Tagebaue eine andere Betrachtungsebene einzunehmen. Eine Betrachtungsebene, die nach dem Gebrauchswert von Dorf und Landschaft fragt und das Thema der Wunden nicht nur in die Landschaft, sondern in die erlebter Geschichte einer Region aufgreift. Aus den sozial-räumlichen Erfahrungen und einer Gebrauchswertanalyse könnten Ansätze für die Neuinterpretation von Landschaft und Dorf gefunden werden und eine Planung entstehen, die an diesen Erfahrungen und Wahrnehmungen ansetzt. Die Betroffenen sollten m.E. mit definieren wieviel Wildnis, wieviel Kunst oder wieviel von noch verborgenen Dingen neu geschaffen werden sollten.

Aus meiner Erfahrung als Sachbeistand der Umsiedler im Braunkohlenrevier ist es vorrangig, die betroffenen Menschen in der Region zur Mitsprache anzuregen und zu befähigen. Dazu gehört, daß sie sich mit ihren Problemen ernst genommen fühlen, ihre Ansprüche akzeptiert werden und sie Mitstreiter finden. Im Rheinischen Revier sind dies seit einigen Jahren auch die beiden großen Kirchen, die ihre Beratungs- und Unterstützungstätigkeit intensiviert haben und sich öffentlich für die Betroffenen einsetzen. Auch wenn diese kirchlichen Strukturen in der Lausitz nicht in dem Maße vertreten sind, so wird es andere Ansatzpunkte und örtliche Akteure geben. Vielleicht kann die „IBA Fürst – Pückler - Land" sich verstärkt den Menschen zu wenden, ein Diskussionsforum für die Entwicklung der Region eröffnen und die örtlichen Akteure aller gesellschaftlichen Bereiche in einer Entwicklungskonferenz zusammenführen.

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