Thema
3. Jg., Heft
2
Juni 1998

Dörte Kuhlmann

Der Geist des (W)ortes

Euch wird aber der Stein,

der durch die Kunst zur schönen Gestalt gebracht worden,

alsobald schön erscheinen; doch nicht, weil er Stein ist,

- denn sonst würde die andere Masse gleichfalls für schön gelten -

sondern daher, daß er eine Gestalt hat, welche die Kunst ihm erteilte.

Goethe

1Auf den letzten Seiten seines Buches Modern Architecture stellte Kenneth Frampton den schweizerischen Architekten Mario Botta als einen Vertreter des Kritischen Regionalismus vor und betonte dessen Verbundenheit mit dem Bauplatz, was im besonderen durch den Akt des "building the site", nach den Worten Bottas, ausgedrückt würde. Frampton wies darauf hin, daß Bottas Häuser als Zeichen in der Landschaft zu sehen seien, als Indikatoren von Grenzen. Bottas Haus in Ligornetto beispielsweise markiere die Grenze zwischen dem Ort und der freien Agrarlandschaft. Frampton erklärte weiter, daß sich die Gebäude als primäre Formen darstellten, die sich nicht der Umgebung unterordnen, sondern die der Topographie und dem Himmel entgegengesetzt würden.1

Mit dieser Vorgehensweise vermochte es Botta, die spezifischen Eigenarten der Landschaft auf die nachdrücklichste Weise zu enthüllen, wie etwa bei dem Haus bei Riva San Vitale von 1972. Der turmartige Körper, welcher der Berglandschaft respektlos als ein glatter Quader gegenübergestellt wird, zeigt deutlich, wie steil die Topographie des Grundstückes ist, ein Eindruck, der durch die schwebende Brücke zum Eingang noch gesteigert wird. Genauso scharf zeichnet sich die Diskrepanz zwischen der schlichten geometrischen weißen Fassade und der je nach Jahreszeit wechselnden farbigen zerklüfteten Alpensilhouette ab.

Mario Botta, Haus bei Riva San Vitale 1972

Nach Bottas Interpretation ist der genius loci nicht primär vorhanden, sondern wird erst durch die Architektur aufgedeckt und konstituiert. Der Ort wird mittels des künstlichen Eingriffes von seiner Umgebung individuiert und erhält dadurch seinen spezifischen Charakter, wodurch sich gleichzeitig seine bereits vorhandenen Qualitäten manifestieren.

2Diese Vorgehensweise folgt nicht mehr der Aristotelischen Tradition, in dem Sinne, daß Aristoteles darauf hingewiesen hatte, daß es zwar Ähnlichkeiten zwischen Kunst und Natur gäbe; in jedem Falle aber die Kunst die Natur imitiere und nicht umgekehrt: "Was aber natürlicherweise entsteht, entsteht um eines Zweckes willen und es bildet sich sogar immer um eines höheren Zweckes willen als das, was durch Kunst entsteht. Denn die Natur ahmt nicht die Kunst nach, sondern diese die Natur, und wenn die Kunst ihr zu Hilfe kommt, so kann sie das vollenden, was die Natur noch unvollendet gelassen hat."2

Vielmehr wird hier ein Ansatz verfolgt, den Oscar Wilde in Bezug auf die Malerei erkannt hatte, und der gegen Aristoteles argumentierte, daß die Kunst es den Menschen erst ermöglichen würde, sich ihrer Umgebung bewußt zu werden. In seinem Buch The Decay of Lying hatte Wilde angemerkt, daß man in London keinen Nebel wahrgenommen hatte, bevor er von den Impressionisten thematisiert und gemalt wurde. Seither würden die Leute den Nebel bemerken, da Maler und Dichter ihnen die Lieblichkeit solcher Effekte gelehrt hätten.3

3In seinem Essay Bauen, Wohnen, Denken dehnte Martin Heidegger den Zusammenhang zwischen Wahrnehmung und Kunst weiter auf den Bereich des Bauens aus und eröffnete damit eine neue Sichtweise auf das Verhältnis zwischen Architektur und der Natur. Er wies darauf hin, daß sich das griechische Wort für Kunst oder Fertigkeit - techne - von tikto ableitet (etwas erscheinen lassen) und schloß daraus: "für die Griechen bedeutete es: etwas als dieses oder jenes so oder anders in das Anwesende erscheinen lassen."4

In diesem Sinne - so Heidegger - kann die Kunst oder die Architektur die Entschleierung der Wahrheit bieten, aletheia. Ein griechischer Tempel beispielsweise zeige die Wahrheit der Landschaft. Er demonstriere den rauhen Boden, die Wildheit des Sturms, den Luftraum. Heidegger führte diesen Gedanken weiter fort:"Dastehend ruht das Bauwerk auf dem Felsgrund. Dies Aufruhen des Werkes holt aus dem Fels das Dunkle seines ungefügen und doch zu nichts gedrängten Tragens heraus. (...) Das Unerschütterte des Werkes steht ab gegen das Wogen der Meeresflut und läßt aus seiner Ruhe deren Toben erscheinen. Der Bau und das Gras, der Adler und der Stier, die Schlange und die Grille gehen erst in die abgehobene Gestalt ein und kommen so als das zum Vorschein, was sie sind."5

4Anhand des Beispiels einer Brücke zeigte Heidegger die Implikationen dieser Interpretation auf, die seither einen wichtigen Beitrag zum architekturtheoretischen Diskurs stellten. Eine Brücke verbinde nicht nur zwei gegenüberliegende Ufer, sondern definiere erst den Ort, indem sie die spezifischen Eigenarten des Raumes betont: "Der Ort ist nicht schon vor der Brücke vorhanden. Zwar gäbe es, bevor die Brücke steht, den Strom entlang viele Stellen, die durch etwas besetzt werden können. Eine unter ihnen ergibt sich schließlich als ein Ort und zwar durch die Brücke."6 Er führte seine Betrachtung mit der Feststellung zuende: "So kommt denn die Brücke nicht erst an einen Ort hin zu stehen, sondern von der Brücke selbst her entsteht erst ein Ort."7 Der Raum wird erst durch den speziellen Platz zum Ort, also durch eine Abgrenzung, Eingrenzung oder besondere Markierung. Diese Grenze jedoch, betont Heidegger, sei nicht das, wobei etwas aufhört, sondern "wie die Griechen es erkannten, die Grenze ist jenes, von woher etwas sein Wesen beginnt."8

Diese Ausführung zeigt einen gewissen Widerspruch zur ansonsten propagierten kontextuellen Position der Architektur auf.9 Anstatt wie üblich den Ortsgeist dadurch zu erfassen, indem auf die vorhandene Bebauung eingegangen wird oder indem lokale Traufhöhen und ortstypische Materialien aufgegriffen werden, fordert Heideggers Position geradezu die Kreativität des Architekten neu heraus: Die Markierung des Ortes kann nur durch das Außergewöhnliche oder Fremde geschehen, wie auch die Brücke in mehr als nur einem Aspekt das Gegenteil (bzw. die Negation) des Flusses darstellt. Die Enthüllung der Wahrheit des Ortes kann nur durch einen massiven Angriff auf seine essentiellen Charakteristika erfolgen.

Unter dem vorgestellten Blickwinkel scheint es möglich zu behaupten, daß der Geist des Ortes, der genius loci, keine primäre Eigenschaft ist, sondern ein sekundäres Moment oder vielleicht sogar ein parasitärer Charakter. Um dem einmaligen Charakter des Ortes zu dienen, muß der Architekt den natürlichen Gegebenheiten etwas radikal Fremdes entgegensetzen, da nur dann die Natürlichkeiten als etwas Besonderes - durch den Kontrast - herausgestellt werden.

5Tatsächlich scheinen einige Architekten diese Strategie aufgegriffen zu haben, insbesondere diejenigen unter ihnen, denen eine besondere Nähe zu einem naturgemäßen Bauen unterstellt wird. So betrachtet, wird das Kaufmann House Falling Water von Wright erst als eine Hommage an die Natur verständlich und gewinnt eine tiefere Dimension. Wie Kenneth Frampton schrieb, verkörperte Falling Water Wrights Ideal eines Wohnraumes, der in die Natur eingeschmolzen war. "Once again, reinforced concrete afforded the point of departure; only this time the cantilevering gesture was extravagant to the point of folly, in contrast to the implacable calm of the mushroom structure of Johnson Wax. Falling Water projected itself out from the natural rock in which it was anchored, as a free floating platform poised over the small waterfall. (...) Its fusion with the landscape is total, for, despite the extensive use of horizontal glazing, nature permeates the structure at every turn."10 Die hellen Betonwände des Hauses bilden in dieser Umgebung als fremdartige glatte Flächen den Gegenpart zu dem rauhen Charakter der natürlichen Steine des Flußbettes. Im Wohnzimmer läßt Wright ein paar natürliche Felsen die gleichmäßige Ebene des Steinfußbodens stören und lenkt durch diese Geste erst die Aufmerksamkeit des Besuchers auf die Felsstruktur des Ortes.

Frank Lloyd Wright, Falling Water in Bear Run 1936

6Das Konzept von Falling Water steht im krassen Kontrast zur traditionellen Theorie, die landschaftlich ungünstigen Flächen eines Grundstücks zu überbauen, um die Flächen, die eine natürliche Schönheit aufweisen, unzerstört für sich wirken zu lassen. Vielmehr wendet sich Wright direkt dem exklusivsten Part des Baugrundes zu, um durch die unmißverständliche Konfrontation der künstlichen Architektur mit dem natürlichen Wasserfall mehr als nur die optischen Eigenschaften des Naturschauspiels zu demonstrieren. Das Haus folgt in seiner ganzen Struktur dem Wasserfall und setzt ihm auf diese Weise auf den verschiedenen vertikalen Ebenen einen artifiziellen Kontrast entgegen. Dadurch wird die Landschaft als Ganzes in ihrer Dreidimensionalität hervorgehoben, und nicht nur als ein Bild, das man erlangt hätte, wenn man das Haus mit Ausblick auf den Wasserfall gebaut hätte.

Ähnliches hatte Wright schon früher bei seinen Usonien Houses versucht, die durch ihre geschachtelten und auskragenden Grundrisse in die Landschaft eingriffen. Walter Curt Behrendt beschrieb die essentiellen Qualitäten dieser architektonischen Phase Wrights mit den Worten:

"The houses with their broad masses widely spread out, with their low proportions and the long horizontal lines of their roofs, follow these large contours of the landscape. Like dense thickets, rooted firmly in the earth, their low building-masses stretch out over the ground, always turning towards the light, following the natural tendencies of the site, adapting themselves pliantly to every fold of land, every elevation of ground, with far-stretched low walls framing the garden, trees and other vegetation of the surroundings and pulling them, as if with fangs, inward to the house."11 Die Idee, mittels gebauter Substanz einen künstlichen Rahmen für die Natur zu schaffen, um sie dadurch zum Teil des Bauwerks zu erheben, zeigt sich bereits bei Mies van der Rohes unrealisiertem Entwurf eines Backsteinhauses 1923. Hier sind es die fortlaufenden Mauern, welche die Landschaft einfassen und dadurch definieren, ähnlich wie eine Malerei durch den Rahmen eingegrenzt wird.

Mies van der Rohe, Entwurf für ein Landhaus aus Backstein 1923

7Ein vergleichbarer Ansatz findet sich auch bei Le Corbusier wieder, dessen Gebäude oftmals den Anschein geben, als bestünde ihr eigentlicher Sinn darin, den Blick so nach draußen zu leiten, daß sie die visuelle Einrahmung der Landschaft bieten. Beatriz Colomina hob hervor: "Even when actually in an "exterior", in a terrace or in a "roof garden", walls are constructed to frame the landscape, and a view from there to the interior, as in a canonic photograph of Villa Savoye, passes right through it to the framed landscape (so that in fact one can speak about a series of overlapping frames)."12 Sehr deutlich tritt dieses Anliegen bei der Villa Savoye in Erscheinung, die aufgestockt auf den Pilotis zunächst über der Landschaft zu schweben scheint, wodurch ihr Charakter als nachträglich addiertes, künstliches Element zur Umgebung unterstrichen wird. Das Gebäude "erwächst" nicht aus der Landschaft- es wird ihr entgegengestellt. Der Gang durch das Haus wird zu einem Gang durch eine Fenstergalerie, wobei das Spiel von Licht und Schatten sowie die immer neuen Ausblicke in die eingefaßte, gerahmte Natur die Prozession steuern. Wie könnte dieser Weg auch anders enden, als auf einer Dachterrasse mit einem finalen Landschaftsbild-Fenstermotiv? Ein Ausschnitt in der weißen Mauer von der Größe der Windschutzscheibe eines Automobils gibt den Blick in die Ferne frei.

Le Corbusier, Villa Savoye 1929-31

Le Corbusier, Küche Villa Savoye

Le Corbusier, Dachgarten Villa Savoye

Le Corbusier beschrieb seine Vorstellung über den Umgang mit der natürlichen Umgebung sehr prägnant im Zusammenhang mit der Planung der Petite Maison am Ufer des Genfer Sees, die eine Remineszens an den berühmten "Blick des Zens" wachruft: "Um die Aufmerksamkeit auf die Landschaft zu lenken, muß man sie eingrenzen und proportionieren; die Sicht muß durch Wände verstellt werden, die nur an bestimmten strategischen Stellen durchbrochen sind und hier einen freien Ausblick erlauben."13

8In diesem Sinne wird die Domestizierung der Landschaft durch kontrollierte Sichtausschnitte zum entscheidenden Akt, der das Haus konstituiert und den genius loci definiert. Das traditionelle Konzept, einen Wohnraum durch die materielle Umsetzung bestimmter funktionaler Anforderungen zu manifestieren, tritt in den Hintergrund. Die Architektur wird zur Kunst und verkörpert das von Le Corbusier bereits in den 20er Jahren postulierte "Spiel der Formen im Licht"14. Gleich zu Beginn seines Buches Vers une Architecture hatte Le Corbusier die Beeinflussung der Architektur durch die Kunst gefordert, was angesichts seines eigenen künstlerischen Werdegangs nicht überrascht.15 Die abstrakten organischen Formen, die er in den 20er Jahren in seine Architektur integrierte, wie etwa die amorphe Eingangsüberdachung des Palace of the League of Nations scheinen sich auf die puristische und kubistische Malerei zurückführen zu lassen. Die Formen erinnern an die einfachen gerundeten Flaschen oder Guitarrenformen, wie sie beispielsweise in seinen eigenen oder Ozenfants Werken auftauchen. Als eine weitere Quelle für die organischen Figuren mögen die stromlinienförmigen Volumen der Schiffe, Automobile und Flugzeuge gedient haben, die das Auge der Künstler auf vergleichbare Erscheinungen in der Natur richteten.

Charles Edouard Jeanneret alias Le Corbusier, Stilleben 1920

9Wie Göran Schildt hervorhebt, kann der massive Einfluß Le Corbusiers auf Alvar Aalto schon seit seinen frühen rationalistischen Jahren nicht geleugnet werden und drückte sich in Projekten wie das Turun Sanomat Gebäude und das Sanatorium in Paimio aus und mag ebenfalls für den nicht ausgeführten Entwurf des Vordaches der Viipuri Bibliothek (und späteren Entwürfen wie dem Vordach der Villa Mairea) Pate gestanden haben.16

Alvar Aalto, Turun Sanomat Gebäude

Alvar Aalto, Finnischer Pavillon auf der Weltausstellung in Paris 1939

Alvar Aalto, Vordach, Villa Mairea 1939

Obwohl sich diese für seine Architektur kennzeichnenden Formen offensichtlich aus den anderen Künsten ableiteten, so wurde er spätestens seit seinem Beitrag zur Weltausstellung in Paris 1937 neu interpretiert. Trotz seiner unverkennbaren Nähe zur internationalen Moderne identifizierte man Aalto nun als einen sehr naturverbundenen Architekten, der seine Kreativität aus einer tiefen inneren Verbindung zu seiner Heimat schöpfte, wie etwa Sigfried Giedion schwärmte: "Wie Joan Miro in der katalanischen Landschaft verwurzelt ist, so wurde Aalto direkt von den kurvigen Umrissen der finnischen Seen angeregt, die in ihrer Sanftheit von der Natur selbst geformt wurden und durch die von allen Seiten ans Wasser drängenden Wälder ihr Hochrelief erhalten."17

Vielleicht bedingt durch den Umstand, daß er mit dem finnischen Pavillon gewisse nationaltypische Aspekte aufzeigen sollte, wurde Aaltos Motivwahl allein auf die finnische Landschaft bezogen. Diese einseitige Interpretation läßt sich besonders klar an der berühmten Savoy-Vase nachvollziehen, die unverkennbar durch die zeitgenössische angewandte Kunst beeinflußt war und die sich fast als eine Miniaturausgabe des gläsernen Hochhauses von Mies van der Rohe beschreiben ließe. Auch der ursprüngliche humorvolle Titel des Objektes - Lederhosen einer Eskimofrau - hat wenig mit der Assoziation einer finnischen Seenlandschaft gemein. Dennoch, in ihrer Funktion als Vorzeigeobjekt für die Pariser Weltausstellung 1937 erfüllte sie gleichfalls die Möglichkeit einer Interpretation als ein typisch finnisches Produkt. Die wichtigsten für Finnland kennzeichnenden Merkmale wurden mangels anderer kultureller oder industrieller Spezifitäten in der weiten unzerstörten Natur gesehen und die amorphe Form der Vase erlaubte den formalen Vergleich mit der finnischen Seenlandschaft.

Alvar Aalto, Entwurfsskizze zur Vase 1936

Alvar Aalto, Savoy Vase

10Auch wenn Aalto später selber vielfach auf die Inspiration durch die Natur verwies, ist sein Bekenntnis zur Abstrakten Kunst aufschlußreicher für das Verständnis seiner Architektur: "Abstract art at its best, is the result of a kind of crystallization process. Perhaps that is why it can be grasped only intuively, though in and behind the work of art there are constructive thoughts and elements of human tragedy. In a way it is a medium that can transport us directly into the human current of feelings that has almost been lost by the written word." Demzufolge baut man nicht, indem man die Natur nacheifert oder geometrisiert, sondern indem man natürliche Systeme abstrahiert.18

Aaltos organisch geformten Holzapplikationen an den Decken der Neuen Vahr in Bremen, die Deckenmalerei im Berliner Hansaviertel-Wohnhaus oder seine gerundeten Gebäudegrundrisse, etwa beim House of Culture in Helsinki werden fast immer mit Naturformen assoziiert, selbst wenn sich die Bauten im urbanen Raum befinden. Insofern setzte er souverän wie kaum ein anderer Architekt das Instrument der Abstraktion zur geschärften Wahrnehmung der Umwelt ein und sensibilisierte auf diese Weise den Besucher für die Natur, auch da wo sie nicht unmittelbar vorhanden ist.

Alvar Aalto, Holzapplikation an der Decke, Neue Vahr Bremen 1958-62

Alvar Aalto, Deckenmalerei Hansaviertel Berlin 1954-57

Alvar Aalto, House of Culture, Helsinki 1952-58

Einer anderen Form der Abstraktion und Transformation widmeten sich Imre Makovecz und Herb Greene, als sie, inspiriert durch Heidegger, versuchten, die Essenz der Architektur in der Sprache zu finden.19 Gemäß ihrer Auffassung wird die unstrukturierte Natur durch das Wort erst erfaßt und konkretisiert. Mit der Hinwendung zur ursprünglichen Bedeutung des Wortes kann die Essenz des Begriffes erkannt und durch die erneute künstlerische Ausformung in Architektur umgesetzt werden.

11Makovecz folgte den durch Heidegger aufgezeigten sprachlich-philosophischen Verbindungen zwischen diesen Begriffen Bauen-Wohnen-Denken, und war vor allem fasziniert von dem Zusammenhang zwischen dem pflegenden Bauen im Sinne des Bewirtschaftens, Hegens und dem schaffenden Bauen als Errichtung eines Werkes.20 Wenn nach Heidegger "ich baue" mit "ich bin" und auch mit "ich wohne" übersetzt werden kann, bedeutet dies, daß das Sein durch das Bauen bestimmt ist und damit die zentrale Lebenstätigkeit des Menschen umschreibt.21

Makovecz suchte zunächst in der Bauterminologie nach Begriffen, die eine biomorphe Färbung trugen oder auf sehr expressive Sprachbilder verwiesen. Diese sammelte er, um sie dann gemäß ihrer Metaphorik zu einer Einheit zusammenzufügen. Diese Einheit, die vor seinen Augen entstand, zeichnete sich durch einen äußerst vitalen Charakter auf und legte ihm die Interpretation als eine Art Gebäudewesen nahe.22

Der ungarische Ausdruck ablakszem (Fenster) bedeutet in seiner historischen Herleitung "Fensteraugen". Far, der hintere Walm, bedeutete das "Hinterteil", welches sich an gerinc, den Dachfirst, das "Rückgrat" anschließt. Könyök, die Pfetten, wurden ursprünglich mit "Ellbogen" bezeichnet. Als "Augenbraue" wird der Fenstersturz Szemöldök interpretiert.23 Die Fassade oromzat trägt die Bedeutung von "Stirn" in sich. Über den "Haarschopf" üstök (Vorderer Walm) ragt das "Horn" des kürtö, des Schornsteins, dementsprechend sind die Dachsparren szarufa auch die "Hornbalken". Das Gebäude befindet sich auf einem "Fußwerk", dem labazat (Sockel). Auch die Schwelle talpfa referiert zu dieser Herleitung, indem sie ursprünglich "Sohle" genannt wurde. Bis heute wird im ungarischen Bauernhaus die Wohnküche mit dem Wort "Leben" bezeichnet.24

Imre Makovecz, Expopavillon in Sevilla 1992

12Makovecz nimmt bei seiner Interpretation keine relativistische Position ein, bei der er davon ausgehen würde, daß die einzelnen Metaphern von einer Sprache zur nächsten varriieren, sondern bevorzugt die ungarische Sprache, wie Heidegger die altgriechische Sprache als den Logos selbst privilegierte.25 In diesem Sinne glaubt auch Makovecz an die Idee einer Ursprache, aus der sich alle anderen Sprachen entwickelt haben.

Da diese Beziehungen zwischen der Sprache, dem menschlichen Körper und der Architektur nicht auf das Ungarische beschränkt sind, hält Makovecz sie für ein archetypisches Phänomen, welches unabhängig von der Kultur zu den Grunderfahrungen des Menschen zählt. Er spricht davon, daß der Geist der Volkskunst "in vielen Sprachen, was aber ihre Zeichen anbelangt, mit außerordentlich ähnlichem Inhalt aufbewahrt" wurde.26

Die anthropomorphen Metaphern in der Sprache erscheinen jedoch nicht nur im Baugewerbe, sondern durchziehen die gesamte Sprache und damit sämtliche Lebensbereiche. Bei genauerer etymologischer Forschung offenbaren sie ihre komplexe Natur und ihre zahllosen Beziehungen untereinander, die schließlich, aufgrund zu vieler unterschiedlicher Interpretationsmöglichkeiten, in die Bedeutungslosigkeit münden. In der Philosophie hatte man diese Problematik schon seit geraumer Zeit identifiziert. Nietzsche wies beispielsweise darauf hin, daß sowohl die Sprache als auch das Denken größtenteils auf derartigen anthropomorphen Projektionen beruhen und daß diese Konzeption verantwortlich sei für die meisten philosophischen Probleme.

13"Die unbewußte Verkleidung physiologischer Bedürfnisse unter die Mäntel des Objektiven, Ideellen, Rein-Geistigen geht bis zum Erschrecken weit, - und oft genug habe ich mich gefragt, ob nicht, im großen gerechnet, Philosophie bisher überhaupt nur eine Auslegung des Leibes und ein Mißverständnis des Leibes gewesen ist."27

Dennoch gab diese Interpretation einen wichtigen Impuls für den architektonischen Diskurs. Die bauliche Umsetzung scheint am vielversprechendsten zu sein, je abstrakter und surrealer die Formen sind, wie etwa beim bekannten Präriehaus, das Greene 1960 als sein Wohnhaus errichtete.28 Das schindelgedeckte, in freien Formen errichtete Gebäude wirkt wie ein Büffel, der über die weite Präirie blickt. Mit diesem Haus verband Greene eine ganze Reihe von Visionen, unter anderem anthropomorphe Etymologien und deren Übertragung in die Architektur:

Herb Greene, Prärie Haus, Norman in Oklahoma 1959

14"Skulpturale Formen gehen über die den Raum umschließende Oberfläche hinaus, um sie in Metaphern lebendiger Kreaturen, Vogel oder Fisch zu wandeln. Im Präiriehaus sollen sie unser Bewußtsein des Beschütztwerdens erhöhen und auf die empfindenden Aspekte lebendiger Wesen, wie Haut und Stirn, bewegte Geste und schließlich Erkenntnis hinweisen."29

Das Haus sollte auch auf die Vergangenheit hinweisen, auf die vom Menschen unberührte Präirie und die Harmonie mit der Natur. Mit dieser Skulptur inmitten der weiten unstrukturierten Ebene setzte er einen starken Akzent, der den Ort erst zum Ort werden ließ. Die metaphorische Darstellung des Fensters als ein in die Ferne starrendes Auge hob die endlosen Weiten als eine neue Qualität hervor, während der Baukörper aus Holzschindeln eine materielle Negation der baumlosen Steppe war.

Die Sichtbarmachung der natürlichen Qualitäten der Landschaft und im besonderen des genius loci in der Architektur durch Negierung, Abstraktion und Kontrast scheint im 20. Jahrhundert die mimesis abgelöst zu haben. Auch wenn die Individuierung bestimmter Ausschnitte der Natur und die Betonung einzelner Aspekte eine traditionelle Problematik in der Kunst darstellen, wie etwa Goethe bemerkte- "den Stoff sieht jedermann vor sich, den Gehalt findet nur der, der etwas dazu zu thun hat, und die Form ist ein Geheimnis der Meister", so öffnete dieser Weg herausfordernde Perspektiven für die Architektur.30 So gesehen mag Heideggers Ausarbeitung als Antwort auf die These Nietzsches gelten, der behauptet hatte, "auf der Ungenauigkeit des Sehens beruht die Kunst", und ist als Aufforderung an den Künstler gedacht, den Blick für das Wesentliche zu schärfen.31

Anmerkungen

 

1Kenneth Frampton, Modern Architeture. A Critical History. (London 1992), S. 323.

2Aristoteles, De Partibus Animalium 645a23-26 und 639b19.

3Oscar Wilde, The Decay of Lying in Intentions. The Complete Works of Oscar Wilde. Vol.V. (New York 1923), S.47f.

4Martin Heidegger, "Bauen , Wohnen, Denken" in Vorträge und Aufsätze, (Pfullingen 1954), S. 154.

5Heidegger, Martin, Der Ursprung des Kunstwerkes. (Stuttgart 1960), S. 38, 58-59 et passim.

6Martin Heidegger, "Bauen , Wohnen, Denken" in Vorträge und Aufsätze, (Pfullingen 1954), S. 148.

7Martin Heidegger, "Bauen , Wohnen, Denken" , S. 148.

8Martin Heidegger, "Bauen , Wohnen, Denken", S. 149.

9Dieses Argument geht auf Kari Jormakka zurück, der auf diese Zusammenhänge in dem Artikel "The Eve of Destruction", Daidalos Nr. 63, 1997 verwies.

10Kenneth Frampton, Modern Architeture. A Critical History. (London 1992), S. 189.

11W. C. Behrendt, Modern Building, (New York 1937), S.134.

12Beatriz Colomina, Privacy and Publicity. Modern Architecture as Mass Media. (Cambridge, Mass.1994), S.282

13Le Corbusier, Une petite Maison (Zürich 1954), S.22-23. Nach Colomina, S.315

14Le Corbusier, Towards a New Architecture, (New York 1986), S.29.

15Le Corbusier, Towards a New Architecture, S.19

16Göran Schildt, Alvar Aalto. The Decisive Years. (New York 1986), S.208.

17Sigfried Giedion, Raum, Zeit, Architektur (Basel 1996 ), S.388.

18Marc Treib, "Aalto’s Nature" in Peter Reed (Hg.), Alvar Aalto. Between Humanism and Materialism. Exhibition Catalogue, Museum of Modern Art (New York 1998), S.60.

19Gerle, Makovecz Imre mühelye (Budapest 1996), S.189.

20Heidegger, "Bauen, Wohnen, Denken" , S.140ff.

21Es sollte hervorgehoben werden, daß das Wort Wohnen auf die mhd. Wurzel wan zurückgeht, wie auch das Wort "Wahn". Die Gedanken Heideggers ließen sich auch hier fortsetzen: Wohnen beruht auf dem Leiblichen, Elementaren. Hier liegen die Ursprünge im indogermanischen wen, also der Venus, dem Lieben, beziehungsweise dem indogermanischen van, (sanskr. vanus), der Lust.

Im Sprachlichen offenbart sich auch der Zusammenhang zwischen der Kleidung und der traditionellen Interpretation der Architektur, als der "zweiten Leibeshülle des Menschen". Während die baulichen Zeugnisse der Vergangenheit, archaische Bauten, die aus Flechtwerken bestehen, Zelte, Hüte, Baldachine etc. Grenzgebiete berühren, die sich nicht mehr eindeutig der einen oder anderen Gattung zuordnen lassen, äußert sich diese Ursprungsverbindung auch sprachlich: Dach leitet sich von teg ab, das heißt bedecken, im Lateinischen Toga, welche auch ein Kleidungsstück war. Die Wand entwickelte sich aus dem Winden, Umwickeln. Architektur und Textiles Gestalten haben die gemeinsame Herkunft Tektein, was das Zueinanderfügen einzelner Elemente beinhaltet. Garten und Gürtel entspringen beide dem germanischen gerd. Auch Haus oder germanisch hus läßt sich im Sinne von Bedeckendes an (s)keus anschließen, was soviel bedeutet wie bedecken, umhüllen. Ähnlichkeiten finden sich bei den heutigen Wörtern Hütte, Hut, Hort, Haut, Hode, Hose, Scheune, Schuh. Teilweise lassen sich auch Mythen in den Wörtern wiederfinden. So leitet sich das Wort Pflaster von dem griechisch-lateinischen Ausdruck emplastron ab, welches im Zusammenhang mit dem Wundpflaster verwendet wurde. Es zeugt von dem Glauben und der Hoffnung, die durch den baulichen Eingriff verletzte Erde durch ein künstliches (Wund-) Pflaster wieder zu heilen.

Die Stube war ursprünglich das einzige beheizte Zimmer des Wohnhauses. Es leitet sich von der niederdeutschen Form Stoven, gleichbedeutend mit warm sein ab. Parallelen finde sich nach Pieper im Französischen etaver oder Italienischen stufare, welche sich auf blähen, heiß atmen, also auf die körperliche Leibeswärme beziehen. Cf. Wolfgang Pfeifer, Etymologisches Wörterbuch des Deutschen (Berlin 1989) und Jan Pieper, Das Labyrinthische (Braunschweig 1987), S. 65.

22Makovecz, "A tetök", in János Gerle (Hg.), Makovecz Imre mühelye (Budapest 1996), S.156f.

23Laszló Beke, "Versuch einer Zusammenfassung der Architektur von Imre Makovecz" (Budapest 1987), ersch. im Ausstellungskatalog Urform und Baugestalt (Fellbach 1987), S.26.

24Zoltán Magyar, "Der ungarische Architekt Imre Makovecz und seine Sakralbauten", Das Münster 1991/1, S.19.

25Siehe beispielsweise Heidegger, Vorträge und Aufsätze, S.140ff oder Sein und Zeit (Tübingen 1993), S.160ff.

26Imre Makovecz in Gerle (Hg.), Makovecz Imre mühelye, S.64.

27Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft (München 1990), S.330.

28Das Wort Window ("Fenster") leitet sich vom gotischen augadauro (Augentür) bzw. germ. Vindauga (Windauge) ab. Cf. Jan Pieper, Das Labyrinthische (Braunschweig 1987) S.65 bzw. Wolfgang Pfeifer, Etymologisches Wörterbuch des Deutschen (Berlin 1989).

29Herb Greene, Herb Greene (Kentucky 1981), S.12.

30Goethe, Naturwissenschaftliche Schriften, Band V (Dornach 1982), S.500

31Friedrich Nietzsche, Die Unschuld des Werdens (Nachlaß I),Stuttgart 1978, S.58.

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