3. Jg., Heft 2 Juni 1998 |
Burkhard BiellaEin Denkweg an den anderen Anfang des Wohnens |
Eine Interpretation von Heideggers Vortrag Bauen Wohnen
Denken 1Die die Spätphilosophie Heideggers beinahe wie ein roter Faden durchziehende Thematik des Wohnens, am konzentriertesten in dem 1951 beim Darmstädter Gespräch gehaltenen Vortrag Bauen Wohnen Denken zum Ausdruck gebracht, läßt sich, so meine These, mit nachhaltigem Gewinn erschließen, wenn sie mit der in Sein und Zeit in großer Klarheit entfalteten Daseinsanalytik zusammengeführt wird. Dieser Ansatz liegt meiner Arbeit Eine Spur ins Wohnen legen. Entwurf einer Philosophie des Wohnens nach Heidegger und über Heidegger hinaus zugrunde. Im folgenden werde ich mich auf die Interpretation von Heideggers Vortrag beschränken und insbesondere die Bezüge zur Architektur und zum alltäglichen Wohnen deutlich zu machen versuchen. Zuvor seien die Voraussetzungen, die dieser Interpretation zugrunde liegen, in aller Kürze vorgestellt. 2(1) Nach Heidegger ist das Dasein, d.h. das Sein des Menschen, fundamental
hermeneutisch (vgl. SuZ): Die Hermeneutik hat die Aufgabe, das je eigene
Dasein in seinem Seinscharakter diesem Dasein selbst zugänglich zu machen, mitzuteilen,
der Selbstentfremdung, mit der das Dasein geschlagen ist, nachzugehen. In der Hermeneutik
bildet sich für das Dasein eine Möglichkeit aus, für sich selbst verstehend zu
werden und zu sein" (GA 63, 10). 3Damit ist ein Leitwort des Vortrags angesprochen, in dem Heidegger nach den Zusammenhängen von Bauen, Wohnen und Denken fragt; denkend - und damit in der Sprache - soll der Zugang zum Bauen und Wohnen gesucht werden (vgl. BWD, 139). Da existentiales Wohnen, das, so meine Hypothese, sich nur aufgrund des in Abhängigkeit von der existentialen Sterblichkeitserfahrung getroffenen individuellen Entschlusses zum existentialen Seinkönnen verwirklichen läßt, kann eine entsprechende existentiale Architektur dem Einzelnen nicht vorgeben, wie er wohnen soll. Die Entscheidung für das eigentliche Seinkönnen vermag niemand ihm abzunehmen. Aber innerhalb der Manwelt kann doch immerhin in einer Weise geplant, entworfen und gebaut werden, daß ein existentiales Wohnen ermöglicht wird. Dazu müssen wir uns vergegenwärtigen, daß faktische Architektur Räume entwirft, denen sich in aller Regel der Benutzer zu unterwerfen hat, d.h. dieser richtet sich, seis in öffentlichen Gebäuden oder in Wohnbauten, nach dem vorliegenden Raumangebot. 4Unser Ausgangspunkt ist mithin das faktische, alltägliche Wohnen.
Heidegger stellt zunächst eine der alltäglichen Vorstellungswelt verpflichtete Hypothese
auf: Zum Wohnen, so scheint es, gelangen wir erst durch das Bauen. Dieses, das Bauen
hat jenes, das Wohnen zum Ziel." (BWD, 139) Sogleich stellt er klar, daß
nicht alles, was gebaut wird, unmittelbar dem Wohnen dient, und führt hier die
terminologische Unterscheidung zwischen Bauten und Wohnungen ein,
offensichtlich ein Versuch, der faktischen räumlichen Trennung von Arbeiten und Wohnen
begrifflich gerecht zu werden. Bauten stehen nur im Bereich unseres Wohnens" (BWD,
139) derart, daß diejenigen, die in ihnen einer Tätigkeit nachgehen, dort zu
Hause" (BWD, 139) sind, aber eben nicht wohnen: Bauten behausen den
Menschen" (BWD, 139), etwa Bahnhof und Autobahn, Staudamm und
Markthalle" (BWD, 139). 5Da wir das faktische Wohnen als Unterkunfthaben auffassen, ist zu fragen, ob
dem existentialen Wohnen ein Komplementärbegriff zuzuordnen wäre. Im Vorgriff auf das
von Heidegger behauptete Zusammengehören von Sein und Mensch könnte der Charakter
solchen Wohnens darin bestehen, daß der Mensch selbst zur Unterkunft des Seins wird, so
daß ein Wohnen geschieht" (BWD, 140). 6Im Gegensatz zum faktischen, zweckrational bestimmten Verhältnis von Bauen und Wohnen postuliert Heidegger im Sinne des davon abzusetzenden existentialen Wohnens einen gleichursprünglichen Verweisungszusammenhang, der durch eine bloße Zweck-Mittel-Relation nicht gefaßt werden könne: Bauen ist in sich selber bereits Wohnen." (BWD, 140) Um diesen Zusammenhang zu erläutern, nimmt seine Analyse eine dem alltäglichen Verständnis des Wohnens vielleicht eigentümlich erscheinende Wendung zur Sprache hin: Der Zuspruch über das Wesen einer Sache kommt zu uns aus der Sprache, vorausgesetzt, daß wir deren eigenes Wesen achten." (BWD, 140) Dieses Wesen (An-wesen) - nicht im Sinne von essentia (Wassein), sondern verbal8 als ein zum Ausdruck gebrachtes Geschehen - liegt in ihrem Anspruch an uns. Wenn die Sprache zum Menschen spricht, dann muß das Dasein als Hermeneutisch- und Tätigsein in seinem Sprachlichsein auf die vorgängige Offenheit der Sprache hören. Einem solchen Hören kommen die von Heidegger wiederholt angewendeten etymologischen Interpretationen gleich. Auch den engen Zusammenhang zwischen Bauen und Wohnen, wonach Bauen bereits Wohnen sei, ermittelt er aus der Etymologie des Wortes bauen"9. 7Unser Wort bauen" leitet sich her vom Althochdeutschen buan,
das bleiben, sich aufhalten, wohnen bedeutet. Nun sagt uns freilich
das alte Wort buan nicht nur, bauen sei eigentlich wohnen, sondern es gibt uns zugleich
einen Wink, wie wir das von ihm genannte Wohnen denken müssen. Wir stellen uns
gewöhnlich, wenn vom Wohnen die Rede ist, ein Verhalten vor, das der Mensch neben vielen
anderen Verhaltensweisen auch vollzieht." (BWD, 141) 8Aus der Etymologie von bauen ermittelt sich der Zusammenhang von Bauen, Wohnen und Sein, den Heidegger als Sterblichsein auf den Begriff bringt. Doch in unserer Alltagssprache verwenden wir das Wort bauen nicht im Sinne von wohnen. Heidegger verweist zunächst auf eine auch heute noch in der Landwirtschaft gebräuchliche Bedeutung: den Acker (be)bauen, womit ein Pflegen dessen, was wächst, gemeint ist. Bauen im Sinne einer derart nicht nur subjekt-, sondern auch objektbezogenen behütenden Tätigkeit ist zu unterscheiden von einem Herstellen, wie es die Antike als poiesis kannte. Ein solches Herstellen differenziert Heidegger vom Errichten eines Werkes (vgl. BWD, 141, und den Kunstwerk-Aufsatz, Hw, 33). Der Werkcharakter zeichnet sich dadurch aus, daß ein Werk als Ding10selber errichtend ist, indem es im Gegensatz zum Gebrauchszweck des Hergestellten eine Welt - und damit sowohl (neue) Interpretationen und ihre Rezeption - eröffnet. Der Werkcharakter eines Wohngebäudes, das als Bau-Werk existentialem Wohnen Raum gibt, wird sich dann am künstlerisch-ästhetischen, aber auch am sozialen Anspruch ablesen lassen müssen.11 9Heidegger unterscheidet ein alltägliches faktisches Bauen als Herstellen
von einem Bauen im engeren Sinne" (BWD, 146) als Pflege des
Wachsenden (colere) und von einem welteröffnenden Errichten von Werken (aedificare);
diese beiden bilden die existentialen Weisen des Bauens, wobei dem Errichten seinerseits
ein pflegender Umgang mit dem Errichteten folgen müßte. 10Das Wort wohnen geht zurück auf das altsächsische wuon und das altenglische bzw. gotische wunian, die beide - wie bauen - ursprünglich bleiben", sich aufhalten" bedeuteten (vgl. auch EidM, 55). Die Etymologie12 kennt daneben noch das altisländische una im Sinne von Behagen empfinden, zufrieden sein, bleiben; ähnliche Bedeutungen führt Heidegger für das altenglische wunian an: zufrieden sein, zum Frieden gebracht, in ihm bleiben"; Frieden" heißt der Etymologie zufolge - eng verwandt mit frei - Schonung, Freundschaft oder bewahrt vor Schaden und Bedrohung, bewahrt vor, geschont" (BWD, 143), so daß sich ein enger Zusammenhang von Wohnen, Schonen und - auf den sozialen Kontext bezogen - Gastfreundschaft ergibt. Das Schonen selbst besteht nicht nur darin, daß wir dem Geschonten nichts antun. Das eigentliche Schonen ist etwas Positives und geschieht dann, wenn wir etwas zum voraus in seinem Wesen belassen, wenn wir etwas eigens in sein Wesen zurückbergen, es entsprechend dem Wort freien: einfrieden." (BWD, 143) Dem entspricht das existentiale Bauen als individuelle, vom Dasein ausgehende pflegend-behütende Tätigkeit. Von ihr kann immer dann die Rede sein, wenn der Einzelne, obwohl bauend seine Welt und damit auch seine Mitwelt verändernd, versucht, jemanden bzw. etwas in seinem Sein zu lassen, d.h. im Planen, Entwerfen und Bauen ihn oder es sein zu lassen als das, was er oder es selbst ist. Das Seinlassen kann nie absolut gelingen; Interpretationen wie Tätigkeiten generieren Neues und damit Veränderungen, die auf den Urheber selbst wieder zurückwirken. Das Seinlassen ist ein existentiales ethos, das um die Dialektik jener Veränderungsprozesse weiß und sie kritisch begleitet. Das Dasein als Interpretierendes stellt zwar die Beziehung zum Anderen her, aber nicht mehr als ausschließendes sub-iectum, als das allem Zugrundeliegende, sondern im existentialen Bewußtsein, daß ohne das Sein des Anderen, ohne sein Erscheinen, der Bezug gar nicht zustande käme. Im seinlassenden Wohnen kommen die Individualität des Bauenden und die Individualität dessen, für den gebaut wird, in einer individuellen Interpretation zusammen und werden solcherart im Allgemeinen aufgehoben. Seinlassen ist behutsames bauendes Verändern mit dem Anderen, nicht gegen ihn oder es. Seinlassen bedeutet folglich sowohl ein Seinlassen, d.h. ein Durch-Sprache-ins-Sein-lassen, als auch ein Seinlassen, ein In-Ruhe-(sein-)lassen als Lassen und Unterlassen. 11Das Dasein steht immer schon in Beziehung zu seiner Welt. Mit dem Geviert
versucht Heidegger, deren grundlegende Strukturierung vom Sein (An-wesen) her zu denken.
Den Aufenthalt der Sterblichen in der Welt als In-der-Welt-sein deutet er als ein
Eingeordnetsein in ein Geviert aus Erde, Himmel (Sonne, Mond,
Gestirne und, durch sie bedingt, Licht, Dunkel und Klima), Göttlichen und Sterblichen
(die Menschen als fortwährend Sterbende, solange sie auf der Erde sind). Dieses
Eingeordnetsein ist das Wohnen: Die Sterblichen sind im Geviert, indem sie wohnen."
(BWD, 143f) 12Wenn aber das Geviert als Grundstruktur der Welt interpretiert wird, müssen auch die aus dem existentialen Wohnen (als Grundzug des Seins) abgeleiteten faktischen Tätigkeiten zunächst als formale Modi des faktischen Tätigseins aufgefaßt werden, d.h. sie sind nicht ausschließlich, sondern auch auf das faktische Wohnen zu beziehen, so daß daraus erst in Abhängigkeit von der jeweiligen geschichtlich-kulturellen Situation material die faktischen Weisen des Wohnens zu erschließen sind. Dem existentialen Wohnen korrespondiert folglich in der Geviert-Struktur nicht das faktische Wohnen, sondern das faktische Tätigsein. Ich werde jedoch den jeweiligen Modus des faktischen Tätigseins stets auf das faktische Wohnen beziehen, um dessen mögliche Revision es hier ja insbesondere zu tun ist; überdies intendiert die philosophische Entfaltung einer Struktur des Wohnens zugleich eine Kritik faktischer Architektur. 13Mit der Geviert-Gegend, die Heidegger die Göttlichen" nennt,
bündelt er die den Menschen seit je andrängenden Fragen nach dem Übermenschlichen, die
Erfahrungen des Numinosen, die, angefangen von polytheistischen Naturmythen bis hin zu den
monotheistischen Weltreligionen, zu ideologischen Welterklärungssystemen
unterschiedlicher Komplexität und Machtfülle führten. 14Bleiben der Gott oder die Göttlichen auch verborgen, in Erscheinung, so
Heidegger, trete indes das Heilige;14 es sei zumindest dem Dichter,
der es nenne, zugänglich (vgl. Wm, 107). Das Unverfügbare erscheint als
ein Verfügbar-Unverfügbares, das als Verfügbares wesentlich am Unverfügbaren
partizipiert. 15In seiner Interpretation des Hölderlin-Gedichtes Wie wenn am Feiertage ..." bezeichnet Heidegger das Wesen der Natur im Sinne der vorsokratischen physis als Heiliges (vgl. EzHD, 58ff). Natur wird hier gedacht als das Unmittelbare, als das Aufgehen in das Offene, das Lichten jener Lichtung, in die herein überhaupt etwas erscheinen (...) kann" (EzHD, 56). Ein derart unmittelbar Offenes, das In-Erscheinung-bringen von Seiendem, ist als Seinlassen des Seins die physische Bedingung der Möglichkeit der hermeneutischen Existenz und folglich auch begriffssprachlicher Abstraktionen. Das Dasein existiert zugleich als hermeneutisches, individuelles Sein und physisches Naturwesen. Das Heilige können wir folglich als Natur interpretieren; alle Geviert-Gegenden haben an ihr teil. Sie ist das Verfügbar-Unverfügbare, das der Mensch in Gebrauch nehmen und bearbeiten kann, auf das er aber angewiesen und von dem er abhängig bleibt. 16Die Physiker Ilya Prigogine und Isabelle Stengers bringen im Begriff der autonomen
Transformation das Aus-sich-hervorgehen der Natur terminologisch auf den Punkt. Sie
verweisen darauf, daß man das Wachstum der Lebewesen, diesen Prozeß einer
autonomen Transformation, den die Griechen Physis nannten, nicht vorantreiben
kann."16 Metaphorisch gesprochen: Die Natur läßt sich Zeit, sie gibt mit
dem Prozeß aus Werden und Vergehen ein Maß der Zeit, und sie gibt und nimmt Zeit als
individuelle Lebenszeit. 17In der Erörterung über die Gelassenheit hat Heidegger das Erwarten als eine Haltung bestimmt, der bereits ein Vorstellen und ein Vorgestelltes zugrunde liegt (vgl. G, 42); demnach wäre es unverständlich, wie etwas derart Offenes und Unbestimmtes bzw. Unbestimmbares wie das dem Menschen Unverfügbare erwartet werden könnte. An der gleichen Stelle aber weist Heidegger das Warten als die dem Offenen gemäße Einstellung aus: Das Warten hat eigentlich keinen Gegenstand. (...) Im Warten lassen wir das, worauf wir warten, offen." (G, 42) Sobald das Warten intentional auf einen Gegenstand sich richtet, hat es Heidegger zufolge aufgehört, ein Warten zu sein, wird es zum Erwarten. Wir können das Warten als ein Aufgeschlossensein, ein Offensein gegenüber dem Neuen und Anderen kennzeichnen, das aus dem Unverfügbaren, ohne sich erzwingen zu lassen, uns begegnet. Ich ersetze daher den bei Heidegger aus der Geviert-Gegend des Unverfügbaren (Göttlichen) resultierenden Modus des existentialen Wohnens, das Erwarten, durch das Warten. 18Damit läßt sich dann auch das Unverhoffte, das, wie Heidegger sagt, die Sterblichen den Göttlichen hoffend entgegenhalten, zusammendenken. Entgegenhalten meint in diesem Zusammenhang kein Gegenüberstellen im Sinne eines Gegenstandsbezugs, auch keine Forderungshaltung, die irgendwelche Ansprüche einklagte, sondern impliziert ein Offensein des Daseins, das in das Offene selbst sich einläßt" (G, 42). Das Unverhoffte wird zeichenhaft zugänglich, denn die Menschen warten, wie Heidegger formuliert, der Winke der Götter, der Winke ihrer Ankunft (vgl. auch GA 39, 32); gemäß unserer Uminterpretation werden daraus die Zeichen des Unverfügbaren, d.h. das Unverfügbare wird erfahren etwa in Naturphänomenen, die die Menschen als etwas deuten, das sich ihrer Endlichkeit und Vergänglichkeit entgegenstellt und diese überdauert."18 Die Konstitution mythischer Orte beruht auf dieser Voraussetzung.19 19Gleichwohl ist das Warten kein passiv-lethargischer Fatalismus, sondern ein sein lassendes aktives, denkendes Warten"20, das einer Sache ihre Zeit"21 läßt. Als solches ist es ein Wartenkönnen. Die Sterblichen, heißt es, seien hoffend offen für das Unverhoffte. Dieses Unverhoffte kann - als Zeichen des Unverfügbaren - als die Existenz selber interpretiert werden. Die Sterblichen geben existential die Hoffnung auf ein gelingendes eigentliches Seinkönnen nicht auf. Das Unverhoffte kann nur etwas sein, das völlig überraschend eintritt oder eingetreten ist. Der eigene Tod kommt hier nicht in Frage, denn er ist, unbestimmt im Zeitpunkt nur, als Bevorstand gewiß; es bleibt nur die Existenz als solche, in die das Dasein sich unverhofft geworfen findet, die als hermeneutische offen auch dem Unverfügbaren gegenübersteht. 20So wie der existentiale Modus des Wohnens sich ableitet aus der individuellen
Übernahme des eigenen Sterbenkönnens, so entspricht das faktische Tätigsein, zu dem auch
das faktische Wohnen gehört, der Art und Weise, wie man lebt; es ist zu rekonstruieren
als eine wesentliche Tätigkeit, die sich ermittelt aus dem Bezug der Welt-Gegenden des
Gevierts zur Manwelt. Wurde als existentialer Modus aus der Beziehung des Daseins zum
Unverfügbaren das Warten(können) ermittelt, so läßt sich das faktische Tätigsein
als ein Machen ausweisen, das das Unverfügbare nicht hinzunehmen gewillt ist,
sondern auf die subjektive Eigenmacht baut. 21Voller Pathos nennt Heidegger die Erde die dienend Tragende, die
blühend Fruchtende, hingebreitet in Gestein und Gewässer, aufgehend zu Gewächs und
Getier." (BWD, 143) Sachlich betrachtet, heißt das: Sie umfaßt zum einen den
Bereich der (chaotischen) Naturordnung, der autonomen Transformationen; zum anderen aber
gibt sie auch den Raum für das Seinkönnen des Menschen, in dem sich seine Geschichte
entfaltet, so daß wir die Erde als Natur- und Geschichtsraum interpretieren können. 22Das Freilassen von etwas in sein eigenes Wesen aber ist zugleich ein sein lassendes Retten, das sich gegen die faktischen Gefahren wendet, die aus der Ausbeutung der Erde, dem Gebrauchtwerden und dem Machen, resultieren; es bemüht sich um den schonenden Umgang, meistert die Erde nicht und macht sich die Erde nicht untertan, von wo nur ein Schritt ist zur schrankenlosen Ausbeutung." (BWD, 144) Es bedeutet eine Absage an den selbstmächtigen Herrschaftsanspruch des Menschen gegenüber Erde und Natur. 23Den Modus des faktischen Tätigseins können wir - wie es sich bereits andeutete - als Ausbeuten bezeichnen, worin das Meistern der Erde, ihre Instrumentalisierung, auf den Begriff gebracht wird; in ihm kommen die neuzeitliche Subjekt-Objekt-Spaltung in theoretischer Hinsicht und die Technisierung menschlicher Zivilisation in praktischer Hinsicht zusammen. Die Erde wird Mittel zum Zweck. Im faktischen Wohnen läßt sich die Ausbeutung der Erde an Phänomenen wie der Zersiedelung von Landschaften, dem uneingeschränkten Einsatz von Rohstoffen und Materialien einschließlich ihrer energieverbrauchenden Gewinnung oder Herstellung, dem Eigentum an Grund und Boden oder der Bodenspekulation ablesen. 24Ein weiterer Aspekt des existentialen, schonenden Wohnens liegt, wie Heidegger wieder nicht ohne Pathos sagt, im Empfangen des Himmels. Während der Mensch auf der Erde weitgehend aktiv und verändernd tätig sein kann, bleibt er gegenüber dem stellaren Bereich in ein deutlich passives Verhältnis gedrängt. Er ist gezwungen hinzunehmen, daß die physikalischen Gesetze des Alls das Leben auf der Erde bestimmen, zumal hinsichtlich der Zeit. Andererseits nimmt - wie die Erde - auch der Himmel, der wölbende Sonnengang" (BWD, 144), Einfluß auf unsere Raumvorstellung. Angesichts unseres Eingebundenseins in ungeheure kosmische Dimensionen - das hier Gemessene übersteigt alle Vorstellungskraft23 - mag Heideggers Rede von einem Empfangen des Himmels gerechtfertigt sein. 25Ursprünglich ist der Empfangende im Althochdeutschen als Beschützer
bzw. Helfer verstanden worden: Wer jemanden bei sich aufnimmt, empfängt ihn,24
nimmt ihn an. Ausgehend von dieser Bedeutung, kennzeichne ich den von der Geviert-Gegend
des Himmels abgeleiteten Modus des existentialen Wohnens nicht als Empfangen,
sondern als Annehmen, das stärker das aktive Moment in der Bereitschaft des
Daseins betont, aufgrund seiner Entschlossenheit zum eigentlichen Seinkönnen im Sinne des
Seinlassens schonend handeln zu wollen. 26Das Einrichten meint sowohl das Einrichten des stellaren Bereichs auf das
Dasein hin als auch das Sicheinrichten in diesem Bereich, der es eher zu einem mehr
passiven Verhalten zwingt. Im Sicheinrichten liegt die Bedeutung, die in der
Manwelt die Funktion des faktischen Wohnens schlechthin bezeichnet, nämlich
Schutz zu suchen vor ungünstigen klimatischen Einflüssen, aber zugleich nutzbringender
Klima-Eigenschaften sich zu versichern. 27Daß der Mensch den Tod erfahren und zu ihm sich verhalten kann (vgl. UzS,
215), kommt in der Formulierung den Tod als Tod vermögen" zum Ausdruck. Die
Interpretation hat hier auf die Bedeutungsnuancen des Wortes können zu achten. Das
existentiale Sterbenkönnen (den Tod vermögen") ist ein aktives
Können: Es betont den Aspekt von Kenntnissen und Fertigkeiten, die notwendig sind, um
etwas zu tun. Dieses Können beruht auf einem Lernen. Wird der Tod als Tod vermocht, ist
das Können in Bezug zum sein lassenden Denken getreten. Dagegen entspricht das faktische
Sterbenkönnen dem von Tugendhat in die Diskussion gebrachten veritativen Können,26
das die Möglichkeit eines Wahrseinkönnens betrifft (Die Decke des
Hörsaals kann einbrechen"). 28Für das existentiale Wohnen gibt es letztlich kein anderes Maß als den übernommenen Tod. Es bestimmt die Art und Weise, wie mit dem Tod umgegangen wird: Es muß ein guter" Tod sein, weder fremdproduziert noch aus dem Alltag verdrängt. Der existential übernommene Tod wird zum Maßstab des guten Todes", dem nur der Einzelne als Einzelner überantwortet ist. Jeder Eingriff eines Anderen verstößt gegen die andere Individualität (als Ausnahme diskutierbar wäre eine Sterbehilfe auf ausdrückliches Verlangen des Sterbenden). Nicht der Tod als solcher ist der Skandal,27 sondern der unmenschliche Tod, der dem Menschen durch den Menschen zugefügt wird, aber auch der, den Tiere zu erleiden haben.28 Vom unmenschlichen Sterben muß die Rede sein, wenn der Tod gerade nicht vermocht" wird, wenn kein guter Tod" (BWD, 145) ist. Der Umgang mit dem Ende des Menschen wird zum Indikator für das Seinlassen. 29Das existential wohnende Dasein übernimmt den Tod, sein eigenes Sterbenkönnen, in die Existenz, in den Brauch, den Tod zu vermögen. Brauch meint eine andere Vermittlung von alltäglichem Sterben und Tod als die traditionelle Tabuisierung; der Ausdruck richtet sich im Namen einer aktiven, bewußten und zumal auch sozialen Aufnahme des Todes in die menschliche Existenz gegen seine faktische Verdrängung im Man. 30Bevor die Geviert-Struktur vervollständigt werden kann, gilt es noch die
Weisen des existentialen Wohnens und des faktischen Tätigseins aus der Geviert-Gegend der
Sterblichen abzuleiten. Ich differenziere, da Heidegger selbst hier nur vage Andeutungen
macht, anhand unserer Interpretation den Modus des existentialen Wohnens als ein Sichöffnen
für das Sterblichsein, für sein eigenes Seinkönnen und - intersubjektiv - für die
Sterblichen von einem faktischen Sichdistanzieren von der Endlichkeit der Welt. Ein
probates Mittel für diese Distanzierung scheint die Produktion des Überflusses zu sein,
die den Alltag in allen Lebensbereichen überschwemmt. Der Konsum (auch von Medien) bleibt
- trotz der offensichtlichen informationstechnischen Vernetzung der Welt - solipsistisch:
Jeder konsumiert für sich aus der Flut der Angebote. Es entsteht ein beständiger Abstand
zu den Anderen, ausgefüllt mit gemeinsamem Verbrauch, in dem doch der Einzelne allein
für sich das Beste zu sichern sucht. 31Aus dem Geviert, zu dem die Sterblichen gehören, haben wir die unterschiedlichen Weisen existentialen Wohnens und faktischen Tätigseins abgeleitet. Ist aber das Dasein als sterbliches in der Geviert-Struktur nicht selber nur ein Teilaspekt unter anderen? Vom Sein (An-wesen) her gesehen, trifft dies durchaus zu. Wenn wir das Zusammengehören von Sein und Mensch aber von beiden Seiten her denken, dann ist das Dasein im Kreuzungspunkt des Gevierts zu positionieren; darin streicht das Dasein zugleich das Ich als das machtvolle Repräsentationsgeschehen durch, das das Andere nur braucht, um sich selbst zu bestätigen. In-der-Welt-sein heißt somit, als endliches Dasein unter Sterblichen, d.h. bezogen auf das eigene Sein und auf das Mitsein Anderer, auf der Erde und unter dem Himmel in Raum und Zeit sowie in einem offenen Bezug zum Unverfügbaren zu sein, von dem das Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit (Schleiermacher) zeugt. Jedes Dasein tritt, in der Welt-Struktur des Gevierts wohnend und als Sterblicher diese Welt mitkonstituierend, in den Kreuzungspunkt des Gevierts. Aber erst das existentiale Wohnen erschließt letzthin die Sterblichen als existenziale Solidargemeinschaft im Sein zum Tode. Heidegger drückt die von ihm entwickelte Struktur des (existentialen) Wohnens so aus: Im Retten der Erde, im Empfangen des Himmels, im Erwarten der Göttlichen, im Geleiten der Sterblichen ereignet sich das Wohnen als das vierfältige Schonen des Gevierts." (BWD, 145)29 32Gemäß der gegenseitigen Verschränktheit der Geviert-Gegenden, der Einfalt der Vier" (BWD, 143; VuA, 171), wie es bei Heidegger heißt, ergeben auch die unterschiedlichen Modi des existentialen Wohnens und des faktischen Tätigseins gleichermaßen eine Struktur formaler Verweisungsbezüge, wie auch Erde, Himmel, Sterbliche und Unverfügbares stets zusammenzudenken sind. Es korrelieren dann
Nachdem wir die Struktur des Wohnens in ihren Verweisungsbezügen zwischen Dasein und Welt (Geviert) analysiert haben, soll im folgenden der Objektbereich des Wohnens mit seinen Gegenständen und Bauwerken, Orten und Räumen auf das existentiale sowie auf das faktische Wohnen bezogen werden. 33Wurde das existentiale Wohnen bisher strukturell entfaltet als ein Schonen des Gevierts, der vier Welt-Gegenden, so steht im Mittelpunkt des zweiten Teils des Vortrags Bauen Wohnen Denken die Frage: Wie vollbringen die Sterblichen das Wohnen als dieses Schonen?" (BWD, 145) Heidegger gibt zunächst folgende Bestimmung: Das Wohnen ist (...) immer schon ein Aufenthalt bei den Dingen. Das Wohnen als Schonen wahrt das Geviert in dem, wobei die Sterblichen sich aufhalten: bei den Dingen. (...) der Aufenthalt bei den Dingen ist die einzige Weise, wie sich der vierfältige Aufenthalt im Geviert jeweils einheitlich vollbringt." (BWD, 145) Dinge im existentialen Verständnis konstituieren - anders als Produkte, deren Sinn allein das Ge- und Verbrauchtwerden ist und denen ein Werkcharakter nur vermittels der Kunst zukommen kann - Sinn mit, indem sie das Dasein zu (durchaus auch neuen) welterschließenden Interpretationen herausfordern. Allein die Dinge selbst bergen das Geviert nur dann, wenn sie selber als Dinge in ihrem Wesen gelassen werden." (BWD, 145f) Das geschieht in den existentialen Weisen des Bauens: im Pflegen der Dinge und des Errichteten und im Errichten von Werken bzw. Bau-Werken; diese geben als gebaute Dinge dem existentialem Wohnen Raum. 34Wenn Dinge zu Dingen werden dadurch, daß sie das Geviert widerspiegeln, dann ist ihnen notwendigerweise auch der Charakter des Seinlassens zuzusprechen, und zwar in bezug auf die Geviert-Gegenden, die sie versammeln. Mit anderen Worten: Zum Ding kann nur werden, was seinerseits die Geviert-Gegenden und mit ihnen auch die Sterblichen schont, d.h. vor Schaden bewahrt. Nicht alles, was Naturseiendes ist, erlangt somit als solches einen Ding-Status; dieser hängt vielmehr aufgrund der wechselseitigen Verweisungsbezüge innerhalb des Gevierts ab vom interpretierenden Dasein und seinen Konventionen. Naturseiendes muß folglich nicht um jeden Preis sein gelassen werden, so wenn es zur Bedrohung für das Seinkönnen des Daseins wird. Die Frage aber, was als Gefahr begegne und wie ihr beizukommen sei, ist nur im faktischen sozialen Diskurs zu entscheiden, in den auch das existentiale Dasein eingebunden bleibt. 35Die materialen Voraussetzungen, die das Dasein vor einer möglichen Revision des faktischen durch das existentiale Wohnen zu bedenken hat - und mit diesem Denken beginnt bereits das Wohnen -, sind durchaus identisch mit denen, auf die auch der faktische Entwurf eines Architekten Bezug nimmt; sie lassen sich formal zusammenfassen in Standort-, Material- und Klimabezug, Planungsqualität, Nutzersicherheit sowie Nutzungsvariabilität. Unter Berücksichtigung dieser architektonischen Entwurfskriterien vermögen die Modi des existentialen Wohnens zur Errichtung eines Bau-Werks beizutragen, so daß das Geviert versammelt und dem existentialen Wohnen Raum gegeben werden kann:
Das existentiale Wohnen praktiziert sein lassend das Schonen des Gevierts; die Revision des faktischen Wohnens in der approximativen Errichtung existentialer Orte (Bau-Werke) innerhalb der Welt des Man gehört zur Ausführung seines Seinkönnens (Entwurf, Interpretation) im existentialen Bauen, das sein lassend seinerseits zum Wohnenlassen" (BWD, 153f) wird, worin es planend in seiner Ausrichtung am Geviert je schon dem Zuspruch des Gevierts entsprochen" (BWD, 154) hat. 36Die Planung - und damit schließt sich wieder der Kreis - beruht wesentlich auf dem Denken. Wie ist nun der Zusammenhang von Bauen, Wohnen und Denken zu verstehen? Heidegger verweist in seinem Vortrag auf den Denkweg (BWD, 155), der das Nachdenken, die Reflexion fragend auf das Problem des menschlichen Wohnens hin ausrichtet: Genug wäre gewonnen, wenn Wohnen und Bauen in das Fragwürdige gelangten und so etwas Denkwürdiges blieben." (BWD, 155) Wesentliches Denken, d.h. den An-spruch des Seins wahrnehmendes Denken, versucht das Sein - im Wortsinne - zur Sprache zu bringen, wie es im Humanismus-Brief heißt (Wm, 192): nicht als gegenständliche Seiendheit im Begriff, sondern indem es erzählend, d.h. ohne den Zwang dichotomisierender Feststellung, dem Anderen zu entsprechen versucht. Philosophie transformiert darin zur Kunst.30 37Das sein lassende Denken, das das existentiale Wohnen leitet, wird zur Maßgabe für das existentiale Bauen, das als solches bereits ins Wohnen gehört und auf dem Boden der Manwelt Einfluß nehmen kann auf die Tätigkeiten des faktischen Bauens dahingehend, das Schonen auch im Alltag einzuüben. Architektur wird dann zu einer dem Sein ent-sprechenden Baukunst. Ihre wesentliche Aufgabe, genauer: die des einzelnen Architekten als Baukünstlers, wäre es, aufgrund der eigenen existentialen Sterblichkeitserfahrung - sein lassend denkend - auf das existentiale Bauen sich zu besinnen. Daraus könnte eine das faktische Bauen revidierende, rationalitätskritische Architektur resultieren, die aufgrund des erschlossenen Zusammengehörens von Sein (An-wesen) und Mensch im Geviert die Anderen und die Dinge, mithin auch die Natur, im Bau-Werk berücksichtigte, die sich aber auch gegen den unsere Gesellschaft durch und durch infizierenden Warencharakter richtete, der die Wohnung und mit ihr die faktisch Wohnenden zur Ware des Wohnungsmarktes macht. In der Ware wird, wie im Begriff, äquivalent, was als Einzelnes verschieden ist. 38Wenn die Menschen erst zu Sterblichen werden müssen, dann ist auch - wie Heidegger am Schluß seines Vortrages Bauen Wohnen Denken eigens betont (vgl. BWD, 156) - das existentiale Wohnen erst noch zu erlernen, wobei die Notwendigkeit des Lernens zumal auf dem auszutragenden Widerspruch von faktischer und existentialer Existenz beruht. Das Denken, das bei Heidegger immer auch einen Denkweg bezeichnet, hängt mit diesem Lernprozeß wesentlich zusammen; der Denkweg findet seine Bahn in der Sprache, dem Haus des Seins, in dem der Mensch wohnt (vgl. Wm, 145). Da es zahlreiche - wenngleich auch miteinander verwandte - Sprachen gibt, sind durchaus viele solcher Häuser des Seins denkbar (vgl. auch UzS, 90). 39Zum Wohnenlernen - als Auseinandersetzung mit dem Man - gehören sowohl Kritik als auch die Vermittlung des Individuellen mit dem Allgemeinen, wodurch der Lernprozeß notwendig offengehalten wird; daß Kritik stets auf dem schmalen Grad zwischen sachlichem Einspruch und dem Willen des Sichbehauptens und Sichdurchsetzens balanciert und insofern vom Faktischen eingeholt werden kann, bleibt ein hermeneutisches bzw. psychologisches Grundproblem menschlicher Kommunikation. Heidegger intendiert die Schwächung subjektiver Selbstbehauptung im Schritt zurück an den anderen Anfang zu einem Denken (und in dessen Folge auch zu einem Handeln), das den Anderen als ihn selbst und das Andere in schonendem Umgang sein läßt.
Anmerkungen: 1 M. Frank, Was ist Neostrukturalismus?, 354. 2 Vgl. F. D. E. Schleiermacher, Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt (1821/22), 31ff. 3 M. Frank, a.a.O., 468. 4 Ebd., 366. 5 Vgl. ebd., 362f. 6 Vgl. auch E. Tugendhat, Philosophische Aufsätze, 130f; ders., Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung, 175. 7 Vgl. K. Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte, 515. 8 Vgl. dazu auch E. Schöfer, Die Sprache Heideggers, 54ff. 9 Wenn auch der Auffassung Wittgensteins zuzustimmen ist, daß Bedeutungen von Wörtern sich ergeben aus ihrer normalsprachlichen Verwendung, so führt die Etymologie als Archäologie der Bedeutungen zur Freilegung verschütteter Signifikationen, die mögliche Interpretationen ergänzen und einer positivistischen Verengung vorbeugen können. Dadurch kommen zudem andere Sprachen ins Spiel, und der Denkende mag angeregt werden, über seine Muttersprache hinaus interkulturell fremde Sprachen nach ihrer Verwendung eines vergleichbaren Wortes zu befragen. 10 Ist nun alles, was erscheint (Seiendes), ein Ding, dem ein Eigensinn" zugesprochen werden könnte? Zumindest wird man ohne weiteres sagen können, ein Ding sei ein Seiendes. Der umgekehrte Fall indes trifft nicht zu. Der Mensch ist, wie auch Heidegger hervorhebt (Hw, 11), ein Seiendes, aber kein Ding. Dinge hinwiederum können grundlegend in Naturseiendes und Artefakte unterschieden werden, auch wenn im Zuge der Gentechnologie die Grenzen verschwimmen. Das Dinghafte eines Dinges hänge vielmehr von seinem Bezug zum Geviert ab. Im Ding-Vortrag insistiert Heidegger zudem darauf, daß Dinge erst zu Dingen werden müßten (VuA, 163ff, 173ff); da aber dies auch vom Dasein abhängt, das sein Seinkönnen und seine Welt interpretiert, läßt sich ein derartiger Wandel der Dinge eigentlich nur vor dem Hintergrund einer veränderten Einstellung des Daseins zu ihnen verstehen, d.h. daß erst in einer existentialen Zugangsweise, die später als Seinlassen näher bestimmt wird, die - in epistemologischer Sicht so genannten - Gegenstände zu Dingen werden 11 In bezug auf die ästhetischen wie sozialen Komponenten im Wohnungsbau sei exemplarisch auf die Bauwerke der IBA Berlin oder Ralph Erskines verwiesen. Das Bauwerk als Kunstwerk verwirklicht zumal der neuere Museumsbau, etwa Hans Holleins Museum am Abteiberg in Mönchengladbach oder James Stirlings Staatsgalerie in Stuttgart. 12 Vgl. Der Große Duden, Bd. 7. 13 H. Paetzold, Philosophie der Stadt, 70. 14 Das Heilige gilt Hegel als der erste Inhalt selbständiger Baukunst. Vgl. Vorlesungen über die Ästhetik, 276. 15 E. Lévinas, Eigennamen, 40. 16 I. Prigogine/I. Stengers, Dialog mit der Natur, 292. 17 Vgl. E. Ströker, Philosophische Untersuchungen zum Raum, 66. 18 U. Wenzel, Die Problematik des Gründens beim späten Heidegger, 136. 19 Überhaupt muß daran erinnert werden, daß nicht nur natürliche Orte, sondern auch das Haus in archaischen Kulturen mit dem Numinosen stets verbunden war (vgl. C. Norberg-Schulz, Logik der Baukunst, 110), denken wir etwa an die Penaten und die Laren in der römischen Mythologie. Vgl. dazu auch I. Calvino, Die unsichtbaren Städte, 91ff. 20 R. Maurer, Revolution und Kehre, 55. 21 S. Ueda, Die Gelassenheit im Zen-Buddhismus, 229. 22 Vgl. Der Große Duden, Bd. 7. 23 Selbst drastische Verkleinerungen können die gewaltige Ferne unseres Weltalls nicht anschaulich repräsentieren: der Abstand zwischen der Erde, auf die Größe einer Mikrobe reduziert (10-8), und den entferntesten Galaxien betrüge immer noch Milliarden von Kilometern. Vgl. R.-H. Giese, Einführung in die Astronomie, 4. 24 Vgl. Etymologisches Wörterbuch des Deutschen (Stichwort empfangen"). 25 Strittig ist das Problem, ob der Tod künstlich herbeigeführt werden darf, wenn ein menschenwürdiges Leben ohne Leiden nicht zu erwarten ist, wie etwa im Fall von Spina-bifida-Kindern, die mit freiliegender Wirbelsäule geboren werden (diesen und andere Fälle erörtert P. Singer, Praktische Ethik, 201; bes. Kap. 6 und 7). Sein lassend wäre allenfalls ein Sterbenlassen ohne medizinische Unterstützung oder Nachhilfe vertretbar. 26 E. Tugendhat, Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung, 213ff. 27 Elias Canetti geißelte den Tod zeit seines Lebens als Zumutung für den Menschen: Aber ich verfluche den Tod. Ich kann nicht anders. Und wenn ich darüber blind werden sollte, ich kann nicht anders, ich stoße den Tod zurück. Würde ich ihn anerkennen, ich wäre ein Mörder." (E. Canetti, Das Geheimherz der Uhr, 200) 28 Der Tod von Tieren hat eine andere Qualität als der menschliche Tod, solange wir unterstellen, daß sie kein Bewußtsein vom Ende ihres Lebens haben und insofern auch nicht in den Tod vorlaufen können. Singer etwa unterscheidet zwischen selbstbewußten und vernunftbegabten Tieren und nichtselbstbewußten Lebewesen, für deren Tod wir Verantwortung tragen, wenn wir sie zu unseren Zwecken töten. Er kommt zu dem Schluß, daß auch hier der durch den Menschen herbeigeführte Tod in aller Regel nicht zu rechtfertigen ist (als Ausnahme könne gelten, wenn das Töten eines Tieres die einzige Möglichkeit der Nahrungsbeschaffung darstelle) (vgl. P. Singer, Praktische Ethik, 129ff). 29 Für eine ausschließlich auf das Dasein enggeführte Interpretation des Gevierts votiert Heinz Paetzold, wenn er es auf die sensomotorischen, haptischen, taktilen und visuellen Vermögen des Menschen bezieht (vgl. H. Paetzold, Philosophie der Stadt, 73). 30 Zur Auslegung des Seins trägt nun nach Heidegger bevorzugt die Dichtung bei, wobei wir Dichtung durchaus auf die Kunst im ganzen erweitern dürfen. Ist der Künstler also doch der prädestinierte sein lassende Denker? Ursprünglich, so Heidegger, seien Dichten und Denken eins gewesen (vgl. WhD, 7f; UzS, 189) als das anfängliche, wesenhafte und darum zugleich letzte Sprechen, das die Sprache durch den Menschen spricht" (WhD, 87). Diese Einheit ist faktisch zerbrochen, weil das Denken berechnend geworden ist. Es muß sich erst wieder besinnen, was nach unserer Interpretation aufgrund der existentialen Sterblichkeitserfahrung möglich ist; das wesentliche, das Sein an-denkende Denken kann sonach eine existentiale Kunst initiieren (vgl. Hw, 303). Die Kunst wird durch das Denken auf den Weg, einen Denkweg, gebracht; zu ihr gehört wesentlich das Nachdenken, die Reflexion. Sie mag spontan, intuitiv oder im Rausch entstehen, sie mag dem Fluß von Sprache, Wörtern und Bildern freien Lauf lassen - sie bleibt darin doch eine Interpretation der Welt und vermittelt Bilder von ihr, die den Rezipienten weitere Deutungsmöglichkeiten eröffnen. In der Verwendung noch so unterschiedlicher Medien und Materialien steht jedes Kunstwerk immer schon in einem von Sprache und Denken aufgespannten Kontext. Es ist hermeneutisch, eine Deutung, die verstanden werden will. Darin überhaupt wird es zur Kunst; über Zustimmung oder Ablehnung ist damit allerdings noch nichts gesagt. Die Kunst ist das subversive Moment, das eingefahrene, gewohnte Strukturen aufbricht, gegen den Strich bürstet und dadurch die Alltagswelt zu beleben vermag. Sie ist rationalitätskritisch, weil sie - wie der Mythos - zahlreiche Geschichten zu erzählen weiß. Siglenverzeichnis der zitierten Schriften Martin Heideggers BWD Bauen Wohnen Denken. In: Vorträge und Aufsätze. Pfullingen: Neske, 41978, 139-156. EidM Einführung in die Metaphysik. Tübingen: Niemeyer, 51987. EzHD Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung. Frankfurt am Main: Klostermann, 51989. G Gelassenheit. Pfullingen: Neske, 81985. GA 39 Hölderlins Hymnen Germanien" und Der Rhein". Vorlesung Wintersemester 1934/35. Gesamtausgabe, Bd. 39. Frankfurt am Main: Klostermann, 1980. GA 63 Ontologie. Hermeneutik der Faktizität. Vorlesung Sommersemester 1923. Gesamtausgabe, Bd. 63. Frankfurt am Main: Klostermann, 1988. Hw Holzwege. Frankfurt am Main: Klostermann, 51972. SuZ Sein und Zeit. Tübingen: Niemeyer, 151979. UzS Unterwegs zur Sprache. Pfullingen: Neske, 81986. VuA Vorträge und Aufsätze. Pfullingen: Neske, 41978. WhD Was heißt denken? Tübingen: Niemeyer, 41984. Wm Wegmarken. Frankfurt am Main: Klostermann, 1967. Literaturverzeichnis Biella, Burkhard, Eine Spur ins Wohnen legen. Entwurf einer Philosophie des Wohnens nach Heidegger und über Heidegger hinaus. Düsseldorf: Parerga, 1998. Calvino, Italo, Die unsichtbaren Städte. 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