1. Jg., Heft 1
Oktober 1996 |
An den Grenzen der Kunst in der Moderne
Über Bildfunktion, ästhetische Grenze und Kunst nach dem Ende der Kunst
Einleitung
1 Im Mittelpunkt meines Aufsatzes steht nicht die
kunstgeschichtliche Analyse eines einzelnen Werkes, sondern die Frage der Entwicklung der
Kunst in der Moderne und die Frage nach dem kunsttheoretischen Beschreibungsmodell dieser
Entwicklung. Dieser Aufsatz wird daher den Charakter eines Überblicks erhalten. Ich
stelle mir nämlich vor, erst in der Kenntnis eines solchen Überblicks die Besonderheit
eines einzelnen zeitgenössischen Kunstwerks wirklich einschätzen zu können. Doch diese
Analyse des einzelnen Werkes wäre ein zweiter Schritt, der hier nur in Ansätzen erfolgen
kann.
2 Die moderne Kunst, die angetreten war, um
sozusagen Stück für Stück die malerischen Ebenen des Illusionismus abzutragen, hat die
Grenzen, die sie sich dabei selbst gesetzt hat, immer wieder überschreiten müssen. Über
Grenzüberschreitungen der Kunst zu sprechen, heißt in diesem Aufsatz daher, daß sowohl
auf die avantgardistischen Versuche einerseits zur Aufrechterhaltung und andererseits zur
Überwindung der Grenze zwischen Kunst und Alltag als auch auf die ebenso in der
Kunstheorie wie bei den Künstlern vorzufindende Vorstellung von einem Ende der Kunst
einzugehen ist. Das Ende der Kunst, von Hegel bereits Anfang des 19. Jahrhunderts
angekündigt, steht für eine Krise der Repräsentation, die auch in diesem Jahrhundert,
an dessen Anfang von Künstlern wie Duchamp und Malewitsch und an dessen Ende unter
anderen von den Kunsttheoretikern Belting und Danto behauptet wurde. Danto und Belting
haben diesen Diskurs allerdings noch erweitert. Sie sprechen nicht nur vom Ende der Kunst
und vom Ende der Kunstgeschichte, sondern auch schon von einer Kunst nach dem Ende der
Kunst und von einer Kunstgeschichte nach dem Ende der Kunstgeschichte.
3 Ich möchte in diesem Aufsatz lediglich zu
erklären versuchen, was Kunst nach dem Ende der Kunst sein könnte. Dieser Versuch soll
mit der Darstellung einer Krise beginnen, in der sich die gegenwärtige Kunst und damit
selbstverständlich auch die Kunstgeschichte findet. Für diese Krise, die beispielsweise
Klotz dargestellt hat, gibt es allerdings bereits auch schon einen Ausweg. Er wird in den
neuen Büchern von Belting und Klotz, die sich mit der Entwicklung der modernen Kunst
auseinandersetzen, beschrieben.
4 Wir werden es im folgenden mit drei Modellen zu
tun haben, die ich der Anschaulichkeit halber durch ein Schema darstellen möchte. In der
Erklärung dieses Schemas soll die Krise der Kunst sowie der Kunstgeschichte und ein
Ausweg aus dieser Krise dargestellt werden. Das im Schema gezeigte erste Modell ist von
Clement Greenberg. Man könnte es das lineare Fortschrittsmodell nennen. Das zweite Modell
ist das geradlinige Verlaufsmodell, auf das man beispielsweise in den Schriften von Werner
Hofmann stößt. Beide Modelle sind höchst problematisch. Das dritte Modell, das mit den
neueren Kunsttheorien von Belting, Klotz, Danto und Groys in Beziehung gebracht werden
kann, soll als Ausweg aus der Krise vorgestellt werden.
5 Beginnen wir mit dem ersten Modell, das Greenberg
in der Nachkriegszeit vertreten hat. Für Greenberg stellt sich die Entwicklung der
modernen Kunst als ein linearer Fortschrittsprozeß dar. Die Entwicklung verläuft von der
gegenständlichen zur ungegenständlichen Malerei, deren Höhepunkt für Greenberg in der
amerikanischen Kunst des abstrakten Expressionismus erreicht worden ist. Der Kubismus ist
in diesem Modell eine Zwischenstufe, die den Gegenstandsbezug noch nicht vollständig
überwunden hat. Das ist erst der Kunst vollständig gelungen, für die Greenberg den
Titel American Type Painting gefunden hat. Diese Malerei zeichnet sich in erster Linie
durch ihre Flachheit aus. Für Greenberg ist die Flachheit das höchste, was in der
Malerei zu erreichen ist und damit zugleich auch das Ende der Malerei. In dieser
Perspektive mußte eine Kunst wie die Pop Art, die wieder zur Figuration in der Malerei
zurückgefunden hatte, als Verfallskunst erscheinen. Greenberg ist offensichtlich davon
ausgegangen, daß es eine neue Malerei nach dem Ende der Malerei, das durch die Flachheit
in den Gemälden des abstrakten amerikanischen Expressionismus begründet wurde, nicht
geben kann. Diese Auffassung, nämlich alle nach der American Type Painting entstehende
Kunst als Verfallskunst werten zu müssen, kann letztendlich nicht überzeugen.
6 Gehen wir also zum zweiten Modell über, das in
den Schriften von Werner Hofmann entwickelt wird, das sicherlich aber auch für Haftmann
und Imdahl gilt. Hofmann hat dieses Modell, das man als ein geradliniges Verlaufsmodell
bezeichnen könnte, am deutlichsten in seinem Buch "Von der Nachahmung zur
Wirklichkeit" ausgeführt. Hier vertritt Hofmann die Auffassung, daß es gar keinen
Fortschritt in der Geschichte der Kunst gibt, sondern lediglich einen Verlauf, in dem von
Zeit zu Zeit gewisse Wiederholungen auftauchen. Eine dieser Wiederholungen ist die, wie
Hofmann es formuliert, "schöpferische Befreiung der Kunst von 1890 bis 1917",
d. h. die Entwicklung der Moderne in der Kunst. Den Übergang von der gegenständlichen
zur ungegenständlichen Kunst siedelt Hofmann nämlich auf der selben Ebene an, auf der er
den Übergang vom Sinnbild des Mittelalters zum Abbild der Neuzeit identifiziert. Daraus
ist nach Hofmann zu schließen, daß es nicht sinnvoll ist, über so etwas wie Fortschritt
in der Kunst zu sprechen. Der Übergang zur modernen Kunst stellt nicht etwas radikal
Neues dar, denn dieser Übergang entspricht dem Übergang, der sich vom Sinnbild zum
Abbild ereignete. In dieser Sichtweise wäre der Ursprung der Moderne im Mittelalter zu
suchen. Diese Behauptung wird von Hofmann in seinem neuesten Buch "Das entzweite
Jahrhundert - Kunst zwischen 1750 und 1830" nicht nur wiederaufgenommen, sondern
zudem noch bekräftigt.
7 Gegenüber diesen aus heutiger Sicht problematisch
erscheinenden Auffassungen möchte ich ein drittes Modell ansprechen, das mit den neuesten
Arbeiten von Belting, Klotz, Weibel, Danto und Groys vereinbar ist. Ich habe es das
mehrgleisige, zickzacklinige Entwicklungsmodell genannt, das nicht nur Aufwärts-, sondern
auch Abwärtsentwicklungen, Haupt- und Nebenentwicklungen, gegensätzliche und parallele
Entwicklungen kennt. Außerdem ist in diesem Modell auch die Rede vom Ende der Kunst. Im
Unterschied zu Greenbergs Auffassung vom Ende der Kunst sind sich alle Genannten im
Zusammenhang mit dem dritten Modell darin einig, daß das Ende der Kunst nicht ein
absolutes Ende, sondern daß es eine Kunst nach dem Ende der Kunst geben kann und auch
geben muß. Als Beispiel für eine solche Kunst wird von allen Genannten die Medienkunst
genannt. Ein weiterer wichtiger Gesichtspunkt, der in erster Linie von Belting immer
wieder angesprochen wird, ist die Verabschiedung der eingleisigen Stilgeschichte zugunsten
einer mehrgleisigen Kunstgeschichte, die Belting in seinem Buch "Das Ende der
Kunstgeschichte" als "dritte Kunstgeschichte" bezeichnet und die er, ebenso
wie die anderen genannten Kunsttheoretiker, zum "erwünschten Anlaß" nimmt, die
Geschichte der modernen Kunst umzuschreiben, d. h. noch einmal zu schreiben. Dabei
interessiert sich Belting in erster Linie aber nicht für das Ende der Kunst, sondern für
das Ende der Kunstgeschichte.
8 Ich werde im folgenden den Versuch unternehmen,
die Geschichte der modernen Kunst sowohl im Hinblick auf das Ende der Kunst als auch im
Hinblick auf die Kunst nach dem Ende der Kunst zu rekonstruieren. Dabei ist es
unerläßlich, sowohl auf die Kunstwerke vor dem Anfang der Kunst als Kunst als auch auf
die Kunstwerke nach dem Ende dieser Kunst einzugehen. Über Kunst nach dem Ende der Kunst
zu sprechen, setzt allerdings ein Geschichtsmodell voraus, das sich sowohl vom linearen
Fortschrittsmodell als auch vom geradlinigen Verlaufsmodell unterscheidet.
9 Ich bin der Überzeugung, daß der in diesem
Aufsatz gewählte Problemzusammenhang ausschließlich aus der Vogelperspektive angemessen
zu erörtern ist. Dabei nehme ich bewußt in Kauf, zunächst eventuell die Nähe zum
einzelnen Werk oder das Besondere des einzelnen Werkes aus den Augen zu verlieren. Mir
geht es nämlich nicht darum, das Besondere des einzelnen Werkes in der Geschichte, wie
die werkorientierten Kunsthistoriker es machen, unmittelbar und unvermittelt zu erfassen,
sondern den Gang der modernen Kunst zu ihrem Ende und über dieses Ende hinaus zu
verfolgen. Erst darüber verspreche ich mir bessere Einsichten hinsichtlich der
Einschätzung der zeitgenössischen Kunst zu bekommen. Mit diesen besseren Einsichten
könnten wir uns dann selbstverständlich wieder der Besonderheit des einzelnen Werkes
nähern.
1. Das abbildende Bild
10 Der Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit ist auf
der Seite der Neuzeit mit der Einführung einer neuen Bildfunktion verbunden. Die
mittelalterliche Auffassung des Bildes als Sinnbild wird außer Kraft gesetzt und durch
eine neue Bildauffassung ersetzt. Das Bild der Neuzeit ist das die sinnliche Wirklichkeit
abbildende Bild. Insofern ist der Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit als der Übergang
vom religiösen Sinnbild zum weltlichen Abbild zu beschreiben. War der mittelalterliche
Mensch eher jenseitsgewandt, stand der neuzeitliche im Zeichen der Entdeckung der Welt und
des Menschen durch die Kunst, um es mit Jacob Burckhardt zu sagen. Das Bild war entweder
Abbild der sinnlichen Erscheinungswirklichkeit oder Repräsentation der gesellschaftlichen
Verhältnisse. In beiden Fällen jedoch wurde es als ein Fenster gesehen, durch das
hindurch die Welt ansichtig werden sollte. Die ästhetische Grenze zwischen Bild und
Betrachter war bewußt, sollte aber überschritten werden, um dadurch die Illusion eines
begehbaren Bildraumes entstehen zu lassen. Die Entwicklung der Perspektive war in diesem
Zusammenhang das entscheidende Mittel. Zunächst noch sehr unbeholfen, wurde sie rasch
gezielt eingesetzt, um die entsprechende Wirkung im Betrachter zu erzeugen. Am Beispiel
von zwei Bildern kann man Danto zufolge zeigen, wie die Illusion des begehbaren Bildraumes
perfektioniert wurde. In dem Gemälde "Geschichte vom Kreuzesholz" von Piero
della Francesca ist der Blickpunkt noch so hoch, daß der reale Betrachter ihn unmöglich
einnehmen kann. Der Betrachter kann deshalb auch nicht an der Illusion teilnehmen. Danto
spricht in diesem Zusammenhang von der "Körperlosigkeit des Auges", die später
von einem anderen Maler überwunden werden kann, so daß der Betrachter die Möglichkeit
hat, ein Teil der Illusion zu werden. Gemeint ist hier die "Rosenkranz-Madonna"
von Caravaggio. Für Danto wird hier die Körperlichkeit des Auges dadurch realisiert,
daß der Betrachter vor dem Bild genau den Blickpunkt der Perspektive des Bildes
einzunehmen vermag.
11 Der ontologische Status des Bildes ist durch den
Begriff der Mimesis bestimmt. Danach ist die Wirklichkeit der sichtbaren Welt ihrem Abbild
zwar übergeordnet, aber die Welt des Bildes und die Welt des Betrachters sind homogen
zueinander. Für Panofsky sind Raumdarstellung und Raumkonstruktion in der Malerei der
Neuzeit Ausdruck des Wirklichkeitsverständnisses und des Weltbildes der Epoche.
Ästhetische Wahrnehmung ist für Panofsky demzufolge ein wiedererkennender Blick. Beide
Welten, die Welt des Bildes und die Welt des Betrachters, gehören nämlich zu der einen
neuzeitlichen Welt, die als dreidimensionaler Raum wissenschaftlich konstruiert und als
Modell zur Erkenntnis der Außenwelt genutzt werden kann. In Leonardos anatomischen
Zeichnungen kommt durch strenge und exakte Naturbeobachtung die Wirklichkeit als
naturwissenschaftliche Erkenntnis zum Vorschein. Aus diesem Grunde konnten diese
Zeichnungen auch den Ärzten zur Belehrung über den menschlichen Körper dienen. Das
exakte Abbild der Wirklichkeit wird hier zum Vorbild für den ärztlichen Eingriff in die
Wirklichkeit. Daß diese Wirklichkeit einmal Vorbild für das Abbild gewesen ist, kann auf
der einmal erreichten Ebene der Wirklichkeit als Bild keine entscheidende Rolle mehr
spielen.
12 Die neuzeitliche Kunst erhält im Verhältnis des
Menschen zu seiner Welt die Funktion der Entdeckung. Immer neue Themen und neue Sichten
werden im Zusammenhang der Wirklichkeit durch die Abbildung ermöglicht. Der neuzeitliche
Mensch kommt nicht über die Wirklichkeit selbst, sondern über das Bild der Wirklichkeit
zur Erkenntnis der Wirklichkeit. Aus dem Bild der Wirklichkeit wird dann zwangsläufig die
Wirklichkeit als Bild, wie es Heidegger in seinem berühmten Aufsatz "Die Zeit des
Weltbildes" festgestellt hat. "Wenn wir uns auf die Neuzeit besinnen," sagt
Heidegger, "fragen wir nach dem neuzeitlichen Weltbild. ... Wo es zum Weltbild kommt,
vollzieht sich eine wesentliche Entscheidung über das Seiende im Ganzen. ... Der
Grundvorgang der Neuzeit ist die Eroberung der Welt als Bild. Das Wort Bild bedeutet
jetzt: das Gebild des vorstellenden Herstellens." Mit Weltbild meint Heidegger nicht
nur 'Bild der Welt' im Sinne von Abbild, sondern vor allem 'Welt als Bild'. Der
neuzeitliche Mensch ist nach Heidegger der Ansicht, über die Welt 'im Bilde sein' zu
müssen. Weil er Sein als Vorgestelltheit des Seienden bestimmt, muß er sich die Welt
vorstellen, d. h. vor sich hinstellen, um festzustellen, wie sie in Wirklichkeit ist.
Vorstellend setzt sich der Mensch über die Welt ins Bild; und herstellend nimmt er im
Bild die Welt als Bestand in Besitz. Diese Entwicklung, also die Eroberung der Welt als
Bild, bedient sich der Malerei so lange, bis die Fotografie erfunden wird, die die
Funktion der Entdeckung der Welt und des Menschen nicht nur objektiver, sondern auch
billiger und schneller erfüllen konnte. Damit wird die Malerei als in der neuzeitlichen
Geschichte ausgebildete institutionelle Praxis der Herstellung von Bildern in Frage
gestellt. Mit ihrer bis dahin selbstverständlichen Ausrichtung auf Abbildung und
Repräsentation gerät die Malerei in eine tiefe Krise, aus der die moderne Kunst nur
über den Bruch mit der Abbildfunktion herauskommen konnte. Mit dem Verlust der
Abbildfunktion konnte sich die Repräsentationsfunktion auch nicht mehr halten.
2. Das Bild als Farbe
13 Den ersten radikalen Bruch mit der Abbildfunktion
der Malerei vollzog der Impressionismus, für den der Bezugspunkt der Malerei nicht mehr
der Gegenstand, sondern die Farbe ist. Durch die Befreiung des Bildes vom Diktat der
Repräsentation und der Abbildung konnte die Farbe den Gegenstand erfolgreich verdrängen.
Weibel ist in einem bemerkenswerten Aufsatz von 1992, der von Imdahls berühmter Studie
über Farbe ausgeht, auf diese Veränderungen in der künstlerischen Verwendung von Farbe
detailliert eingegangen. Farbe wurde nicht mehr als Lokalfarbe, die in der traditionellen
Malerei der Darstellung von Gegenständen verpflichtet war, verwandt, sondern Farbe wurde
in der Malerei des Impressionismus um der Farbe willen eingesetzt. Damit war der Weg
beschritten, der aus dem Bild schließlich eine reine Farbfläche werden lassen konnte. Im
Impressionismus wird dieses Ziel allerdings noch nicht erreicht. Wie Imdahl in seiner
Studie über Farbe berichtet, ist erst Kandinsky vor einem Heuhaufenbild von Claude Monet,
das er 1895 in einer französischen Ausstellung in Moskau gesehen hatte, klargeworden,
daß die Farbe den "Gegenstand als unvermeidliches Element des Bildes"
diskreditieren kann.
Claude Monet, Heuschober bei Sonnenuntergang, 1891
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14 Der Impressionismus verliert den Gegenstandsbezug
noch nicht vollständig, sondern stellt lediglich die Farbe über den Gegenstand. Die
Farbe verabschiedet sich vom Gesetz der Lokalfarbe und erhält einen besonderen
Stellenwert. Im traditionellen gegenständlichen Tafelbild ist der Bezugspunkt der
farbigen Darstellung die äußere sinnliche oder übersinnliche Wirklichkeit. Die Farbe
war ein Mittel zur Darstellung von Personen oder Gegenständen. Sie hatte keinen absoluten
Wert, d. h. keinen Eigenwert als Farbe. Erst im Impressionismus ist die Farbe immer mehr
an die Stelle des Gegenstandes getreten und zum neuen Mittelpunkt der malerischen
Überlegung aufgestiegen. Der Gegenstand wird aber noch nicht vollständig überwunden,
sondern tritt lediglich in den Hintergrund. Das Problem von Malern wie van Gogh oder
Gauguin ist für Weibel nicht mehr die Frage der Repräsentation von Gegenständen und
Menschen, sondern die Frage nach dem Aufbau einer Farbfläche, die Frage nach der Wirkung
von Farbe und Licht. Aber die Darstellungen dieser Malerei, die einen Gegenstandsbezug
behalten, sind autonome. Die Entwicklung vom Altarbild zum autonomen Tafelbild geht über
die drei Stufen der symbolischen Darstellung im Mittelalter, der gegenständlich
repräsentierenden Darstellung in der Neuzeit und schließlich der autonomen Darstellung
seit dem Impressionismus. Eine gegenständliche Malerei, die unter dem Diktat der
Abbildung und der Repräsentation steht, kann nur heteronome Bilder hervorbringen. Erst
eine gegenständliche Malerei, die ihre gegenständliche Welt, wie beispielsweise das
blaue Pferd, erfindet, kann ein autonomes Bild erzeugen.
Robert Delaunay, Fenster zur Stadt, 1912
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15 Im fortschreitenden Verlauf der Moderne wendet
sich die Farbe immer entschiedener vom Gegenstand ab und bezieht sich schließlich nur
noch auf sich selbst. Delaunays Gemälde "Die simultanen Fenster auf die
Straße" besteht ausschließlich aus der Wirkung des Simultankontrastes der Farbe.
Die Verabsolutierung der Farbe hat aber nicht nur den Gegenstand, sondern auch die Form
aus dem Bild verdrängt. Während beim gemalten Apfel die Identität von Farbe und Form
noch besteht, ist sie, um es mit Weibel zu sagen, beim blauen Pferd durch eine
Nicht-Identität ersetzt. Die Relation von Farbe und Form ist hier aber nicht aufgehoben,
sondern erhalten als Nicht-Identität. Mit der zunehmenden Einschränkung auf die Fläche
verschwindet aber auch die vom Gegenstand abgeleitete Form zugunsten einer
Verabsolutierung der Farbe, die eine Verbindung der abstrahierten Farbe mit abstrahierten
Formen der Geometrie herstellen. Diese Entwicklung, ich meine die Entwicklung zum
gegenstandslosen Bild, führt auch zum monochromen Bild, mit dem die Entfernung der Farbe
aus dem Bild die Malerei an den Rand ihres Verschwindens brachte. Das ist die Entwicklung
von Rodtschenko bis Manzoni. Für Malewitsch beispielsweise bedeutet Gegenstandslosigkeit
auch Farblosigkeit. Die Stufen der Abstraktion sind in diesem Sinne als Stufen der
Selbstauflösung der Malerei zu betrachten.
3. Das abstrahierende Bild
16 Die nächste, auf den Impressionismus folgende
Stufe dieser Selbstauflösung der Malerei ist der Kubismus, der das abstrahierende Bild
hervorgebracht hat. Cézanne hatte bei seinem Versuch der Überwindung der
illusionistischen Darstellungsweise zwei Strategien miteinander verbunden. Erstens war er
davon ausgegangen, daß alles in der Welt nur aus stereometrischen Grundformen wie
Zylinder, Kegel und Kugel besteht, zweitens hatte er das Ziel, das Dargestellte an die
Fläche zu binden. Picassos künstlerische Strategie folgt dieser Auffassung, ergänzt sie
jedoch durch die Aufhebung einer einheitlichen Perspektive, so daß die Gegenstände nun
aus verschiedenen Blickwinkeln gleichzeitig dargestellt werden. Auch in den Bildern
Braques werden von den Gegenständen nur noch Fragmente unterschiedlicher Ansichten, die
einander neu zugeordnet werden müssen, dargestellt. Einen Rückbezug auf die Wirklichkeit
der einseitigen Abbildung eines Gegenstandes unter einem einheitlichen Blickwinkel
schließen die kubistischen Künstler kategorisch aus, womit sie eine starke ästhetische
Grenze zwischen Kunst und Alltag aufgebaut haben.
Pablo Picasso, Portrait von Ambroise Vollard, 1910
(Klicken Sie auf das Bild für eine grössere Version. [206KB])
17 In der kubistischen Formzertrümmerung bleibt der
Gegenstandsbezug, wie verzerrt auch immer, erhalten. Das kubistische Bild kann deshalb
noch nicht als abstraktes, d. h. den Gegenstand überwundenes, sondern nur als
abstrahierendes Bild beschrieben werden. Allerdings stellt das kubistische Bild neue
Anforderungen an die ästhetische Wahrnehmung. Ein lediglich wiedererkennender Blick
reicht vor diesen Bildern nicht aus; es muß so etwas wie ein sehendes Sehen, ein von der
normalen Seherfahrung freigesetztes, autonomes, gegenstandsfreies Sehen, hinzukommen, um
den Betrachter vor einem kubistischen Bild nicht scheitern zu lassen. Imdahl hat über den
Zusammenhang von Bildautonomie und Gegenstandssehen einen nach wie vor beeindruckenden
Aufsatz geschrieben und gezeigt, wie in der Verknüpfung von wiedererkennendem und
sehendem Sehen die kubistischen Bilder den Betrachtern zugänglich werden können. Die
ästhetische Grenze, die die kubistischen Bilder zwischen Kunst und Alltag aufstellen,
kann dennoch nicht überwunden werden.
18 Die autonome Kunst, die versucht, Fragmente aus
der Alltagswelt in die Kunstwelt zu überführen und in das Kunstwerk zu integrieren,
überwindet damit nicht die Grenze zwischen Kunst und Alltag, sondern verstärkt sie noch,
denn der aus dem Alltagszusammenhang herausgerissene Zeitungsausschnitt beispielsweise hat
im neuen Kontext der Kunst seine Identität als Alltagsgegenstand, die er nur im Kontext
des Alltagszusammenhangs haben kann, verloren. An einem Werk von Picasso könnte man das
beispielhaft zeigen.
Pablo Picasso, Stilleben mit Rohrstuhlgeflecht, 1912
(Klicken Sie auf das Bild für eine grössere Version. [141KB])
19 Hier ist also ein Alltagsgegenstand in die
Kunstwelt überführt worden und mußte durch die Integration in den Kunstzusammenhang
seine Identität als Alltagsgegenstand aufgeben. Damit ist die Grenze zwischen Kunst und
Alltag nicht aufgehoben, sondern im Gegenteil noch verstärkt worden und für den
normalen, kunsttheoretisch nicht gebildeten Betrachter weiterhin undurchlässig.
4. Das abstrakte Bild I
20 Solange die Malerei im Dienste der abbildenden
Funktion unbefragt und als selbstverständlich akzeptiert wurde, war es noch nicht
möglich, das Wesen der Malerei freizulegen. Erst nachdem der Gegenstandsbezug, der im
kubistischen Bild ja noch vorhanden war, durch die abstrakte Malerei vollständig
überwunden wurde, kann so etwas wie das Wesen der Malerei zum Vorschein kommen. Dieses
Wesen wurde auf der Suche nach visueller Tranzendenz in der Idealität reiner Formen
gefunden. Die Kompositionen reiner Formen und Farben galten als Ausdruck einer
tranzendenten Ordnung. Damit wird ein latenter und diffuser Platonismus deutlich, durch
den alle namhaften Abstrakten, in erster Linie Kandinsky, Mondrian und Malewitsch geprägt
sind. Diese Auffassung besteht in der Behauptung einer metaphysischen Hinterwelt. So hat
beispielsweise Mondrian seine abstrakten Bilder als Gesetzestafeln der wahren Wirklichkeit
oder als Ausschnitte aus einer universellen, unter normalen Umständen verschleierten,
Gesetzmäßigkeit verstanden. Die ästhetische Grenze, die durch den Kubismus zwischen
Alltag und Kunst gezogen worden war, wird durch die Abstrakten verlagert und als Grenze
zwischen Sein und Schein, Realität und Fiktion, Kunst und Welt bestimmt. Ich beziehe mich
im Hinblick auf die Gestaltung und Veränderung der ästhetischen Grenze in der modernen
Malerei im folgenden in erster Linie auf den kunsttheoretischen Ansatz, den Meinhardt 1995
in einem Aufsatz dargestellt hat.
Piet Mondrian, Komposition mit Rot, Gelb und Blau, 1920
(Klicken Sie auf das Bild für eine grössere Version. [48KB])
21 Abstrakte Malerei, wie sie nach 1913 ausgebildet
wurde, sollte in einem gründlichen Reinigungsprozeß die Malerei endgültig von allem
Sensuellen befreien. Das Bild sollte in die Idealität reiner Formen übergehend
"reine Anschauung ohne Inhalt" werden, wie Meinhardt es ausgedrückt hat. Was
der Betrachter in diesen Bildern zu sehen bekommt, sind nicht wiedererkennbare Abbildungen
der gegenständlichen Welt, sondern ideale Formen, die, um es mit Meinhardt zu sagen, als
"transzendenter Besitz des Bewußtseins" vorausgesetzt werden. Diese idealen
Formen, die im Gemälde durch den Künstler entäußert werden, sollen vom Betrachter als
eine "intelligible Ordnung" in dem System idealer Elemente, reiner geometrischer
Formen, reiner Farben und reiner Beziehungen identifiziert werden. So unwahrscheinlich es
dem heutigen Menschen erscheinen mag, aber offensichtlich haben Kandinsky, Mondrian und
Malewitsch wirklich daran geglaubt, daß es eine geistige Hinterwelt, d. h. eine wahre
Wirklichkeit oder universell gültige Gesetzmäßigkeit unter der verschleierten
Oberfläche der gewöhnlichen sinnlichen Erscheinungswelt gibt.
22 Die Reinigung der Malerei erreichte ihren
Höhepunkt in der weißen oder schwarzen Monochromie. Weiße oder schwarze Monochromie
befreit die Malerei von allen sensuellen Einzelheiten und Reizungen. Aber diese Befreiung
reduziert die Malerei Meinhardt zufolge auf einen formalen, in Wirklichkeit leeren
Schematismus: Als der Endpunkt jeder erdenklichen Reduktion ist sie in den Augen des
moderen Künstlers die Schwelle zu einer "reinen Spiritualität ohne Bindung an
Sensualität".
Ad Reinhardt, Black Painting, 1960-66
(Klicken Sie auf das Bild für eine grössere Version. [59KB])
23 In den Bildern von Ad Reinhardt ist das Verfahren
der Reduktion in der Form der "aktiven Negativität" am weitesten entwickelt
worden. Seine Bilder sind nur noch durch Abwesenheiten gekennzeichnet: sie sind
Nichtkomposion, Nichtform, Nichtfarbe, Nichtillusion usw. Der Gang der Reduktion vollendet
sich in dem Erreichen der angezielten reinen Immaterialität einer Bildfläche, die alle
positiven Bestimmungen abgeworfen hat und dadurch in reine Intelligibilität aufgehen
soll. Am Ende des 20. Jahrhundert ist der Glaube der Avantgardisten der ersten
Jahrhunderthälfte, im Bild könne eine durch die Sinnlichkeit verschleierte wahre
Wirklichkeit wiederauferstehen und dadurch zu einer grundlegenden Veränderung des Lebens
führen, endgültig zerstört. Doch Ad Reinhardt, Barnett Newman und viele andere
Künstler in den 60er Jahren waren in ihrer Kunst diesem Glauben noch streng verpflichtet.
Wenn wir diese Kunst aber nicht von unseren heutigen Voraussetzungen einfach nur verkennen
wollen, müssen wir sie zunächst von ihren eigenen Voraussetzungen her verstehen, um sie
dann erst von unseren Voraussetzungen kritisch-historisch in den Blick nehmen zu können.
5. Das abstrakte Bild II
24 Mit den Bildern von Ad Reinhardt sind alle
Möglichkeiten der Reduktion vom Sensuellen bis an die letzten Grenzen ausgespielt worden.
Wollte die Malerei nach den Bildern Reinhardts sich nicht in endlosen Wiederholungen
erschöpfen, mußte sie mindestens einen Richtungswechsel einschlagen. Diesen haben
verschiedene Künstler der Nachkriegsmoderne in ihren Werken vorgenommen und sind dabei
auf die Ebene der materiellen Wirklichkeit des Bildträgers gekommen. Während aber die
sichtbare Realität der Materialien und Tätigkeiten bei Fautrier, Dubuffet und Pollock
noch, wie Meinhardt behauptet, als "Bildlichkeit" wahrgenommen wird, wird erst
in der Bestimmung und Wahrnehmung des Gemäldes als ein Objekt in der Welt die
Transzendenz der Malerei völlig aufgegeben. Für Meinhardt hat sich damit die Einstellung
der Malerei ein weiteres Mal verlagert. Doch dieser Wechsel, den Stella und Judd
vorgenommen haben, läßt vom Gemälde außer der materiellen Oberfläche eines Trägers
nichts mehr übrig. Und das hat schließlich den vollständigen Zusammenbruch der
ästhetischen Differenz zur Folge gehabt. Der Zusammenbruch der ästhetischen Differenz
zwischen materiellem Gegenstand und visueller ästhetischer Ordnung ist nach Meinhardt
gleichzusetzen mit dem Ende der modernen Malerei. Diese war mit einem tiefgreifenden
Verdacht gegen den Illusionismus der traditionellen Malerei angetreten und mußte, um es
mit Meinhardt zu sagen, nun feststellen, daß die letzten noch möglichen Gemälde keine
Gemälde im ästhetischen Sinne mehr sind. An der bloß noch materiellen Oberfläche muß
die ästhetische Differenz mit Notwendigkeit zusammenbrechen. Das Gemälde wird dann nicht
mehr als Kunstwerk wahrgenommen, wie Meinhardt sagt, sondern als ein Gegenstand unter
anderen Gegenständen in der Welt.
Frank Stella, Quathlamba, 1964
(Klicken Sie auf das Bild für eine grössere Version. [184KB])
25 Ein Fortgang der Malerei war jetzt nicht mehr
möglich. Wenn die Arbeit an bestimmten künstlerischen Problemen so weit vorangeschritten
ist, daß ein Weitergehen in derselben Richtung keine weiteren oder neuen Ergebnisse mehr
bringen kann, gibt es nur noch einen einzigen Ausweg: die einmal angenommenen
Voraussetzungen müssen durch neue ersetzt werden. Diesen Weg ist die Postmoderne in der
Malerei gegangen. Sie ist für eine Refiktionalisierung des auf einen gewöhnlichen
Gegenstand reduzierten Gemäldes eingetreten. Mit Meinhardt läßt sich aus der bis
hierher rekonstruierten Geschichte der modernen Kunst eine Entwicklung ablesen, die sich
im wesentlichen innerhalb "zweier Brüche" bewegt: Während also mit dem ersten,
die Moderne einleitenden Bruch, dem 'Bruch mit dem Abbild und der Referentialität', die
'Entgegensetzung von vormoderner und moderner Malerei', die sich um den 'Gegensatz
zwischen Funktionalität und Autonomie', zwischen 'Referentialität und transzendenter
Ordnung' herum anordnete, wurde mit dem zweiten, die Moderne überwindenden Bruch, dem
Bruch mit der Abstraktion und Konkretion, der Gegensatz von moderner und postmoderner
Malerei, der sich um die Achsen Desillusionierung und Refiktionalisierung dreht, von
bestimmender Bedeutung für die Behauptung der ausdifferenzierten Kunst, die in der
Postmoderne allen Versuchen zur Grenzüberschreitung der Kunst wieder entschieden
entgegentritt. Meinhardt nimmt die Postmoderne allerdings nicht ernst. Er betrachtet sie
als "simple Gegenbewegung" zur Moderne. Aus diesem Grund kann er ihre
historische Stellung auch nicht angemessen einschätzen. Gegen Meinhardt werde ich im
folgenden daher eine andere Einschätzung vorschlagen, in der die Postmoderne weder als
das "notwendige Schicksal der Moderne" noch als "simple
Gegenbewegung", sondern als 'gleichwertige Gegenbewegung' erscheint.
6. Das refiktionalisierte Bild
26 In der soeben genannten Sichtweise muß die
Postmoderne als eine "ästhetische Neubesetzung der Fiktion" gedeutet werden.
Als erster hat Klotz diese Sichtweise in seinem 1994 erschienenen Buch über "Kunst
im 20. Jahrhundert" entwickelt und vorgestellt. Die Kunst den 'Bindungen des schönen
Scheins' zu entheben und ihr die 'Relevanz einer das Leben durchdringenden und das Leben
verändernden Kraft' zu verleihen, sagt Klotz, war das historische Programm einer
dominanten Entwicklunglinie der Avantgarde. Aber durch die anvisierte Identität von Kunst
und Leben hat die moderne Kunst für Klotz den "Anspielungsreichtum des
Fiktiven" letztlich vollständig verspielt. Er sieht in der Postmoderne den Versuch,
diesen Anspielungsreichtum des Fiktiven für die Kunst zurückzugewinnen. Beispielhaft
für die Malerei sei das in den Werken von Rainer Fetting, Sandro Chia, Eric Fischl und
David Salle verwirklicht worden. In detaillierten Untersuchungen zeigt er, wie die
Postmoderne, die sich in den frühen achtziger Jahren auch in Deutschland in allen
Bereichen der Kunst und Architektur durchgesetzt hatte, auf den Anspruch einer Identität
von Kunst und Leben verzichtete und das Kunstwerk auf seinen Scheincharakter
zurückführte. Insofern geht es in den postmodernen Werken der Kunst und der Architektur
um die "Wiedererlangung eines fiktiven Gehalts", der durch den Versuch der
Moderne, Kunst ins Leben zu überführen, geopfert worden sei. Dieser fiktive Gehalt kann
ausschließlich unter der Bedingung einer Neuerrichtung der ästhetischen Grenze zwischen
Kunst und Wirklichkeit in die Kunst zurückgeholt werden.
27 Nicht den "Verzicht auf die
Selbstbegründungsansprüche der Moderne", mit dem die "Gefahr einer erneuten
Annäherung an den Historismus" zusammenhängt, sieht Klotz als das eigentliche Thema
der Postmoderne, sondern die Herausforderung durch den Anspruch auf die "Wiederkehr
des Ästhetischen als Fiktivem". Die Wiedererlangung des Fiktiven ist aber
ausdrücklich mit dem Verzicht der Überführung autonomer Kunst in Lebenspraxis
verbunden. Dieser Verzicht ist die Konsequenz aus dem Versuch der Avantgarde, die
Reduktion von allem Sensuellen an ihre Grenze zu treiben und damit das Ende der Kunst
unvermeidlich akzeptieren zu müssen. Daraus ergibt sich für Klotz die Auffassung, daß
Kunst heute nur wieder als von der Realität abgegrenzte Fiktion möglich sein kann.
28 Aber ist die postmoderne Malerei nun wirklich die
Malerei nach dem Ende der modernen Malerei? Mit Sicherheit nicht. Daß die postmoderne
Malerei nicht die Malerei nach dem Ende der modernen Malerei sein kann, hat sich
meineserachtens während der 46. Veranstaltung der Biennale in Venedig 1995 deutlich
gezeigt. Zu ihrem 100jährigen Bestehen hatte die Biennale nämlich auch die Medienkunst
entdeckt. Die Ausstellung insgesamt muß als höchst aufschlußreich bewertet werden, denn
die Sonderausstellung von Jean Clair, die einen Rückblick auf die wesentlichen
Entwicklungsphasen der Moderne vorzunehmen beanspruchte, war offensichtlich sehr einseitig
auf eine Parteinahme für die gegenständliche Kunst angelegt und verwies genau damit auf
eine alternative Entwicklung der Moderne, die schließlich in die Postmoderne mündet.
Aber Clair begnügt sich nicht damit, auf diese Entwicklung hinzuweisen. Denn er verfolgt
mit dem Hinweis auf diese immer wieder ausgeklammerte Entwicklung der Moderne die Absicht
einer Absage an die Abstraktion. Parallel zu dieser Absage an die Abstraktion muß es dann
als verständlich erscheinen, daß den Avantgarden unseres Jahrhunderts das Ausspielen von
Figuration gegen Abstraktion als Ausdruck einer reaktionären Haltung gelten mußte. In
ihrer Ausrichtung auf die Abstraktion mußte jede Hinwendung zur gegenständlichen Malerei
als Verrat erscheinen. Die Moderne hat mit ihrer Thesis gleichzeitig immer auch ihre
Antithesis gesetzt. Insofern ist beispielsweise auf der politischen Ebene der Faschismus
kein Betriebsunfall einer ansonsten aufklärerischen Moderne. Der Faschismus ist ebenso
ein Kind der Moderne wie die Aufklärung. Auf einer anderen Ebene gilt dasselbe für die
gegenständliche und ungegenständliche Kunst in der Moderne. Beide Richtungen gehören
zur Moderne. Doch während die ungegenständliche Kunst insbesondere seit 1945 fraglos als
Hauptweg der Moderne akzeptiert wurde, konnte sich die gegenständliche lange Jahre
lediglich im Abseits, d. h. auf Nebenwegen halten.
29 Diese Situation zu ändern, hat sich Jean Clair
vorgenommen. Seine gewaltige Anstrengung, die Entwicklungsphasen der Moderne
nachzuzeichnen, zeigt die gegenständliche Malerei im Spannungsfeld von "Identität
und Nicht-Identität" (wie seine Ausstellung im Palazzo Grassi betitelt war) als den
immerwährenden Versuch, die Gestalten des Körperlichen sowohl realistisch als auch
fiktional sichtbar zu machen. Das gilt in besonderem Maße für die postmoderne Kunst der
80er und 90er Jahre.
Katharina Fritsch, Museum, 1995
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30 Vergegenwärtigen wir uns die einzelnen
Länder-Pavillons der Biennale 1995, so fällt die Fiktionalisierung der Kunst auch im
Deutschen Pavillon auf. Katharina Fritschs achteckiges, von einem Wald mit schwarzen
Stachel-Bäumen eingezäuntes Architekturmodell mit dem Titel "Museum" war ein
schlichtes, letztlich jedoch überzeugendes Modell für einen fiktionalen Gehalt, der sich
auf einen subjektiven Traum der Künstlerin und - damit zusammenhängend - auf die Zahl
"Acht" bezog. Mit der Zahl Acht samt Vielfachen und Brüchen hat sich die
Künstlerin in den letzten Jahren bis an die Grenze der Besessenheit beschäftigt.
Unübersehbar ist auch ihre Vorliebe für Symmetrie. Mit ihrer Installation "Acht
Tische mit acht Gegenständen", die 1984 in der Düsseldorfer Ausstellung "Von
hier aus" gezeigt wurde und heute im Baseler Museum für Gegenwartskunst zu sehen
ist, wurde Katharina Fritsch über Nacht bekannt. Wie bei all ihren Arbeiten herrscht ein
extremer Subjektivismus vor. So hat sie das Podest und das Museumsmodell im Mittelraum des
Deutschen Pavillons nach ihrem eigenen Maß entworfen. Das achtseitige Prisma hat eine
Höhe von 1,60 Meter. Das ist, wie einige Zeitungskritiken der Ausstellung berichteten,
genau das Augenniveau der Künstlerin.
Katharina Fritsch, Museum, 1995
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31 Insgesamt gesehen scheint diese Arbeit so etwas
wie der Traum ihres eigenen, aber letztlich weder für sie selbst noch für den Betrachter
erreichbaren idealen Museums zu sein. Denn das Modell des Museums ist durch einen
furchterregenden Wald mit stacheligen Ästen von den Betrachtern unerreichbar abgeschirmt.
Martin Honert, Fliegendes Klassenzimmer, 1995
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32 Auch Martin Honerts lebensgroße und buntbemalte
Figuren, die einem abhebenden Flugzeug nachwinken, führen in eine Fiktion ein. Sie
visualisieren Erich Kästners "Fliegendes Klassenzimmer". Der Betrachter wird
unmittelbar in diese Welt, d. h. in diese Fiktion versetzt.
7. Das bewegte Bild
33 Den Höhepunkt der Biennale 1995 bot sicherlich
der amerikanische Pavillon. Hier konnten wir finden, was wir Klotz und Weibel zufolge nach
dem Ende der Malerei einzig und allein als Bild noch akzeptieren können: nämlich das
bewegte Bild. Ansätze zum bewegten Bild fanden sich auch im österreichischen und auch im
koreanischen Pavillon, in dem traditionelle Tonfiguren und Video-Vorstellungen die
Geschichte des Landes und die zeitgenössische Technik miteinander verbunden hatten. Doch
im amerikanischen Pavillon fanden wir über die Darstellung avancierter Medien der
Bildproduktion hinausgehend den Versuch, das Bild nach dem Ende der Malerei herzustellen.
Das war der Versuch von Bill Violas Video-Räumen. In Violas Raumfolge mußte der Besucher
von Raum zu Raum seine visuellen und akustischen Wahrnehmungen auf eine neue Situation
einstellen. Viola thematisiert die Bewegung in der Zeit, indem er mit der Geschwindigkeit
von Bildern, mit der Formatierung von Szenen, und mit Ausschnitt und Totale spielt.
Besonders gelungen war der letzte Raum, der den Rundgang abschloß. Man sah, wie häufig
bei Viola, eine dem Motiv in der traditionellen Malerei nachgestellte Szene mit drei
Frauen. Zwei sich unterhaltende Frauen begrüßen eine dritte, die langsam auf die beiden
zugehend schließlich eine der beiden umarmt. Dabei wurden durch die in extremer Zeitlupe
ablaufenden Bewegungen hochsubtile Nuancen in den Blicken und Gesten der Personen
herausgearbeitet und die im Verlauf des Auftritts sich verändernden Beziehungen zwischen
den Frauen sichtbar gemacht. In einem Standbild könnten die Beziehungen und subtilen
Aspekte dieser Begrüßung allenfalls indirekt angedeutet, niemals aber in solcher
Intensität und in solchem Unfang erreicht und dargestellt werden. Daran ändert auch
nichts die Tatsache, daß Viola hinsichtlich der Handlung und des Motivs der Figuren alles
bewußt "doppeldeutig, rätselhaft und offen für diverse Spekulationen und
Interpretationen" lassen wollte, wie er es in einem Interview gesagt hat.
Bill Viola, Die Begrüßung, 1995
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34 Die Arbeiten Violas, aber auch diejenigen von Nam
June Paik, Gary Hill, Bruce Nauman, stehen in der Logik der formalen Konsequenzen, die
Impressionismus, Kubismus, Abstraktion, Visualisierung von Konzepten und
Refiktionalisierung von Bildern gezogen haben. Nach dem Ende der Malerei sind Bilder, die
den Anspruch, Kunstwerke zu sein, erheben wollen, ausschließlich als bewegte Bilder
denkbar, die stilgeschichtlich Klotz zufolge einer "Zweiten Moderne" zugerechnet
werden müssen. Violas Video-Installationen müssen jenseits von Desillusionierung und
Refiktionalisierung als Versuch betrachtet werden, das Ende der Kunst als Ende des
Standbildes zu bestimmen. In diesem Sinne sind seine Bilder wieder Abbilder, aber nicht
Abbilder einer stillstehenden sinnlichen Erscheinungswirklichkeit, sondern Abbilder der
sich verändernden Wirklichkeit. Der Grundzug der Wirklichkeit besteht für Viola in der
Bewegung. Hatte die Kunst der Neuzeit den Versuch, auf der zweidimensionalen Fläche die
Illusion einer dritten Dimension hervorzurufen, bis an seine Grenze getrieben, versuchen
die Video-Installationen der Medienkunst, die Illusion der Wirklichkeit als Bewegung zu
erzeugen. Genau dieser zentrale Aspekt der Wirklichkeit, also die Zeitlichkeit, war der
auf den räumlichen Aspekt fixierten Malerei seit der Renaissance nicht in den Blick
gekommen. Erst mit den technischen Voraussetzungen der Medienkunst konnte die Bewegung als
Grundzug der Wirklichkeit entdeckt und dargestellt werden. Kunst als Medienkunst
betrachtet erfordert daher unweigerlich die endgültige Verabschiedung der traditionellen
Kunst. In diesem Sinne sind aber nicht nur das abbildende Standbild, sondern auch
sämtliche Versuche der Desillusionierung oder Refiktionalisierung des Standbildes als
traditionelle Kunst zu definieren. Das Ende der Kunst ist das Ende des Standbildes. Kunst
nach dem Ende der Kunst kann mit Notwendigkeit allein noch das bewegte Bild sein. Das hat
Folgen für die Kunstgeschichte, denn Kunstgeschichte hat in der Tradition als ihren
Forschungsgegenstand ausschließlich das Standbild gekannt. Mit diesem
Forschungsgegenstand ist Belting zufolge auch die traditionelle Kunstgeschichte zu Ende
gekommen. Kunstgeschichte nach dem Ende der Kunstgeschichte ist Mediengeschichte des
bewegten Bildes. Entwicklungslogisch betrachtet setzt sie dort an, wo die Moderne
ansetzte, als sie die Krise des Abbildes und der Repräsentation mit einem gewaltigen
Desillusionierungsunternehmen überwinden wollte. Weil seither jedoch über 100 Jahre
vergangen sind, muß diese Kunstgeschichte nach dem Ende der Kunstgeschichte, darin
würden Klotz und Weibel mit mir übereinstimmen, als Beschreibung einer "zweiten
Moderne" eingeschätzt werden.
35 Nach der Moderne und der Postmoderne, also nach
der schrittweisen Abhebung der malerischen Ebenen des Illusionismus und nach der
Refiktionalisierung des Bildes, entsteht mit der Medienkunst eine neue, eine zweite
Moderne in der Kunst. Die Moderne, die aus dem Bruch mit dem Abbild hervorgegangen ist,
hat das Gemälde auf seine dingliche Realität zurückgeführt. Die Postmoderne, die nach
dem ersten Ende der Malerei der konkreten Kunst für eine Refiktionalisierung des Bildes
eintritt, erneuert damit nicht wirklich die Malerei, wie Klotz es beispielsweise
herausgestellt hat, sondern knüpft an Tendenzen an, die bereits bei Max Beckmann, beim
späten Picasso und beim späten de Chirico vorzufinden waren und vollendet damit
endgültig die Malerei des figurativen Standbildes, d. h. des unbewegten Bildes. Die
Postmoderne ist also neu und zugleich auch alt, insofern nichts wirklich Neues nach der
Moderne, sondern lediglich eine Phase in der Moderne. Die Medienkunst, die in der
Tradition der Malerei seit der Renaissance nicht mit dem Illusionismus, sondern mit der
Bewegungslosigkeit des Tafelbildes bricht und das bewegte Bild zur neuen Kunst erhebt, ist
damit zur Kunst nach dem Ende der Malerei geworden. Aber diese Kunst nach dem Ende der
Malerei ist nicht etwas absolut Neues. Denn die Medienkunst hat die Grenze, die die
Moderne sich selbst gesetzt hat, nur wieder einmal überschritten. Und damit ist sie
nichts mehr und nichts anderes als eine "zweite Moderne".
Literatur
- H. Belting, Das Ende der Kunstgeschichte. Eine Revision nach zehn Jahren, München 1995.
- A. C. Danto, Reiz und Reflexion, München 1994.
- W. Drechsler, P. Weibel, Malerei zwischen Präsenz und Absenz, in: W. Drechsler, P.
Weibel (Hg.), Bildlicht. Malerei zwischen Material und Immaterialiät, Wien 1991.
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Bild, Köln 1991.
- B. Groys, Über das Neue. Versuch einer Kulturökonomie, München u. Wien 1992.
- B. Groys, Das Reich der lebendigen Toten: Avantgarde und Museum, in: Jahresring 40.
Jahrbuch für moderne Kunst, München 1993.
- M. Heidegger, Die Zeit des Weltbildes, in: ders., Holzwege, Frankfurt/M. 1972.
- W. Hofmann, Von der Nachahmung zur Wirklichkeit. Die schöpferische Befreiung der Kunst
1890-1917, Köln 1974.
- W. Hofmann, Das entzweite Jahrhundert - Kunst zwischen 1750 und 1830, München 1995.
- M. Imdahl, Bildautonomie und Wirklichkeit. Zur theoretischen Begründung moderner
Malerei, Mittenwald 1981.
- M. Imdahl, Farbe. Kunsttheoretische Reflexionen in Frankreich, München 1987.
- H. Klotz, Kunst im 20. Jahrhundert. Moderne, Postmoderne, Zweite Moderne, München 1994.
- H. Klotz, Anfang der Kunstgeschichte? Ein Fach noch immer auf der Suche nach sich
selbst, in: A.-M Bonnet, G. Kopp-Schmidt (Hg.), Kunst ohne Geschichte? Ansichten zu Kunst
und Kunstgeschichte heute, München 1995.
- J. Meinhardt, Ende der Malerei und Malerei nach dem Ende der Malerei, in: Kunstforum,
Bd. 131, Aug. - Okt. 1995.
- E. Panofsky, Die Perspektive als 'symbolische Form', in: ders., Aufsätze zu Grundfragen
der Kunstwissenschaft, Berlin 1985.
- J. Schilling, Aktionskunst. Identität von Kunst und Leben?, Luzern u. Frankfurt/M.
1978.
- P. Weibel, Das Bild nach dem letzten Bild, in: P. Weibel, Chr. Meyer (Hg.), Das Bild
nach dem letzten Bild, Köln 1991.
- P. Weibel, Von der Verabsolutierung der Farbe zur Selbstauflösung der Malerei, in: H.
M. Bachmayer, D. Kamper, F. Rötzer (Hg.), Nach der Destruktion des ästhetischen Scheins.
Van Gogh, Malewitsch, Duchamp, München 1992.
- P. Weibel, Probleme der Moderne - Für eine Zweite Moderne, in: H. Klotz (Hg.), Die
Zweite Moderne. Eine Diagnose der Kunst der Gegenwart, München 1996.
- U. Wilmes, Die Autonomie und Realität des Bildgegenstandes, in: W. Drechsler, P. Weibel
(Hg.), Bildlicht. Malerei zwischen Material und Immaterialität, Wien 1991.
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