Thema
4. Jg., Heft 1
Mai 1999

Tobias Hammel

Das Ende - Eine Absage an das Theoretische im Entwurf

1. Nach dem Spiel ist vor dem Spiel: Anleitung zur Entwicklung einer Geisteshaltung.
Wobei mir das mit dem erstens, zweitens, drittens arg ordentlich erscheint, wobei mir das hintereinander her blöd erscheint, wobei mir das Lineare aber durchaus liegt, oder doch eher ein Kreis mit Zipfeln, das mächtige Omega verwursten?

„Das Gefühl ist zu befragen."

Der Fehler: Die Theorie als Theorie zu betrachten. Sie ist eine erste Realität. Die Theorie als ernst zu nehmende Wahrheit ist das Werkzeug. Die ausschließliche Koppelung an eine sogenannte Theorie der Architektur ist verhängnisvoll, es gibt eine solche nicht.

Das Entwerfen ist keine Theorie, sondern ein Findungsprozess. Das Entwerfen ist eine selbständige, autonome Tätigkeit, eine geistige, ideelle. Als geistige Tätigkeit ist sie über die Sinne und die Wahrnehmung erfahrbar, der Stellenwert ist der Materiellen Welt ebenbürtig. Daher gilt: Das Entwerfen ist niemals Theorie, sondern stets eine denkbare Praxis.

Der Wert des Entwerfens mißt sich an den Inhalten der Geisteshaltung, die der geistig tätige Mensch in der Lage ist zu vermitteln.

Das theoretische Moment existiert nicht. Die Praxis der Bildung eines Gedankengutes, eines Wertschatzes ist die, durchaus individuelle, Aufgabe.

Wenn nun einer fragt, was soll das, kann ich sagen: Ich muß in der Lage sein, mir ein gefühlvolles Bild meiner Wichtigkeiten einzuverleiben. Ich muß in der Lage zu sein, Stellung zu beziehen zu dem Sinn meines Tuns. Ist mir die Nähe wichtig, das Selige, das Verruchte, die Macht oder gar das Geld, sind es die Menschen oder dieses oder jenes Detail, das nur mich meint und meine Ästhetik anstatt den Bauch meines Nächsten? Nicht der Bauch des Architekten ist das Zentrum, der Bauch des Menschen, der Bedürfnisse hat, Hunger und Durst, dem ich beibringen kann, zu essen und zu trinken.

Was essen, wie trinken?

Eine Schöpfungsgeschichte. Ich spreche von der Voraussetzung des Empfindens „ich habe Hunger und Durst." Wenn ich diese Gefühle spüre, sind sie genauso wenig theoretisch wie das Entwerfen ein architektonisches Skizzenpapierverbrauchen.

Der Entwurf ist keine Zeichnung, ist kein Bild.
Der Entwurf ist keine Fotografie, der Entwurf ist kein Gebäude.
Solche Hauptwörter gefährlich stabil, inhaltsleer und sprachlos, für Dialog und auch für das Unterfangen dieses Vortrags kritisch, unpersönlich.

Entwerfen heißt, die Sinne greifen.

Die Sinnlichkeit ist die Voraussetzung für das Handfeste Glück.

Und keine Theorie.

2. Das Maß der Dinge.
150 Wörter keine 150 Worte.

Ich betrachte die Realität für das Entwerfen als unsinnig, ablenkend. Ich betrachte nicht das Wort, die Hülle oder die Form als Hilfe, sondern lenke mich zur Bedeutung der Welt, um nicht zu sagen „was soll ich mich mit Vorhangfassaden langweilen?" Es geht mir nicht um das Haus oder die Architektur als selbstgefälliges Manifest, es geht mir darum, den vorgefundenen Worten, Begriffen den Wert zuzumessen, der mir gestattet, eine Idee, meine Idee zu finden, sinnlich zu erfahren, in mir zu bilden und so einen Zirkel um die Lexika zu schlagen. Ich glaube keinem Wort der Zuordnung, der Typologie, sei es nicht meine eigene Sprache, mit der ich Bauherren, Bauknechten, Baulöwen und den Prinzessinnen der Spundwände entgegentreten kann.

In der Formulierung der Sprache entdeckt die eigene Abschweifigkeit eine Methode aus der Ziellosigkeit der Muster von Neo-, Post- und Retromoderne. Welches eigenes Glaubensbekenntnis hat einen solchen Nutzwert, daß es gebietet, daß ich es aus der Hülse in die Frucht meines Tuns, meines Handelns überführe? Der Irrsinn der Ansammlung von Beton, Geld und Kubaturen sollte nachdenklich machen. Eine Bauaufgabe besteht darin, andere Menschen zu beglücken, beizutragen zum Wohlsein.

Hörsaal Eins ist nicht der Hörsaal Nummer 1. Hörsaal Eins ist eine Vermittlungsform, ziemlich einseitig mit ein, zwei Projektoren, und ein Saal schon gar nicht. Welchen Wert hat diese Baulichkeit gegenüber der Sprache, die zu sprechen es lohnt?

Das Feststoffliche ist beim Entwerfen das Theoretische Moment, die Frage. Und nicht umgekehrt.

Das unmassive Buchstabengebilde scheint hingegen geeignet, aus den Gedanken der Humanität die Befriedigung einer Aussage zu formen.

Ich denke nach.

Auch ein Entwurf.

3. Die Muttersprache.
Weder kann noch will ich dasselbe Haus an zwei unterschiedlichen Orten errichten. Gleiches gilt für Weltbild und Sprache.

Ich verweigere eine Übersetzung in die Neue Welt. Es gibt daher keine wörtliche Übersetzung des Vortrags in die englische Sprache, jedoch einen originären englischen Vortrag.

In Auszügen:
„Der englische Vortrag hat, so wie er momentan geplant ist, den Entwurfsprozess bei der Errichtung des Los Angeles Freeway Systems im Auge. Die Spekulation der Geldströme, erst zwei-, dann drei-, dann fünfspuriger Ausbau. Die Zusammenhänge führen zu einer ethnischen Vernetzung bei gleichzeitiger Vereinzelung. Die Kapselung des Autofahrers in der Zelle. Zusammenhänge zwischen Besiedelung und Straßenbau, Analogien zu Gehirnströmen werden gesucht und nicht gefunden.

Es folgt, abschließend, die Widerlegung folgender These:
Geschwindigkeit ist die Bedingung für jeden Entwurf oder der Mittelstreifen der Autobahn ist die Projektion (deutsch Abklappung, ein gutes Wort für jedes Wahlfach) des na sagen wir mal halben Worl Trade Center in die Horizontale Ebene.

Wir sehen, ein Aspekt ist und soll nicht in ein Weltbild gepresst, ja plattgemacht werden, welches weder die katholische Kirche noch den Fußball kennt. Eine Internationalität, ich denke wir kennen das Buch, liegt mir nicht am Herzen. Der Englische Sprachraum bedarf der Auseinandersetzung mit dem Erbe des Sozialismus, Sepp Herbergers Strategien und der Zeit."

So endet der englische Vortrag dort, wo der russische beginnen wird.

Er sucht die Antwort gibt auf die Frage „was ist mir an der Idee einer Kultur wichtig, was sehe ich aus der Distanz?" Auch hier das Bemühen, Ideen zu entwerfen, Litaneien in eine Schule des Gefühls zu wandeln.

Untersuchung:
Das Fremde ist das Eigene. Wie denke ich hinein und nicht daneben oder darunter?

4. Der väterliche Wortschatz.
Die Wahl der Waffen: Ausdank, Verwurf, Auspuff, Aufriß, Abriß. Eine Umschreibung der Potenz. Warum gibt es keine Vatersprache, nur den Kubus, den Hochbau und den Dreispänner? Ich möchte einfügen, bemerken, wir sprechen die Sprache der Mutter, der Großmutter, der Kindergärtnerin und nennen sie weiblich, vielleicht ist dies falsch und hinter dem großen väterlichen Gestammel steht doch eine Empfindsamkeit, etwas tastendes, das gelernt hat sich zu verbergen.

Es folgt nun die Zusammenfassung der Rückübertragung meines Vortrags aus der russischen Sprache:

„Ich möchte gerne den Faltenwurf des Kleider der Karenina mit dem der O’Hara verglichen haben. Hier müssen wir vom Abbild des Bildes reden, welches der Film aus der Sprache der Dichter gemacht hat. Es erscheint ein Mangel.

Das Ausdenken, Erfinden, das Entwerfen einer Falte heißt die Möglichkeiten der Veränderung derselben Begreifen und Erahnen lernen.

Wie lerne ich die Veränderung lieben, wie kann ich das Bild eines Bildes einer Hülle empfinden? Voraussehen, Diskutieren? Wie wird ein Kleid zum eigenen Kleid?

Sich ausziehen.

Anprobieren.

Spüren.

Abstecken.

Ausziehen.

Ändern.

Wieder anziehen.

Hineinwachsen."

Ende des Auszugs aus dem Vortrag in russischer Sprache.

5. Bildersturm: Ius primae noctis.
Um Mißverständnisse auszuschließen, möchte ich einige Momente vorführen, die zeigen, was fälschlicherweise als Entwerfen verstanden wird, sich jedoch auf Ich-bezogene Ausdrucksformen reduzieren lassen muß. Es gibt hierbei, beabsichtigt, keine Dias, denn dies wären die meinigen, und ich wünsche mir, sie sollten ihre eigen Vorstellungen und Träume betrachten, während ich fortfahre.

Die Sprache: Das Bild meiner selbst.
Wenn ich von mir erzähle, spreche ich von mir. Die Gefahr liegt im Monolog, der sich selbst absichert, erstaunt, der vielleicht bewundert wird, aber doch in einer Ohnmacht der Zuhörer mündet, die Allmacht des Redners gipfelt. Beteiligte gibt es hier nicht, Betroffenheit ist nicht das Ziel. Diese Sechs-B-Kammergespräche sind Selbstzweck, hier wird ein Ergebnis belegt und begründet, im Nachgang abgesichert. Ein Zufall wird zum Einfall festgeschrieben. Die Sprache ermöglicht nicht, was sie eigentlich kann.

Die Lust: Einen Grund gibt es immer.

Die Selbstverliebtheit führt zum Mißbrauch, eine Zweckmäßigkeit liegt dieser hohen Kunst nicht bei. Ein Tun, eine Lust sollte am Miteinander gemessen werden, Exhibitionistisches zurückfallen.

Die Kinderzeichnung: Euter und Raketen.

Hier war ursprünglich eine große Bildbeschreibung geplant, eine meiner Buntstift-zeichnungen aus dem Jahr 1961 sollte es sein, doch diese Beschreibung würde einerseits zu viel der Obsessionen preisgeben, anderseits zu wenig an meisterlicher Baukunst erahnen lassen. Sie entfällt, leider.

Die Zurschaustellung eigener ritueller Darstellungen ist ohne Reflexion auf das Woher und Wie dem Zirkus der Wunderkinder anzudichten. Es wird das Genie bemüht, von der Handlung abgelenkt. Die Vergangenheit wird zum Beweis für die angebliche gegenwärtige Größe genutzt.

Die Prediger: Die Vision als Rechtfertigung.

Die einseitige Verführung als hohe Kunst, überhaupt als Kunst, erlebt sakrale Weihen. Der fremde Glaube jedoch führt niemals zur eigenen Seligkeit.

Die Erfindung: Siehe ich mache alles neu.

Die Neuerfindung verweigert die historischen Vergangenheit von Ort und Zeit, hier kommt der Schöpfer der den Urschlamm bändigt, Urhütten aus dem Nichts zaubert, atmosphärisch haucht. Die Einmaligkeit ist Postulat. Das Nichts.

6. Sinn und Gefühl.
Die Idee ist die erste Wirklichkeit. Und nur die eigene Idee.

Das Empfinden einer Menschlichkeit, das Einfühlen in die persönlichen Eigenschaften des Nächsten und des Übernächsten führt über die Erfahrung mit Menschen und muß über einen Dialog gestaltet, gebildet werden. Das Entwerfen sehe ich demzufolge nicht als Theorie, geschweige denn als eine solche „der Architektur".

Als Entwerfen bezeichne ich die Stabilisierung der eigenen Empfindsamkeit, die es uns ermöglicht, für und mit anderen zu denken und zu planen. Eine sinnliche, vielleicht biologische Empfindsamkeit.

Und, im Falle der Notwendigkeit, ermöglicht zu bauen.

Das Rezept für das Entwickeln der eigenen Werte und seine Vermittlung ist ein Weg, so individuell wie es die Hierarchien des Empfindens und Vermittelns zulassen mögen. Die Basis ist jedoch stets das Wissen um das eigene Wollen.

Als Zutaten empfehle ich heute und morgen das Zuhören, das Fragen und das Verdauen.

7. Bedingung: Die Geisteshaltung als Maßstab
Entwerfen heißt sich selbst vorzubereiten, um den Mitmenschen ein Stück der Welt übergeben zu können. Beinhaltet, mit Geld und Macht und Größe umgehen zu lernen, Geld, Macht und Größe verantworten und verantwortlich übergeben zu können.

Das ist Arbeit. Und keine Theorie.

Die Bedingung für das Entwerfen ist das Heranwachsen einer eigenen Geisteshaltung einer Disziplin, eines Wertmaßstabes einfachster Art.

Die Menschlichkeit, die Nähe, das Wachstum, die Zärtlichkeit, das Verständnis, das Mitgefühl, das Miteinander Tun und Lassen, das radikale Ja, das radikale Nein. Das Innenleben einspüren. Wohlempfinden, Obwohlempfinden, Abwägen und Entscheiden.

Ganz persönlich der Wechsel, der Rhythmus, die Veränderung, die Suche, der Mut. Und ich weiß, in jedem dieser Ansätze zum sich entwerfen und dann erst die Menschheit steckt genug für eine Haltung, für ein Leben.

8. Wertermittlung.
Die Wahrnehmung als Prüfinstrument.

Neben den verbalen Reaktionen der wie man so schön sagt „Planungsbeteiligten" gibt es natürlich auch die körperlichen wie Ankotzen oder Anschmieren, Anscheißen. Ich kenne Raufereien, Saufereien, Erbrechen, Bettgeschichten, Bestechung, das eklektizistische Beibringen von Fachzeitschriften wie beispielsweise „Gala" oder „Men’s Health". Urlaubserlebnisse wie die Prägung durch die zweiwöchige Inbesitznahme einer Bambushütte in einer thailändischen Erholungszone führen zu Diskurs, Planungsänderungen, Sinnkrisen, oftmals gar zum Platzwechsel von Schafzimmer und Garage.

Aushalten, Standhalten!

Das gemeinsam erarbeitete System der Wertung und der den Bauprozess überdauernden Zielsetzung stabilisiert die eigene Lage, bedarf der Vermittlung an die „Kundschaft" . Hier empfehle ich, je nach gusto, das zu nutzen und zu trainieren, was oftmals fälschlicherweise als „Entwurf" bezeichnet wird:

Die eigene Zeichnung, die eigene Skizze, die eigene Sprache.

Also Handschrift und Maulschrift, Textur und Strich, kein Lineal, keine EDV. Der Stellenwert des Lesens und Hörens des eigenen Ausdrucks heißt sich selbst lesen lernen, sich überprüfen zu lernen:

Zeichne, skizziere ich wirklich das was ich denke? Nehme ich mich ernst, lese ich meine Skizzen, Millimeter für Millimeter? Bin ich das? Meine ich damit den Dortsichwohlfühlenwollenden? Oder doch nur mich und meine kleinen Bilder?

Reagiere ich, wenn ich die Unmenschlichkeit entdecke, traue ich mir Veränderung des so hehren „Werkes" zu, bin ich mir selbst gegenüber kritikfähig? 

9. Zielsetzung.
Entwerfen - gemeint, für mich zentral und Bedingung ist die Entwicklung einer eigenen Geisteshaltung, die eine persönliche Haltung zum Miteinander aufzeigen muß. Diese Haltung ist politisch, sozial, menschlich. Sie ist, zunächst unabhängig von der Welt des Architekten, ein Prinzip des Einzelnen wie der Gesellschaft.

Erst das Entwerfen der eigenen Idee zeigt diese in ihrer ganzen, ganzen Vielfalt und Wirklichkeit.

10. Zum Nachtisch.
Mutti Kaffee. No nada. No rules. Das klingt alles vielversprechend. Sie kennen mich ja nun ein wenig.

Nun, die von mir ursprünglich geplanten erheiternden Eitelkeiten, Schlußsätze voller Reiz, gepaart mit der einen oder anderen Relativierung, Vorsicht zeigend, werden unterbleiben. Ich möchte das Gesagte ernst genommen wissen.

Dafür das nicht gesagte. Wohl aber gemeinte.

Ich habe vor zwei Wochen meine Lehrer besucht. Er kann, zur Zeit, nicht lesen, nicht schreiben, nicht zeichnen. Wohl aber hat er mir Fragen gestellt, die mir zu denken geben.

Am Ende meines Besuchs zeigt er mir sein Arbeitszimmer, voll von Büchern, Briefen Texten. Er sagt: „Ich werde das alles noch einmal lernen."

Mir hat es Mut gemacht. Mut eine Position zu beziehen, die mir zur Zeit mehr Fragen stellt als Antworten gibt. Es ist ein Anfang, und, es ist ein Entwurf.

Herzlichen Dank.

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