Thema
4. Jg., Heft 1
Mai 1999

Burkhard Biella

Entwerfen im Entwurf

Der Entwurf des Architekten ist eine individuell-existentielle Maß-nahme nach Prinzipien (arche), d.h. der architektonische Entwurf hat teil am Existenzentwurf des Architekten. Über die Prinzipien seines Entwerfens muß der Planende sich Rechenschaft geben; insofern fordert der Entwurf das Denken sowie das je erneute Bedenken der jeweiligen Entwurfsbedingungen. Ferner ist der Architekt gefordert, die Prinzipien seines Entwerfens dem Wohnenden oder Nutzer (ich spreche im folgenden auch kurz vom Rezipienten), für den er baut, zu vermitteln. Er ist als Maß-nahme Maßgabe und Angebot; die Maß-nahme muß zu einem der (Stadt-)Landschaft und dem Wohnenden passenden Wohnort führen und zugleich offen sein für die Entfaltung der Individualität des Anderen - auch als scheinbare Konfektionsarchitektur im Geschoß- oder Siedlungswohnungsbau.
Dem Entwurf eignet eine kritische Funktion, wenn er individueller Entwurf ist, wenn er nicht auf eine Gleichschaltung der Wohnenden als Wohnende angelegt ist, sondern Differenzen vorsieht und einbaut, Irritationen, die verstörend, aber nicht zerstörend auf seine Beziehung zum Rezipienten wirkt. Er unterstützt die Individualität des Anderen in deren Möglichkeiten, sich einzuräumen und zu realisieren. Der Entwurf muß befreien, so wie er selber ein Akt des Befreiens auf seiten des Entwerfers ist. Er entäußert in die Zeichnung, was gedanklich-visuelle Vorstellung war, veranschaulicht für den Rezipienten, was allein Bild gewesen ist, und wird Vor-Bild, das der Aneignung bedarf. Diese Entäußerung im Entwurf ermöglicht Sehen und Gesehenwerden. Der neue Blick, der sich dem Entwerfenden eröffnet und den er selbst eröffnet, fordert - im Entwurf Gestalt geworden - Zustimmung oder Ablehnung, schlechtestenfalls Gleichgültigkeit heraus. Der Entwurf sieht andererseits auch zurück auf den Entwerfenden selbst und macht ihn zum Rezipienten des von ihm Entworfenen. Darin gerät er formal in dasselbe Verhältnis, das sein Entwurf den Anderen gegenüber einnimmt; material sieht er allerdings (selbst)kritisch auf den eigenen Entwurf, sieht, was er weiß, und gewinnt darin - sofern er den Entwurf konsequent durchdacht hat - einen Wissensvorsprung, den es dem Nutzer zu vermitteln gilt. Überdies verhindert der kritische Blick des Architekten auf das aus der Individualität Ent-worfene, indem er die Grenzen immer aufs neue absteckt, den Stillstand des Entwurfs, sein Erstarren in gewohnter Wiederholung.
Ein Entwurf kommt aus dem Denken, nicht aus der Schublade. Das Entworfene, sofern wahrhaft individueller Entwurf, ist einmalig und sollte auch als Gebautes diese Einmaligkeit bewahren und nicht beliebig dupliziert werden. Will der Architekt ihn erneut verwenden, wird er dem Wesen des Entwerfens nur gerecht, wenn er wieder an diesem Entwurf tätig wird, denkend zunächst, sodann zeichnend und planend. Ohne dieses Bedenken, das das Bedenken gegen einfaches Vervielfältigen trägt, ohne dieses Überdenken degeneriert der Entwurf zur bloßen Wiederholung, verfehlt er die Individualität, für die zu bauen ist, die doch notwendig anders ist, anders sein muß als die, für die zuvor der Entwurf entstand. Ebenso wie eine Wiederholung das Wesen des Entwurfs verfehlt, bleibt alles ohne Entwurf Gebaute oder Ausgebaute jegliche Kunstfertigkeit und Gewissenhaftigkeit schuldig, wobei in Ausnahmen der Entwurf durchaus vor dem geistigen Auge entstehen mag und unmittelbar - unter Umgehung einer zeichnerischen Umsetzung - Gestalt annehmen kann. Fehlt indes gestalterische Kompetenz, wird diese Gestalt stets unharmonisch, disproportioniert, disparat wirken und Stückwerk bleiben, das Gedankenlosigkeit und mangelndes Denken vom Kunstwerk trennt. Ein Gang durch Siedlungen, die keine Gestaltungssatzung vor dilettantischen Eingriffen schützt, vermittelt hiervon ein anschauliches und zugleich abschreckendes Bild.
Auf der Bindung des Entwurfs an die Individualität des Entwerfenden, an sein Denken und an seine individuelle Sinnkonzeption beruht die Einzigartigkeit von Architektur; denkend berücksichtigt der Entwerfende die eigene und die fremde Individualität und verwirklicht darin ein Stück Sozialität. Gedankenlose Planungen bescheren eine Architektur, die nur erträglich wird, wenn die Natur sie später dem Blick wieder weitgehend entzieht, oder sie fordern den Nutzer zu verändernden Eingriffen heraus. In solchen Fällen sollte dann nicht von einer Praxis der Architektur gesprochen werden, sondern allenfalls von einer Poiesis, der reine Zweckrationalität zugrunde liegt, deren Telos gänzlich außerhalb des architektonischen Entwurfs liegen kann, etwa in politischen (Schaffung von Wohnraum) oder ökonomischen Sphären (Profitorientierung). Der Praxis von Architektur aber inhäriert ein ethisches Moment, das die Handelnden, wie in aller philosophisch verstandenen Praxis, auf die Verständigung über das eigene und gemeinsame gute Leben verpflichtet - und sei es, daß diese Verständigung kontrafaktisch unter Annahme einer idealen Kommunikationsgemeinschaft (sprich Nutzer- bzw. Wohngemeinschaft) durchgeführt wird. Es ließe sich durchaus eine Form des kategorischen Imperativs für die Architektur formulieren: Baue stets so, daß dein Entwurf die räumliche Offenheit schafft, die jedem anderen die Entfaltung der eigenen Individualität ermöglicht, die du dir selbst wünschst.
Insofern ist eine universale Entwurfstheorie nur in formal-praktischer Hinsicht wünschenswert im Sinne einer Ethik des Entwerfens. Diese Ethik des Entwerfens rechtfertigt sich aufgrund der Tatsache, daß der Architekt in aller Regel für Andere entwirft, worin beider Individualität und Sozialität sich treffen. Sofern Entwerfen ein Entwerfen für Andere, Bauen ein Bauen für Andere ist, sollte der Andere im Entwurf - im doppelten Wortsinne - bedacht sein. Der Entwurf ist mithin nicht reiner Selbstzweck, sondern eine Dienstleistung im Sinne des Wortes: der Architekt dient entwerfend dem Anderen, unterstellt sich einerseits praktisch der Individualität des Anderen, ohne sich andererseits ästhetisch einem bestimmten Geschmack unterwerfen zu müssen, denn aufgrund seiner gestalterischen Kompetenz, die - nicht bloße Kunstfertigkeit oder künstlerische Begabung - gerade im Denken gründet, entwirft er dem Anderen einen Raum - sei’s Wohn- oder Stadtraum - , der als eigenständiger Entwurf, der nun seinerseits die Individualität des Entwerfenden, seinen Stil, zum Ausdruck bringt, sich dem Rezipienten vorstellt und ver-antwortet, was er selbst eingebracht und selbst wieder rezipiert hat. Er mag befremden durch - eingebaute - kritische Momente, aber Denk- und Sehgewohnheiten bedürfen gelegentlich der Irritation, um aufs Eigene, Eigentliche zurückgeworfen zu werden, auf die eigene Individualität, die sich im Gewohnten verliert an das Man, wie Heidegger sagen würde.
Der Stil, in dem sich die Individualität des Architekten äußert, ist das Individuelle im Allgemeinen der Entwurfssprache, die Traditonen und ihre Ideen verarbeitet, sich affirmativ oder negativ auf sie bezieht. Durch sein individuelles Moment entzieht sich der Stil dem Meßbaren, dem Quantitativen; seine Qualität kommt indes in der Kreativität des Entwerfenden zum Ausdruck, das Allgemeine durch individuelle Zusätze neuen Interpretationen zuzuführen. Kreativität als Qualität des Stils ist wiederum Sache des Denkens, der Selbst-Bildung des Individuellen im Allgemeinen und damit auch eine Angelegenheit allgemeiner Bildung.
Geschmack und Gefallen als Wirkungen des Entwurfs im Anderen sind somit gleichfalls bildungs- bzw. selbstbildungsabhängig, sind Äußerungen des Stils, der Individualität des Anderen. Da man nur sieht, was man weiß, nicht aber was man konsumiert, wäre eine ästhetische Bildung vonnöten, um dem zu entgehen, was als gesundes Volksempfinden schon einmal ästhetische Durchschnittlichkeit totalisieren wollte. Daran ändert auch der rasante Wechsel jeglicher Information in unserem multimedialen Zeitalter nichts; die Zersplitterung der Bilder in die postmoderne Beliebigkeit ihrer Bedeutungen formatiert die Totalität nur vom anderen Ende her: als Totalität der Auflösung. Das Achselzucken ersetzt den Stiefeltritt, ein mißverstandenes Anything goes das Verdikt der Entartung. Widerstand sollte sich gegen beide Totalisierungen regen; darin zeigt sich das kritische Potential von Individualität. Der Entwurf als Produktion und das Gefallen als Rezeption äußern wechselseitig Kritik sowohl in der ästhetischen Affirmation wie in der Negation; beide gehören zu einer funktionierenden Praxis, die der Entwurf gleichsam ins Offene ruft, der er Räume schafft, damit Individualität sich verwirkliche. Sie realisiert sich wohnend in (be)greifbaren, begehbaren Räumen, nicht in virtuellen, wie Virtual-Reality-Enthusiasten gerne verkünden; in virtuellen Räumen kann man sich zwar aufhalten, man kann sich dort auch bewegen, aber eben nicht wohnen. Die sogenannte virtual reality ist ein Widerspruch in sich; kategorial sind Wirklichkeit und Möglichkeit zu trennen. Wir leben in oder leiden an wirklichen Räumen, virtuelle sind Ausflüchte, auch in der Architekturdebatte. Einen bewohnbaren Raum gilt es zu bauen, nicht nur zu simulieren.
Jeder Entwurf, sofern die Realisation des Entworfenen intendiert ist, steht im Bezug zu Materialitäten, die die Ausführung bestimmen, von der Topographie und den klimatischen Bedingungen des Bauplatzes bis hin zu den Baumaterialien selbst, ihrer Produktion und ihrer Bereitstellung (Produktionschwierigkeiten, Lieferwege usw.). Ferner hängt jede bauliche Umsetzung eines Entwurfs von einer Reihe von Immaterialitäten ab, etwa rechtliche Bestimmungen (wie Baugesetze und -ordnungen, Ausschreibungsrichtlinien), berufsständische Zwänge oder politische Entscheidungsverfahren. Gleichwohl behindern solche vorgegebenen Materialitäten und Immaterialitäten nicht die Selbstverpflichtung der Ethik des Entwurfs auf die Individualität des Anderen. Diese wird ihr zum selbsternannten Problem und dadurch je wieder aufs neue dem Denken überantwortet, während für die sich aus den Materialitäten und Immaterialitäten ergebenden Probleme durchaus instrumentalisierbare und standardisierbare Lösungen gefunden werden können. Das Entwerfen im Entwurf, das diesen zu einem permanenten Prozeß werden läßt, spiegelt das verantwortete Ethos des Architekten wider.

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