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Der Mensch als wohnendes Individuum befindet sich in einem stetigen
Spannungsfeld zwischen Introversion und Extraversion, d. h.
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zwischen dem Rückzug in die Intim- oder Privatsphäre und der
Öffnung nach außen, zur Umwelt respektive Öffentlichkeit,
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zwischen dem Bedürfnis nach Schutz, sowohl in physiologischer
als auch in psychologischer Hinsicht, und dem Bedürfnis nach Kontakt,
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zwischen kontemplativen, auf die eigene Person konzentrierten
Phasen und kommunikativen, sozial interaktiven Phasen.
Wenn nun diesen bipolar divergierenden Phasen des Menschen im Zuge der
Konzipierung von Wohnbaustrukturen Rechnung getragen werden soll, so ist
klar, dass sie dort wie auch in den baulich-räumlichen Gegebenheiten des
Wohnungsumfeldes eine Entsprechung finden müssen.
Um diesem Spannungsfeld auf den Grund gehen zu können, ist es unerlässlich,
vorab das humanwissenschaftliche Fundament dieser Thematik darzulegen. Der
Begriff der Humanwissenschaften wird im vorliegenden Kontext stellvertretend
für die Wissensgebiete Psychologie, Physiologie, Soziologie und
Anthropologie verwendet, wobei natürlich nur jene Facetten Verwendung
finden, die für diese Wohnbauthematik von Relevanz sind.
Wendet man einen ersten Blick auf die menschlichen Grundbedürfnisse, die mit
dem Wohnbau in Verbindung zu bringen sind, so zeigen sich vorerst zwei große
Bündel von Bedürfnissen.
Das erste Bündel umfasst die Bedürfnisse nach Schutz. Schnürt man
dieses Bündel auf, so werden folgende Stränge erkennbar[1]:
1) Der Schutz des eigenen Lebens respektive des Überlebens ("human shelter")
– bildet gleichsam die ursprüngliche, archaische Schutzfunktion des
Wohnbaus.
2) Der Schutz des Lebensraums ("private space") – stellt, wenn man so will,
die klassische Wohnbauaufgabe dar, nämlich geschützte Räume anzubieten, in
denen die alltäglichen Aktivitäten und Passivitäten der Bewohnenden Platz
finden können.
3) Der Schutz des Wohlbefindens ("personal wellness") – könnte als moderne
oder zivilisatorische Schutzfunktion betrachtet werden. Die Zielformulierung
lautet dabei, den Bewohnenden ihr "Wohn-Wohlbefinden" zu bewahren bzw.
potentielle Beeinträchtigungen so gering wie möglich zu halten.
Diese drei (Haupt-)Schutzfunktionen des Wohnbaus sind natürlich nicht
eindimensional zu sehen, sondern spielen sich jeweils auf mehreren Ebenen
ab.
Die Multidimensionalität in der Mensch-(Wohn-)Umwelt-Interaktion lässt sich
am besten anhand des zweiten Bedürfnisbündels erläutern. Bei den
Bedürfnissen nach Kontakt steht der Begriff "Kontakt" stellvertretend
für diverse Austauschprozesse, für Metabolismus, Interaktion, Kommunikation,
Wahrnehmung, Gestaltung und anderes mehr.
Anmerkung: Die folgende Aufzählung beschreibt einige wichtige Ebenen, die
für den Wohnbau von Bedeutung sind, sie erhebt jedoch nicht den Anspruch,
die Vielfalt der Mensch-Umwelt-Beziehungen vollständig abzudecken, denn dies
würde den Rahmen dieser Veröffentlichung bei weitem überdehnen.
A) Die physiologische Ebene:
Kontakt = Austausch, Metabolismus
Aus physiologischer Sicht lebt der Mensch als biologisch-dissipativer
Organismus in einem fortwährenden Wechselwirkungsprozess mit seiner Umwelt.
Die charakteristischen Eckpfeiler bilden dabei die Begriffe Metabolismus
oder Stoffwechsel, die Atmung oder der Austausch von gasförmigen Stoffen,
der Feuchtigkeitshaushalt und der Wärmehaushalt etc.
Die Psychosomatik besagt dazu in ihrer Kernthese, dass alles, was auf den
Körper eines Menschen einwirkt, auch seine Psyche beeinflusst und umgekehrt,
dass jeder psychische Zustand sich in transformierter Form auf den Körper
überträgt. Faktisch gesehen sind Psyche und Soma des Menschen untrennbar
miteinander verbunden, eine Isolation (im Sinne einer Unterbindung von
notwendigen oder vorteilhaften Austauschprozessen) des einen bleibt nicht
ohne gravierende Konsequenzen für das andere.[2]
B) Die wahrnehmungsbezogene Ebene (Kontakt und Neuroplastizität):
Kontakt = Wahrnehmung = Assimilation und Akkommodation
Der Mensch ist auf Sinneswahrnehmungen angewiesen, durch sie erhält er nicht
nur die zum Überleben notwendigen Informationen aus seiner Umwelt, sondern
auch jene emotionalen und kognitiven Anreize, die vom Säuglingsalter an zur
Entwicklung der eigenen Persönlichkeit und Intelligenz unabdingbar sind.
Über die Prozesse der Assimilation und Akkommodation werden Umweltreize
(Stimuli) in die neuronalen Strukturen des Gehirns integriert bzw. die
neuronalen Strukturen selbst modifiziert und angepasst (Stichwort: neuronale
Plastizität).
Luc Ciompi erläutert hierzu: "Unter 'neuronaler Plastizität' ist die
Tatsache zu verstehen, dass unser Gehirn [...] unter anderem durch Bildung
von neuen, dendritischen Verbindungen ('Verdrahtungen') zwischen
beanspruchten Nervenzellen überaus plastisch auf Umweltreize aller Art zu
reagieren vermag."[3]
Und er führt weiter aus, "[...] die Feinstruktur der zerebralen
Assoziationssysteme steht [...] bis ins höhere Alter hinein in einem
dynamischen Austausch mit der Umwelt."
[4]
Daraus lässt sich schließen, dass die Ausbildung von cerebralen Strukturen
prinzipiell mit der unmittelbaren Umwelt des Menschen in Verbindung steht
und dass die Eigenschaft der neuronalen Plastizität erst durch einen
intensiven Austausch mit ihr zum Tragen kommt. Eine Isolation des Menschen
von seiner Umwelt hemmt demnach auch die Entwicklung seines Gehirns auf
neuronaler Basis.[5]
C) Die umweltpsychologische Ebene:
Kontakt = Aneignung = emotionale Ortsverbundenheit
Der menschliche Organismus kann nicht ohne Bezugnahme auf seine spezifische
Umwelt definiert werden, denn er begegnet dieser Umwelt stets und explizit
in jeweils konkreten Kontaktvariationen, deren physisch räumlicher und
zeitlicher Umfang all das mit einbezieht, was in der gegenwärtigen Situation
gegeben ist.
Das Wohnungsumfeld stellt jenen Ausschnitt aus der Umwelt dar, der mit einer
Wohnung in einem räumlichen, gestalterischen oder funktionellen Zusammenhang
steht und mit dem die Bewohnenden meist über diverse Aneignungsprozesse
interagieren. "Mit Aneignung ist ein Vorgang gemeint, in dem die
objektive Umwelt in eine subjektive und persönlich bedeutsame Umwelt
umgewandelt wird."[6]
In der ökologischen Psychologie bezeichnet Aneignung die vom Individuum
ausgehenden aktiven Handlungen oder, besser gesagt, die interaktiven
Prozesse zur Herstellung eines Kontaktes, eines korrespondierenden
Verhältnisses zwischen dem Menschen und seiner Umwelt. Hierzu zählen, um es
überblicksmäßig aufzugliedern, nicht nur die utilitäre oder operative
Aneignung (Benutzung, Gebrauch), die adaptive oder regulative Aneignung
(Umgestaltung, Veränderung für eigene Zwecke), sondern auch die symbolische
oder gestalterische Aneignung (Personalisierung, soziale Differenzierung und
Markierung) und die ideelle Aneignung (Bedeutungsverleihung, Nennung,
Orientierung). Beispielsweise kann bereits eine wiederholte Zusammenkunft
von Personen an einem Ort als eine Form der Aneignung betrachtet werden und
diesen Platz sozial bedeutsam machen.
Aus all diesen Handlungen und Prozessen entwickelt sich für die betreffenden
Individuen nach und nach eine emotionale Ortsverbundenheit und in ihrer
gesteigerten Form eine so genannte Ortsidentität.[7]
Aneignung kann, in welcher Form auch immer, als Kontaktaufnahme zur
unmittelbaren Umwelt bzw. als fortlaufender Kontaktprozess verstanden
werden. Eine Abtrennung der Wohnung vom Umfeld bedeutet, dass außerhalb der
Wohnräume keine Aneignungsprozesse durchführbar sind und folglich aus Sicht
der Bewohnenden auch keine positiv besetzte, emotionale Ortsverbundenheit
zustande kommen kann.
D) Die soziologische Ebene (Extraversion – Introversion):
Kontakt = Kommunikation und soziale Interaktion
Um das Thema der sozialen Interaktion abhandeln zu können, muss bedacht
werden, dass sich jede Person abwechselnd zeitweise in extravertierten oder
in introvertierten Phasen befindet und dass jede Person je nach ihrer
Charakterstruktur tendenziell mehr Anteile der einen oder der anderen Seite
aufweist. Entscheidend für eine stärkere Orientierung nach innen oder nach
außen sind neben den persönlichen Befindlichkeiten und Ge-Wohnheiten auch
das soziale und räumliche Umfeld.
Extraversion oder Extravertiertheit steht für "[...] eine Gruppe von
Eigenschaften, die den extraversiven Persönlichkeitstypus ausmachen, dessen
Interessen stark nach außen gerichtet sind, der offen für andere Menschen
und die Realität ist und stets Bereitschaft zeigt, sich mit neuen
Situationen auseinander zusetzen."[8]
Extravertiertheit beschreibt demnach eine offene, aufgeschlossene, nach
außen gewandte Geisteshaltung. Sie kennzeichnet sich durch stärkeren Kontakt
mit anderen Menschen, Soziabilität beziehungsweise soziales Verhalten und
Aktivität generell, bisweilen auch gepaart mit Unbekümmertheit. In
Begleitung von emotionaler Stabilität korreliert sie mit positiven
Gefühlszuständen, mit vermehrtem Wohlbefinden und Lebenszufriedenheit.[9]
Introversion oder Introvertiertheit steht für eine "[...] verschlossene,
zurückgezogenen Haltung eines Menschen, dessen psychische Energie vorwiegend
auf die eigene Innenwelt gerichtet ist."[10]
Eine introvertierte Person konzentriert sich in erster Linie auf die eigene
Befindlichkeit, das eigene Innenleben. Sie charakterisiert sich eher durch
Nachdenklichkeit und Zurückgezogenheit, durch defensives und zögerliches
Verhalten, häufig auch begleitet von Ängstlichkeit und Misstrauen gegenüber
anderen. "Als Persönlichkeitsmerkmal wird Introversion mit der Ausbildung
von angstneurotischen und depressiven Symptomen in Verbindung gebracht."[11]
Dies bedeutet jedoch nicht, dass Extravertiertheit stets mit positiven
Gefühlszuständen und Introvertiertheit mit negativen gleichzusetzen ist.
Vielmehr gehören beide Seiten zum vollständigen Charakterbild eines jeden
Menschen, denn einerseits ist Extraversion für die Zuwendung zum sozialen
Umfeld oder für die Kontaktaufnahme zu den Mitmenschen notwendig,
andererseits können sich Phasen der Introversion als sinnvoll erweisen, um
beispielsweise eine Gelegenheit zur Kontemplation zu finden, um sich wieder
auf sich selbst zu besinnen, sich selbst zu spüren, gewisse Dinge zu
überdenken und vieles andere mehr. Ein ausgeglichener Mensch wird versuchen,
beiden Seiten ihre Zeit zu geben und sie miteinander in Einklang zu bringen;
er wird sich allerdings deutlich in Richtung Offenheit und Interesse
gegenüber seiner Außenwelt orientieren, wie auch mit Aufgeschlossenheit und
Empathie dem Geschehen in seiner Umwelt begegnen.
Im gegenteiligen Fall bereitet eine verstärkte Introversion, insbesondere in
Verbindung mit instabilen Persönlichkeitszügen, scheinbar einen guten
Nährboden für Neurotizismen, das heißt, sie erhöht die Anfälligkeit für
Neurosen unterschiedlicher Art. Phänomene wie Ängstlichkeit, Depressivität,
Ärgerneigung oder eine erhöhte Sensibilität für psychosomatische Krankheiten
können in der Folge erkennbar werden; in den meisten Fällen korreliert ein
Übermaß an Introvertiertheit mit mangelndem Wohlbefinden wie auch mit einer
erhöhten Unzufriedenheit mit sich selbst und der 'Welt' allgemein.
Wie können sich nun bauliche Strukturen auf das Verhältnis zwischen Extra-
und Introversion mit Hauptaugenmerk auf die soziale Komponente auswirken?
Eine räumliche Isolation aufgrund von vorgegebenen Baustrukturen, seien es
mangelhafte Gebäudegrundrisse, städtebauliche Konzepte oder
Raumplanungsvorgaben, fördert auch die psychosoziale Separation von
Individuen oder Personengruppen. Durch fehlende Beziehungen zum (sozialen)
Außenraum erfolgt fast notgedrungener Maßen eine Wendung des alltäglichen
Lebens nach innen. Eine Verhinderung von Extraversion bewirkt im Gegenzug
eine verstärkte Introversion des Menschen, fehlende Möglichkeiten zur
Gemeinschaftsbildung somit eine verstärkte Zentrierung auf die eigene Person
in den eigenen "vier Wänden".
In psycho-logischer Konsequenz fördert die Isolation das Misstrauen
gegenüber anderen Menschen; fehlender kommunikativer Kontakt wird durch
Vermutungen oder (gepaart mit Misstrauen) durch Verdächtigungen ersetzt;
diese führen wiederum zu einer vorsichtigen, bisweilen auch aversiven
Haltung, bekräftigen in der Folge die Tendenz zur Abgrenzung vom
vermeintlich feindseligen Umfeld und verstärken somit auch die Abkapselung
der Bewohnenden untereinander und deren Introversion.
Daraus ergeben sich Folgen nicht nur für das nachbarschaftliche
Zusammenleben, sondern auch in Hinblick auf gesamtgesellschaftliche
Zusammenhänge. Eine introvertierte Gesellschaft erweist sich gleichzeitig
als ängstliche Gesellschaft, die dazu neigt, alles Fremde als etwas
Feindliches zu betrachten und alles ihr Unbekannte vorerst abzulehnen oder
ihm zumindest mit großer Skepsis zu begegnen. Erst durch einen Prozess der
Öffnung, der Extraversion kann das Neue, vormals Fremde aufgenommen und
integriert werden. Eine introvertierte Gesellschaft beschränkt sich auf sich
selbst, bleibt isoliert untereinander sowie gegenüber anderen und wagt kaum
den Blick über den sprichwörtlichen "Gartenzaun". Sie fördert dadurch die
eigenen Neurotizismen, beeinträchtigt die eigene Soziabilität und ist
anfälliger für ideologische Indoktrinierungen aller Art, insbesondere für
jene, die das Schüren von Ängsten gegenüber Fremden oder Neuem manipulativ
einsetzen.[12]
E) Die Gestalttherapeutische Ebene:
Kontakt = Gestaltung und Interaktion
Folgt man einer der gestalttherapeutischen Kernhypothesen, dass eine massive
Unterbrechung des Kontaktes zwischen einem Menschen und seiner Umwelt
psychische Störungen mit sich zieht,[13]
so können daraus bestimmte Rückschlüsse für das Verhältnis
Mensch-Wohnung-Umfeld gezogen werden. Denn die Tatsache, dass Wahrnehmung
und Gestaltung als Formen (oder Funktionen) des Mensch-Umwelt-Kontaktes
gelten, bedeutet, dass psychische Beeinträchtigungen für einen Menschen dann
unvermeidlich sind, wenn die Beziehung zu seinem wohnlichen Umfeld bzw.
seinem Habitat unterbunden oder drastisch eingeschränkt wird (vergleichbar
mit einem Wohnen unter Haftbedingungen).
Dazu folgende Definition: "Das Selbst ist das System der Kontakte im Feld
von Organismus und Umfeld [...]."[14]
Oder um mit F. S. Perls zu sprechen: "Wir wollen das 'Selbst' als das
System der ständig neuen Kontakte definieren. Als solch ein System ist das
Selbst von flexibler Vielfalt, denn es verändert sich mit den
vorherrschenden Bedürfnissen und den andrängenden Umweltreizen;".[15]
Dies lässt die Schlussfolgerung zu, dass ein Kontaktmangel dieses System
sehr stark in Mitleidenschaft ziehen kann und dass eine zu einschneidende
Kontaktreduktion bzw. ein gänzliches Fehlen von Kontaktprozessen
unweigerlich zur Auflösung, also zur Eliminierung des Systems (und damit
auch des "Selbst") führen muss.
Erst durch die Kontaktaufnahme zur Umwelt kann dem Menschen bewusst werden,
dass die umgebenden realen Bedingungen, also sein Habitat und sein Umfeld,
nicht unveränderlich sind, sondern dass sie im Gegenteil zu einem guten Teil
gestaltbar, formbar oder modifizierbar sind.
Die kreative oder schöpferische Anpassung ist stets mit kognitiven
Leistungen verbunden und daher nicht nur ein Merkmal
intelligenten/menschlichen Verhaltens, sondern auch der psychischen
Gesundheit eines Menschen mehr als zuträglich. Eine Wohnung inklusive Umfeld
sollte von den Bewohnenden im besten Sinne als ein Feld der schöpferischen
oder kreativen Möglichkeiten betrachtet und in Anspruch genommen werden
können. Dies setzt natürlich voraus, dass das wohnliche Umfeld (Wohnung,
Freiräume, Wohnungsumfeld) auch ein entsprechendes Gestaltungs- und
Adaptionspotential bereithält.
Gestalten bedeutet ein Zusammenwirken der sensorischen Wahrnehmung des
Menschen, der kognitiven Leistungen seiner cerebralen Netzwerke wie auch der
physiologischen Bewegungssteuerung seines Körpers. Der Gestaltungsprozess
umfasst also den Menschen in seiner Ganzheit und mehr noch, er bezieht das
zu gestaltende Umfeld unmittelbar und untrennbar mit ein in seinen
Erfahrungs- und Empfindungsraum. In diesem Sinne erweitern
Gestaltungsprozesse gleichsam die Grenzen des Menschseins über seinen Körper
hinaus auf Bereiche seines Umfeldes.[16]
Kernproblematik:
Die Diskrepanz zwischen Isoliertheit (=Kontaktdefizit) und
Schutzbedürfnis
Zusammenfassend umschließt die Problematik der Isolation nicht nur die
Trennung und Abkapselung des Menschen von seiner Umwelt, sondern auch das
Fehlen oder den Mangel an Sozialbeziehungen, die Vereinzelung von
Individuen, die Abkapselung ganzer Personengruppen von der sozialen oder
räumlichen Umwelt, die Entfremdung des Menschen von der Natur und die
Auflösung oder das Nicht-Zustandekommen von Mensch-Umwelt-Kontakten mit all
den damit verbundenen negativen Konsequenzen.
Der Wohnbau befindet sich dadurch inmitten des Spannungsfeldes zwischen
Schutzfunktion und Isolation, das heißt zwischen dem baulich umgesetzten
Schutzbedürfnis des Menschen auf der einen Seite und der vorhandenen oder
drohenden Isolation des Menschen von seiner Umwelt auf der anderen Seite.
Aus all den unzähligen denkbaren Schutzmaßnahmen für den Menschen kommen im
gegenständlichen Kontext zwar nur jene baulicher Art in Betracht, doch
gerade hier bedeutet Schutz jedoch in nahezu allen Fällen gleichzeitig auch
Abschirmung oder Isolation, ein Mehr an baulich umgesetztem Schutz folglich
auch ein Mehr an Isolation von der Umwelt.[17]
Mögliche Lösungsansätze:
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Offenheit als Planungsmaxime: Für die Konzipierung und Planung von Wohnbauten wird die Maxime der
Offenheit postuliert. Diese fordert oder empfiehlt eindringlich, dass nach
Erfüllung der Schutzbedürfnisse ein Maximum an Offenheit anzustreben ist und
dies nicht nur, um einer drohenden Isolation des Menschen entgegenzuwirken,
sondern auch um seinen Lebens- und Wahrnehmungsraum zu erweitern, um
Aneignungsprozesse (im umweltpsychologischen Sinn) ablaufen zu lassen und um
den Bewohnenden eine Vielzahl an Möglichkeiten zur Gestaltung des
persönlichen, wohnlichen Umfeldes zu eröffnen. Der Begriff der "Offenheit"
findet hier also in einem stark erweiterten Sinn Verwendung und umfasst
neben der raumgeometrischen und wahrnehmungsbezogenen Offenheit auch die
sozial-kommunikative, die gestalterische wie auch die handlungs- und
nutzungsbezogene Offenheit.[18]
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Maximierung des Regulationspotentials: Um zwischen den Schutzbedürfnissen auf der einen Seite und den Bedürfnissen
nach Offenheit und Kontakt zur Umwelt auf der anderen Seite vermitteln zu
können, müssen nicht nur die Wohnbaustrukturen entsprechend gestaltet sein,
sondern es muss den Bewohnenden selbst ermöglicht werden, zwischen den
beiden entgegengesetzten Polen der Protektion und der Offenheit zu wechseln
bzw. regulierend einzugreifen. Wobei die unterschiedlichen Formen der
Regulation wiederum den verschiedenen Aspekten der Mensch-Umwelt-Beziehungen
Rechnung tragen müssen, beispielsweise der sozial-interaktiven, der
sensorischen oder der physiologischen Ebene.[19] Regulation präsentiert sich in punkto Wohnbaustrukturen als eine Kombination
von unterschiedlichen Adaptions- und Filterungsmaßnahmen. Sie umfasst alle
von den Bewohnenden beabsichtigten, umgesetzten oder veranlassten Maßnahmen,
um erstens auf geänderte Zustände, den Menschen und seine Umwelt betreffend
zu reagieren und um zweitens vorhandene Zustände den menschlichen
Bedürfnissen entsprechend zu adaptieren oder zu modifizieren. Grundintention
ist es, die Umweltbedingungen mit den Erfordernissen der Bewohnenden in
Einklang zu bringen, also positive Kongruenz zwischen dem Menschen und
seinem Umfeld herzustellen.
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Offen-regulative Wohnbaustrukturen: Als offen-regulativ können Wohnbaustrukturen dann bezeichnet werden, wenn
sie den Forderungen nach Offenheit und Regulation auf allen bereits oben
genannten Ebenen entsprechen können. Für solche Wohnbaustrukturen ergeben sich, wie gesagt, eine Reihe von teils
konträren Anforderungen, denn sie müssen nicht nur die notwendigen
Schutzfunktionen erfüllen, die psychologische und physiologische Isolation
des Menschen minimieren und damit zugleich ein Maximum an erwünschter
Offenheit generieren, sondern sie sollten auch mit einem möglichst hohen
Regulations- und Adaptionspotential ausgestattet sein, um der jeweiligen
Lebensweise und Lebensphase der Bewohnenden gerecht werden zu können. Als planerisches Endziel gilt es, das Gegenteil von deprivativen,
isolationistischen Habitaten zu errichten oder simpler formuliert, das
Gegenteil von "Gefängnisarchitektur" zu schaffen, nämlich offen-regulative
Strukturen. Entscheidend sind dabei die "Freiheitsgrade", die eine Wohnung
bieten kann, sei es in Richtung raumpsychologischer, wohnsoziologischer oder
nutzungsbezogener Offenheit, sei es in Richtung Regulation, Adaption oder
Modifikation.[20]
Kongruenz als Resultat und Ziel
Kongruenz wird in erster Linie durch die verschiedenen
Mensch-Umwelt-Adaptionen und Regulationen erreicht, deren Prozesse in zwei
gegensätzliche Richtungen verlaufen können. Erstens die aktive Anpassung der Umwelt an die Lebensweise des Menschen
durch den Menschen: d. h. die Umwelt wird dergestalt modifiziert, dass sie
den persönlichen Wünschen, Bedürfnissen und Vorstellungen möglichst nahe
kommt oder, mit anderen Worten, dass sie in Einklang mit der individuellen
Art und Weise zu leben gebracht wird. Zweitens die Anpassung der Person an die Umwelt: d. h. der Mensch passt sein
Leben, seine Lebens- und Wohnvorstellungen an die (scheinbar) fest fixierten
Umweltbedingungen an. Er schafft durch diese defensive Art der Anpassung bis
zu einem gewissen Grad ebenfalls eine Person-Umwelt-Kongruenz. Vorrangig
bemüht sich der Mensch meist um eine Anpassung erster Art; erst wenn dies
nicht oder nur sehr eingeschränkt möglich sein sollte, dann wird er mehr
oder weniger dazu genötigt, sein Verhalten, seine Handlungen und Intentionen
an das Umfeld (bzw. die Wohnung) anzupassen.[21] "Je nachdem, ob ein Setting kongruent mit dem Lebensstil ist, resultieren
daraus Zufriedenheit oder Unzufriedenheit. Das Problem der Unzufriedenheit
wird durch Veränderungen der Wohnumwelt oder Änderungen des eigenen
Lebensstils und Verhaltens, Umzug oder Reduktionen kognitiver Dissonanz auf
andere Weise gelöst."[22] In der täglichen Praxis werden aller Wahrscheinlichkeit nach immer beide
Seiten der Anpassung nebeneinander, quasi verwoben ineinander auftreten,
wobei es nicht zuletzt von der Regulierbarkeit des Habitates abhängt, ob der
Schwerpunkt der Adaption auf der einen oder anderen Seite zu liegen kommt. Als Endziel bzw. Endprodukt der beiden Anpassungsarten präsentiert sich
jeweils die Kongruenz, also die Übereinstimmung zwischen Lebensweise und
Lebensumfeld. Aus welchem Blickwinkel auch immer man es betrachten mag, eine
Mensch-Umwelt-Beziehung zielt immer in Richtung Kongruenz, sei es zum
Vorteil oder zum Schaden des Menschen, sei es indem das wohnliche Umfeld den
menschlichen Bedürfnissen entsprechen kann oder sei es indem sich der Mensch
den wohnungsbezogenen Umweltgegebenheiten beugen muss. Dieser Mechanismen
mag sich eine Person bewusst sein oder nicht, die freiwillige (positive)
oder aufgezwungene (negative) Kongruenz bildet über kurz oder lang das
Resultat eines jeden Mensch-Wohnung-Umfeld-Systems.[23]
Richtet man den Blick auf die mental-kognitive Ebene der Kontrollerfahrung,
so zeigt sich folgender Zusammenhang: Information und Wissen über das eigene
Umfeld können bis zu einem gewissen Grad ein Gefühl der Kontrolle in der
Hinsicht bewirken, dass man sich in seiner Lebensumwelt zurechtfindet, dass
die Verhältnisse und Geschehnisse im Umfeld durch Erklärbarkeit und
Vorhersehbarkeit im übertragenen Sinne greifbar werden. Das Individuum
erzeugt immer dann für sich eine mental-kognitive Umweltkontrolle, wenn es
Kenntnisse darüber besitzt, was passiert, wie etwas geschieht, warum ein
bestimmter Sachverhalt vorhanden ist, wann ein Ereignis eintreten wird,
welche Ursachen dahinter stehen usw. Hat nun diese Person ihre Vorstellungen und Ansprüche bezüglich der eigenen
Wohnsituation soweit herabgesetzt, dass sie den vorhandenen
Wohnverhältnissen entsprechen, so kann man von einer ideellen Kongruenz
sprechen. (Da sich diese vornehmlich auf der mental-kognitiven Ebene
abspielt und nicht durch eine reale Verbesserung der Wohnsituation zustande
kommt, könnte sie auch als Pseudokongruenz bezeichnet werden.)[24]
Die Kongruenz zwischen einem Menschen und seinem baulich-wohnlichen Umfeld
kann aus mehreren Blickwinkeln betrachtet werden und sollte daher auch in
all den unterschiedlichen Sektoren zustande kommen können. Um einige davon
zu benennen: Eine handlungs- und nutzungsstrukturelle Kongruenz stellt sich
dann ein, wenn die Handlungsweisen der Bewohnenden und die
Raumnutzungsstrukturen mit den baulichen Rahmenbedingungen konform gehen; in
enger Verbindung damit steht die quantitative Kongruenz, die auf die
optimale räumliche Ausdehnung der Wohnräume abzielt, welche je nach
Nutzungsvorstellungen und Anzahl der bewohnenden Personen stark variieren
kann. Die physiologische Kongruenz nimmt Bezug auf baubiologische Parameter
und die menschliche Physis im Allgemeinen, wobei die Wechselwirkungen
zwischen den verwendeten Baustoffen und den Körperfunktionen des Menschen im
Vordergrund stehen. Eine sehr individuelle und subjektive Note trägt
hingegen die gestalterische Kongruenz, bei welcher die formalen,
ästhetischen Aspekte des Wohnens mit den Vor- und Einstellungen der
Bewohnenden in Übereinstimmung gebracht werden. Die Veränderlichkeit oder
Adaptierbarkeit von Wohnbaustrukturen (in Verbindung zum Lebenslauf eines
Menschen) bildet die wesentlichste Voraussetzung für das Zustandekommen
einer Entwicklungskongruenz mit den verschiedenen Lebensphasen und
Veränderungen im Leben der Bewohnenden; während die soziolokale
Verhaltenskongruenz vor allem die Zusammenhänge zwischen örtlich gebundenen
menschlichen Verhaltensmustern und den jeweiligen sozialen und räumlichen
Umweltbedingungen in den Mittelpunkt stellt.
Abschließend lässt sich zusammenfassen, dass jegliche Beziehung zwischen dem
Menschen und seiner Umwelt auf Art und Intensität der ablaufenden
Wechselwirkungsprozesse basiert. Dazu zählen nicht nur alle kommunikativen
und sozialen Interaktionen, sondern beispielsweise auch die Wahrnehmung der
Umwelt, das Gestalten derselben oder generell jegliches Verhalten gegenüber
der Umwelt. Eine offen-regulative/menschengerechte Wohnbaustruktur sollte diese
Kontaktprozesse nach Möglichkeit nicht unterbinden, sondern ermöglichen,
vielleicht sogar fördern; denn erst über all die oben genannten Kontakt- und
Austauschprozesse wird nicht nur jegliches physisches Wachstum, sondern auch
jegliche psychomentale und soziale Weiterentwicklung des Menschen
vorstellbar.[25]
Quellenverzeichnis:
[1] vgl. "Die
Psycho-Logik von Wohnbaustrukturen", Die Beziehung
Mensch-Wohnung-Umfeld und ihre systemischen Grundlagen, S.30ff,
Harald Deinsberger, BoD Verlag, Norderstedt, 2007.
[3] Luc Ciompi,
"Außenwelt - Innenwelt" - Die Entstehung von Zeit, Raum und
psychischen Strukturen; S. 205, Verl. Vandenhoek & Ruprecht,
Göttingen, 1988.
[6] "Psychologie
und gebaute Umwelt", S. 63, Dieckmann / Flade / Schuemer / Ströhlein
/ Walden, Institut Wohnen und Umwelt, Darmstadt, 1998.
[7] vgl. "Die
Psycho-Logik von Wohnbaustrukturen", S. 63; H. Deinsberger, BoD
Verl., Norderstedt, 2007.
[8] "Kindlers
Handbuch Psychologie", S. 481, Hrsg.: Reinhart Stalmann, Kindler
Verlag GmbH, München, 1982.
[9] vgl. Peter
Schwenkmezger in "Persönlichkeit und Wohlbefinden"; aus
"Wohlbefinden", Theorie-Empirie-Diagnostik, S. 124, Hrsg.: Andrea
Abele u. Peter Becker, Juventa Verlag, Weinheim, München, 1991.
[10] aus
"Psychologie", S. 202, Hrsg.: Lexikon-Institut Bertelsmann,
Bertelsmann Lexikon Verl. GmbH, Gütersloh, 1995.
[12] vgl. "Die
Psycho-Logik von Wohnbaustrukturen", S. 72f; H. Deinsberger, BoD
Verl., Norderstedt, 2007.
[13] Bertram
Müller in "Ein kategoriales Modell gestalttherapeutischer
Diagnostik" aus "Handbuch der Gestalttherapie", S. 655, Reinhard
Fuhr, Milan Sreckovic, Martina Gremmler-Fuhr (Hrsg.); Hogrefe Verlag
für Psychologie, Göttingen, 1999.
[15] aus
"Gestalttherapie" Grundlagen, S. 17, Frederick S. Perls, Ralph F.
Hefferline, Paul Goodman; 5. Aufl., dtv, München, 2000.
[16] vgl. "Die
Psycho-Logik von Wohnbaustrukturen", S. 191ff; H. Deinsberger, BoD
Verl., Norderstedt, 2007.
[22] Rotraud
Walden in "Lebendiges Wohnen" Entwicklung psychologischer Leitlinien
zur Wohnqualität, S. 88; P. Lang Verlag, Frankfurt, 1993.
[23] vgl. "Die
Psycho-Logik von Wohnbaustrukturen", S. 163f; H. Deinsberger, BoD
Verl., Norderstedt, 2007.
[24] vgl. "Die
Psycho-Logik von Wohnbaustrukturen", S. 171f; H. Deinsberger, BoD
Verl., Norderstedt, 2007.
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