Thema
4. Jg., Heft 1
Mai 1999

Dörte Kuhlmann

Der Kunst ihre Freiheit

Wer aber da weiß, daß die Kunst dazu da ist,

um die Menschen immer weiter und weiter,

immer höher und höher zu führen, sie gottähnlicher zu machen,

der empfindet die Verquickung von materiellem Zweck mit Kunst

als Profanation der großen Göttin.

Adolf Loos

 

Anfang des 17. Jahrhunderts veröffentlichte Federico Zuccari ein Traktat, in dem er die Freiheit des Künstlers forderte, "was immer der menschliche Geist, seine Phantasie oder seine Grille auch erfinden mögen."1 Die Gleichsetzung von künstlerischer Kreativität und Freiheit ist ein traditionelles Konzept der westlichen Philosophie und Ästhetik, das, wie Milton C. Nahm hervorhebt, letztlich alle Aspekte der Kunst durchzieht, angefangen von der freien Bewertung der Kunst über die Kreativität des Künstlers und der freien Imagination.2 Diese theologische und kosmologische Konzeption der Kreativität spiegelte die Vorstellung von Gottes Macht und seiner Freiheit bei der Erschaffung des Universums wieder und mündete in das Konzept der "großen Analogie" zwischen Künstler und Gott, welches bis in die Neuzeit einen großen Einfluß zeigte.3

Für Aristoteles und Platon, die sich beide ausführlich mit der Kreativität in der Kunst in bezug auf Freiheit auseinandersetzten, zählte die Kunst zu den grundlegenden menschlichen Tätigkeiten. Die antike Unterteilung der Künste in mechanische und freie Künste, artes vulgares und artes liberales, je nachdem, ob sie handwerklicher Natur waren (und daher eher in den Bereich von Sklavenarbeit fielen) oder eine von der Aristokratie bevorzugte rein geistige Tätigkeit, wies einmal mehr auf die Bedeutung des Konzeptes von Freiheit hin. Die zahlreichen Bestrebungen, die Architektur mit der Musik oder die Malerei mit der Geometrie zu vergleichen, waren beseelt von dem Wunsch, diese Künste von ihren materiellen Bindungen zu befreien, um ihre Wertigkeit zu erhöhen.

In der griechischen Philosophie wurde das künstlerische Schaffen oder techne vornehmlich in Hinsicht der Mimesis oder Imitation diskutiert, was die allgemeine Haltung der westlichen Tradition zur künstlerischen Kreativität maßgeblich prägte. Diese Position zeigte Platon beispielsweise in Timaeus auf, als sein kosmischer Architekt die Welt konstruiert.4 Für Aristoteles war diese Auslegung der Mimesis in ihrer striktesten Form jedoch nicht mehr ausreichend für seine Theorien von Kunst und Künstler.5 Auch das Konzept der künstlerischen Vorstellungskraft und Schöpfungsgabe, das in der Idee des künstlerischen Genies oder des göttlich beseelten Künstlers mündet, wurde bereits in der platonischen Philosophie entwickelt.

 

Der göttliche Künstler

In seinen manieristischen Schriften begann Zuccari sein Argument mit der These, daß die heilige Trinität im Italienischen drei Buchstaben besitzen sollte, nämlich dio. Er spekulierte weiter, daß sich das Wort "Design" oderDisegno ebenfalls in drei Segmente aufteilen ließe, in di-segn-o. Damit ergäbe sich aus der Verbindung der ersten und letzten Silbe dio, also Gott, und aus der mittleren segno, Design. In diesem Sinne würde sich disegno gleichsetzen lassen mit "segno di dio in noi", also "das Zeichen Gottes in uns".6

Solcherlei Spekulationen sollten beweisen, daß der Künstler im Gegensatz zur breiten Masse des Volkes eine besondere Nähe zu Gott besaß, um damit nicht nur den Status des Künstlers zu erhöhen, sondern auch seine Werke in einer anderen Kategorie jenseits des Alltäglichen zu etablieren. Dieses traditionelle Anliegen, daß sich von der Antike bis ins 20. Jahrhundert fortsetzte und während der Romantik eine besonderen Höhepunkt erfuhr, war eng an philosophische Anschauungen gebunden, deren Einfluß am sich wandelnden Bild vom Verhältnis des Künstlers zu Gott illustriert werden kann. So betrachtete Platon den Künstler und seine Kunst als wertlos, da für ihn nur die Idee die ultimative Realität darstellte und jedes materialisierte Objekt eine imperfekte Reflexion der Welt der Ideen (Gott) verkörperte. Auch die Götter gehörten zur Welt der Ideen und damit zur immerwährenden Wahrheit. In diesem Sinne konnte die Kunst für Platon zwar Ideen zeigen, doch da die Ideen Universale waren, wurde Kunst nicht neu geschaffen. Vielmehr war die Kunst lediglich eine Darstellung der bereits existierenden Wahrheit und ein Künstler vermochte nur dieselbe zu enthüllen. Gemäß dieser Auffassung war ein realisiertes Kunstobjekt zweifach von der Wahrheit entrückt: es war nur die Nachahmung einer materiellen Welt, die bereits ihrerseits die Imitation der göttlichen Idee darstellte. Diese Vorstellung trat in gemäßigter Form wieder unter den Neoplatonisten wie Plotinus auf, der die Position des Künstlers viel höher einschätzte, weil er davon ausging, daß der Künstler die göttliche Idee direkt imitiert. Er betrachtete Schönheit als einen essentiellen Teil der göttlichen Natur und betonte, daß die Kunst durchaus als ein Abbild des Göttlichen betrachtet werden könnte. In der Renaissance griffen Platonisten wie Marsilio Ficino die Gedanken von Plotinus auf, indem sie anführten, daß der Mensch die kreative Schöpfungsgewalt Gottes in Bezug auf die irdischen, materiellen Dinge besäße; eine Haltung die auch durch Paolo Pino vertreten wurde, der beispielsweise Michelangelo und Titian als "sterbliche Götter" bezeichnete.7 Später folgten auch die Transzendentalisten Ralph Waldo Emerson und Walt Whitman und mit ihnen Architekten wie Louis Henry Sullivan oder Frank Lloyd Wright dieser Auffassung einer engen Verbindung des Künstlers mit Gott und sahen in der materiellen Welt ein Abbild göttlichen Waltens. Sie gingen sogar soweit, die Vision eines neuen gesellschaftlichen Gefüges zu vertreten, das sie gedachten, mit Hilfe der Kunst zu erreichen. So bemerkte Whitmann, "Von einer genügend hohen Warte aus betrachtet, stellt sich das Problem der Menschheit heute in der gesamten zivilisierten Welt als ein soziales und religiöses dar, ein Problem, dem letztlich nur durch die Literatur zu begegnen ist. Der Priester geht, der göttliche Dichter kommt."8

 

Non murato, ma veramente nato 9

Die Verschmelzung von künstlerischer und göttlicher Form äußerte sich in der Architektur der Antike beispielsweise in den mathematischen Proportionen. Doch gingen einige Architekten, wie etwa Antonio Averlino alias Filarete, weit über die Beachtung mathematischer Proportionierungen hinaus. Er behauptete, daß "das Gebäude wirklich wie ein lebendiger Mensch" sei und meinte, daß es nicht nur der Verdienst eines Architekten, sondern vielmehr das Kind der gelungenen Vermählung von Bauherrn und Architekten sei. "Nach der Geburt solle der Architekt wie ein Kindermädchen sein, das sich um das Kind kümmert - und wie jede gute Mutter sich um eine gute Erziehung sorgt, so müsse sich auch der Architekt um gute Handwerker kümmern, damit das Kind gedeiht."10 Auf diese Weise wurde dem Architekten eine Rolle zugeschrieben, die zwischen der eines Menschen und der eines Schöpfers lag, eine gottähnliche Position. Aber auch seine spezielle Künstlernatur wird hier deutlich: er mußte über eine besondere Genialität verfügen, um diese Fähigkeiten auszufüllen. Damit hob er sich von der breiten Masse ab, um als Genius und Künstler weit über ihr zu stehen.
Das romantische Ideal eines schöpfenden Künstlers dürfte sich vor allem aus zwei Quellen entwickelt haben: der theologischen Vorstellung des schöpfenden Gottes der Genesis und der biologischen Analogie der Reproduktion der menschlichen Spezies. Vor allem die letztere besaß einen großen Einfluß auf ästhetische Konzepte, hatten doch bereits Aristoteles und Platon verkündet, daß eine Form der künstlerischen Naturnachahmung im Prinzip der Erstellung einer organischen Einheit zu sehen sei. Platon hatte in Phaidros beschrieben: "Jede Rede müsse wie ein lebendiges Wesen organisch gebaut, ein Körper sein und Kopf und Fuß haben; Rumpf und Glieder müßten zueinander und zum Ganzen passen."11 Auch noch Anfang des 20. Jahrhunderts, als die Erkenntnisse der Naturwissenschaften, insbesondere Darwins Evolutionstheorie allmählich die theologischen Spekulationen über die Schöpfungsgeschichte verdrängten, wurde das künstlerische Schaffen weiterhin als Teil der Geburt des Universums gesehen. So schrieb Benjamin de Casseres 1910:"So wie die kosmische Schöpfung durch die Störung eines Gleichgewichts begann, beginnt auch die Schöpfung des Menschen durch die Störung eines Gleichgewichts, durch ein Ungleichgewicht; daher ist die bedeutendste Kunst niemals eine völlig vernünftige Kunst."12
Allerdings wurde das Ideal der biologischen Analogie, das die künstlerische Kreativität mit dem Vorgang der menschlichen Geburt durch die Frau vergleicht, jüngst durch Vilem Flussers Ins Universum der technischen Bilder erschüttert. Ist der schöpferische Akt tatsächlich wie die Geburt eines Kindes, bedeutet es, daß das Kind (oder die künstlerische Kreation) nicht nur im positiven Sinne Abbild seiner Eltern ist, sondern auch deren Unzulänglichkeiten fortsetzt. Flusser hebt darüber hinaus hervor, daß der Mensch trotz aller geistigen Fortschritte bislang an seinen sterblichen und unvollkommenen Körper gebunden ist. In Flussers Vision einer telematischen Gesellschaft wird eine neue Freiheit erreicht, denn der Mensch oder Cyborg bleibt nicht länger der Gefangene seines Körpers, sondern vermag es dank neuer Informationstechnologien die bisherigen Grenzen des biologischen Leibes zu überschreiten.13

 

Genie und Wahnsinn

Margot und Rudolf Wittkower, die sich in ihrem Buch Künstler- Außenseiter der Gesellschaft, mit dem oft ungestümen Privatleben bekannter Künstler auseinandersetzten, kamen zwar zu dem Schluß, daß es keinen über alle Epochen gleichen Künstlertypus gab, doch haftete dem Künstler stets der Mythos des Besonderen an, der im Gegensatz zum normalen Menschen seine Freiheit auslebte. Es hing viel davon ab, wie sich das Publikum gegenüber dem Künstler verhielt und mit welchen Erwartungen es an den Künstler herantrat. In Epochen, in denen Rationalität und Intellekt für den schöpferischen Vorgang als essentiell angesehen waren, fand man ihn im Künstler; gleichwohl, in Epochen, in denen man Gefühl und Intuition als maßgeblich für künstlerische Tätigkeit ansah, wurden diese Fähigkeiten den Künstlern im besonderen Maße bescheinigt. Die fortschrittlichsten Künstler folgten nicht nur dem allgemeinen Trend, sondern führten ihn sogar an. "Sie glaubten mit Michelangelo, daß ein Mann mit seinem Gehirn malt, und stimmten mit Leonardo darin überein, daß Malerei mit Naturphilosophie zu tun hat, daß sie wirklich Wissenschaft ist und daß ein Maler zunächst die Wissenschaften zu studieren habe und dann in seinem Handwerk darauf bauen müsse."14 Im 18. Jahrhundert verschob sich der Schwerpunkt langsam zugunsten der Vorstellung, daß künstlerisches Genie und Wahnsinn eng beieinander liegen. So formulierte William Blake in einem Gedicht recht zynisch:
All Pictures thats Panted with Sense & with Thought
Are Painted by Madman as sure as a Groat
For the Greater the Fool in the Pencil more blest
And when they are drunk they always pant best
(...)
15
Nicht allein, daß es nun selbstverständlich wurde, daß ein Künstler anders leben mußte als der Rest der Gesellschaft, sondern auch rückblickend wurden den Künstlern Abnormitäten oder Krankheiten zugeschrieben. Merleau-Ponty beispielsweise beschrieb, wie Cézanne eines Tages anfing, an seinem Genie zu zweifeln. Es überkam ihn der Gedanke, daß er die Kunst nur seinen überspannten Augen verdankte, und nicht seiner Phantasie oder seines Talents. Von der Vorstellung gequält, ob das Neue an seiner Kunst nicht einfach durch seine Sehbeschwerden bedingt war, überlegte er, ob nicht überhaupt sein ganzes Leben auf einem physischen Mangel aufgebaut war.
Merleau-Ponty schrieb weiter, daß Cézanne manchmal viele Stunden brütete, bevor er einen bestimmten Pinselstrich führte, denn jeder Strich sollte die Luft, das Licht, das Objekt, sein Wesen, seine Form und einen Stil ausdrücken.16 Cézanne fühlte sich selber als eine Art Kanal, in dem die Natur mit der Menschheit zusammenfloss. Wenn er malte, versuchte er an möglichst vielen Stellen des Gemäldes gleichzeitig zu arbeiten, um auf diese Weise unterschiedliche Blickwinkel und verschiedene Einzelaspekte der Szene zeitgleich zu erfassen, um so immer den ganzen Komplex im Auge zu behalten. Dennoch, so Merleau-Ponty, fühlte sich Cézanne machtlos, da er nicht allmächtig war, da er nicht Gott war und trotzdem die Welt sichtbar machen wollte. Cézanne war nicht nur kurzsichtig , sondern er litt auch an Diabetes, was vielleicht der Grund für seine Netzhautschäden war und bekam im Alter den grauen Star.17 Auch von Huysmans wurde er beschrieben als ein "Künstler mit einer kranken Netzhaut, der, empört über sein beeinträchtigtes Sehvermögen, die Grundlage einer neuen Kunst entdeckte."18 Er ist jedoch nicht der einzige Künstler, dessen beeinträchtigter Gesundheit das künstlerische Werk zugeschrieben wird.
Die Idee, daß die moderne Kunst auf Krankheit, insbesondere Geistesgestörtheit basiert, ist nicht neu, sondern wurde bereits im antiken Griechenland diskutiert. Während Platon vorsichtig überlegt hatte, daß ein Künstler von einer Art "göttlichen Verrücktheit" besessen sei, gingen die Romantiker sehr viel weiter, indem sie Kreativität mit Verrücktheit gleichsetzten.19 Sie behaupteten, daß Geisteskrankheit eine Form von Genialität sei, was insbesondere bei den Jugendstilkünstlern Anklang fand, für die Kinder und Geisteskranke unberührt von der Gesellschaft und daher unverdorben waren.20 Vincent Van Gogh, der gerne in diesem Zusammenhang genannt wird, hätte sich sicherlich sehr gewundert, wenn man ihm gesagt hätte, daß sein Portrait von Dr. Gachet eines Tages bei dem renommierten Auktionshaus Christie´s für mehr als 80 Millionen Dollar verkauft werden würde, da er selber zu Lebzeiten nur ein einziges Bild verkaufen konnte. Sein wechselnder Gemütszustand führte bekanntlich dazu, daß er sich eines Tages ein Ohr abschnitt, jedoch war er auch in zahlreiche Schlägereien verwickelt, ging Sonntags in mehrere Messen, schlief auf einem Brett, trank Kerosin und aß Farbe. Einige Wissenschaftler vertreten die Ansicht, daß einige der stilistischen Eigenarten van Goghs (beispielsweise der helle Lichtkranz um die Straßenlaternen) dessen krankheitsbedingte Sichtweise widerspiegeln. Sie könnten eine Folge der Vergiftungen durch den Genuß der Farbverdünner sein, welcher die Sehkraft der Augen derart schädigte, daß er tatsächlich immer einen Halo um Lichtquellen sah. Insofern ist Van Gogh geradezu ein Musterbeispiel für Émile Zolas Behauptung: "Une œuvre d’art est un coin de la création vu à travers un tempérament."21 Mit dem Aufkommen der Psychoanalyse erhielten die Künstler professionelle Hilfe und Fachausdrücke, um für ihre freie Intuition zu kämpfen. "Selbstausdruck" und "das Unbewußte" ersetzten seither Zuccaris einfache Begriffe "Phantasie" und "Grille".22

Gefangen im Kontext

Solcherlei nunmehr wissenschaftlich gestützten Eigenarten sollten den Künstlernaturen helfen, sich von den Fesseln jeglicher Tradition zu befreien, die grundsätzlich als verstaubte alte Dogmen angesehen wurden, von denen es sich zu lösen galt, um völlig neue Wege zu gehen. Um dem Argument mehr Gewicht zu verleihen, verband man Traditionen zuweilen mit Zeitgeisttheorien, indem man auf jene Aspekte verwies, die ihren besonderen Ausdruck zu bestimmten Zeitperioden fanden. Dabei wurden stets die Unterschiede zur eigenen Situation betont, um eine Fremdheit gegenüber der Vergangenheit zu implizieren und selber im Vergleich eine avantgardistische Position einzunehmen. In diesem Sinne schrieb die Wiener Sezession auf ihr neues Ausstellungsgebäude: Der Zeit ihre Kunst. Der Kunst ihre Freiheit. Die Sezessionsgruppe revoltierte damit nicht allein gegen den Historismus der Gründerzeit, den man für veraltet und daher ablehnenswert hielt, sondern auch gegen die konservative Künstlergenossenschaft, die bis dato das Monopol für Kunstausstellungen in Wien besessen hatte. 23
Die Proklamation der Sezession impliziert jedoch eine zweite Wahrheit, denn auch heute noch geht man bei der Beurteilung von Kunstwerken in der Regel davon aus, daß ein Werk immer nur im Rahmen seiner Zeit und seiner Umstände gewertet werden kann. Es verbietet sich im Rahmen der akademischen Kunstgeschichte, ein Kunstwerk aus seiner Entstehungsperiode herausreißen und mit den gleichen Maßstäben bewerten, wie zu einem späteren Zeitpunkt produzierte Werke. Wie wichtig der historische Kontext sein mag, demonstrierte Hegel, als er schrieb, daß die Kunst ein "Ding der Vergangenheit" sei. Er meinte damit, daß die Kunst nicht mehr als eine Offenbarung des Göttlichen verstanden werden kann in der Art und Weise, wie sie einst als göttliche Offenbarung in der Antike verstanden wurde.24 Damals hätte die Kunst als Mikrokosmos eine Einheit mit dem Makrokosmos gebildet und war der Ausdruck göttlicher Größe anstatt nur deren schwaches Ausdrucksmittel zu verkörpern. Mit dem Auftreten des Christentums konnte dies jedoch nicht mehr erfüllt werden, denn der unendliche christliche Gott ließ sich nicht mehr mit den endlichen Mitteln der Kunst darstellen. Insofern spielte Hegels Feststellung, daß die Kunst ein Ding der Vergangenheit sei, auf die Tatsache an, daß sie mit dem Ende der Antike ihr göttliches Attribut verloren habe, und sich seitdem rechtfertigen müsse.
Diese neue Rechtfertigung ist aber ebenso ein Teil der Tradition, wie es die zuvor praktizierte Akzeptanz aufgrund göttlichen Ursprungs war. Hier läßt sich ein Wandel innerhalb der Entwicklung erkennen, der selber wieder eine Reihe von weiteren Vereinbarungen nach sich zog. Sofern sich ein Kunstwerk nicht selbstverständlich als solches ausweist, bedarf es gewisser Regeln, gemäß derer eine neue Bewertung ermöglicht wird. Allerdings, erst wenn diese Regeln Eingang in das Allgemeinverständnis finden und Teil der Tradition werden, scheint eine objektive Einschätzung möglich.
Arthur C. Danto meinte in seinem Buch Beyond the Brillo Box, daß die Geschichte der Moderne, deren Beginn er um 1880 ansetzt, eine Geschichte der "Entblößung der Kunst" sei, die sich über fünfhundert Jahre etabliert hätte. Kunst müßte nicht mehr schön sein, sie müßte nicht mehr das Auge mit Sensationen, wie sie in der realen Welt auftraten, füllen, sie bräuchte kein pictorales Objekt mehr zu enthalten oder ein göttliches Produkt sein, welches durch den Künstler empfangen wurde, denn das hatte sie alles in der Vergangenheit bereits erreicht. Er schrieb:"Etwas als Kunst zu betrachten erfordert etwas, was das Auge nicht allein erfassen kann - eine Atmosphäre der Kunsttheorie, Kenntnisse der Kunstgeschichte: eine Kunst-Welt."25 Da die Essenz der modernen Kunst nicht mehr in ästhetischen oder naturalistischen Qualitäten gesehen wurde, lief die Definition dessen, was Kunst sein kann mehr oder weniger darauf hinaus, das fast alles zu Kunst werden kann. So verleitete das liberale Bild der Kunst in den 1960er Jahren Andy Warhol zu dem Ausspruch , daß "alles Kunst sein könne". Dahinter verbarg sich gleichfalls die Hoffnung, der Mensch könnte in jede Rolle schlüpfen oder alles verwirklichen, wenn nur erst die Konventionen und Beschränkungen der Gesellschaft aufgehoben wären.Warhols Auffassung verdeutlichte nun ein weiteres Problem, nämlich, daß man ein Kunstwerk nicht als ein solches identifizieren kann, indem man es einfach betrachtet, denn es gibt keine Regeln (mehr), wie ein Kunstwerk auszusehen hat. Was Warhol lehrte war, daß man ein Kunstwerk nicht an seiner äußeren Erscheinung erkennen kann. Nun wurde es notwendig, daß man für eine Bewertung der Kunst die Struktur der Kunstgeschichte begreifen mußte, welche durch ihre Konstruktion erst solche Werke ermöglichte, die in der Kunstwelt des 17. Jahrhunderts noch nicht möglich gewesen wären. Und man mußte erkennen, daß die Referenz zu einer gesellschaftsbefreienden Theorie nötig sei, um ein Werk als Kunstwerk zu rechtfertigen. Doch damit wurde gleichzeitig der Zeitpunkt erreicht, an dem sich die Frage stellt, warum etwas als Kunst zu betrachten sei, gefolgt von dem, was Kunst überhaupt ist, wodurch die Kunst nach ihrer wahren Identität fragt und zur Philosophie wird. Angesichts dieser Problematik kam Danto schließlich zu dem Ergebnis, und hier folgte er Hegel, daß die Kunst mit dem Herausfinden der wahren philosophischen Natur das Ende ihrer Geschichte erreicht hatte. 26

Der Architekt jedoch entfloh...

Angesichts dieser Entwicklung zeichnete sich im Bereich der Architektur in den letzten Jahren eine neue Strategie ab, die von Christopher Alexander und sechs weitere Kollegen initiiert wurde, als sie 1977 mit A Pattern Language den Versuch eines Regelwerks für einen partizipatorischen Bauprozeß vorstellten.27 Für ihn war das Bauen ein fortschreitender, organischer Prozeß, der auf einem genetischen Kode als Muster basiert, wobei er seine Theorie wie zuvor Ruskin, Steiner oder Taut auf eine metaphysische Basis stellte, die einmal mehr den Zusammenhang zwischen Gesellschaft und architektonischer Form beschwor. Seine Mustersprache sollte ähnlich einem Ereignismuster die Wohnungen, Häuser, Straßenzüge und schließlich die ganze Stadt strukturieren. A Pattern Language stellte ein demokratisches System von Bauprozessen als Analogie zu natürlichen Prozessen vor, wobei jedes Element mit jedem verbunden war. Damit wurde nun die autoritäre Rolle des Architekten als alleiniger Autor ernsthaft in Frage gestellt. Jedoch waren Alexanders Muster nicht allgemeingültig, sondern kulturgebunden, da sie sich eindeutig auf die europäische Tradition zurückzuführen ließen. Auch stellte er keine Hierarchien auf, so daß sich gewisse Muster widersprechen oder ausschließen.
Ein analoger Prozeß kann in der seit den 70er Jahren ebenfalls populären Partizipation am Bau gesehen werden, wenn Handwerker, Planer und Bauherren gemeinsam das Projekt entwickeln und auch während der Bauphase noch Einfluß durch die Beteiligten genommen werden kann. Dadurch erhält der Bau etwas Unvorherbestimmbares, wobei der Anteil der künstlerischen Planung zugunsten spontaner Ausführung verringert wird. Dieser theoretische Ansatz wurde durch neuere Planungsmethoden wie etwa dem scaling und ähnlichen Prinzipien fortgesetzt, um den subjektiven Einfluß des einzelnen Planers einzuschränken. Im Gegenzug wurden standortbedingte, äußere "natürliche" Einflußfaktoren höher bewertet, beispielsweise etwa Geländeformen oder Klimaeinflüsse. Die Zielvorstellung besteht darin, den Bauprozeß einem Naturprozeß anzugleichen, um zu einem Baukörper zu gelangen, der sich möglichst "objektiv" als Ergebnis diverser Randbedingungen präsentiert, wobei dem Architekten nur noch die Rolle des Vermittlers oder Organisators zugestanden wird.
Daß Architekten nicht immer gerne mit ihrem Werk identifiziert werden, hatte bereits Christian Morgenstern in humorvoller Weise hervorgehoben.28 Seriöser befaßt sich das Werk Peter Eisenmans und seiner Anhänger explizit mit dieser neuen Form der künstlerischen Freiheit, indem es sich mit der Auflösung oder Zersetzung des architektonischen Objektes und dem Verschwinden des Autors auseinandersetzt. Die Hinwendung zur Natur in der Architekturtheorie wird oft als Möglichkeit präsentiert, um die Architektur auf einem solideren Konzept zu gründen, als es wechselnde Traditionen, Stile oder gesellschaftliche Moden vermögen. In der Tat ist es auffallend, wie viele Architekten und Theoretiker sich derzeit zu den Naturwissenschaften wenden; neben den jungen Computerprotagonisten wie Greg Lynn, Ben van Berkel und Karl Chu auch die alte Generation von Philip Johnson und Charles Jencks, wobei Konzepte wie Rhizomanalogien oder die Chaostheorie aufgegriffen werden. Wenn die menschliche Kultur eine Art Degeneration darstellt und daher keine geeignete Basis für bleibende Werte, kann vielleicht die Anerkennung natürlicher Prinzipien neue Stärkung für die schwindende Glaubwürdigkeit und Legitimation architektonischen Schaffens bieten. Gleichzeitig spricht diese Methode die Architekten frei von jeder ästhetischen Präferenz, im Grunde überhaupt frei von der traditionellen Identifikation des Autors mit seinem Werk.

Wenn das Schaffen von Kunst mit dem Kampf für Freiheit gleichzusetzen ist, so scheint es, als sei mit diesem Schritt die totale Grenzenlosigkeit erreicht. Es gibt auf künstlerischem Gebiet nichts mehr, was nicht bereits erdacht worden ist und spätestens seit den Hermann Nitsch und den Wiener Aktionisten mit ihren Blutorgien auch kein Tabu mehr, daß noch gebrochen werden kann. Muß man daher zu dem Ergebnis kommen, daß kurz vor der neuen Jahrtausendwende in Wirklichkeit gar keine künstlerische Freiheit mehr existiert, weil es nichts mehr gibt, was noch irgendwen erschüttert, und nichts mehr auf dem Spiel steht? Wenn keine Entscheidung mehr Folgen hat, gibt es im herkömmlichen Verständnis keine Kreativität mehr. Vielleicht muß der Künstler für die Wiedererlangung von Kreativität in ein neues Feld ziehen, aber das sollte für die Kreativen kein Hindernis darstellen, denn "in jedem Künstler liegt ein Keim von Verwegenheit", sinnierte Goethe in seinen Naturwissenschaftlichen Schriften, "ohne den kein Talent denkbar ist, und dieser wird besonders rege, wenn man den Fähigen einschränken und zu einseitigen Zwecken dingen und brauchen will." 29

 

Anmerkungen:

1 Margot und Rudolf Wittkower, Künstler- Außenseiter der Gesellschaft, (Stuttgart 1965), S.308.

2 Philip Wiener, History of Ideas, (New York 1968), Band 1, S.577ff.

3 Milton C. Nahm, The Artist as Creator, (Baltimore 1956).

4 Platon, Timaeus 28A-B.

5 Aristoteles, Politik 1340a-13ff

6 Disegno (it. Wort und Konzept), in Panofsky, Erwin. Idea. A concept in art theory, (New York 1968), S.88.

7 Kari Jormakka, Constructing Architecture. Datutop 15. (Tampere, Finnland 1991),S. 8.

8 Walt Whitman, "Demokratische Ausblicke "in Lyrik und Prosa, (Berlin 1966 [_1881]), S.450.

9 "Ma molto piu gliene diede il modello del palazzo di Agostino Chigi condotto con quella bella grazia che si vede, non murato, ma veramente nato...". Giorgio Vasari über den Palazzo di Agostino Chigi. Giorgio Vasari, Vita de Baldassare Peruzzi. Vite de' piu eccellenti pittori scultori e architetti. Tomo VII. (Venezia 1828), S.406.

10 Filarete, folio 7, nach Gerd Germann, Einführung in die Geschichte der Architekturtheorie, (Darmstadt 1987), S.69f. cf. Kari Jormakka, Inadvertent Ontologies, (Weimar 1994), S.35.

11 Platon, Phaidros, übersetzt von Rudolf Kassner (Jena 1914), S.68.

12 Benjamin de Casseres, "The Brain and the World", in Camera Work 31, Juli 1910 c S.27.

13 Vilém Flusser, Ins Universum der technischen Bilder, (Göttingen 1990), S.124ff.

14 Margot und Rudolf Wittkower. Künstler- Außenseiter der Gesellschaft.( Stuttgart 1965), S.308.

15 William Blake,The Selected Poetry of Blake, edited by David V. Erdman (New York 1981), S.286.

16 Maurice Merleau-Ponty, Das Sichtbare und das Unsichtbare, (München 1986).

17 Diane Ackerman, Die schöne Macht der Sinne, (München1991), S.327.

181 J.-K. Huysmans, Gegen den Strich, (1984).

19 Joanne Cubbs, "Rebels, Mystics, and Outcasts: The Romantic Artist Outsider " in Michael D. Hall, Eugene W. Metcalf Jr. (Ed.) The Artist Outsider (Washington & London 1994), S.78.

20 Dieses Thema wurde beispielsweise empirisch untersucht von Louis A. Sass, Madness and Modernism. Insanity in the Light of Modern Art, Literature and Thought, Harvard University Press 1994 oder Kay R. Jamison, Touched with Fire. Manic-depressive Illness and the Artistic Temperament, (New York 1993).

21 Émile Zola, Mes Haines, suivi de Mon Salon, (Genève, Slatkine, 1979).

22 Margot und Rudolf Wittkower, Künstler- Außenseiter der Gesellschaft. (Stuttgart 1965), S.309.

23 Kirk Varnedoe, Wien 1900. Kunst, Architektur, Design, (Berlin 1987), S.28f.

24 Demetri Porphyros, Klassisches Bauen, (Stuttgart 1993.), Kapitel 6.

25 Arthur C. Danto, Beyond the Brillo Box. The Visual Arts in Post-Historical Perspective. (New York 1992), S.38.

26 Arthur C. Danto, Beyond the Brillo Box. The Visual Arts in Post-Historical Perspective. (New York 1992), S.6.

27 Christopher Alexander (u.a.), A Pattern Language (New York 1977).

28 Vor dem Hintergrund der dekonstruktivistischen Tendenzen der letzten Jahre und der implizierten Auflösung von Werk und Autor, liest sich sein altes Gedicht "Der Lattenzaun" jedoch mit einer überraschenden Aktualität, insbesondere die letzten Zeilen:
Der Zaun indessen stand ganz dumm
Mit Latten ohne was herum
(...)
Der Architekt jedoch entfloh
Nach Afri- oder Ameriko

29 Goethe, Naturwissenschaftliche Schriften, Band V, (Dornach 1982), S.505.

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