Thema
3. Jg., Heft
2
Juni 1998

Burkhard Biella

Ein Denkweg an den anderen Anfang des Wohnens

Eine Interpretation von Heideggers Vortrag Bauen Wohnen Denken

1Die die Spätphilosophie Heideggers beinahe wie ein roter Faden durchziehende Thematik des Wohnens, am konzentriertesten in dem 1951 beim Darmstädter Gespräch gehaltenen Vortrag Bauen Wohnen Denken zum Ausdruck gebracht, läßt sich, so meine These, mit nachhaltigem Gewinn erschließen, wenn sie mit der in Sein und Zeit in großer Klarheit entfalteten Daseinsanalytik zusammengeführt wird. Dieser Ansatz liegt meiner Arbeit Eine Spur ins Wohnen legen. Entwurf einer Philosophie des Wohnens nach Heidegger und über Heidegger hinaus zugrunde. Im folgenden werde ich mich auf die Interpretation von Heideggers Vortrag beschränken und insbesondere die Bezüge zur Architektur und zum alltäglichen Wohnen deutlich zu machen versuchen. Zuvor seien die Voraussetzungen, die dieser Interpretation zugrunde liegen, in aller Kürze vorgestellt.

2(1) Nach Heidegger ist das Dasein, d.h. das Sein des Menschen, fundamental hermeneutisch (vgl. SuZ): „Die Hermeneutik hat die Aufgabe, das je eigene Dasein in seinem Seinscharakter diesem Dasein selbst zugänglich zu machen, mitzuteilen, der Selbstentfremdung, mit der das Dasein geschlagen ist, nachzugehen. In der Hermeneutik bildet sich für das Dasein eine Möglichkeit aus, für sich selbst verstehend zu werden und zu sein" (GA 63, 10).
(2) Ein solches Selbstverständnis ist stets eine durch Zeichen vermittelte Interpretation in der Sprache.
(3) Jeder Interpretation eignet aufgrund ihrer Teilhabe an einem überindividuellen Sprachsystem ein allgemeines Moment in Form einer Regelhaftigkeit, ohne das sie nicht verstanden würde, und ein individuelles, ohne das nur das Allgemeine erfaßt würde.
(4) Jedes Dasein ist als Hermeneutischsein sowohl Interpretierendsein als auch Interpretiertsein und damit dem Allgemeinen unverbrüchlich verbunden. Ethisch bedeutet das: Die Andersheit des Anderen gilt es in der Kommunikation - und somit praktisch - anzuerkennen.
(5) Dem Dasein als Subjekt des Wohnens liegt ein präreflexives, kein reflexives Selbstbewußtsein zugrunde. Der Einzelne ist sich unzweifelhaft seiner selbst bewußt, und dies ist nicht das Resultat einer Erkenntnis, sondern der Erfahrung eines präreflexiven Vertrautseins-mit-sich. Das Sein geht somit dem Bewußtsein als - wie Manfred Frank es nennt - „transreflexives"1 Sein voraus.
(6) Die Reflexion kommt im Verhältnis zum Sein immer schon zu spät, wie sie auch in bezug auf das Bewußtsein nur reagiert. Das schöpferische transreflexive Sein, das nach Schleiermacher ein individuelles Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit2 im Menschen bewirkt, kann nach Frank als Individualität gedacht werden, als Ermöglichungsgrund von Sinn. Individualität ist das, „was seinesgleichen nicht hat"3. Frank weist darauf hin, daß die „Nicht-Identität des Selbst" gerade „in seiner ekstatischen Entwurf-Struktur gründet"4, wie sie Heidegger in Sein und Zeit am Dasein ausweist (vgl. SuZ, 12).
(7) Folglich ist das Subjekt gezwungen, sein Sein allererst zu deuten und mit Sinn zu versehen5 durch einen Entwurf, der zugleich Interpretation ist.
(8) Um überhaupt nach dem Sinn des Seins fragen zu können, muß das Dasein über ein Vorverständnis seines Seins verfügen; es gründet in der Welthaftigkeit, denn reflektierend steht das Dasein je schon in vielfältigen Bezügen zur Welt, in der es alltäglich um seine Existenz sich sorgt (vgl. SuZ, 59ff und 83ff).
(9) Wenn die Individualität das sinnstiftende Konstitutivum der Daseinsauslegung darstellt, dann wird auch dem Wohnen individuell Sinn zugeschrieben von jedem, der wohnt. Hier zeichnet sich bereits ab, daß eine auf dieser Folie entfaltete Philosophie des Wohnens keinen Begriff des Wohnens im traditionell metaphysischen Verständnis geben kann, aus dem dann das vereinzelte Wohnen ableitbar wäre als ein vergleichbares und bewertbares Besonderes oder woraus sich gar ein material richtiges oder falsches Wohnen ausweisen ließe. Vielmehr soll die individuelle Allgemeinheit des Wohnens strukturell verstehbar gemacht und zugleich seine mögliche Selbst- und Fremdbestimmung aufgezeigt werden. Für diese beiden Alternativen verwende ich die Begriffe „existential" und „faktisch". Faktisch meint dann zugleich die Seinsweise der uneigentlichen, existential die der eigentlichen Existenz.
Der Begriff „existential" ist nicht zu verwechseln mit dem von Heidegger in Sein und Zeit gebrauchten Ausdruck „existenzial", der die ontologische Analyse benennt, die auf der Folie der Grundbestimmungen des Daseins, der Existenzialien, nach der Existenz sowohl in ihrer uneigentlichen Ausrichtung als auch in ihrer eigentlichen Ausrichtung, dem Ganzseinkönnen, fragt. Insofern verwende ich die Begriffe „existential" und „eigentlich" synonym, wodurch „existential" einen normativen Anspruch gewinnt.
(10) Das faktische, tatsächliche alltägliche Wohnen betrifft die Art und Weise, wie man wohnt; insofern stellt die alltägliche Fremdbestimmung (durch das Man, wie Heidegger die Sphäre der Alltäglichkeit und Durchschnittlichkeit nennt) das Normale dar, das, was der Fall ist; mit anderen Worten: zunächst und zumeist bestimmt niemand sein Wohnen selbst. Das existentiale Wohnen dagegen soll innerhalb der Struktur des Wohnens als formale Selbstbestimmung ausgewiesen werden; als solche muß es zumindest einen individuellen Maßstab zur Beurteilung der jeweiligen (faktischen) Selbstbestimmung enthalten.
(11) Nach Tugendhat betrifft die Existenz, strukturiert als Sichzusichverhalten - wesentlich das je eigene Leben6, das wir als Interpretation des individuellen Seins geltend machen können. Die Antwort auf die praktische Frage, wie man selber leben will, geben nach Tugendhat die menschlichen Tätigkeiten, die er als individuelle Seinsweisen bestimmt. Insofern gehe ich im folgenden von drei wesentlichen Merkmalen des individuellen Seins des Daseins aus: dem Hermeneutisch-, dem Ekstatisch- und dem Tätigsein.
(12) Die praktische Möglichkeit des Daseins muß, von der praktischen Frage her gedacht, die zu klären sucht, wie bzw. als wer man leben will, - abweichend von Heidegger - auch in einer Affirmation der notwendig der individuellen Existenz je schon vorgängigen Möglichkeiten uneigentlichen Seinkönnens in der Manwelt liegen können; denn die praktische Frage betrifft keineswegs eine bestimmte Wertigkeit des Seinkönnens, sondern nur dieses als solches. Wir müssen daher zwischen einer praktischen Möglichkeit im Modus der Eigentlichkeit und im Modus der Uneigentlichkeit unterscheiden.
(13) Die praktische Notwendigkeit, derzufolge ich zu sein habe, setzt dagegen keine Wahl voraus: Jeder wird durch seine Geburt in die Tatsache der Existenz gestellt und füllt sie durch seine Sozialisation aus.
(14) Die praktische Frage, die zur Möglichkeit führt, im Nachholen der Wahl sich für das eigentliche Seinkönnen zu entscheiden, stellt sich nach Heidegger überhaupt erst durch die Konfrontation mit dem je eigenen Tod. Der Tod ist die eigenste (Eigentlichkeit ermöglichende), unbezügliche (das Dasein auf es selbst vereinzelnde), unüberholbare (nicht weiter hintergehbare), (ihrer Tatsächlichkeit nach) gewisse und (zeitlich) unbestimmte Möglichkeit des Daseins (vgl. SuZ, 258f, 262ff). Das Vorlaufen in den Tod läßt dem Dasein die Unheimlichkeit der Geworfenheit (Faktizität) und die Angst um sein Seinkönnen bewußt werden (vgl. SuZ, 277); mit der Möglichkeit des eigenen Todes (vgl. auch die Todesanalytik in SuZ, §§ 46-53) geht ihm die Endlichkeit, die zeitliche Begrenztheit seiner Existenz, auf. Die Angst um das Seinkönnen, um das In-der-Welt-sein, hat somit kein bestimmtes Wovor oder Worum, sondern ist eher diffus auf die Existenz gerichtet; aber dadurch „versinkt das umweltlich Zuhandene, überhaupt das innerweltlich Seiende." (SuZ, 187) Alles Fixierte und Definierte verliert plötzlich seine Bedeutung, schockartig, in einem Moment des Stillstands aller besorgenden Bewegungen. So kann die Erfahrung der eigenen Endlichkeit (ich spreche im folgenden auch von existentialer Sterblichkeitserfahrung) zu einer Auflösung fixer, definierter Unterschiede, aber auch zur Aufhebung der sozialen Gleichgültigkeit führen. Der Tod wird existential übernommen, wenn das Vorlaufen in das eigene Sterbenkönnen zur Entschlossenheit führt, das Denken zu revidieren.

3Damit ist ein Leitwort des Vortrags angesprochen, in dem Heidegger nach den Zusammenhängen von Bauen, Wohnen und Denken fragt; denkend - und damit in der Sprache - soll der Zugang zum Bauen und Wohnen gesucht werden (vgl. BWD, 139). Da existentiales Wohnen, das, so meine Hypothese, sich nur aufgrund des in Abhängigkeit von der existentialen Sterblichkeitserfahrung getroffenen individuellen Entschlusses zum existentialen Seinkönnen verwirklichen läßt, kann eine entsprechende existentiale Architektur dem Einzelnen nicht vorgeben, wie er wohnen soll. Die Entscheidung für das eigentliche Seinkönnen vermag niemand ihm abzunehmen. Aber innerhalb der Manwelt kann doch immerhin in einer Weise geplant, entworfen und gebaut werden, daß ein existentiales Wohnen ermöglicht wird. Dazu müssen wir uns vergegenwärtigen, daß faktische Architektur Räume entwirft, denen sich in aller Regel der Benutzer zu unterwerfen hat, d.h. dieser richtet sich, sei’s in öffentlichen Gebäuden oder in Wohnbauten, nach dem vorliegenden Raumangebot.

4Unser Ausgangspunkt ist mithin das faktische, alltägliche Wohnen. Heidegger stellt zunächst eine der alltäglichen Vorstellungswelt verpflichtete Hypothese auf: „Zum Wohnen, so scheint es, gelangen wir erst durch das Bauen. Dieses, das Bauen hat jenes, das Wohnen zum Ziel." (BWD, 139) Sogleich stellt er klar, daß nicht alles, was gebaut wird, unmittelbar dem Wohnen dient, und führt hier die terminologische Unterscheidung zwischen Bauten und Wohnungen ein, offensichtlich ein Versuch, der faktischen räumlichen Trennung von Arbeiten und Wohnen begrifflich gerecht zu werden. Bauten stehen nur „im Bereich unseres Wohnens" (BWD, 139) derart, daß diejenigen, die in ihnen einer Tätigkeit nachgehen, dort „zu Hause" (BWD, 139) sind, aber eben nicht wohnen: „Bauten behausen den Menschen" (BWD, 139), etwa „Bahnhof und Autobahn, Staudamm und Markthalle" (BWD, 139).
Bauwerke, die nicht unmittelbar dem Wohnen dienen, werden Heidegger zufolge bewohnt, wovon er terminologisch ein Wohnen - ich nenne es faktisches - differenziert, das alltagssprachlich soviel bedeutet wie „eine Unterkunft haben": Man „bewohnt sie und wohnt gleichwohl nicht in ihnen, wenn Wohnen nur heißt, daß wir eine Unterkunft innehaben." (BWD, 139)
Er deutet damit an, daß das Wohnen mehr sein könnte, als nur über eine Unterkunft zu verfügen, mehr als eine Tätigkeit, die sich allein auf die Organisation einer technisch der Natur abgetrotzten Wohnstätte bezieht7. Dazu aber müßte das Dasein entsprechend der Struktur des Sichzusichverhaltens die praktische Frage, wie es leben will, auch auf das Wohnen beziehen, woraus ein eigentliches, existentiales Wohnen resultierte. Seine Bestimmung soll anhand von Heideggers Auslegung des (nichtalltäglichen) Wohnens entfaltet werden.

5Da wir das faktische Wohnen als Unterkunfthaben auffassen, ist zu fragen, ob dem existentialen Wohnen ein Komplementärbegriff zuzuordnen wäre. Im Vorgriff auf das von Heidegger behauptete Zusammengehören von Sein und Mensch könnte der Charakter solchen Wohnens darin bestehen, daß der Mensch selbst zur Unterkunft des Seins wird, so daß „ein Wohnen geschieht" (BWD, 140).
Heidegger geht aus von einer faktischen Zweckrationalität, der das Verhältnis von Bauen und Wohnen unterliegt, d.h. das Wohnen wird zum „Zweck, der allem Bauen vorsteht" (BWD, 140). Faktisch wird gebaut, um zu wohnen, um eine Unterkunft zu schaffen. Das faktische Wohnen ist nicht mehr als eine Tätigkeit unter anderen. Es kann wieder zum Mittel eines anderen Zweckes werden, indem es etwa weite Teile unserer Bedürfnisindustrie am Leben erhält (Möbelhäuser, Baumärkte usw.).

6Im Gegensatz zum faktischen, zweckrational bestimmten Verhältnis von Bauen und Wohnen postuliert Heidegger im Sinne des davon abzusetzenden existentialen Wohnens einen gleichursprünglichen Verweisungszusammenhang, der durch eine bloße Zweck-Mittel-Relation nicht gefaßt werden könne: „Bauen ist in sich selber bereits Wohnen." (BWD, 140) Um diesen Zusammenhang zu erläutern, nimmt seine Analyse eine dem alltäglichen Verständnis des Wohnens vielleicht eigentümlich erscheinende Wendung zur Sprache hin: „Der Zuspruch über das Wesen einer Sache kommt zu uns aus der Sprache, vorausgesetzt, daß wir deren eigenes Wesen achten." (BWD, 140) Dieses Wesen (An-wesen) - nicht im Sinne von essentia (Wassein), sondern verbal8 als ein zum Ausdruck gebrachtes Geschehen - liegt in ihrem Anspruch an uns. Wenn die Sprache zum Menschen spricht, dann muß das Dasein als Hermeneutisch- und Tätigsein in seinem Sprachlichsein auf die vorgängige Offenheit der Sprache hören. Einem solchen Hören kommen die von Heidegger wiederholt angewendeten etymologischen Interpretationen gleich. Auch den engen Zusammenhang zwischen Bauen und Wohnen, wonach Bauen bereits Wohnen sei, ermittelt er aus der Etymologie des Wortes „bauen"9.

7Unser Wort „bauen" leitet sich her vom Althochdeutschen buan, das bleiben, sich aufhalten, wohnen bedeutet. „Nun sagt uns freilich das alte Wort buan nicht nur, bauen sei eigentlich wohnen, sondern es gibt uns zugleich einen Wink, wie wir das von ihm genannte Wohnen denken müssen. Wir stellen uns gewöhnlich, wenn vom Wohnen die Rede ist, ein Verhalten vor, das der Mensch neben vielen anderen Verhaltensweisen auch vollzieht." (BWD, 141)
Wieder deutet Heidegger darauf hin, daß die gewöhnliche Auffassung vom Wohnen als einer menschlichen Tätigkeit unter anderen nicht dem Wohnen entspricht, das er zu denken versucht. Vielmehr sieht er sich aus der Sprache her veranlaßt, auf einen grundlegenden Zusammenhang von Wohnen und Sein zu schließen. „Die Art, wie du bist und ich bin, die Weise, nach der wir Menschen auf der Erde sind, ist (...) das Wohnen. Mensch sein heißt: als Sterblicher auf der Erde sein, heißt: wohnen." (BWD, 141) Diese allgemeine Bestimmung muß aber sowohl faktisches als auch existentiales Wohnen betreffen, denn in beiden Fällen sind wir als Sterbliche auf der Erde.

8Aus der Etymologie von bauen ermittelt sich der Zusammenhang von Bauen, Wohnen und Sein, den Heidegger als Sterblichsein auf den Begriff bringt. Doch in unserer Alltagssprache verwenden wir das Wort bauen nicht im Sinne von wohnen. Heidegger verweist zunächst auf eine auch heute noch in der Landwirtschaft gebräuchliche Bedeutung: den Acker (be)bauen, womit ein Pflegen dessen, was wächst, gemeint ist. Bauen im Sinne einer derart nicht nur subjekt-, sondern auch objektbezogenen behütenden Tätigkeit ist zu unterscheiden von einem Herstellen, wie es die Antike als poiesis kannte. Ein solches Herstellen differenziert Heidegger vom Errichten eines Werkes (vgl. BWD, 141, und den Kunstwerk-Aufsatz, Hw, 33). Der Werkcharakter zeichnet sich dadurch aus, daß ein Werk als Ding10selber errichtend ist, indem es im Gegensatz zum Gebrauchszweck des Hergestellten eine Welt - und damit sowohl (neue) Interpretationen und ihre Rezeption - eröffnet. Der Werkcharakter eines Wohngebäudes, das als Bau-Werk existentialem Wohnen Raum gibt, wird sich dann am künstlerisch-ästhetischen, aber auch am sozialen Anspruch ablesen lassen müssen.11

9Heidegger unterscheidet ein alltägliches faktisches Bauen als Herstellen von einem „Bauen im engeren Sinne" (BWD, 146) als Pflege des Wachsenden (colere) und von einem welteröffnenden Errichten von Werken (aedificare); diese beiden bilden die existentialen Weisen des Bauens, wobei dem Errichten seinerseits ein pflegender Umgang mit dem Errichteten folgen müßte.
In der Manwelt wird faktisch gebaut, ohne auf das, was Wohnen sein könnte, acht zu geben: die Unbewohnbarkeit von Hochhäusern, ja ganzen Stadtteilen ist eine Folge davon. Dennoch läßt sich das existentiale Bauen ohne faktisches kaum realisieren; es braucht Werkzeuge, Baumaterialien und insbesondere die Technik. Und doch könnte jenes aufgrund seines spezifischen Tätigseins als Pflegen und Errichten Einfluß auf den alltäglichen Baubetrieb gewinnen.
Wenn nun das Bauen, wie Heidegger behauptet, im eigentlichen, d.h. existentialen, Sinne selbst bereits Wohnen ist, dann muß das Wohnen dem Bauen wesentlich vorangehen: „Wir wohnen nicht, weil wir gebaut haben, sondern wir bauen und haben gebaut, insofern wir wohnen, d.h. als die Wohnenden sind." (BWD, 143)

10Das Wort wohnen geht zurück auf das altsächsische wuon und das altenglische bzw. gotische wunian, die beide - wie bauen - ursprünglich „bleiben", „sich aufhalten" bedeuteten (vgl. auch EidM, 55). Die Etymologie12 kennt daneben noch das altisländische una im Sinne von Behagen empfinden, zufrieden sein, bleiben; ähnliche Bedeutungen führt Heidegger für das altenglische wunian an: „zufrieden sein, zum Frieden gebracht, in ihm bleiben"; „Frieden" heißt der Etymologie zufolge - eng verwandt mit frei - Schonung, Freundschaft oder „bewahrt vor Schaden und Bedrohung, bewahrt vor, geschont" (BWD, 143), so daß sich ein enger Zusammenhang von Wohnen, Schonen und - auf den sozialen Kontext bezogen - Gastfreundschaft ergibt. „Das Schonen selbst besteht nicht nur darin, daß wir dem Geschonten nichts antun. Das eigentliche Schonen ist etwas Positives und geschieht dann, wenn wir etwas zum voraus in seinem Wesen belassen, wenn wir etwas eigens in sein Wesen zurückbergen, es entsprechend dem Wort freien: einfrieden." (BWD, 143) Dem entspricht das existentiale Bauen als individuelle, vom Dasein ausgehende pflegend-behütende Tätigkeit. Von ihr kann immer dann die Rede sein, wenn der Einzelne, obwohl bauend seine Welt und damit auch seine Mitwelt verändernd, versucht, jemanden bzw. etwas in seinem Sein zu lassen, d.h. im Planen, Entwerfen und Bauen ihn oder es sein zu lassen als das, was er oder es selbst ist. Das Seinlassen kann nie absolut gelingen; Interpretationen wie Tätigkeiten generieren Neues und damit Veränderungen, die auf den Urheber selbst wieder zurückwirken. Das Seinlassen ist ein existentiales ethos, das um die Dialektik jener Veränderungsprozesse weiß und sie kritisch begleitet. Das Dasein als Interpretierendes stellt zwar die Beziehung zum Anderen her, aber nicht mehr als ausschließendes sub-iectum, als das allem Zugrundeliegende, sondern im existentialen Bewußtsein, daß ohne das Sein des Anderen, ohne sein Erscheinen, der Bezug gar nicht zustande käme. Im seinlassenden Wohnen kommen die Individualität des Bauenden und die Individualität dessen, für den gebaut wird, in einer individuellen Interpretation zusammen und werden solcherart im Allgemeinen aufgehoben. Seinlassen ist behutsames bauendes Verändern mit dem Anderen, nicht gegen ihn oder es. Seinlassen bedeutet folglich sowohl ein Seinlassen, d.h. ein Durch-Sprache-ins-Sein-lassen, als auch ein Seinlassen, ein In-Ruhe-(sein-)lassen als Lassen und Unterlassen.

11Das Dasein steht immer schon in Beziehung zu seiner Welt. Mit dem Geviert versucht Heidegger, deren grundlegende Strukturierung vom Sein (An-wesen) her zu denken. Den Aufenthalt der Sterblichen in der Welt als In-der-Welt-sein deutet er als ein Eingeordnetsein in ein Geviert aus Erde, Himmel (Sonne, Mond, Gestirne und, durch sie bedingt, Licht, Dunkel und Klima), Göttlichen und Sterblichen (die Menschen als fortwährend Sterbende, solange sie auf der Erde sind). Dieses Eingeordnetsein ist das Wohnen: „Die Sterblichen sind im Geviert, indem sie wohnen." (BWD, 143f)
Um zu verdeutlichen, daß keine Geviert-Gegend ohne die anderen gedacht werden kann, spricht Heidegger auch vom Spiegel-Spiel des Gevierts (etwa VuA, 172). Zum einen veranschaulicht die Spiegel-Metaphorik die Gleichursprünglichkeit: in einem Element spiegeln sich jeweils die übrigen drei; zum anderen ist sie ein Indiz für die Interpretationsabhängigkeit des Gespiegelten, denn kein Spiegel funktioniert ohne den Sehenden. Zudem können wir ja nie das Sein selbst als solches erfassen, sondern nur aufgrund unserer Vertrautheit mit dem eigenen Sein seinen Sinn interpretieren.
Das Geviert umgrenzt einen Zeit-Raum der „lebensweltlichen Bedingungen des menschlichen Daseins"13. Es nennt die aufeinander verweisenden Seinsbereiche, die dem Menschen begegnen, aber nicht gegenüberstehen, denn das Dasein selbst steht in sie hinein. Insofern können wir das Geviert als eine gleichursprüngliche, Welt strukturierende Einheit auffassen, in der sich der Mensch als Sterblicher situiert findet, d.h. die Struktur des Gevierts gilt sowohl für das faktische als auch für das existentiale Seinkönnen, wodurch sich in Ergänzung zu Heideggers Konzeption weitere Differenzierungen ergeben. Als existential fasse ich die von Heidegger in seinem Vortrag Bauen Wohnen Denken aus den Geviert-Gegenden abgeleiteten Modi des Wohnens auf. Die faktischen Weisen des Wohnens müssen dagegen auf der Folie von Heideggers Interpretation rekonstruiert werden, wobei zu berücksichtigen ist, daß das alltägliche Wohnen als eine Tätigkeit unter anderen verstanden wird, während das existentiale als Grundzug des Seins selber behauptet wurde.

12Wenn aber das Geviert als Grundstruktur der Welt interpretiert wird, müssen auch die aus dem existentialen Wohnen (als Grundzug des Seins) abgeleiteten faktischen Tätigkeiten zunächst als formale Modi des faktischen Tätigseins aufgefaßt werden, d.h. sie sind nicht ausschließlich, sondern auch auf das faktische Wohnen zu beziehen, so daß daraus erst in Abhängigkeit von der jeweiligen geschichtlich-kulturellen Situation material die faktischen Weisen des Wohnens zu erschließen sind. Dem existentialen Wohnen korrespondiert folglich in der Geviert-Struktur nicht das faktische Wohnen, sondern das faktische Tätigsein. Ich werde jedoch den jeweiligen Modus des faktischen Tätigseins stets auf das faktische Wohnen beziehen, um dessen mögliche Revision es hier ja insbesondere zu tun ist; überdies intendiert die philosophische Entfaltung einer Struktur des Wohnens zugleich eine Kritik faktischer Architektur.

13Mit der Geviert-Gegend, die Heidegger „die Göttlichen" nennt, bündelt er die den Menschen seit je andrängenden Fragen nach dem Übermenschlichen, die Erfahrungen des Numinosen, die, angefangen von polytheistischen Naturmythen bis hin zu den monotheistischen Weltreligionen, zu ideologischen Welterklärungssystemen unterschiedlicher Komplexität und Machtfülle führten.
In der Rede von den Göttlichen soll eine menschliche Erfahrung zum Ausdruck kommen, deren „Gegenstand" fernbleibt (vgl. EzHD, 27), d.h. es geht hier zunächst, vom Dasein her gesehen, um eine reine Abhängigkeit als solche sowie, vom Sein her gesehen, um eine reine Unverfügbarkeit, unabhängig jeweils von konkreten Bestimmungen. Von daher ist es m.E. sinnvoll, eine anthropomorphe Hypostasierung, wie sie die Ausdrücke „Gott", den Heidegger in anderen Kontexten auch verwendet, oder „die Göttlichen" vornehmen, zu vermeiden und statt dessen vom Unverfügbaren zu sprechen. Die Anthropomorphisierung mögen sich theologische Diskursen vorbehalten.

14Bleiben der Gott oder die Göttlichen auch verborgen, in Erscheinung, so Heidegger, trete indes das Heilige;14 es sei zumindest dem Dichter, der es nenne, zugänglich (vgl. Wm, 107). Das Unverfügbare erscheint als ein Verfügbar-Unverfügbares, das als Verfügbares wesentlich am Unverfügbaren partizipiert.
Gegen Heideggers Behauptung, dem Heiligen komme am ehesten noch der Dichter auf die Spur, ist der Einwand berechtigt, seine Philosophie ende als Onto-Theologie in einem „Idealismus der Ausgezeichneten"15. Wir können dem jedoch durch den Bezug der Seinsphilosophie auf die Struktur des Sichzusichverhaltens entgehen: Existential kann jeder zum „Dichter" werden, der seine Existenz selbstbestimmt verwirklicht, sie verdichtet auf das eigentliche Seinkönnen hin.

15In seiner Interpretation des Hölderlin-Gedichtes „Wie wenn am Feiertage ..." bezeichnet Heidegger das Wesen der Natur im Sinne der vorsokratischen physis als Heiliges (vgl. EzHD, 58ff). Natur wird hier gedacht als das Unmittelbare, als „das Aufgehen in das Offene, das Lichten jener Lichtung, in die herein überhaupt etwas erscheinen (...) kann" (EzHD, 56). Ein derart unmittelbar Offenes, das In-Erscheinung-bringen von Seiendem, ist als Seinlassen des Seins die physische Bedingung der Möglichkeit der hermeneutischen Existenz und folglich auch begriffssprachlicher Abstraktionen. Das Dasein existiert zugleich als hermeneutisches, individuelles Sein und physisches Naturwesen. Das Heilige können wir folglich als Natur interpretieren; alle Geviert-Gegenden haben an ihr teil. Sie ist das Verfügbar-Unverfügbare, das der Mensch in Gebrauch nehmen und bearbeiten kann, auf das er aber angewiesen und von dem er abhängig bleibt.

16Die Physiker Ilya Prigogine und Isabelle Stengers bringen im Begriff der autonomen Transformation das Aus-sich-hervorgehen der Natur terminologisch auf den Punkt. Sie verweisen darauf, „daß man das Wachstum der Lebewesen, diesen Prozeß einer autonomen Transformation, den die Griechen Physis nannten, nicht vorantreiben kann."16 Metaphorisch gesprochen: Die Natur läßt sich Zeit, sie gibt mit dem Prozeß aus Werden und Vergehen ein Maß der Zeit, und sie gibt und nimmt Zeit als individuelle Lebenszeit.
Die Natur, die der Mensch selbst ist, können wir als Leib bezeichnen. Er ist der Ort, den das Subjekt stets mitnimmt, es hat - ohne wählen zu können - dieser Leib zu sein.17 Das eingangs für das Selbstbewußtsein als konstitutiv ausgewiesene präreflexive Vertrautsein-mit-sich gilt in besonderer Weise für das Vertrautsein mit dem eigenen Leib, das gerade auf keinem Denken beruht.
„Die Sterblichen wohnen, insofern sie die Göttlichen als die Göttlichen erwarten. Hoffend halten sie ihnen das Unverhoffte entgegen. Sie warten der Winke ihrer Ankunft und verkennen nicht die Zeichen ihres Fehls." (BWD, 145) Die tautologische Bestimmung „die Göttlichen als die Göttlichen" betont wiederum die Unbestimmtheit des Bezeichneten. Darüber hinaus weist Heidegger hier auf eine spezifische Haltung hin, die als Modus des existentialen Wohnens ausgewiesen werden soll: das Erwarten. Die Sterblichen wohnen, indem sie die Göttlichen erwarten. Theologisch ist die Rede vom Erwarten der Göttlichen durchaus sinnvoll; wir müssen sie jedoch nach unserer begrifflichen Modifikation jetzt auf das Unverfügbare beziehen. Läßt sie sich auch dann noch verstehen?

17In der Erörterung über die Gelassenheit hat Heidegger das Erwarten als eine Haltung bestimmt, der bereits ein Vorstellen und ein Vorgestelltes zugrunde liegt (vgl. G, 42); demnach wäre es unverständlich, wie etwas derart Offenes und Unbestimmtes bzw. Unbestimmbares wie das dem Menschen Unverfügbare erwartet werden könnte. An der gleichen Stelle aber weist Heidegger das Warten als die dem Offenen gemäße Einstellung aus: „Das Warten hat eigentlich keinen Gegenstand. (...) Im Warten lassen wir das, worauf wir warten, offen." (G, 42) Sobald das Warten intentional auf einen Gegenstand sich richtet, hat es Heidegger zufolge aufgehört, ein Warten zu sein, wird es zum Erwarten. Wir können das Warten als ein Aufgeschlossensein, ein Offensein gegenüber dem Neuen und Anderen kennzeichnen, das aus dem Unverfügbaren, ohne sich erzwingen zu lassen, uns begegnet. Ich ersetze daher den bei Heidegger aus der Geviert-Gegend des Unverfügbaren (Göttlichen) resultierenden Modus des existentialen Wohnens, das Erwarten, durch das Warten.

18Damit läßt sich dann auch das Unverhoffte, das, wie Heidegger sagt, die Sterblichen den Göttlichen hoffend entgegenhalten, zusammendenken. Entgegenhalten meint in diesem Zusammenhang kein Gegenüberstellen im Sinne eines Gegenstandsbezugs, auch keine Forderungshaltung, die irgendwelche Ansprüche einklagte, sondern impliziert ein Offensein des Daseins, das „in das Offene selbst sich einläßt" (G, 42). Das Unverhoffte wird zeichenhaft zugänglich, denn die Menschen warten, wie Heidegger formuliert, der Winke der Götter, der Winke ihrer Ankunft (vgl. auch GA 39, 32); gemäß unserer Uminterpretation werden daraus die Zeichen des Unverfügbaren, d.h. das Unverfügbare wird erfahren etwa in Naturphänomenen, die die Menschen als etwas deuten, „das sich ihrer Endlichkeit und Vergänglichkeit entgegenstellt und diese überdauert."18 Die Konstitution mythischer Orte beruht auf dieser Voraussetzung.19

19Gleichwohl ist das Warten kein passiv-lethargischer Fatalismus, sondern ein sein lassendes „aktives, denkendes Warten"20, das „einer Sache ihre Zeit"21 läßt. Als solches ist es ein Wartenkönnen. Die Sterblichen, heißt es, seien hoffend offen für das Unverhoffte. Dieses Unverhoffte kann - als Zeichen des Unverfügbaren - als die Existenz selber interpretiert werden. Die Sterblichen geben existential die Hoffnung auf ein gelingendes eigentliches Seinkönnen nicht auf. Das Unverhoffte kann nur etwas sein, das völlig überraschend eintritt oder eingetreten ist. Der eigene Tod kommt hier nicht in Frage, denn er ist, unbestimmt im Zeitpunkt nur, als Bevorstand gewiß; es bleibt nur die Existenz als solche, in die das Dasein sich unverhofft geworfen findet, die als hermeneutische offen auch dem Unverfügbaren gegenübersteht.

20So wie der existentiale Modus des Wohnens sich ableitet aus der individuellen Übernahme des eigenen Sterbenkönnens, so entspricht das faktische Tätigsein, zu dem auch das faktische Wohnen gehört, der Art und Weise, wie man lebt; es ist zu rekonstruieren als eine wesentliche Tätigkeit, die sich ermittelt aus dem Bezug der Welt-Gegenden des Gevierts zur Manwelt. Wurde als existentialer Modus aus der Beziehung des Daseins zum Unverfügbaren das Warten(können) ermittelt, so läßt sich das faktische Tätigsein als ein Machen ausweisen, das das Unverfügbare nicht hinzunehmen gewillt ist, sondern auf die subjektive Eigenmacht baut.
Der Bezug des gemäß unserer Interpretation existentialen, schonenden Wohnens zur Erde liegt für Heidegger wesentlich in einem Retten. Fragen wir jedoch zunächst nach der Bestimmung dieser Geviert-Gegend . Allgemein können wir aufgrund unserer Erörterung des Göttlichen bzw. des Heiligen feststellen, daß auch sie am Verfügbar-Unverfügbaren der Natur teilhat. Darüber hinaus steht sie - im Zusammenhang mit dem Himmel - in einem Bezug zu Raum und Zeit. Beide Geviert-Gegenden unterscheiden sich in ihrem Verhältnis zum Tätigsein des Daseins. Danach stellt die Erde den Bereich dar, in dem die Verfügbarkeit (des Naturseienden) dominiert, während der Himmel als Metapher des weitgehend Unverfügbaren gelten kann.

21Voller Pathos nennt Heidegger die Erde „die dienend Tragende, die blühend Fruchtende, hingebreitet in Gestein und Gewässer, aufgehend zu Gewächs und Getier." (BWD, 143) Sachlich betrachtet, heißt das: Sie umfaßt zum einen den Bereich der (chaotischen) Naturordnung, der autonomen Transformationen; zum anderen aber gibt sie auch den Raum für das Seinkönnen des Menschen, in dem sich seine Geschichte entfaltet, so daß wir die Erde als Natur- und Geschichtsraum interpretieren können.
Inwiefern aber wird sie im existentialen Wohnen gerettet? Retten - alltagssprachlich als Abwendung einer Gefahr zu verstehen - wird zunächst wiederum etymologisch gedeutet als „etwas in sein eigenes Wesen freilassen" (BWD, 144), als befreien.22 Diese Bedeutung macht darauf aufmerksam, daß das, was freigelassen wird, vorher unfrei war. Das Retten gewinnt eine dezidiert hermeneutische Konnotation, wenn wir die wesentliche Form der Unfreiheit in der begriffssprachlichen Vereinnahmung des Besonderen und Individuellen sehen.

22Das Freilassen von etwas in sein eigenes Wesen aber ist zugleich ein sein lassendes Retten, das sich gegen die faktischen Gefahren wendet, die aus der Ausbeutung der Erde, dem Gebrauchtwerden und dem Machen, resultieren; es bemüht sich um den schonenden Umgang, „meistert die Erde nicht und macht sich die Erde nicht untertan, von wo nur ein Schritt ist zur schrankenlosen Ausbeutung." (BWD, 144) Es bedeutet eine Absage an den selbstmächtigen Herrschaftsanspruch des Menschen gegenüber Erde und Natur.

23Den Modus des faktischen Tätigseins können wir - wie es sich bereits andeutete - als Ausbeuten bezeichnen, worin das Meistern der Erde, ihre Instrumentalisierung, auf den Begriff gebracht wird; in ihm kommen die neuzeitliche Subjekt-Objekt-Spaltung in theoretischer Hinsicht und die Technisierung menschlicher Zivilisation in praktischer Hinsicht zusammen. Die Erde wird Mittel zum Zweck. Im faktischen Wohnen läßt sich die Ausbeutung der Erde an Phänomenen wie der Zersiedelung von Landschaften, dem uneingeschränkten Einsatz von Rohstoffen und Materialien einschließlich ihrer energieverbrauchenden Gewinnung oder Herstellung, dem Eigentum an Grund und Boden oder der Bodenspekulation ablesen.

24Ein weiterer Aspekt des existentialen, schonenden Wohnens liegt, wie Heidegger wieder nicht ohne Pathos sagt, im Empfangen des Himmels. Während der Mensch auf der Erde weitgehend aktiv und verändernd tätig sein kann, bleibt er gegenüber dem stellaren Bereich in ein deutlich passives Verhältnis gedrängt. Er ist gezwungen hinzunehmen, daß die physikalischen Gesetze des Alls das Leben auf der Erde bestimmen, zumal hinsichtlich der Zeit. Andererseits nimmt - wie die Erde - auch der Himmel, „der wölbende Sonnengang" (BWD, 144), Einfluß auf unsere Raumvorstellung. Angesichts unseres Eingebundenseins in ungeheure kosmische Dimensionen - das hier Gemessene übersteigt alle Vorstellungskraft23 - mag Heideggers Rede von einem Empfangen des Himmels gerechtfertigt sein.

25Ursprünglich ist der Empfangende im Althochdeutschen als Beschützer bzw. Helfer verstanden worden: Wer jemanden bei sich aufnimmt, empfängt ihn,24 nimmt ihn an. Ausgehend von dieser Bedeutung, kennzeichne ich den von der Geviert-Gegend des Himmels abgeleiteten Modus des existentialen Wohnens nicht als Empfangen, sondern als Annehmen, das stärker das aktive Moment in der Bereitschaft des Daseins betont, aufgrund seiner Entschlossenheit zum eigentlichen Seinkönnen im Sinne des Seinlassens schonend handeln zu wollen.
Im Gegensatz dazu ist der Modus des faktischen Tätigseins ein durch und durch tätiges Aufnehmen, nicht im Sinne des Seinlassens, sondern als ein Einrichten, das den stellaren Bereich auf sich zurichtet und - wie in der Raumfahrt- oder Satellitentechnik - für sich nutzbar macht. Das Empfangene wird instrumentalisiert, berechnet, verplant und schließlich verrechnet ganz im Sinne des Ge-stells, wie Heidegger den Betrieb moderner Technik nennt.

26Das Einrichten meint sowohl das Einrichten des stellaren Bereichs auf das Dasein hin als auch das Sicheinrichten in diesem Bereich, der es eher zu einem mehr passiven Verhalten zwingt. Im Sicheinrichten liegt die Bedeutung, die in der Manwelt die Funktion des faktischen Wohnens schlechthin bezeichnet, nämlich Schutz zu suchen vor ungünstigen klimatischen Einflüssen, aber zugleich nutzbringender Klima-Eigenschaften sich zu versichern.
Bei der Erörterung des Zusammenhangs zwischen der Geviert-Gegend der Sterblichen und dem Wohnen bleibt Heidegger merkwürdig dunkel: „Die Sterblichen wohnen, insofern sie ihr eigenes Wesen, daß sie nämlich den Tod als Tod vermögen, in den Brauch dieses Vermögens geleiten, damit ein guter Tod sei. Die Sterblichen in das Wesen des Todes geleiten, bedeutet keineswegs, den Tod als das leere Nichts zum Ziel zu setzen; es meint auch nicht, das Wohnen durch ein blindes Starren auf das Ende verdüstern." (BWD, 145) Was heißt es, daß die Sterblichen ihr eigenes Wesen in das Wesen des Todes geleiten? Existential wird der Tod als konstitutiv für das eigentliche Seinkönnen erschlossen. Er betrifft faktisch nicht mehr ausschließlich das Lebensende, sondern die gesamte Existenz, worin er auch im ethischen Sinne zu einem Gut wird, das insofern zu schützen ist, als daß ein menschenwürdiger Tod sein soll, der allein dem Geschehen von Sein und Nichts unterliegt, nicht aber in der Macht des Menschen steht,25 denn nicht zuletzt aus dieser Anmaßung resultiert der ungeheure faktische Skandal der Inflationierung des Todes.

27Daß der Mensch den Tod erfahren und zu ihm sich verhalten kann (vgl. UzS, 215), kommt in der Formulierung „den Tod als Tod vermögen" zum Ausdruck. Die Interpretation hat hier auf die Bedeutungsnuancen des Wortes können zu achten. Das existentiale Sterbenkönnen („den Tod vermögen") ist ein aktives Können: Es betont den Aspekt von Kenntnissen und Fertigkeiten, die notwendig sind, um etwas zu tun. Dieses Können beruht auf einem Lernen. Wird der Tod als Tod vermocht, ist das Können in Bezug zum sein lassenden Denken getreten. Dagegen entspricht das faktische Sterbenkönnen dem von Tugendhat in die Diskussion gebrachten veritativen Können,26 das die Möglichkeit eines Wahrseinkönnens betrifft („Die Decke des Hörsaals kann einbrechen").
Ist der Tod als Rätsel des Seins auch nicht (be)greifbar, so konstituiert er gleichwohl das eigentliche Seinkönnen, so daß Heidegger sagen kann: „Die vernünftigen Lebewesen müssen erst zu Sterblichen werden." (VuA, 171) Der Hinweis auf die Vernunft macht aufmerksam auf die zur existentialen Erschließung des Sterblichseins notwendige Reflexion (Interpretation) des sein lassenden Denkens.

28Für das existentiale Wohnen gibt es letztlich kein anderes Maß als den übernommenen Tod. Es bestimmt die Art und Weise, wie mit dem Tod umgegangen wird: Es muß ein „guter" Tod sein, weder fremdproduziert noch aus dem Alltag verdrängt. Der existential übernommene Tod wird zum Maßstab des „guten Todes", dem nur der Einzelne als Einzelner überantwortet ist. Jeder Eingriff eines Anderen verstößt gegen die andere Individualität (als Ausnahme diskutierbar wäre eine Sterbehilfe auf ausdrückliches Verlangen des Sterbenden). Nicht der Tod als solcher ist der Skandal,27 sondern der unmenschliche Tod, der dem Menschen durch den Menschen zugefügt wird, aber auch der, den Tiere zu erleiden haben.28 Vom unmenschlichen Sterben muß die Rede sein, wenn der Tod gerade nicht „vermocht" wird, wenn kein „guter Tod" (BWD, 145) ist. Der Umgang mit dem Ende des Menschen wird zum Indikator für das Seinlassen.

29Das existential wohnende Dasein übernimmt den Tod, sein eigenes Sterbenkönnen, in die Existenz, in den Brauch, den Tod zu vermögen. Brauch meint eine andere Vermittlung von alltäglichem Sterben und Tod als die traditionelle Tabuisierung; der Ausdruck richtet sich im Namen einer aktiven, bewußten und zumal auch sozialen Aufnahme des Todes in die menschliche Existenz gegen seine faktische Verdrängung im Man.

30Bevor die Geviert-Struktur vervollständigt werden kann, gilt es noch die Weisen des existentialen Wohnens und des faktischen Tätigseins aus der Geviert-Gegend der Sterblichen abzuleiten. Ich differenziere, da Heidegger selbst hier nur vage Andeutungen macht, anhand unserer Interpretation den Modus des existentialen Wohnens als ein Sichöffnen für das Sterblichsein, für sein eigenes Seinkönnen und - intersubjektiv - für die Sterblichen von einem faktischen Sichdistanzieren von der Endlichkeit der Welt. Ein probates Mittel für diese Distanzierung scheint die Produktion des Überflusses zu sein, die den Alltag in allen Lebensbereichen überschwemmt. Der Konsum (auch von Medien) bleibt - trotz der offensichtlichen informationstechnischen Vernetzung der Welt - solipsistisch: Jeder konsumiert für sich aus der Flut der Angebote. Es entsteht ein beständiger Abstand zu den Anderen, ausgefüllt mit gemeinsamem Verbrauch, in dem doch der Einzelne allein für sich das Beste zu sichern sucht.
Das Sichdistanzieren bestimmt auch das faktische Wohnen, indem die Privatsphäre geradezu zum Inbegriff des Wohnens wird; zwar muß eine Rückzugsmöglichkeit des Einzelnen aufgrund seiner Individualität notwendigerweise gegeben sein, aber eine existenzielle Überbetonung des Privaten sollte bedenken, daß privat von privare (berauben) kommt. Das Private stellt demnach stets auch eine Beschneidung eigener Möglichkeiten dar - in diesem Fall der kommunikativen Offenheit des Wohnens. Existential hingegen korreliert diese Offenheit mit der Privatsphäre und verhindert eine Verabsolutierung des Privaten.

31Aus dem Geviert, zu dem die Sterblichen gehören, haben wir die unterschiedlichen Weisen existentialen Wohnens und faktischen Tätigseins abgeleitet. Ist aber das Dasein als sterbliches in der Geviert-Struktur nicht selber nur ein Teilaspekt unter anderen? Vom Sein (An-wesen) her gesehen, trifft dies durchaus zu. Wenn wir das Zusammengehören von Sein und Mensch aber von beiden Seiten her denken, dann ist das Dasein im Kreuzungspunkt des Gevierts zu positionieren; darin streicht das Dasein zugleich das Ich als das machtvolle Repräsentationsgeschehen durch, das das Andere nur braucht, um sich selbst zu bestätigen. In-der-Welt-sein heißt somit, als endliches Dasein unter Sterblichen, d.h. bezogen auf das eigene Sein und auf das Mitsein Anderer, auf der Erde und unter dem Himmel in Raum und Zeit sowie in einem offenen Bezug zum Unverfügbaren zu sein, von dem das Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit (Schleiermacher) zeugt. Jedes Dasein tritt, in der Welt-Struktur des Gevierts wohnend und als Sterblicher diese Welt mitkonstituierend, in den Kreuzungspunkt des Gevierts. Aber erst das existentiale Wohnen erschließt letzthin die Sterblichen als existenziale Solidargemeinschaft im Sein zum Tode. Heidegger drückt die von ihm entwickelte Struktur des (existentialen) Wohnens so aus: „Im Retten der Erde, im Empfangen des Himmels, im Erwarten der Göttlichen, im Geleiten der Sterblichen ereignet sich das Wohnen als das vierfältige Schonen des Gevierts." (BWD, 145)29

32Gemäß der gegenseitigen Verschränktheit der Geviert-Gegenden, der „Einfalt der Vier" (BWD, 143; VuA, 171), wie es bei Heidegger heißt, ergeben auch die unterschiedlichen Modi des existentialen Wohnens und des faktischen Tätigseins gleichermaßen eine Struktur formaler Verweisungsbezüge, wie auch Erde, Himmel, Sterbliche und Unverfügbares stets zusammenzudenken sind. Es korrelieren dann

  • Retten, Annehmen, Warten(können) und Sichöffnen als Modi des existentialen Wohnens sowie
  • Ausbeuten, Sicheinrichten, Machen und Sichdistanzieren als grundlegende faktische Tätigkeiten, die auch das Wohnen betreffen, das hier eine Tätigkeit unter anderen ist.

Nachdem wir die Struktur des Wohnens in ihren Verweisungsbezügen zwischen Dasein und Welt (Geviert) analysiert haben, soll im folgenden der Objektbereich des Wohnens mit seinen Gegenständen und Bauwerken, Orten und Räumen auf das existentiale sowie auf das faktische Wohnen bezogen werden.

33Wurde das existentiale Wohnen bisher strukturell entfaltet als ein Schonen des Gevierts, der vier Welt-Gegenden, so steht im Mittelpunkt des zweiten Teils des Vortrags Bauen Wohnen Denken die Frage: „Wie vollbringen die Sterblichen das Wohnen als dieses Schonen?" (BWD, 145) Heidegger gibt zunächst folgende Bestimmung: „Das Wohnen ist (...) immer schon ein Aufenthalt bei den Dingen. Das Wohnen als Schonen wahrt das Geviert in dem, wobei die Sterblichen sich aufhalten: bei den Dingen. (...) der Aufenthalt bei den Dingen ist die einzige Weise, wie sich der vierfältige Aufenthalt im Geviert jeweils einheitlich vollbringt." (BWD, 145) Dinge im existentialen Verständnis konstituieren - anders als Produkte, deren Sinn allein das Ge- und Verbrauchtwerden ist und denen ein Werkcharakter nur vermittels der Kunst zukommen kann - Sinn mit, indem sie das Dasein zu (durchaus auch neuen) welterschließenden Interpretationen herausfordern. „Allein die Dinge selbst bergen das Geviert nur dann, wenn sie selber als Dinge in ihrem Wesen gelassen werden." (BWD, 145f) Das geschieht in den existentialen Weisen des Bauens: im Pflegen der Dinge und des Errichteten und im Errichten von Werken bzw. Bau-Werken; diese geben als gebaute Dinge dem existentialem Wohnen Raum.

34Wenn Dinge zu Dingen werden dadurch, daß sie das Geviert widerspiegeln, dann ist ihnen notwendigerweise auch der Charakter des Seinlassens zuzusprechen, und zwar in bezug auf die Geviert-Gegenden, die sie versammeln. Mit anderen Worten: Zum Ding kann nur werden, was seinerseits die Geviert-Gegenden und mit ihnen auch die Sterblichen schont, d.h. vor Schaden bewahrt. Nicht alles, was Naturseiendes ist, erlangt somit als solches einen Ding-Status; dieser hängt vielmehr aufgrund der wechselseitigen Verweisungsbezüge innerhalb des Gevierts ab vom interpretierenden Dasein und seinen Konventionen. Naturseiendes muß folglich nicht um jeden Preis sein gelassen werden, so wenn es zur Bedrohung für das Seinkönnen des Daseins wird. Die Frage aber, was als Gefahr begegne und wie ihr beizukommen sei, ist nur im faktischen sozialen Diskurs zu entscheiden, in den auch das existentiale Dasein eingebunden bleibt.

35Die materialen Voraussetzungen, die das Dasein vor einer möglichen Revision des faktischen durch das existentiale Wohnen zu bedenken hat - und mit diesem Denken beginnt bereits das Wohnen -, sind durchaus identisch mit denen, auf die auch der faktische Entwurf eines Architekten Bezug nimmt; sie lassen sich formal zusammenfassen in Standort-, Material- und Klimabezug, Planungsqualität, Nutzersicherheit sowie Nutzungsvariabilität. Unter Berücksichtigung dieser architektonischen Entwurfskriterien vermögen die Modi des existentialen Wohnens zur Errichtung eines Bau-Werks beizutragen, so daß das Geviert versammelt und dem existentialen Wohnen Raum gegeben werden kann:

  • das Retten der Erde ermöglicht einen schonenden Umgang mit Standort und Material (Standort- und Materialbezug);
  • das Annehmen des Himmels geht schonend auf die klimatischen Bedingungen ein (Klimabezug);
  • das Warten(können) als Offensein für das Unverfügbare ermöglicht allererst eine ausreichende Qualität, die dem Entwurf und der Ausführung Zeit läßt (Planungsqualität);
  • das Sichöffnen für die Solidargemeinschaft der Sterblichen fordert nicht die Gefahr für den Anderen heraus oder nimmt gar dessen Tod in Kauf; es öffnet das Bau-Werk individuellen Entwurfsmöglichkeiten hinsichtlich des eigentlichen Seinkönnens (Nutzersicherheit und Nutzungsvariabilität), das immer auch ein soziales Seinkönnen ist, und setzt auf die Partizipation der Nutzer.

Das existentiale Wohnen praktiziert sein lassend das Schonen des Gevierts; die Revision des faktischen Wohnens in der approximativen Errichtung existentialer Orte (Bau-Werke) innerhalb der Welt des Man gehört zur Ausführung seines Seinkönnens (Entwurf, Interpretation) im existentialen Bauen, das sein lassend seinerseits zum „Wohnenlassen" (BWD, 153f) wird, worin es planend in seiner Ausrichtung am Geviert je „schon dem Zuspruch des Gevierts entsprochen" (BWD, 154) hat.

36Die Planung - und damit schließt sich wieder der Kreis - beruht wesentlich auf dem Denken. Wie ist nun der Zusammenhang von Bauen, Wohnen und Denken zu verstehen? Heidegger verweist in seinem Vortrag auf den Denkweg (BWD, 155), der das Nachdenken, die Reflexion fragend auf das Problem des menschlichen Wohnens hin ausrichtet: „Genug wäre gewonnen, wenn Wohnen und Bauen in das Fragwürdige gelangten und so etwas Denkwürdiges blieben." (BWD, 155) Wesentliches Denken, d.h. den An-spruch des Seins wahrnehmendes Denken, versucht das Sein - im Wortsinne - zur Sprache zu bringen, wie es im Humanismus-Brief heißt (Wm, 192): nicht als gegenständliche Seiendheit im Begriff, sondern indem es erzählend, d.h. ohne den Zwang dichotomisierender Feststellung, dem Anderen zu entsprechen versucht. Philosophie transformiert darin zur Kunst.30

37Das sein lassende Denken, das das existentiale Wohnen leitet, wird zur Maßgabe für das existentiale Bauen, das als solches bereits ins Wohnen gehört und auf dem Boden der Manwelt Einfluß nehmen kann auf die Tätigkeiten des faktischen Bauens dahingehend, das Schonen auch im Alltag einzuüben. Architektur wird dann zu einer dem Sein ent-sprechenden Baukunst. Ihre wesentliche Aufgabe, genauer: die des einzelnen Architekten als Baukünstlers, wäre es, aufgrund der eigenen existentialen Sterblichkeitserfahrung - sein lassend denkend - auf das existentiale Bauen sich zu besinnen. Daraus könnte eine das faktische Bauen revidierende, rationalitätskritische Architektur resultieren, die aufgrund des erschlossenen Zusammengehörens von Sein (An-wesen) und Mensch im Geviert die Anderen und die Dinge, mithin auch die Natur, im Bau-Werk berücksichtigte, die sich aber auch gegen den unsere Gesellschaft durch und durch infizierenden Warencharakter richtete, der die Wohnung und mit ihr die faktisch Wohnenden zur Ware des Wohnungsmarktes macht. In der Ware wird, wie im Begriff, äquivalent, was als Einzelnes verschieden ist.

38Wenn die Menschen erst zu Sterblichen werden müssen, dann ist auch - wie Heidegger am Schluß seines Vortrages Bauen Wohnen Denken eigens betont (vgl. BWD, 156) - das existentiale Wohnen erst noch zu erlernen, wobei die Notwendigkeit des Lernens zumal auf dem auszutragenden Widerspruch von faktischer und existentialer Existenz beruht. Das Denken, das bei Heidegger immer auch einen Denkweg bezeichnet, hängt mit diesem Lernprozeß wesentlich zusammen; der Denkweg findet seine Bahn in der Sprache, dem Haus des Seins, in dem der Mensch wohnt (vgl. Wm, 145). Da es zahlreiche - wenngleich auch miteinander verwandte - Sprachen gibt, sind durchaus viele solcher Häuser des Seins denkbar (vgl. auch UzS, 90).

39Zum Wohnenlernen - als Auseinandersetzung mit dem Man - gehören sowohl Kritik als auch die Vermittlung des Individuellen mit dem Allgemeinen, wodurch der Lernprozeß notwendig offengehalten wird; daß Kritik stets auf dem schmalen Grad zwischen sachlichem Einspruch und dem Willen des Sichbehauptens und Sichdurchsetzens balanciert und insofern vom Faktischen eingeholt werden kann, bleibt ein hermeneutisches bzw. psychologisches Grundproblem menschlicher Kommunikation. Heidegger intendiert die Schwächung subjektiver Selbstbehauptung im Schritt zurück an den anderen Anfang zu einem Denken (und in dessen Folge auch zu einem Handeln), das den Anderen als ihn selbst und das Andere in schonendem Umgang sein läßt.

 

Anmerkungen:

1 M. Frank, Was ist Neostrukturalismus?, 354.

2 Vgl. F. D. E. Schleiermacher, Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt (1821/22), 31ff.

3 M. Frank, a.a.O., 468.

4 Ebd., 366.

5 Vgl. ebd., 362f.

6 Vgl. auch E. Tugendhat, Philosophische Aufsätze, 130f; ders., Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung, 175.

7 Vgl. K. Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte, 515.

8 Vgl. dazu auch E. Schöfer, Die Sprache Heideggers, 54ff.

9 Wenn auch der Auffassung Wittgensteins zuzustimmen ist, daß Bedeutungen von Wörtern sich ergeben aus ihrer normalsprachlichen Verwendung, so führt die Etymologie als Archäologie der Bedeutungen zur Freilegung verschütteter Signifikationen, die mögliche Interpretationen ergänzen und einer positivistischen Verengung vorbeugen können. Dadurch kommen zudem andere Sprachen ins Spiel, und der Denkende mag angeregt werden, über seine Muttersprache hinaus interkulturell fremde Sprachen nach ihrer Verwendung eines vergleichbaren Wortes zu befragen.

10 Ist nun alles, was erscheint (Seiendes), ein Ding, dem ein „Eigensinn" zugesprochen werden könnte? Zumindest wird man ohne weiteres sagen können, ein Ding sei ein Seiendes. Der umgekehrte Fall indes trifft nicht zu. Der Mensch ist, wie auch Heidegger hervorhebt (Hw, 11), ein Seiendes, aber kein Ding. Dinge hinwiederum können grundlegend in Naturseiendes und Artefakte unterschieden werden, auch wenn im Zuge der Gentechnologie die Grenzen verschwimmen. Das Dinghafte eines Dinges hänge vielmehr von seinem Bezug zum Geviert ab. Im Ding-Vortrag insistiert Heidegger zudem darauf, daß Dinge erst zu Dingen werden müßten (VuA, 163ff, 173ff); da aber dies auch vom Dasein abhängt, das sein Seinkönnen und seine Welt interpretiert, läßt sich ein derartiger Wandel der Dinge eigentlich nur vor dem Hintergrund einer veränderten Einstellung des Daseins zu ihnen verstehen, d.h. daß erst in einer existentialen Zugangsweise, die später als Seinlassen näher bestimmt wird, die - in epistemologischer Sicht so genannten - Gegenstände zu Dingen werden

11 In bezug auf die ästhetischen wie sozialen Komponenten im Wohnungsbau sei exemplarisch auf die Bauwerke der IBA Berlin oder Ralph Erskines verwiesen. Das Bauwerk als Kunstwerk verwirklicht zumal der neuere Museumsbau, etwa Hans Holleins Museum am Abteiberg in Mönchengladbach oder James Stirlings Staatsgalerie in Stuttgart.

12 Vgl. Der Große Duden, Bd. 7.

13 H. Paetzold, Philosophie der Stadt, 70.

14 Das Heilige gilt Hegel als der erste Inhalt selbständiger Baukunst. Vgl. Vorlesungen über die Ästhetik, 276.

15 E. Lévinas, Eigennamen, 40.

16 I. Prigogine/I. Stengers, Dialog mit der Natur, 292.

17 Vgl. E. Ströker, Philosophische Untersuchungen zum Raum, 66.

18 U. Wenzel, Die Problematik des Gründens beim späten Heidegger, 136.

19 Überhaupt muß daran erinnert werden, daß nicht nur natürliche Orte, sondern auch das Haus in archaischen Kulturen mit dem Numinosen stets verbunden war (vgl. C. Norberg-Schulz, Logik der Baukunst, 110), denken wir etwa an die Penaten und die Laren in der römischen Mythologie. Vgl. dazu auch I. Calvino, Die unsichtbaren Städte, 91ff.

20 R. Maurer, Revolution und ‘Kehre’, 55.

21 S. Ueda, Die Gelassenheit im Zen-Buddhismus, 229.

22 Vgl. Der Große Duden, Bd. 7.

23 Selbst drastische Verkleinerungen können die gewaltige Ferne unseres Weltalls nicht anschaulich repräsentieren: der Abstand zwischen der Erde, auf die Größe einer Mikrobe reduziert (10-8), und den entferntesten Galaxien betrüge immer noch Milliarden von Kilometern. Vgl. R.-H. Giese, Einführung in die Astronomie, 4.

24 Vgl. Etymologisches Wörterbuch des Deutschen (Stichwort „empfangen").

25 Strittig ist das Problem, ob der Tod künstlich herbeigeführt werden darf, wenn ein menschenwürdiges Leben ohne Leiden nicht zu erwarten ist, wie etwa im Fall von Spina-bifida-Kindern, die mit freiliegender Wirbelsäule geboren werden (diesen und andere Fälle erörtert P. Singer, Praktische Ethik, 201; bes. Kap. 6 und 7). Sein lassend wäre allenfalls ein Sterbenlassen ohne medizinische Unterstützung oder Nachhilfe vertretbar.

26 E. Tugendhat, Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung, 213ff.

27 Elias Canetti geißelte den Tod zeit seines Lebens als Zumutung für den Menschen: „Aber ich verfluche den Tod. Ich kann nicht anders. Und wenn ich darüber blind werden sollte, ich kann nicht anders, ich stoße den Tod zurück. Würde ich ihn anerkennen, ich wäre ein Mörder." (E. Canetti, Das Geheimherz der Uhr, 200)

28 Der Tod von Tieren hat eine andere Qualität als der menschliche Tod, solange wir unterstellen, daß sie kein Bewußtsein vom Ende ihres Lebens haben und insofern auch nicht in den Tod vorlaufen können. Singer etwa unterscheidet zwischen selbstbewußten und vernunftbegabten Tieren und nichtselbstbewußten Lebewesen, für deren Tod wir Verantwortung tragen, wenn wir sie zu unseren Zwecken töten. Er kommt zu dem Schluß, daß auch hier der durch den Menschen herbeigeführte Tod in aller Regel nicht zu rechtfertigen ist (als Ausnahme könne gelten, wenn das Töten eines Tieres die einzige Möglichkeit der Nahrungsbeschaffung darstelle) (vgl. P. Singer, Praktische Ethik, 129ff).

29 Für eine ausschließlich auf das Dasein enggeführte Interpretation des Gevierts votiert Heinz Paetzold, wenn er es auf die sensomotorischen, haptischen, taktilen und visuellen Vermögen des Menschen bezieht (vgl. H. Paetzold, Philosophie der Stadt, 73).

30 Zur Auslegung des Seins trägt nun nach Heidegger bevorzugt die Dichtung bei, wobei wir Dichtung durchaus auf die Kunst im ganzen erweitern dürfen. Ist der Künstler also doch der prädestinierte sein lassende Denker? Ursprünglich, so Heidegger, seien Dichten und Denken eins gewesen (vgl. WhD, 7f; UzS, 189) als „das anfängliche, wesenhafte und darum zugleich letzte Sprechen, das die Sprache durch den Menschen spricht" (WhD, 87). Diese Einheit ist faktisch zerbrochen, weil das Denken berechnend geworden ist. Es muß sich erst wieder besinnen, was nach unserer Interpretation aufgrund der existentialen Sterblichkeitserfahrung möglich ist; das wesentliche, das Sein an-denkende Denken kann sonach eine existentiale Kunst initiieren (vgl. Hw, 303). Die Kunst wird durch das Denken auf den Weg, einen Denkweg, gebracht; zu ihr gehört wesentlich das Nachdenken, die Reflexion. Sie mag spontan, intuitiv oder im Rausch entstehen, sie mag dem Fluß von Sprache, Wörtern und Bildern freien Lauf lassen - sie bleibt darin doch eine Interpretation der Welt und vermittelt Bilder von ihr, die den Rezipienten weitere Deutungsmöglichkeiten eröffnen. In der Verwendung noch so unterschiedlicher Medien und Materialien steht jedes Kunstwerk immer schon in einem von Sprache und Denken aufgespannten Kontext. Es ist hermeneutisch, eine Deutung, die verstanden werden will. Darin überhaupt wird es zur Kunst; über Zustimmung oder Ablehnung ist damit allerdings noch nichts gesagt. Die Kunst ist das subversive Moment, das eingefahrene, gewohnte Strukturen aufbricht, gegen den Strich bürstet und dadurch die Alltagswelt zu beleben vermag. Sie ist rationalitätskritisch, weil sie - wie der Mythos - zahlreiche Geschichten zu erzählen weiß.

Siglenverzeichnis der zitierten Schriften Martin Heideggers

BWD Bauen Wohnen Denken. In: Vorträge und Aufsätze. Pfullingen: Neske, 41978, 139-156.

EidM Einführung in die Metaphysik. Tübingen: Niemeyer, 51987.

EzHD Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung. Frankfurt am Main: Klostermann, 51989.

G Gelassenheit. Pfullingen: Neske, 81985.

GA 39 Hölderlins Hymnen „Germanien" und „Der Rhein". Vorlesung Wintersemester 1934/35. Gesamtausgabe, Bd. 39. Frankfurt am Main: Klostermann, 1980.

GA 63 Ontologie. Hermeneutik der Faktizität. Vorlesung Sommersemester 1923. Gesamtausgabe, Bd. 63. Frankfurt am Main: Klostermann, 1988.

Hw Holzwege. Frankfurt am Main: Klostermann, 51972.

SuZ Sein und Zeit. Tübingen: Niemeyer, 151979.

UzS Unterwegs zur Sprache. Pfullingen: Neske, 81986.

VuA Vorträge und Aufsätze. Pfullingen: Neske, 41978.

WhD Was heißt denken? Tübingen: Niemeyer, 41984.

Wm Wegmarken. Frankfurt am Main: Klostermann, 1967.

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