Himmel und Erde (Heaven and Earth)
Festheft für Karsten Harries

12. Jg., Heft 1
August 2007
   

 

___Harald Deinsberger
Graz
  Wohnen und Wohnbaustrukturen
im Spannungsfeld zwischen Intro- und Extraversion

 

   

Der Mensch als wohnendes Individuum befindet sich in einem stetigen Spannungsfeld zwischen Introversion und Extraversion, d. h.

  • zwischen dem Rückzug in die Intim- oder Privatsphäre und der Öffnung nach außen, zur Umwelt respektive Öffentlichkeit,

  • zwischen dem Bedürfnis nach Schutz, sowohl in physiologischer als auch in psychologischer Hinsicht, und dem Bedürfnis nach Kontakt,

  • zwischen kontemplativen, auf die eigene Person konzentrierten Phasen und kommunikativen, sozial interaktiven Phasen.

Wenn nun diesen bipolar divergierenden Phasen des Menschen im Zuge der Konzipierung von Wohnbaustrukturen Rechnung getragen werden soll, so ist klar, dass sie dort wie auch in den baulich-räumlichen Gegebenheiten des Wohnungsumfeldes eine Entsprechung finden müssen.
Um diesem Spannungsfeld auf den Grund gehen zu können, ist es unerlässlich, vorab das humanwissenschaftliche Fundament dieser Thematik darzulegen. Der Begriff der Humanwissenschaften wird im vorliegenden Kontext stellvertretend für die Wissensgebiete Psychologie, Physiologie, Soziologie und Anthropologie verwendet, wobei natürlich nur jene Facetten Verwendung finden, die für diese Wohnbauthematik von Relevanz sind.

Wendet man einen ersten Blick auf die menschlichen Grundbedürfnisse, die mit dem Wohnbau in Verbindung zu bringen sind, so zeigen sich vorerst zwei große Bündel von Bedürfnissen.

Das erste Bündel umfasst die Bedürfnisse nach Schutz. Schnürt man dieses Bündel auf, so werden folgende Stränge erkennbar[1]:
1) Der Schutz des eigenen Lebens respektive des Überlebens ("human shelter") – bildet gleichsam die ursprüngliche, archaische Schutzfunktion des Wohnbaus.
2) Der Schutz des Lebensraums ("private space") – stellt, wenn man so will, die klassische Wohnbauaufgabe dar, nämlich geschützte Räume anzubieten, in denen die alltäglichen Aktivitäten und Passivitäten der Bewohnenden Platz finden können.
3) Der Schutz des Wohlbefindens ("personal wellness") – könnte als moderne oder zivilisatorische Schutzfunktion betrachtet werden. Die Zielformulierung lautet dabei, den Bewohnenden ihr "Wohn-Wohlbefinden" zu bewahren bzw. potentielle Beeinträchtigungen so gering wie möglich zu halten.
Diese drei (Haupt-)Schutzfunktionen des Wohnbaus sind natürlich nicht eindimensional zu sehen, sondern spielen sich jeweils auf mehreren Ebenen ab.

Die Multidimensionalität in der Mensch-(Wohn-)Umwelt-Interaktion lässt sich am besten anhand des zweiten Bedürfnisbündels erläutern. Bei den Bedürfnissen nach Kontakt steht der Begriff "Kontakt" stellvertretend für diverse Austauschprozesse, für Metabolismus, Interaktion, Kommunikation, Wahrnehmung, Gestaltung und anderes mehr.
Anmerkung: Die folgende Aufzählung beschreibt einige wichtige Ebenen, die für den Wohnbau von Bedeutung sind, sie erhebt jedoch nicht den Anspruch, die Vielfalt der Mensch-Umwelt-Beziehungen vollständig abzudecken, denn dies würde den Rahmen dieser Veröffentlichung bei weitem überdehnen.

A) Die physiologische Ebene:
Kontakt = Austausch, Metabolismus
Aus physiologischer Sicht lebt der Mensch als biologisch-dissipativer Organismus in einem fortwährenden Wechselwirkungsprozess mit seiner Umwelt. Die charakteristischen Eckpfeiler bilden dabei die Begriffe Metabolismus oder Stoffwechsel, die Atmung oder der Austausch von gasförmigen Stoffen, der Feuchtigkeitshaushalt und der Wärmehaushalt etc.
Die Psychosomatik besagt dazu in ihrer Kernthese, dass alles, was auf den Körper eines Menschen einwirkt, auch seine Psyche beeinflusst und umgekehrt, dass jeder psychische Zustand sich in transformierter Form auf den Körper überträgt. Faktisch gesehen sind Psyche und Soma des Menschen untrennbar miteinander verbunden, eine Isolation (im Sinne einer Unterbindung von notwendigen oder vorteilhaften Austauschprozessen) des einen bleibt nicht ohne gravierende Konsequenzen für das andere.[2]

B) Die wahrnehmungsbezogene Ebene (Kontakt und Neuroplastizität):
Kontakt = Wahrnehmung = Assimilation und Akkommodation
Der Mensch ist auf Sinneswahrnehmungen angewiesen, durch sie erhält er nicht nur die zum Überleben notwendigen Informationen aus seiner Umwelt, sondern auch jene emotionalen und kognitiven Anreize, die vom Säuglingsalter an zur Entwicklung der eigenen Persönlichkeit und Intelligenz unabdingbar sind. Über die Prozesse der Assimilation und Akkommodation werden Umweltreize (Stimuli) in die neuronalen Strukturen des Gehirns integriert bzw. die neuronalen Strukturen selbst modifiziert und angepasst (Stichwort: neuronale Plastizität).
Luc Ciompi erläutert hierzu: "Unter 'neuronaler Plastizität' ist die Tatsache zu verstehen, dass unser Gehirn [...] unter anderem durch Bildung von neuen, dendritischen Verbindungen ('Verdrahtungen') zwischen beanspruchten Nervenzellen überaus plastisch auf Umweltreize aller Art zu reagieren vermag."[3] Und er führt weiter aus, "[...] die Feinstruktur der zerebralen Assoziationssysteme steht [...] bis ins höhere Alter hinein in einem dynamischen Austausch mit der Umwelt." [4]
Daraus lässt sich schließen, dass die Ausbildung von cerebralen Strukturen prinzipiell mit der unmittelbaren Umwelt des Menschen in Verbindung steht und dass die Eigenschaft der neuronalen Plastizität erst durch einen intensiven Austausch mit ihr zum Tragen kommt. Eine Isolation des Menschen von seiner Umwelt hemmt demnach auch die Entwicklung seines Gehirns auf neuronaler Basis.[5]

C) Die umweltpsychologische Ebene:
Kontakt = Aneignung = emotionale Ortsverbundenheit
Der menschliche Organismus kann nicht ohne Bezugnahme auf seine spezifische Umwelt definiert werden, denn er begegnet dieser Umwelt stets und explizit in jeweils konkreten Kontaktvariationen, deren physisch räumlicher und zeitlicher Umfang all das mit einbezieht, was in der gegenwärtigen Situation gegeben ist.
Das Wohnungsumfeld stellt jenen Ausschnitt aus der Umwelt dar, der mit einer Wohnung in einem räumlichen, gestalterischen oder funktionellen Zusammenhang steht und mit dem die Bewohnenden meist über diverse Aneignungsprozesse interagieren. "Mit Aneignung ist ein Vorgang gemeint, in dem die objektive Umwelt in eine subjektive und persönlich bedeutsame Umwelt umgewandelt wird."[6]
In der ökologischen Psychologie bezeichnet Aneignung die vom Individuum ausgehenden aktiven Handlungen oder, besser gesagt, die interaktiven Prozesse zur Herstellung eines Kontaktes, eines korrespondierenden Verhältnisses zwischen dem Menschen und seiner Umwelt. Hierzu zählen, um es überblicksmäßig aufzugliedern, nicht nur die utilitäre oder operative Aneignung (Benutzung, Gebrauch), die adaptive oder regulative Aneignung (Umgestaltung, Veränderung für eigene Zwecke), sondern auch die symbolische oder gestalterische Aneignung (Personalisierung, soziale Differenzierung und Markierung) und die ideelle Aneignung (Bedeutungsverleihung, Nennung, Orientierung). Beispielsweise kann bereits eine wiederholte Zusammenkunft von Personen an einem Ort als eine Form der Aneignung betrachtet werden und diesen Platz sozial bedeutsam machen.
Aus all diesen Handlungen und Prozessen entwickelt sich für die betreffenden Individuen nach und nach eine emotionale Ortsverbundenheit und in ihrer gesteigerten Form eine so genannte Ortsidentität.[7]
Aneignung kann, in welcher Form auch immer, als Kontaktaufnahme zur unmittelbaren Umwelt bzw. als fortlaufender Kontaktprozess verstanden werden. Eine Abtrennung der Wohnung vom Umfeld bedeutet, dass außerhalb der Wohnräume keine Aneignungsprozesse durchführbar sind und folglich aus Sicht der Bewohnenden auch keine positiv besetzte, emotionale Ortsverbundenheit zustande kommen kann.

D) Die soziologische Ebene (Extraversion – Introversion):
Kontakt = Kommunikation und soziale Interaktion
Um das Thema der sozialen Interaktion abhandeln zu können, muss bedacht werden, dass sich jede Person abwechselnd zeitweise in extravertierten oder in introvertierten Phasen befindet und dass jede Person je nach ihrer Charakterstruktur tendenziell mehr Anteile der einen oder der anderen Seite aufweist. Entscheidend für eine stärkere Orientierung nach innen oder nach außen sind neben den persönlichen Befindlichkeiten und Ge-Wohnheiten auch das soziale und räumliche Umfeld.
Extraversion oder Extravertiertheit steht für "[...] eine Gruppe von Eigenschaften, die den extraversiven Persönlichkeitstypus ausmachen, dessen Interessen stark nach außen gerichtet sind, der offen für andere Menschen und die Realität ist und stets Bereitschaft zeigt, sich mit neuen Situationen auseinander zusetzen."[8] Extravertiertheit beschreibt demnach eine offene, aufgeschlossene, nach außen gewandte Geisteshaltung. Sie kennzeichnet sich durch stärkeren Kontakt mit anderen Menschen, Soziabilität beziehungsweise soziales Verhalten und Aktivität generell, bisweilen auch gepaart mit Unbekümmertheit. In Begleitung von emotionaler Stabilität korreliert sie mit positiven Gefühlszuständen, mit vermehrtem Wohlbefinden und Lebenszufriedenheit.[9]
Introversion oder Introvertiertheit steht für eine "[...] verschlossene, zurückgezogenen Haltung eines Menschen, dessen psychische Energie vorwiegend auf die eigene Innenwelt gerichtet ist."[10] Eine introvertierte Person konzentriert sich in erster Linie auf die eigene Befindlichkeit, das eigene Innenleben. Sie charakterisiert sich eher durch Nachdenklichkeit und Zurückgezogenheit, durch defensives und zögerliches Verhalten, häufig auch begleitet von Ängstlichkeit und Misstrauen gegenüber anderen. "Als Persönlichkeitsmerkmal wird Introversion mit der Ausbildung von angstneurotischen und depressiven Symptomen in Verbindung gebracht."[11]
Dies bedeutet jedoch nicht, dass Extravertiertheit stets mit positiven Gefühlszuständen und Introvertiertheit mit negativen gleichzusetzen ist. Vielmehr gehören beide Seiten zum vollständigen Charakterbild eines jeden Menschen, denn einerseits ist Extraversion für die Zuwendung zum sozialen Umfeld oder für die Kontaktaufnahme zu den Mitmenschen notwendig, andererseits können sich Phasen der Introversion als sinnvoll erweisen, um beispielsweise eine Gelegenheit zur Kontemplation zu finden, um sich wieder auf sich selbst zu besinnen, sich selbst zu spüren, gewisse Dinge zu überdenken und vieles andere mehr. Ein ausgeglichener Mensch wird versuchen, beiden Seiten ihre Zeit zu geben und sie miteinander in Einklang zu bringen; er wird sich allerdings deutlich in Richtung Offenheit und Interesse gegenüber seiner Außenwelt orientieren, wie auch mit Aufgeschlossenheit und Empathie dem Geschehen in seiner Umwelt begegnen.
Im gegenteiligen Fall bereitet eine verstärkte Introversion, insbesondere in Verbindung mit instabilen Persönlichkeitszügen, scheinbar einen guten Nährboden für Neurotizismen, das heißt, sie erhöht die Anfälligkeit für Neurosen unterschiedlicher Art. Phänomene wie Ängstlichkeit, Depressivität, Ärgerneigung oder eine erhöhte Sensibilität für psychosomatische Krankheiten können in der Folge erkennbar werden; in den meisten Fällen korreliert ein Übermaß an Introvertiertheit mit mangelndem Wohlbefinden wie auch mit einer erhöhten Unzufriedenheit mit sich selbst und der 'Welt' allgemein.
Wie können sich nun bauliche Strukturen auf das Verhältnis zwischen Extra- und Introversion mit Hauptaugenmerk auf die soziale Komponente auswirken? Eine räumliche Isolation aufgrund von vorgegebenen Baustrukturen, seien es mangelhafte Gebäudegrundrisse, städtebauliche Konzepte oder Raumplanungsvorgaben, fördert auch die psychosoziale Separation von Individuen oder Personengruppen. Durch fehlende Beziehungen zum (sozialen) Außenraum erfolgt fast notgedrungener Maßen eine Wendung des alltäglichen Lebens nach innen. Eine Verhinderung von Extraversion bewirkt im Gegenzug eine verstärkte Introversion des Menschen, fehlende Möglichkeiten zur Gemeinschaftsbildung somit eine verstärkte Zentrierung auf die eigene Person in den eigenen "vier Wänden".
In psycho-logischer Konsequenz fördert die Isolation das Misstrauen gegenüber anderen Menschen; fehlender kommunikativer Kontakt wird durch Vermutungen oder (gepaart mit Misstrauen) durch Verdächtigungen ersetzt; diese führen wiederum zu einer vorsichtigen, bisweilen auch aversiven Haltung, bekräftigen in der Folge die Tendenz zur Abgrenzung vom vermeintlich feindseligen Umfeld und verstärken somit auch die Abkapselung der Bewohnenden untereinander und deren Introversion.
Daraus ergeben sich Folgen nicht nur für das nachbarschaftliche Zusammenleben, sondern auch in Hinblick auf gesamtgesellschaftliche Zusammenhänge. Eine introvertierte Gesellschaft erweist sich gleichzeitig als ängstliche Gesellschaft, die dazu neigt, alles Fremde als etwas Feindliches zu betrachten und alles ihr Unbekannte vorerst abzulehnen oder ihm zumindest mit großer Skepsis zu begegnen. Erst durch einen Prozess der Öffnung, der Extraversion kann das Neue, vormals Fremde aufgenommen und integriert werden. Eine introvertierte Gesellschaft beschränkt sich auf sich selbst, bleibt isoliert untereinander sowie gegenüber anderen und wagt kaum den Blick über den sprichwörtlichen "Gartenzaun". Sie fördert dadurch die eigenen Neurotizismen, beeinträchtigt die eigene Soziabilität und ist anfälliger für ideologische Indoktrinierungen aller Art, insbesondere für jene, die das Schüren von Ängsten gegenüber Fremden oder Neuem manipulativ einsetzen.[12]

E) Die Gestalttherapeutische Ebene:
Kontakt = Gestaltung und Interaktion
Folgt man einer der gestalttherapeutischen Kernhypothesen, dass eine massive Unterbrechung des Kontaktes zwischen einem Menschen und seiner Umwelt psychische Störungen mit sich zieht,[13] so können daraus bestimmte Rückschlüsse für das Verhältnis Mensch-Wohnung-Umfeld gezogen werden. Denn die Tatsache, dass Wahrnehmung und Gestaltung als Formen (oder Funktionen) des Mensch-Umwelt-Kontaktes gelten, bedeutet, dass psychische Beeinträchtigungen für einen Menschen dann unvermeidlich sind, wenn die Beziehung zu seinem wohnlichen Umfeld bzw. seinem Habitat unterbunden oder drastisch eingeschränkt wird (vergleichbar mit einem Wohnen unter Haftbedingungen).
Dazu folgende Definition: "Das Selbst ist das System der Kontakte im Feld von Organismus und Umfeld [...]."[14] Oder um mit F. S. Perls zu sprechen: "Wir wollen das 'Selbst' als das System der ständig neuen Kontakte definieren. Als solch ein System ist das Selbst von flexibler Vielfalt, denn es verändert sich mit den vorherrschenden Bedürfnissen und den andrängenden Umweltreizen;".[15] Dies lässt die Schlussfolgerung zu, dass ein Kontaktmangel dieses System sehr stark in Mitleidenschaft ziehen kann und dass eine zu einschneidende Kontaktreduktion bzw. ein gänzliches Fehlen von Kontaktprozessen unweigerlich zur Auflösung, also zur Eliminierung des Systems (und damit auch des "Selbst") führen muss.
Erst durch die Kontaktaufnahme zur Umwelt kann dem Menschen bewusst werden, dass die umgebenden realen Bedingungen, also sein Habitat und sein Umfeld, nicht unveränderlich sind, sondern dass sie im Gegenteil zu einem guten Teil gestaltbar, formbar oder modifizierbar sind.
Die kreative oder schöpferische Anpassung ist stets mit kognitiven Leistungen verbunden und daher nicht nur ein Merkmal intelligenten/menschlichen Verhaltens, sondern auch der psychischen Gesundheit eines Menschen mehr als zuträglich. Eine Wohnung inklusive Umfeld sollte von den Bewohnenden im besten Sinne als ein Feld der schöpferischen oder kreativen Möglichkeiten betrachtet und in Anspruch genommen werden können. Dies setzt natürlich voraus, dass das wohnliche Umfeld (Wohnung, Freiräume, Wohnungsumfeld) auch ein entsprechendes Gestaltungs- und Adaptionspotential bereithält.
Gestalten bedeutet ein Zusammenwirken der sensorischen Wahrnehmung des Menschen, der kognitiven Leistungen seiner cerebralen Netzwerke wie auch der physiologischen Bewegungssteuerung seines Körpers. Der Gestaltungsprozess umfasst also den Menschen in seiner Ganzheit und mehr noch, er bezieht das zu gestaltende Umfeld unmittelbar und untrennbar mit ein in seinen Erfahrungs- und Empfindungsraum. In diesem Sinne erweitern Gestaltungsprozesse gleichsam die Grenzen des Menschseins über seinen Körper hinaus auf Bereiche seines Umfeldes.[16]


Kernproblematik:
Die Diskrepanz zwischen Isoliertheit (=Kontaktdefizit) und Schutzbedürfnis

Zusammenfassend umschließt die Problematik der Isolation nicht nur die Trennung und Abkapselung des Menschen von seiner Umwelt, sondern auch das Fehlen oder den Mangel an Sozialbeziehungen, die Vereinzelung von Individuen, die Abkapselung ganzer Personengruppen von der sozialen oder räumlichen Umwelt, die Entfremdung des Menschen von der Natur und die Auflösung oder das Nicht-Zustandekommen von Mensch-Umwelt-Kontakten mit all den damit verbundenen negativen Konsequenzen.
Der Wohnbau befindet sich dadurch inmitten des Spannungsfeldes zwischen Schutzfunktion und Isolation, das heißt zwischen dem baulich umgesetzten Schutzbedürfnis des Menschen auf der einen Seite und der vorhandenen oder drohenden Isolation des Menschen von seiner Umwelt auf der anderen Seite. Aus all den unzähligen denkbaren Schutzmaßnahmen für den Menschen kommen im gegenständlichen Kontext zwar nur jene baulicher Art in Betracht, doch gerade hier bedeutet Schutz jedoch in nahezu allen Fällen gleichzeitig auch Abschirmung oder Isolation, ein Mehr an baulich umgesetztem Schutz folglich auch ein Mehr an Isolation von der Umwelt.[17]


Mögliche Lösungsansätze:

  • Offenheit als Planungsmaxime:
    Für die Konzipierung und Planung von Wohnbauten wird die Maxime der Offenheit postuliert. Diese fordert oder empfiehlt eindringlich, dass nach Erfüllung der Schutzbedürfnisse ein Maximum an Offenheit anzustreben ist und dies nicht nur, um einer drohenden Isolation des Menschen entgegenzuwirken, sondern auch um seinen Lebens- und Wahrnehmungsraum zu erweitern, um Aneignungsprozesse (im umweltpsychologischen Sinn) ablaufen zu lassen und um den Bewohnenden eine Vielzahl an Möglichkeiten zur Gestaltung des persönlichen, wohnlichen Umfeldes zu eröffnen. Der Begriff der "Offenheit" findet hier also in einem stark erweiterten Sinn Verwendung und umfasst neben der raumgeometrischen und wahrnehmungsbezogenen Offenheit auch die sozial-kommunikative, die gestalterische wie auch die handlungs- und nutzungsbezogene Offenheit.[18]
     

  • Maximierung des Regulationspotentials:
    Um zwischen den Schutzbedürfnissen auf der einen Seite und den Bedürfnissen nach Offenheit und Kontakt zur Umwelt auf der anderen Seite vermitteln zu können, müssen nicht nur die Wohnbaustrukturen entsprechend gestaltet sein, sondern es muss den Bewohnenden selbst ermöglicht werden, zwischen den beiden entgegengesetzten Polen der Protektion und der Offenheit zu wechseln bzw. regulierend einzugreifen. Wobei die unterschiedlichen Formen der Regulation wiederum den verschiedenen Aspekten der Mensch-Umwelt-Beziehungen Rechnung tragen müssen, beispielsweise der sozial-interaktiven, der sensorischen oder der physiologischen Ebene.[19]
    Regulation präsentiert sich in punkto Wohnbaustrukturen als eine Kombination von unterschiedlichen Adaptions- und Filterungsmaßnahmen. Sie umfasst alle von den Bewohnenden beabsichtigten, umgesetzten oder veranlassten Maßnahmen, um erstens auf geänderte Zustände, den Menschen und seine Umwelt betreffend zu reagieren und um zweitens vorhandene Zustände den menschlichen Bedürfnissen entsprechend zu adaptieren oder zu modifizieren. Grundintention ist es, die Umweltbedingungen mit den Erfordernissen der Bewohnenden in Einklang zu bringen, also positive Kongruenz zwischen dem Menschen und seinem Umfeld herzustellen.
     

  • Offen-regulative Wohnbaustrukturen:
    Als offen-regulativ können Wohnbaustrukturen dann bezeichnet werden, wenn sie den Forderungen nach Offenheit und Regulation auf allen bereits oben genannten Ebenen entsprechen können.
    Für solche Wohnbaustrukturen ergeben sich, wie gesagt, eine Reihe von teils konträren Anforderungen, denn sie müssen nicht nur die notwendigen Schutzfunktionen erfüllen, die psychologische und physiologische Isolation des Menschen minimieren und damit zugleich ein Maximum an erwünschter Offenheit generieren, sondern sie sollten auch mit einem möglichst hohen Regulations- und Adaptionspotential ausgestattet sein, um der jeweiligen Lebensweise und Lebensphase der Bewohnenden gerecht werden zu können.
    Als planerisches Endziel gilt es, das Gegenteil von deprivativen, isolationistischen Habitaten zu errichten oder simpler formuliert, das Gegenteil von "Gefängnisarchitektur" zu schaffen, nämlich offen-regulative Strukturen. Entscheidend sind dabei die "Freiheitsgrade", die eine Wohnung bieten kann, sei es in Richtung raumpsychologischer, wohnsoziologischer oder nutzungsbezogener Offenheit, sei es in Richtung Regulation, Adaption oder Modifikation.[20]
     

Kongruenz als Resultat und Ziel

Kongruenz wird in erster Linie durch die verschiedenen Mensch-Umwelt-Adaptionen und Regulationen erreicht, deren Prozesse in zwei gegensätzliche Richtungen verlaufen können.
Erstens die aktive Anpassung der Umwelt an die Lebensweise des Menschen durch den Menschen: d. h. die Umwelt wird dergestalt modifiziert, dass sie den persönlichen Wünschen, Bedürfnissen und Vorstellungen möglichst nahe kommt oder, mit anderen Worten, dass sie in Einklang mit der individuellen Art und Weise zu leben gebracht wird.
Zweitens die Anpassung der Person an die Umwelt: d. h. der Mensch passt sein Leben, seine Lebens- und Wohnvorstellungen an die (scheinbar) fest fixierten Umweltbedingungen an. Er schafft durch diese defensive Art der Anpassung bis zu einem gewissen Grad ebenfalls eine Person-Umwelt-Kongruenz. Vorrangig bemüht sich der Mensch meist um eine Anpassung erster Art; erst wenn dies nicht oder nur sehr eingeschränkt möglich sein sollte, dann wird er mehr oder weniger dazu genötigt, sein Verhalten, seine Handlungen und Intentionen an das Umfeld (bzw. die Wohnung) anzupassen.[21]
"Je nachdem, ob ein Setting kongruent mit dem Lebensstil ist, resultieren daraus Zufriedenheit oder Unzufriedenheit. Das Problem der Unzufriedenheit wird durch Veränderungen der Wohnumwelt oder Änderungen des eigenen Lebensstils und Verhaltens, Umzug oder Reduktionen kognitiver Dissonanz auf andere Weise gelöst."[22]
In der täglichen Praxis werden aller Wahrscheinlichkeit nach immer beide Seiten der Anpassung nebeneinander, quasi verwoben ineinander auftreten, wobei es nicht zuletzt von der Regulierbarkeit des Habitates abhängt, ob der Schwerpunkt der Adaption auf der einen oder anderen Seite zu liegen kommt.
Als Endziel bzw. Endprodukt der beiden Anpassungsarten präsentiert sich jeweils die Kongruenz, also die Übereinstimmung zwischen Lebensweise und Lebensumfeld. Aus welchem Blickwinkel auch immer man es betrachten mag, eine Mensch-Umwelt-Beziehung zielt immer in Richtung Kongruenz, sei es zum Vorteil oder zum Schaden des Menschen, sei es indem das wohnliche Umfeld den menschlichen Bedürfnissen entsprechen kann oder sei es indem sich der Mensch den wohnungsbezogenen Umweltgegebenheiten beugen muss. Dieser Mechanismen mag sich eine Person bewusst sein oder nicht, die freiwillige (positive) oder aufgezwungene (negative) Kongruenz bildet über kurz oder lang das Resultat eines jeden Mensch-Wohnung-Umfeld-Systems.[23]

Richtet man den Blick auf die mental-kognitive Ebene der Kontrollerfahrung, so zeigt sich folgender Zusammenhang: Information und Wissen über das eigene Umfeld können bis zu einem gewissen Grad ein Gefühl der Kontrolle in der Hinsicht bewirken, dass man sich in seiner Lebensumwelt zurechtfindet, dass die Verhältnisse und Geschehnisse im Umfeld durch Erklärbarkeit und Vorhersehbarkeit im übertragenen Sinne greifbar werden. Das Individuum erzeugt immer dann für sich eine mental-kognitive Umweltkontrolle, wenn es Kenntnisse darüber besitzt, was passiert, wie etwas geschieht, warum ein bestimmter Sachverhalt vorhanden ist, wann ein Ereignis eintreten wird, welche Ursachen dahinter stehen usw.
Hat nun diese Person ihre Vorstellungen und Ansprüche bezüglich der eigenen Wohnsituation soweit herabgesetzt, dass sie den vorhandenen Wohnverhältnissen entsprechen, so kann man von einer ideellen Kongruenz sprechen. (Da sich diese vornehmlich auf der mental-kognitiven Ebene abspielt und nicht durch eine reale Verbesserung der Wohnsituation zustande kommt, könnte sie auch als Pseudokongruenz bezeichnet werden.)[24]

Die Kongruenz zwischen einem Menschen und seinem baulich-wohnlichen Umfeld kann aus mehreren Blickwinkeln betrachtet werden und sollte daher auch in all den unterschiedlichen Sektoren zustande kommen können. Um einige davon zu benennen: Eine handlungs- und nutzungsstrukturelle Kongruenz stellt sich dann ein, wenn die Handlungsweisen der Bewohnenden und die Raumnutzungsstrukturen mit den baulichen Rahmenbedingungen konform gehen; in enger Verbindung damit steht die quantitative Kongruenz, die auf die optimale räumliche Ausdehnung der Wohnräume abzielt, welche je nach Nutzungsvorstellungen und Anzahl der bewohnenden Personen stark variieren kann. Die physiologische Kongruenz nimmt Bezug auf baubiologische Parameter und die menschliche Physis im Allgemeinen, wobei die Wechselwirkungen zwischen den verwendeten Baustoffen und den Körperfunktionen des Menschen im Vordergrund stehen. Eine sehr individuelle und subjektive Note trägt hingegen die gestalterische Kongruenz, bei welcher die formalen, ästhetischen Aspekte des Wohnens mit den Vor- und Einstellungen der Bewohnenden in Übereinstimmung gebracht werden. Die Veränderlichkeit oder Adaptierbarkeit von Wohnbaustrukturen (in Verbindung zum Lebenslauf eines Menschen) bildet die wesentlichste Voraussetzung für das Zustandekommen einer Entwicklungskongruenz mit den verschiedenen Lebensphasen und Veränderungen im Leben der Bewohnenden; während die soziolokale Verhaltenskongruenz vor allem die Zusammenhänge zwischen örtlich gebundenen menschlichen Verhaltensmustern und den jeweiligen sozialen und räumlichen Umweltbedingungen in den Mittelpunkt stellt.


Abschließend lässt sich zusammenfassen, dass jegliche Beziehung zwischen dem Menschen und seiner Umwelt auf Art und Intensität der ablaufenden Wechselwirkungsprozesse basiert. Dazu zählen nicht nur alle kommunikativen und sozialen Interaktionen, sondern beispielsweise auch die Wahrnehmung der Umwelt, das Gestalten derselben oder generell jegliches Verhalten gegenüber der Umwelt.
Eine offen-regulative/menschengerechte Wohnbaustruktur sollte diese Kontaktprozesse nach Möglichkeit nicht unterbinden, sondern ermöglichen, vielleicht sogar fördern; denn erst über all die oben genannten Kontakt- und Austauschprozesse wird nicht nur jegliches physisches Wachstum, sondern auch jegliche psychomentale und soziale Weiterentwicklung des Menschen vorstellbar.[25]

 



Quellenverzeichnis:
 

[1] vgl. "Die Psycho-Logik von Wohnbaustrukturen", Die Beziehung Mensch-Wohnung-Umfeld und ihre systemischen Grundlagen, S.30ff, Harald Deinsberger, BoD Verlag, Norderstedt, 2007.

[2] ebd. vgl. S. 79.

[3] Luc Ciompi, "Außenwelt - Innenwelt" - Die Entstehung von Zeit, Raum und psychischen Strukturen; S. 205, Verl. Vandenhoek & Ruprecht, Göttingen, 1988.

[4] ebd.

[5] ebd. vgl. S. 57.

[6] "Psychologie und gebaute Umwelt", S. 63, Dieckmann / Flade / Schuemer / Ströhlein / Walden, Institut Wohnen und Umwelt, Darmstadt, 1998.

[7] vgl. "Die Psycho-Logik von Wohnbaustrukturen", S. 63; H. Deinsberger, BoD Verl., Norderstedt, 2007.

[8] "Kindlers Handbuch Psychologie", S. 481, Hrsg.: Reinhart Stalmann, Kindler Verlag GmbH, München, 1982.

[9] vgl. Peter Schwenkmezger in "Persönlichkeit und Wohlbefinden"; aus "Wohlbefinden", Theorie-Empirie-Diagnostik, S. 124, Hrsg.: Andrea Abele u. Peter Becker, Juventa Verlag, Weinheim, München, 1991.

[10] aus "Psychologie", S. 202, Hrsg.: Lexikon-Institut Bertelsmann, Bertelsmann Lexikon Verl. GmbH, Gütersloh, 1995.

[11] ebd.

[12] vgl. "Die Psycho-Logik von Wohnbaustrukturen", S. 72f; H. Deinsberger, BoD Verl., Norderstedt, 2007.

[13] Bertram Müller in "Ein kategoriales Modell gestalttherapeutischer Diagnostik" aus "Handbuch der Gestalttherapie", S. 655, Reinhard Fuhr, Milan Sreckovic, Martina Gremmler-Fuhr (Hrsg.); Hogrefe Verlag für Psychologie, Göttingen, 1999.

[14] ebd.

[15] aus "Gestalttherapie" Grundlagen, S. 17, Frederick S. Perls, Ralph F. Hefferline, Paul Goodman; 5. Aufl., dtv, München, 2000.

[16] vgl. "Die Psycho-Logik von Wohnbaustrukturen", S. 191ff; H. Deinsberger, BoD Verl., Norderstedt, 2007.

[17] ebd. vgl. S. 27f.

[18] ebd. vgl. S. 204.

[19] ebd. vgl. S. 204.

[20] ebd. vgl. S. 209.

[21] ebd. vgl. S. 163f.

[22] Rotraud Walden in "Lebendiges Wohnen" Entwicklung psychologischer Leitlinien zur Wohnqualität, S. 88; P. Lang Verlag, Frankfurt, 1993.

[23] vgl. "Die Psycho-Logik von Wohnbaustrukturen", S. 163f; H. Deinsberger, BoD Verl., Norderstedt, 2007.

[24] vgl. "Die Psycho-Logik von Wohnbaustrukturen", S. 171f; H. Deinsberger, BoD Verl., Norderstedt, 2007.

[25] ebd. vgl. S. 205f.

 


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