Himmel und Erde (Heaven and Earth)
Festheft für Karsten Harries

12. Jg., Heft 1
August 2007
   

 

___Christian Holl
Stuttgart
  Illusionen der Reinheit

 

   

Die Reinheit der Form, der Oberfläche, der Körper, die der Geometrie folgen als dem “Mittel, das wir uns selbst geschaffen haben, um die Umwelt zu erfassen und um uns auszudrücken” (Le Corbusier), hat, so scheint es, von seiner Anziehungskraft wenig eingebüßt. Für die aktuelle Diskussion um den Umgang mit Stadt und Stadtraum ebenso wie für die Rolle von Architektur in der Stadt kann der Begriff der Reinheit vor allem deswegen aufschlussreich sein, weil er über eine ästhetische Komponente hinaus immer auch eine gesellschaftlich-moralische Dimension anrührt, innerhalb derer sich die Verwendung des Begriffs nicht im Deskriptiven erschöpft, sondern auch darüber hinaus Wunsch und Appell impliziert.

Die Redaktion der Zeitschrift werk bauen und wohnen formuliert im Editorial ihrer unter dem Titel “Reinheit” stehenden Ausgabe 5/2004, dass für die Verteidiger des Reinen „das Reine, das Absolute, vielmehr die Summe oder Synthese alles Relativen, aller Widersprüchlichkeiten und Bedingtheiten des Lebens” sei. Ihnen bedeute die Suche nach Reinheit nicht die Ablehnung der Komplexität, sondern deren Auflösung. Ja mehr noch: „Manche Bauten, die wir als rein erfahren, entwickeln eine Art der Stärke und inneren Kohärenz, die ihrerseits Freiheit erzeugt”.
[1] Der nicht unerhebliche Aufwand für die Darstellung der Reinheit in der Architektur scheint also auch der Hoffnung geschuldet zu sein, mit ihr das Abbild eines Zustands zu erzeugen, in dem Widersprüche aufgehoben sind; eine Hoffnung, die der Vorstellung folgt, dass Widersprüche möglicherweise nur die Grenzen unserer Wahrnehmungsfähigkeiten ausdrücken, deretwegen die wahrgenommenen Widersprüche nur scheinbare Widersprüche sind.

Was in dieser Wahrnehmungsperspektive von Reinheit ausgeblendet bleibt, ist der Prozess, der Weg, der zu einem angestrebten Ziel führt. Reinheit stellt sich vielmehr als finaler Endzustand dar, über den hinauszugehen oder ihn weiterzuentwickeln sich erübrigt. Er symbolisiert damit einen vollständig politikfreien Raum; er verspricht, die Menschen aber vor allem auch der Aufgabe zu entledigen, sich der Auseinandersetzung mit einer immer mit dem Unperfekten, dem Irrationalen und Abgründigen, dem potenziell Unberechenbaren behafteten Welt zu stellen. Das Prozesshafte und der Weg ist schon deswegen in ihm ausgeblendet, weil in ihm kein Gegenbild mehr aufscheint.

Das war nicht immer so. So enthielt beispielsweise in der Gartenkunst des Barock die Welt der Grotten und Höhlen noch das Moment des der Welt entgegengesetzten Utopieraums, den apollinische wie dionysische Elemente kennzeichnen. Im Englischen Garten der Aufklärung war der Höhlenraum der Ort, der auf einem Initiationsweg durchschritten werden musste, um zu Erkenntnis zu gelangen.
[2] In der heutigen Gesellschaft sind Elemente des Irrationalen und Abgründigen in den Bereich des Tabus oder in die Welt der belanglosen Schauerromantik von Geisterbahnen verbannt, um erst bei einer Verletzung des Tabus als Sensationsmeldungen, dann aber umso heftiger an die Oberfläche zu stoßen. Das Haus UR des Künstlers Gregore Schneider veranschaulicht die Verdrängungsleistung, die unseren Alltagsraum kennzeichnet.


Architektonischer, städtischer, gesellschaftlicher Körper

In der Sehnsucht nach Reinheit verbirgt sich ein gesellschaftlicher Wunsch, in ihr nimmt die Symbolik des reinen und unteilbaren Körpers Gestalt an. „Das heißt, die Architektur selbst wird zu einem Sinnbild für die Gesetze der Reinheit, die in einer Gesellschaft dominieren und die oft auf unbewusste Wiese wirkungsmächtig werden. (...) Was die Architektur und Stadtplanung somit sichtbar macht, sind die Gesetze der Reinheit einer Gemeinschaft, durch die der Gemeinschaftskörper definiert wird.“[3] Der Körper ist hier eine Metapher, die sich wie die des Organischen großer Beliebtheit erfreut – mit Konsequenzen für die Vorstellung von Freiheit. Denn in der Metapher drückt sich die Unterordnung unter die Ziele der Gemeinschaft aus – der Organismus verlangt Ein- und Unterordnung. In ihm muss sich der Einzelne als Teil einer Ganzheit begreifen, da in der Vorstellung des Organismus das Interesse der Gesamtheit auch gleichzeitig das eigene Interesse beinhaltet. Plausibel lässt sich argumentieren, dass dabei das eine mit dem anderen zusammenhängt: Die Sehnsucht nach Reinheit besteht gerade, weil sie nicht unserer Vorstellung von Freiheit entspricht, sondern eine perfekte Gemeinschaft ohne Konflikte abbildet. Damit würde auch plausibel, warum an den Orten, denen die größte gestalterische Aufmerksamkeit in der Stadt gilt, auch der größte Aufwand an Überwachung und Disziplinierung getrieben wird. Denn dabei geht es nicht in erster Linie oder ausschließlich um eine Prävention von Kriminalität, bei der Aufwand und Ergebnis in Bezug zueinander gestellt würden, sondern um das sichtbar eingelöste Versprechen, dass sich ein Verbrechen gar nicht mehr ereignen kann.

Diese Idee von Stadt unterstellte dann auch die Einheit von Stadtbürger und Stadtgestalt, von Stadtbürgerschaft und gebauter Stadt. Im natürlichen, maßvollen Wachstum, dem in der gleichen Metapherebene die Wucherungen (und also krankhaften Bebauungen) am Stadtrand entgegengehalten werden, vollzieht sich der Sinn des Organismus; ihm hat sich auch ein Neubau unterzuordnen. Im Planwerk Innenstadt Berlin beispielsweise wird die Geschichte Berlins als kontinuierlicher Entwicklungsprozess gedacht, der durch die Planungen des Städtebaus der Nachkriegszeit empfindlich gestört wurde.
[4]

Darin liegt auch der Grund für das anhaltende Unwohlsein gegenüber Entwicklungen an der Peripherie der Städte. Hier drückt sich in einer schwer erfassbaren Gestalt und im scheinbar beziehungslosen Nebeneinander von verschiedenen Räumen eine Unübersichtlichkeit aus, die offensichtlich kaum zu ertragen ist: Dankwart Guratzsch fordert etwa kurzerhand den Abriss der Zwischenstadt,
[5] kurz nachdem in der gleichen Tageszeitung eine ganze Artikelserie über die „Renaissance der Stadt“ – gemeint ist die Innenstadt – lanciert wurde.

Das Misstrauen gegenüber der Stadtplanung der Moderne drückt unverhohlen einer der geistigen Väter des Planwerks, Dieter Hoffmann-Axthelm aus: „Die stadtplanerische Moderne ist ein Urenkel des Absolutismus“.[6] Sie steht der Stadt der Bürgerschaft gegenüber, wie sie das Planwerk reklamiert. Und sie ist daher als eine der Verletzungen des Stadtorganismus zu heilen – das ist der Anspruch, den das Planwerk erhebt. Allerdings wurde der Maßstab, den es setzt, nicht als Ergebnis einer entscheidungsoffenen, demokratischen Diskussion erarbeitet, die sich auch als revidierbar erweisen könnte. Das Fazit von Stefanie Hennecke in ihrer ausführlichen Untersuchung zu diesem Thema lautet: Den Maßstab der europäischen, historisch abgeleiteten Stadt habe man ganz im Gegenteil als quasi naturgegeben und damit immer gültige Tatsache gesetzt. Der Stadtbürger sei als Teil des Stadtorganismus den Zielen der organischen Stadtentwicklung unterworfen. Er sei damit in seiner Lebensgestaltung nicht mehr frei, sondern verhalte sich nach moralischen Maßstäben richtig oder falsch gegenüber seiner Stadt.
[7] Gleiches gilt demnach auch für die Architektur der Stadt, für das Haus. Und die Vorstellung von der enormen Bedeutung, die das Haus für die Stadt hat, ist umgekehrt wieder eine, die man, so paradox das klingen mag, gerade in Berlin mit der klassischen Moderne teilt. Hans Frei beschreibt sie am Begriff der ‘starken Form’: „Der kritische Punkt der ‘starken Form’ liegt nicht in der Form selbst als vielmehr in ihrer Funktion als Architektur der Stadt. Wie Fixpunkte befestigen die starken architektonischen Formen die materielle Grundstruktur einer Stadt von innen her und werden deshalb auch als städtebauliche Mittel par excellence betrachtet. Doch darin steckt der von Grund auf falsche Gedanke, eine befestigte materielle Grundstruktur sei Voraussetzung für ein intensives städtisches Leben. Einen ähnlichen Irrtum leistet man sich im 18. und 19. Jahrhundert mit dem Bau gigantischer Festungsanlagen, die letztlich den Feind geradezu einluden, die befestigte Stadt zu umgehen und das umliegende Territorium ungehindert zu besetzen.“[8] Sucht man heute nach Kräften, die in der Lage sind, das intensive städtische Leben zu bedrohen, die im Sinne Freis im Schutz der Illusion von Sicherheit operiert, den die starke Form erzeugt, dann mag man an die Realität der Kapitalströme, die Konzentrationstendenzen der Wirtschaft denken, die Entstehung von Monopolen und – gerade in Berlin – die Inszenierung von Stadt auf Arealen, die von Weltkonzernen allein entwickelt werden und die in der Lage sind, der Stadt Bedingungen für ihr Engagement zu diktieren. Dann wäre die reine Form ein Instrument, die eine von zahlungskräftigen Interessen bestimmte Stadtpolitik um den Preis ihrer Verschleierung ermöglicht, in dem sie die Reibungen zwischen privatem und öffentlichem Interesse glättet – und genau dies ist der Vorwurf, der gegen sie erhoben wird.[9]

Man kann aber bereits konstatieren, dass diese Ebene der Auseinandersetzung nicht mehr die einzige ist. So hat Friedrich von Borries beschrieben, wie sich der Konzern Nike die Methoden der subkulturellen Stadtaneignung zunutze macht, um die Orte der Stadt zu besetzen, die abseits der Repräsentationsräume normalerweise den Raum für eine alternative Stadtaneignung derer lässt, die sich im auch symbolisch wertvollen Raum der Zentren nicht behaupten können.
[10] Die Tatsache, dass sich der Konzern nicht mehr auf die konventionellen Mittel der architektonischen Besetzung von Raum durch repräsentative Bauten beschränken möchte, zeigt, dass sich nicht nur die gegen die reine Form wehren, die durch die entsprechenden Mechanismen von dieser Art der Repräsentanz sowieso ausgeschlossen werden. Der Konzern wäre in der Lage, sich ihrer zu bedienen. Er aber folgt denen, die es nicht sind, und setzt so neue Maßstäbe des Wertes von Räumen, deren Qualität nicht in erster Linie über eine gestaltete Form bestimmt wird. Das urbane Leben findet nicht nur woanders statt, es wird auch mit den entsprechenden Mitteln von Marketing durchsetzt und unterwandert. Diese doppelte Ausweichstrategie gegenüber herkömmlichen Strategien lässt von Borries nach einem zeitgemäßen Architekturverständnis fragen, da das traditionelle einem neuen Spiel der Repräsentanzen nicht mehr gewachsen zu sein scheint. Denn: „Die Marke wird in der Stadt der Zukunft ein Partner für alle Formen der Planung sein.” Sie wird „das Primat des Politischen in der Gestaltung von Stadt ersetzen”.[11]


Zyklen und Überlagerungen

Angesichts solcher städtischer Wirklichkeit scheint das Versprechen der Befreiung von Widersprüchen durch eine Architektur der Reinheit weit davon entfernt zu sein, eingelöst zu werden. Reinheit erscheint vor diesem Hintergrund noch als eine naive, wirklichkeitsfremde Verklärung eines konfliktfreien Lebens – als Idylle. Im überraschenden Gegensatz dazu erklärt aber die Zeitschrift Kunstforum, dass die Idylle aktuell sei – meint aber vor allem die der gebrochenen Idylle.
[12] Das bringt uns auf eine weitere Spur. Möglicherweise unterscheidet das Gebrochene die Idylle von einer Stadt und einer Architektur, deren Versprechen wir noch glauben wollen. Denn dass Arkadien als ungebrochener Idealzustand eine Illusion ist, wissen wir. Wir wissen, dass man auch in Arkadien vor dem Tod nicht sicher ist, mehr noch, spiegelt doch gerade die Idylle die Ambivalenz zwischen unschuldiger Natur und ihrer Morbidität wider. In ihr kehren Elemente der vormodernen Gartenkunst wieder, die so lange verdrängt wurden. Gerade die Idylle ist daher ein geeigneter Ort, um die Illusion, die sie verspricht, zu zerstören, da sich nirgends so drastisch wie in ihr der Kontrast zwischen Glücksvisionen und ihrem Gegenteil deutlich machen ließe. Sie wäre demnach nicht Ausdruck einer Sehnsucht nach dem unbeeinträchtigten Glück, sondern Ausdruck der Tatsache, dass genau das nicht zu erreichen ist – allen Versprechungen zum Trotz. Denn Zerstörung und Verfall ist immer auch ein Element der Natur, wie es das Wachsen und Erblühen ist.

Dabei erstreckt sich die Vorstellung des Idyllischen aber nicht mehr auf den der Naturlandschaft. Im Gegenteil stellt Julian Stallabras fest, dass die ländliche Idylle zu sehr korrumpiert ist, als dass sie sich als Folie der Idylle eignete, auf der die Kunst deren mehrdeutige Qualität darstellen könnte.
[13] Die Aufmerksamkeit wendet sich daher der städtischen Idylle zu. Sie kann doppelt wirken: Zum einen als Kritik einer Stadtpolitik, die die Innenstädte als heile Welten inszeniert, in der die Geschichtlichkeit der Stadt durch die Verwendung von geschichtlichen Referenzen aufgehoben wird, in der ein Zustand der Vergangenheit als reduziertes Klischee zu einem Idealzustand städtischer Gesellschaft stilisiert wird. Zum anderen lassen sich aber auch in Teilen der Stadt, die nicht nach diesem, sondern einem anderen Ideal gestaltet sind, die schon etwas vernachlässigt und heruntergekommen sind, die aber noch nicht übermäßig gefährlich sind, ästhetische Erfahrungen machen, die die Grenzen jedes Versuchs deutlich machen, Stadt auf Dauer nach einem Bild in einen Endzustand zu versetzen, der nicht mehr verändert werden muss. Auch hier ist in der Idylle eine Ambivalenz enthalten, die das Gegenteil ihrer Glücksversprechung verdeutlicht.

Man wird dieser Sichtweise aber nicht gerecht, wenn man eine solche Sicht auf die Stadt als eskapistische Verweigerungshaltung versteht. Gerade in dieser Ambivalenz liegt nämlich der Ausdruck einer aktiven Neuorientierung. In ihrem gebrochenen Zitat weist die Idylle genau darauf hin, dass sie nicht an eine Rückkehr an einen wie auch immer gearteten Urzustand glaubt. Die Idylle ist aktuell, weil sie eine Komplexität abbildet, mit der umzugehen wir verlernt zu haben scheinen, und die sich in den Zyklen der Natur abbildet. Diese Vorstellung der Komplexität bricht auch mit unserem am Fortschritt orientierten Geschichtsverständnis, das impliziert, dass die Geschichte ein Ziel habe. Auch darin drückt sie das Misstrauen gegenüber allen Versprechungen aus, an die der Fortschritts uns glauben machen möchte – und je weniger wir dies tun, desto furioser werden die Bemühungen, doch noch zu überzeugen. Der Historiker Gerd Kuhn konstatiert, dass das gesamte System der hegemonialen Zeithegemonie grundsätzlich in Frage gestellt ist.
[14] Die Idylle impliziert eine andere Vorstellung von Zeit, die sich als zyklische und flexible beschreiben ließe, im Unterschied zu jener unerbittlichen Regelmäßigkeit, mit der unser Leben geordnet und oft genug eben auch tyrannisiert wird.

Diesem Verständnis von Wiederkehr und Abfolge kann man auch architektonisch und städtebaulich nicht in der Form entsprechen, in der es derzeit getan wird. Weder ist es architektonisch sinnvoll, mit geometrischen Grundformen zu operieren, die als ein Abbild des Absoluten verstanden werden. Daher überrascht dann umso mehr, dass gerade aktuelle Architektur in den meisten Fällen in der Struktur ihrer Begründung und in der Erwartung ihrer Rezeption zutiefst Schemata der Moderne verhaftet bleibt. Da sie die Fortschrittsgläubigkeit der Moderne weiterführt, muss sie sich als das Neue und damit als das Richtige sehen. Ebenso übernommen hat sie das Prinzip der Abstraktion, und zwar nicht nur das der formalen, sondern vor allem das der abstrahierten Darstellung und Vermittlung von Architektur. So wie man bei der Betrachtung von Gebäuden der klassischen Moderne die Patina als ein Teil der Realität ignorieren muss, um ihre Qualität zu erkennen, und man im Gebäude nur noch die reine Geometrie oder die abstrakte Idee des Gebäudes wahrnehmen soll, steht in den realisierten Fällen aktueller Architektur der Entwurf im unrealisierten Stadium und mit ihm das Rendering im Zentrum dessen, was als Qualität erkannt werden soll. Das reale Gebäude soll so lange wie möglich dem Rendering ähneln, anstatt dass das Rendering sich darum bemühte, Ausschnitte einer möglichen Wirklichkeit zu simulieren. Der reale Gebrauch eines Gebäudes wird ausgeblendet, dessen scheinbar banale Spuren offensichtlich stören: Damit man das Gebäude schätzen kann, muss man nicht nur Pflanzen, das Graffiti und Schmutz von der Bewertung ausschließen, es müssen auch die Probleme der Ausführung für die Bewertung ebenso unerheblich sein wie die ihres Gebrauchs. Indem sich Architektur auf die Produktion von Ideen konzentriert, vernachlässigt sie die Komplexität des Gebrauchs und der Entwicklung in der Zeit. Damit übernimmt sie die eigentlichen Probleme der Moderne. Die Überzeugung wächst, dass das Scheitern der Moderne nicht im Glauben an Determinierbarkeit und damit Planbarkeit der Welt liegt, sondern in der Genauigkeit der Determination und der Planung. Ein gutes Beispiel dafür ist MvRdV, deren Simulationen von Szenarien scheinbar einen Blick in die Zukunft erlauben, der zur weiteren Entwicklung von Strategien hilfreich sein soll.
[15] In dieser Orientierung sind die Strategien von den scheinbaren Antagonisten gegenwärtiger Architekturdiskussionen, verstehen sie sich nun als Modernisten oder als konservative Vertreter beispielsweise des New Urbanism, kaum voneinander zu unterscheiden – paradox, dass ausgerechnet die nach außen die Moderne ablehnenden konservativen Vertreter des Historismus sich in dieser Hinsicht genau der Schemata der Moderne bedienen.[16]

Eher müsste man sowohl Architektur als auch Stadtplanung als Überlagerung von Schichten verstehen, die auf ein Bild vom Bauen rekurriert, das den Verfall und die Überschreibung der Architektur und der Stadt durch die zeitlichen Prozesse mit vorsieht und daher den Verfall weder als vorübergehendes Stadium noch als endgültige Tatsache ausschließt. Aber auch nach ihrem Verfall wäre Architektur in der Stadt als eine Form der Spur noch präsent, auch als das Vergangene, das wie im Bild des Palimpsests (das nicht ohne Zufall in seiner Aktualität der Idylle vorausging[17] und sie beileibe nicht verloren hat) immer mitprägt, was kommen wird. Dies ist die eigentliche Ebene, die Aldo Rossi als ein Bild der Stadt formuliert hat, als er sie als eine Form des kollektiven Gedächtnisses beschrieben hat; die Reduktion auf die Produktion von vermeintlich geschichtlichen Formen ist etwas grundsätzlich anderes.

Damit wird die Dimension der Zeitordnung, in die das Bauen eingefügt ist, relativiert und dem Entwurf gegenüber eine andere Gelassenheit möglich; es wird auch möglich, dass aus den Schichten immer wieder andere und unvorhergesehene Elemente an die Oberfläche dringen oder entblößt werden. Die Aufgabe des Architekten wie des Stadtplaners bestünde dann darin, kreativ auf die sich stets neu einstellenden Situationen zu reagieren und permanente Veränderung wie letztlich auch den Verfall als ein Element der Architektur und der Stadt nicht mehr auszuschließen. Die Stadt muss als eine Form des Zusammenlebens verstanden werden, die nicht nach einem endgültigen und vermeintlich richtigen Bild strebt, sondern sich in einer Parallelität von unterschiedlichen Zeitordnungen und Raumqualitäten begreift, die eine Offenheit der Gestaltung und Aneignung für ihre Bewohner beinhaltet und daher auch Räume sichert, die dem Zugriff von Wirtschaftsinteressen gerade auch dann verwehrt bleiben, wenn sie üblichen Vorstellungen von gestalteten Räumen nicht entsprechen. Gemessen am Bild der Reinheit der Form und der Oberfläche hieße dies, dass eine grundlegende Neuorientierung nötig ist.

Es mag charakteristisch für eine Neuorientierung sein, dass man beginnt, sie mit der Referenz auf Vergangenes oder auf die Natur als nicht mehr zu hinterfragende Instanz zu bewältigen und trotzdem versucht, Neues zu vermitteln. Wenn man auf diese Weise die beschriebenen Beobachtungen deuten will, dann lautet die Frage, was denn dieses Neue ist, welches das Palimpsest, das Idyllische und die Ambivalenz des natürlichen Rhythmus der Natur auf den Plan ruft? An diesem Punkt können wir uns auf Vilém Flusser beziehen, der schon in den 1970er Jahren eine „Krise der Linearität” ausgemacht hatte. Wenn der Zyklus und das Überschreiben neue Attraktivität gewinnt, scheint es plausibel, dass jene Krise sie hervorgerufen hat. Sie sei eine Krise des alphanumerischen Codes, der die Basis für unser historisches Bewusstsein bilde. Wir stehen, so Flusser, nicht mehr in einem Bündel linearer Prozesse, sondern in einem „Feld von intersubjektiven Beziehungen”, „in einem wogenden Netz, das sich immer neu verknüpft und entknotet.” Und weiter: „Politisches Engagement kann nicht mehr der Versuch sein, die Gesellschaft oder die Menschen zu ändern, sondern das soziale Relationsfeld zu programmieren (Technokratie) oder zu deprogrammieren (Terrorismus).”[18] Das bedeutet aber, dass Bilder eine neue Rolle einnähmen und nicht mehr wie bisher einer Kritik unterzogen werden könnten – Kritik verstanden als einen Vorgang, der sie beurteilbar macht –  in dem sie in eine Form der Linearität (durch das Schreiben) übertragen werden. Einer solchen Kritik am Bild war man ja nur entkommen, wenn man das Bild namenlos machte, es jeden Verdachts bereinigte, eine in die Linearität dekodierbare Botschaft zu enthalten und es zur reinen Struktur werden ließ. Das mag einem weiteren Aspekt der Faszination von Reinheit offenlegen. Die reine Oberfläche, die reine Struktur, die reine Form sollte nicht mehr Träger einer Botschaft, sondern der wahre Kern der Dinge, oder zumindest sein Ausdruck sein. Der Preis dieser Strategie war freilich der, dass man damit den Verdacht erzeugte, erst recht eine Botschaft zu haben, die verborgen werden sollte.
[19] Doch diese Form der Reinheit ist sowohl auf architektonischer wie auf städtebaulicher Ebene je nach Perspektive der Betrachtung auf das Element eines Distinktionscodes herabgesunken oder zu einem Instrument der Machtausübung hegemonialer Gesellschaftsschichten geworden.

Doch wenn wir die neue Lage ernst nähmen, die Flusser beschreibt, erforderte das eine andere Form auch der Architektur und des Verständnisses ihrer Oberfläche – eines Verständnisses, das sich ja zumindest in der Aufmerksamkeit für die Oberfläche bereits in aktuellen Architekturentwicklungen in Ansätzen erkennen lässt. Reinheit erübrigte sich dann als eine bereinigte Form der Oberfläche, deren Illusion einer botschaftslosen Struktur dann doch wieder nur den Verdacht erzeugt, eine Botschaft zu verbergen, wenn sie nicht selbst Botschaft ist, die die Reinheit als anzustrebendes Ziel verkündet und einfordert. Im neuen Raum der permanent neu entstehenden Möglichkeiten (wie er nicht nur durch den Computer bereits Wirklichkeit geworden ist, denn er hat darüber hinaus schon lange einen neuen Imperativ der Lebensgestaltung geschaffen, in dem das unmittelbare Erleben im Mittelpunkt steht[20]) muss Architektur sich nicht mehr ihres Bildcharakters entleeren, um der Kritik durch die Linearität der Sprache zu entkommen. Es ginge dann nicht mehr darum, einem soliden Kern der Wahrheit zum Ausdruck zu verhelfen, der durch Oberflächen verdeckt wäre. Die Oberfläche ist hier immer auch Teil der Tiefe: auch dort stößt man immer wieder auf Oberflächen. Es ginge vielmehr darum, sich der Welt der ständig neu auftauchenden Bilder und Botschaften zu stellen und sie zu gestalten. Und es ginge darum, in der Architektur wie in der Stadtplanung das diesem Prozess inhärente Moment der Destabilisierung nicht nur zu akzeptieren, sondern zu fördern. Was Baudrillard über das gelungene Architekturobjekt geschrieben hat, kann ebenso gut für den Umgang mit Stadt, für die Stadtplanung und den Städtebau als gestalterische Disziplinen gelten: „Ein gelungenes Objekt ist eines, das jenseits seiner eigenen Realität existiert, das auch mit den Benützern eine duale (nicht nur eine interaktive) Beziehung aus Missbrauch, Widerspruch und Destabilisierung erzeugt.”[21]

 


Anmerkungen:
 

[1] Die Redaktion: Editorial. In: werk, bauen + wohnen, 5/2004, Zürich

[2] Emslander, Fritz: Grottenräume: Passagen durch europäische Gartengrotten. In: Bilstein, Johannes / Winzen, Matthias (Hg.): Park. Zucht und Wildwuchs in der Kunst. Nürnberg 2005

[3] Braun, Christina von: Die Macht des Reinen. In: werk, bauen + wohnen, 5/2004, Zürich

[4] siehe hierzu: Hennecke, Stefanie: Berlin soll »wachsen« – Kritik am organischen Stadtmodell. In: Geiger, Annette / Hennecke, Stefanie / Kempf, Christin (Hg.): Spielarten des Organischen in Architektur, Design und Kunst. Berlin 2005

[5] Guratzsch, Dankwart: Heimat Autobahnkreuz. In: Die Welt, 9. 12. 2005

[6] Hoffmann-Axthelm, Dieter: Berliner Ungleichzeitigkeiten. In: Berliner Zeitung vom 15. April 2000

[7] Hennecke a.a.O.

[8] Frei, Hans: Bunker Hill. In: werk, bauen + wohnen, 5/2004, Zürich

[9] Siehe hierzu den Beitrag von Mollenkopf, John und Strom, Elizabeth in: Siebel, Walter (Hg.): Die europäische Stadt. Frankfurt am Main 2004

[10] Borries, Friedrich von: Wer hat Angst vor Niketown, Rotterdam 2004

[11] Borries, Friedrich von: Berlin auf dem Weg nach Niketown. In: Stadtbauwelt 24/05, Berlin

[12] Kunstforum, Bd. 180: Zur Aktualität des Idyllischen II, Ruppichteroth 2006

[13] Stallabras, Julian: High art lite. London 1999

[14] Kuhn, Gerd: Stadt bis 130 – oder das akzelerierte Tempo und die Wiederkehr der zyklischen Zeit. In: Schmidt, Alexander J. / Zammers, Reinhard: Stadt bis 130. Essen 2007

[15] Siehe dazu etwa den Beitrag von MvRdV in: Eisinger, Angelus/Schneider, Michel (Hg.): Stadtland Schweiz: Untersuchungen und Fallstudien zur räumlichen Struktur und Entwicklung in der Schweiz. Basel 2003, oder zur Ausstellung RheinRuhrCity im NRW-Forum, Düsseldorf 2003.

[16] Siehe hierzu: Eisinger, Angelus: Die Stadt der Architekten. Anatomie einer Selbstdemontage. Basel 2005

[17] Siehe beispielsweise: Angelil, Marc: Dynamische Kartografie. In: db deutsche bauzeitung 7/2003, Stuttgart

[18] Flusser, Vilém: Die Krise der Linearität. In: Röller, Nils und Wagnermeier, Silvia, Absolute Vilém Flusser, Freiburg 2003

[19] Groys, Boris: Unter Verdacht. Eine Phänomenologie der Medien. München 2000

[20] Schulze, Gerhard: Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart. Frankfurt am Main 1992

[21] Baudrillard, Jean: Architektur: Wahrheit oder Radikalität? Graz/Wien 1999

 


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August 2007