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Einführung
Landläufig wird Geographie mit Erdkunde gleichgesetzt und als jene
Disziplin betrachtet, die sich insbesondere mit der Ausprägung und
Verbreitung ganz unterschiedlicher Phänomene auf der Erde befasst. Geht man
zunächst einmal von dieser Vorstellung geographischen Denkens und Forschens
aus, erscheint es durchaus plausibel, auch Geographen dazu aufzufordern,
einen Beitrag zur Thematisierung und Theoretisierung von Architektur
außerhalb der klassischen Architekturtheorie zu leisten. Denn ganz
offensichtlich ist auch das Phänomen der gebauten Umwelt in erdräumlicher
Betrachtung unterschiedlich gestaltet und kann insofern Gegenstand
geographischen Forschens werden. Gleichzeitig dürfte vor dem Hintergrund
eines solchen Verständnisses von Geographie als Erdkunde von einem Beitrag
aus dieser Disziplin aber nicht viel zu erwarten sein, da über viel mehr als
die Verbreitung von Baustilen oder Gebäudeformen aus der Geographie nicht zu
berichten wäre.
Dass wir uns als Geographen trotzdem dazu bereit erklärt haben, hier einen
Beitrag über die außerdisziplinäre Thematisierung von Architektur in der
deutschsprachigen Geographie beizusteuern, ist darin begründet, dass unsere
Fachdisziplin in ihrem Denken schon seit mehreren Jahrzehnten nicht mehr mit
der klassischen Erdkunde gleichzusetzen ist. Im Übergang von den 1960er zu
den 1970er Jahren erfolgte nach einer kritischen Auseinandersetzung mit dem
landschafts- und länderkundlichen Paradigma, das bis dahin das geographische
Denken bestimmt und das Bild von Geographie als Erdkunde begründet hatte,
eine zunehmende Integration sozial- und wirtschaftswissenschaftlicher
Ansätze in der Humangeographie. Gleichzeitig setzen sich Geographen seit
dieser Zeit vermehrt auch mit anwendungsbezogenen Problem- und
Fragestellungen auseinander, die eine Vielzahl von Berührungspunkten zum
Städtebau und zur Raumordnung bieten. Insgesamt haben diese beiden
Entwicklungen zu einer Pluralisierung humangeographischen Denkens geführt.
Diese Pluralisierung bedeutet aber nicht zwangsläufig, dass der gebauten
Umwelt dadurch mehr Aufmerksamkeit geschenkt wird. So stehen in der
pluralisierten Humangeographie heute neben vielfältigen Ansätzen ohne Bezug
zur materiellen Umwelt auch solche, die sich mehr oder weniger ausdrücklich
auf die Architektur beziehen. Zusammengenommen lassen sich drei Phasen
ausmachen, in denen die gebaute Umwelt in jeweils unterschiedlichem Maß im
geographischen Denken und Forschen Berücksichtigung findet: Nach einer
traditionellen Phase, die eher vom landschafts- und länderkundlichen
Paradigma mit ihrem spezifischen Blick auf die gebaute Umwelt geprägt war,
folgte eine zweite Phase der sozialwissenschaftlichen Modernisierung, in der
das Thema der Architektur weitgehend ausgeblendet wurde. Erst in jüngerer
Zeit haben sich in der Humangeographie verschiedene Ansätze entwickelt, die
dem Materiellen bzw. visuell Wahrnehmbaren wieder eine stärkere
Aufmerksamkeit geben. Damit rückt grundsätzlich auch die Architektur wieder
stärker in den Fokus der Humangeographie, so dass wir von einer dritten
Phase der Neuthematisierung der gebauten Umwelt sprechen. Insofern trifft
dieses Themenheft auf eine günstige Konstellation, um sich ältere Formen der
Beschäftigung mit Architektur in der Fachdisziplin noch einmal zu
vergegenwärtigen und gleichzeitig das noch im Entstehen begriffene Feld
verschiedener neuer Ansätze zur Thematisierung der gebauten Umwelt
auszuleuchten.
Siedlungsmorphologische Perspektiven im Rahmen der traditionellen
Geographie
In der traditionellen Geographie wird die Architektur im Bereich der
Siedlungsmorphologie thematisiert, deren erste Arbeiten bereits an der Wende
vom 19. zum 20. Jahrhundert entstanden sind. Ihre Perspektive auf die
gebaute Umwelt steht deshalb in einer engen Verbindung mit dem
Landschaftsparadigma, das vom Ende des 19. Jahrhunderts bis in die 60er
Jahre des 20. Jahrhunderts wesentlich geographisches Denken und Forschen
beeinflusst hat (vgl. Schultz 1980).
Die vom Landschaftsparadigma geleitete Geographie war an dem Totalcharakter
einer Gegend interessiert und zielte darauf ab, das Wesen von Landschaften
zu bestimmen. Nachdem zunächst allein Naturlandschaften den Gegenstand der
geographischen Landschaftsforschung bildeten, hat sie sich mit der
Entwicklung der Anthropogeographie Ende des 19. Jahrhunderts schließlich
auch dem Menschen bzw. vom Menschen gestalteten Teilen der Erdoberfläche
zugewandt und Geographie auch als Kulturlandschaftsforschung entwickelt.
Damit ist auch die gebaute Umwelt in den Blick der Geographie gelangt. Die
Auseinandersetzung mit der Gestalt der gebauten Umwelt im Rahmen der
Kulturlandschaftsforschung hat sich vor dem Hintergrund der starken
physiognomischen Grundlegung des Landschaftsbegriffes (vgl. Schultz 1980,
229f) geradezu aufgedrängt. Entsprechend ihrer langen Tradition haben
siedlungsmorphologische Untersuchungen im Laufe der Zeit im Detail durchaus
unterschiedliche Fragestellungen verfolgt. Da sich die Stadtgeographie und
die Geographie ländlicher Siedlungen innerhalb der Geographie sehr früh als
Subdisziplinen herausgebildet und sich als solche in gewissem Maß
eigenständig entwickelt haben, folgen wir hier dieser Unterscheidung.
Stadtmorphologie
In ihrer Entstehungsphase hatte die Stadtmorphologie überwiegend
deskriptiven Charakter. Sie entsprach damit einem Verständnis der
Landschaftsgeographie als einer in erster Linie beschreibenden Disziplin
(vgl. Werlen 2000, 101f). In dieser deskriptiven Phase haben sich
stadtmorphologische Arbeiten zunächst einmal unter dem Namen
Stadtplanforschung auf die Grundrisse von Siedlungen beschränkt (vgl.
Dörries 1969, 25ff). In zahlreichen Arbeiten zu den Stadtgrundrissen wurde
eine Vielzahl von Grundrissformen herausgearbeitet und unterschieden. Später
haben stadtmorphologische Untersuchungen zusätzlich zum Grundriss auch den
Aufriss von Städten untersucht und sich damit stärker auch auf einzelne
Gebäude bezogen. Hierbei wurden insbesondere die Stellung der Gebäude, das
Baualter, der Baustil und die verwendeten Baumaterialien thematisiert. So
kommt Geissler (1924) in seiner überaus differenzierten, als Höhepunkt der
deskriptiven Stadtmorphologie geltenden Arbeit über deutsche Städte neben
zahlreichen Grundrisstypen von Städten auch zu einer umfangreichen Typologie
von Hausformen. Beachtung finden dabei Fassadenformen, Dachformen sowie die
Grundrisse der Häuser und Wohnungen, die vielfach nach historischen Epochen
geordnet dargestellt werden. Darüber hinaus spielen auch die Baustoffe eine
wichtige Rolle als „landschaftsgebundene Konstanten“ (Schöller 1967, S. 41).
Schließlich hat die länderkundliche Tradition der Geographie dazu
beigetragen, dass die stadtmorphologische Perspektive systematisch auch mit
Blick auf andere Länder und Kulturkreise angewendet wurde (vgl. Passarge
1930).
Ähnlich wie die Landschaftskunde hat sich auch die Stadtmorphologie nach
einer überwiegend auf eine reine Deskription beschränkten Phase später mit
der Genese von Siedlungsformen auseinandergesetzt (vgl. Heineberg 2006).
Hierbei wurden in Abhängigkeit von der Entwicklung des kulturgeographischen
Denkens auf unterschiedliche Argumentationszusammenhänge zurückgegriffen.
Anfangs war der Einfluss einer geodeterministischen Argumentation, die
soziale oder gesellschaftliche Phänomene aus der naturräumlichen Ausstattung
einer Region oder eines Landes ableitete, noch deutlich erkennbar. So führt
beispielsweise Passarge (1930, IV) im Vorwort des von ihm herausgegeben
Buches über Stadtlandschaften der Erde an, dass Städte zwar „lediglich“ vom
Menschen geschaffene „Kunstlandschaften“ seien, die „…aber auch oft genug in
Abhängigkeit von der Natur des Landes entstanden [sind].“ Die Landschaft
wird von ihm folgerichtig auch an erster Stelle der möglichen
Einflussfaktoren auf die Gestalt von Städten genannt. Die naturräumliche
Ausstattung in der Umgebung einer Stadt wird aber auch noch später ohne
ausdrücklich geodeterministischen Hintergrund als Erklärungsfaktor bemüht.
So hat Huttenlocher (1963, 177) den Begriff der „Materialprovinzen“ geprägt.
Regionale Stadttypen wie beispielsweise das fränkische oder auch bairische
Städtewesen entlang der jeweils verwendeten Baumaterialien und des daran
gebundenen Baucharakters wurden darüber hinaus ausdifferenziert.
Im Verlauf des 20. Jahrhunderts verlor das geodeterministische Denken in der
Geographie dann aber zunehmend an Bedeutung und schuf in der
stadtmorphologischen Forschung Platz für sozial- oder kulturgeschichtliche
Erklärungen von Stadtgestalt. In diesem Sinn argumentiert beispielsweise
Huttenlocher (1963, 181), der regionale Differenzierungen der
Stadtgestaltung auf spezifische regionale Geisteshaltungen zurückführt. Aus
heutiger Sicht erscheinen derartige Schlussfolgerungen aber stark verkürzt.
Deutlicher ist hier Klaus Tiborski (1987), der sich intensiv mit dem
Wiederaufbau der Solinger Altstadt im ‚neuzeitlichen Stil’
auseinandergesetzt hat. Er interpretiert das neue Erscheinungsbild, das
weder an tradierte Bauformen noch an regionalspezifische Bauweisen und
Materialpräferenzen anknüpft, als eine bauliche Innovation, während sich
gleichzeitig durch die Beibehaltung der Grundrissstruktur aber auch eine
Persistenz im Wiederaufbau der Solinger Altstadt zeigt.
Besonders nach dem Zweiten Weltkrieg sind mit funktionalen und
sozialräumlichen Ansätzen neue Forschungsperspektiven zur Betrachtung
innerstädtischer Phänomene neben die Stadtmorphologie getreten (vgl.
Schöller 1953, 166ff). Damit hat die morphologische Betrachtungsweise in
Stadtmonographien und vergleichenden Arbeiten der Stadtforschung erheblich
an Stellenwert eingebüßt (vgl. beispielsweise Ohnesorge 1974 für die Stadt
Wolfenbüttel).
Noch entscheidender für den Bedeutungsverlust der morphologischen Ansätze
innerhalb der Stadtgeographie war der Abschied vom Landschaftsparadigma als
zentraler Perspektive geographischen Denkens Ende der 1960er Jahre und der
gleichzeitigen Entwicklung einer auf der einen Seite stärker an die Sozial-
oder Wirtschaftswissenschaften angelehnten und auf der anderen Seite
gegenwarts- und zukunftsbezogenen angewandten Stadtforschung. Mit dieser
Neuausrichtung sind die regionale Stadtgeographie und die darin enthaltende
Stadtmorphologie als zeitgemäße Forschungsperspektive deutlich in den
Hintergrund getreten. Insbesondere innerhalb der deutschsprachigen
Geographie sind in den letzten Jahren nur wenige Arbeiten (vgl.
beispielsweise Freund 2000) als Ausnahmen allein aus stadtmorphologischer
Perspektive entstanden.
Im angelsächsischen Raum verdeutlichen die Zeitschrift Urban Morphology
sowie eine im zweijährigen Turnus abgehaltene Tagung zur urbanen Form
jedoch, dass die Stadtmorphologie im internationalen Rahmen der Geographie –
wenn auch eher als ein Randbereich – weiterhin fortbesteht (vgl. Heineberg
2006). Ungeachtet dieses Bedeutungsverlustes der Stadtmorphologie als
Forschungsperspektive innerhalb der deutschen Stadtgeographie hat sich die
Betrachtung der Gestalt städtischer Siedlungen in Form von Beschreibungen
und Erklärungen städtischer Grundriss- und Gebäudeformen als fester
Bestandteil der regionalen Stadtgeographie etabliert (vgl. Bähr/Jürgens
2005).
Geographie ländlicher Siedlungen
Für die Geographie ländlicher Räume kann bis Ende der 1960er Jahre eine
grundsätzlich ähnliche Entwicklung der Thematisierung der gebauten Umwelt
nachgezeichnet werden wie zuvor für die Stadtmorphologie geschehen. Auch
hier wurde unter einer morphologischen Perspektive zunächst eine umfassende
Typologie von Dorfgrundrissen und dörflichen Hausformen sowie deren
Verbreitung erstellt (vgl. Henkel 2004, 229ff). Im Unterschied zur
Stadtmorphologie werden die Grundrisstypen hier allerdings überwiegend in
einer engen Verbindung mit Flurformen betrachtet. Und wie in der
Stadtmorphologie entwickelten sich auch hier nach einer deskriptiven Phase
historisch-genetische Ansätze, die nach Bestimmungsfaktoren der Form
ländlicher Siedlungen fragten (vgl. Lienau 1995, 30).
Die Abkehr vom Landschaftsparadigma Ende der 1960er Jahre bedeutete im
Bereich der Geographie ländlicher Räume jedoch einen weniger scharfen Bruch
mit der morphologischen Perspektive als in der Stadtgeographie.
Selbstverständlich traten auch in der Geographie ländlicher Räume neue
Forschungsperspektiven neben die morphologische Perspektive. Das
akkumulierte Wissen über Gebäude- und Siedlungsformen behielt jedoch hier
einen Stellenwert, da mit dem Beginn der Dorferneuerung im Verlauf der
1970er Jahre die Erkenntnisse aus der historisch-genetischen
Siedlungsforschung in planungsbezogenen Zusammenhängen für die Bewertung und
den Schutz von Gebäuden in Wert gesetzt werden konnten (vgl. Denecke 1981;
Henkel 1981). So finden sich noch heute in den Lehrbüchern zur Geographie
ländlicher Räume selbstverständlich eigenständige Kapitel, in denen
weiterhin Teile des umfassenden Wissensbestandes zur Gestalt ländlicher
Siedlungen vermittelt werden (vgl. Lienau 1995, 39ff; Henkel 2004, 227ff).
Sozialwissenschaftliche Modernisierung und die weitgehende Ausblendung
der gebauten Umwelt
In den 1970er Jahren haben nach der Kritik von Landschafts- und Länderkunde
als Kernparadigma in der Geographie zunächst raumwissenschaftliche Ansätze
in der Humangeographie einen Aufschwung erlebt (vgl. Werlen 2000, 205ff). In
ihrem Verständnis von geographischem Denken sollte Humangeographie darauf
abzielen, Raumgesetze menschlichen Handelns zu erarbeiten. In der Folgezeit
hat in kritischer Auseinandersetzung mit raumwissenschaftlichen Ansätzen in
der Sozialgeographie die eingangs bereits angedeutete Pluralisierung von
Forschungsperspektiven eingesetzt. Auf der einen Seite wurden in dieser Zeit
– mit der raumwissenschaftlichen Humangeographie oder der Zeitgeographie –
Ansätze entwickelt, die bereits in ihrer konzeptionellen Ausrichtung
systematisch keinen inhaltlichen Bezug zur Architektur aufwiesen. Auf der
anderen Seite wurden mit der behaviouristischen Geographie oder der
Regionalbewusstseinsforschung durchaus auch Forschungsperspektiven verfolgt,
die grundsätzlich offen für eine Berücksichtigung von Architektur und
gebauter Umwelt waren. Sie wurde – wie wir im Folgenden verdeutlichen werden
– jedoch in beiden Fällen nur am Rande beachtet. Diese Ausblendung der
gebauten Umwelt spiegelt den radikalen Bruch im humangeographischen Denken
wider, das nach seiner Abkehr vom Landschaftsparadigma die materielle Welt
und damit auch die Architektur fast systematisch vernachlässigt hat.
Verhaltenstheoretische Ansätze
Aus der Kritik an der raumwissenschaftlichen Perspektive der
Humangeographie, die sich insbesondere auf das diesem Ansatz zugrunde
liegende Bild des Menschen als homo oeconomicus zielte, ist mit der
verhaltenstheoretischen Humangeographie eine am Individuum ansetzende
Humangeographie entstanden (vgl. Wießner 1978). Im Kern dieses Ansatzes
steht die Überlegung, dass für die Erklärung räumlicher Strukturen
insbesondere die subjektiv wahrgenommene Wirklichkeit der Individuen zu
berücksichtigen sei. Neben der Raumwahrnehmung wurde dabei auch das
Bewertungs- und Entscheidungsverhalten in den Blick genommen.
Als bedeutendes Forschungsinstrument zur Annäherung an die subjektiven
Wahrnehmungen dienten so genannte mental maps oder kognitive Karten (vgl.
Downs/Stea 1982). Mit Hilfe von Zeichnungen versuchte man, den individuellen
oder intersubjektiv vorhandenen Raumbildern von Menschen auf die Spur zu
kommen und gegebenenfalls deren Bedeutung für das raumrelevante Handeln zu
analysieren. Eine überragende Bedeutung hat dabei die Untersuchung von Kevin
Lynch erlangt, der am Beispiel der drei Städte Boston, Jersey City und Los
Angeles untersucht hat, welche Elemente des Stadtraumes das Bild der
Bewohner von ihrer Stadt prägen (Lynch 1960). Obwohl Kevin Lynch selbst kein
Geograph sondern Stadtplaner war, haben die Ergebnisse seiner Studie Eingang
in zahlreiche stadtgeographische Lehrbücher gefunden und gehören heute zum
stadtgeographischen Basiswissen (vgl. Heineberg 2000, 156). Jenseits der
Studie von Lynch wurde die Architektur in verhaltenstheoretischen oder
wahrnehmungsgeographischen Untersuchungen von Geographen jedoch nur selten
und eher am Rande thematisiert. So wurde beispielsweise in Untersuchungen
zur Wahrnehmung und Bewertung sperriger Infrastruktur (Raffinerieanlagen und
ein Atomkraftwerk) der Stellenwert der Sichtbarkeit des Gebäudes vom
Wohnstandort aus bzw. während der alltäglichen Wege zur Arbeit als eine
erklärende Variable für die individuelle Risikobewertung für die
entsprechenden Anlagen herausgearbeitet (vgl. Niedenzu u. a. 1982).
Regionalbewusstseinsforschung
Auch die Regionalbewusstseinsforschung, die sich in der zweiten Hälfte der
1980er Jahre vor dem Hintergrund der Entstehung deutlicher regionalistischer
Bezüge im alltagsweltlichen wie im politischen Bereich als neue
humangeographische Perspektive herausgebildet hat, weist grundsätzlich
Bezüge zur gebauten Umwelt auf. Denn neben konzeptionellen Arbeiten, die
sich um eine Präzisierung des Konzepts Regionalbewusstsein bemüht haben,
sind auch zahlreiche empirische Arbeiten zur Ausprägung des
Regionalbewusstseins in verschiedenen regionalen Kontexten entstanden. Auch
hier sind Architektur und regionsspezifische Bauweisen als ein Bezugspunkt
von Regionalbewusstsein nur am Rande untersucht worden. So hat lediglich
Pohl (1993, 154ff) neben landschaftlichen und folkloristischen Symbolen auch
historisch bedeutsame Gebäude in einer Untersuchung zum Regionalbewusstsein
im Friaul thematisiert.
Neuthematisierung der gebauten Umwelt
Seit den 1990er Jahren lassen sich in der Humangeographie verschiedene
Ansätze ausmachen, in denen die Architektur wieder ausdrücklich thematisiert
wird. Wir werden mit Thematisierung von „Stadt als Text“ und der
Stadtgeographie der postmodernen Stadt zunächst zwei zum Teil eng
miteinander verbundene Perspektiven vorstellen, die im Kontext der
kulturgeographischen Neuorientierung der Humangeographie stehen und explizit
auch die Architektur zum Gegenstand haben. Daneben stehen aber auch nicht
ausdrücklich auf die Architektur fokussierte Forschungsperspektiven, die
durch ihre konzeptionelle Ausrichtung grundsätzlich auch die Architektur in
den Blick nehmen können. Wir werden mit Blick auf Atmosphärenforschung
sowie die „action setting“ Theorie erläutern, unter welchen Voraussetzungen
diese Perspektiven Erfolg versprechend auch auf die Architektur bezogen
werden können.
Die Stadt als Text
Im Zusammenhang mit dem cultural turn hat sich im Verlauf der 1990er Jahre
in der Humangeographie eine Denkrichtung herausgebildet, die die
Kulturlandschaft als Text betrachtet (vgl. Crang 1998, 27ff). Die
Kulturlandschaft wird hier im Unterschied zur morphologischen Perspektive
nicht in erster Linie in ihrer materiellen, sondern in ihrer symbolischen
Dimension betrachtet. Sie wird als Trägerin von Bedeutungen, Werten oder
Ideologien verstanden. Geleitet von diesem Verständnis ist in der
Humangeographie auch die Architektur neu in den Blick geraten (vgl. auch
Basten 2005, 61). Dabei lassen sich unseres Erachtens drei unterschiedliche
Zugangsweisen zur symbolischen Bedeutung der gebauten Umwelt ausmachen:
1.
Zunächst
einmal kann gefragt werden, welche Bedeutungen sich in der gebauten Umwelt
lesen lassen. Hierbei wird davon ausgegangen, dass in der gebauten Umwelt
eine Bedeutung eingeschrieben ist, die in einer wissenschaftlichen Analyse
herausgelesen werden kann. In diesem Sinn erfolgte die Analyse von drei, zu
unterschiedlichen Zeitpunkten (1937, 1967 und 1997 bis heute) nach Planungen
auf dem Reißbrett entstandenen Siedlungen im suburbanen Raum von Washington
DC (vgl. Gerhard/Warnke 2002). Ulrike Gerhard und Ingo Warnke deuten die
Form der drei Siedlungen als Ausdruck von drei Lebenseinstellungen, die die
amerikanische Gesellschaft zu den jeweiligen Zeitpunkten gekennzeichnet
haben. Mit Blick auf die Gestaltung der Grundrisse und der Zentren, der
Baustile, der verwendeten Baustoffe und der Inneneinrichtungen zeigen sie
auf, dass die untersuchten Siedlungen die jeweiligen Lebenseinstellungen zu
dieser Zeit repräsentieren.
2.
Die Analyse
der Stadt als Text kann aber auch stärker die Produzenten von Bedeutungen in
den Blick nehmen. In diesem Sinn steht die Arbeit von Claudia Wucherpfennig
(2006), die aufzeigt, wie infolge der Privatisierung der Deutschen Bahn die
Bahnhöfe als Ausdruck einer neuen Bahnhofskultur eine spezifische neue
Gestalt annehmen. Im Unterschied zu der zuerst angeführten Untersuchung wird
hier gezeigt, welches Selbstbild sich die privatisierte Deutsche Bahn
geschaffen hat und wie sie dieses in die Bahnhöfe einschreibt. Die bauliche
Gestaltung des Bahnhofes ist dabei neben der funktionalen Gestaltung und
sozialen Regulierung nur eine von verschiedenen Ausdrucksformen der neuen
Bahnhofskultur.
3.
In der Arbeit
von Katharina Fleischmann (2005) wird neben der Produktion auch die
Rezeption von Bedeutungen im Text der Stadt am Beispiel von
Botschaftsneubauten in Berlin untersucht. Konkreter Untersuchungsgegenstand
ihrer Arbeit sind die Neubauten der indischen und der südafrikanischen
Botschaft. Ausgangspunkt ihrer Untersuchung ist die Überlegung, dass die
Regierungen die Gestalt ihrer Botschaftsgebäude nutzen, um Bilder von ihrem
Land zu vermitteln. Zunächst einmal untersucht auch sie die Seite der
Zeichenproduktion, indem sie nachzeichnet, welche Länderbilder von den
Regierungen intendiert und wie diese von den mit dem Neubau beauftragten
Architekturbüros in der Gestaltung des Gebäudes umgesetzt wurden. Sie nimmt
dabei sowohl die Formen der Gebäude, deren Farbgestaltung als auch die Wahl
der verwendeten Materialien in den Blick. Sie geht in ihrer Untersuchung
aber noch einen Schritt weiter als die zuvor genannten Arbeiten, da sie im
Rahmen einer Passantenbefragung auch den Versuch unternimmt, der Rezeption
der Bilder auf die Spur zu kommen.
Die Auswahl der Untersuchungsgegenstände in den drei Untersuchungen
verdeutlicht, dass der Blick auf die „Stadt als Text“ insbesondere dann
fruchtbar eingesetzt werden kann, wenn man a priori von einer deutlichen
Einschreibung von Bedeutungen im Text der Stadt ausgehen kann.
Stadtgeographie und Postmoderne
Besonders eng ist die Neuthematisierung der Architektur in der
Humangeographie mit dem Begriff der Postmoderne verbunden. Dieser äußerst
vielschichtige Begriff hat auch das geographische Denken in
unterschiedlichen Bereichen berührt. So hat die Berücksichtigung der
philosophischen Dimension der Postmoderne die Entwicklung
konstruktivistischer Ansätze und die Übernahme dekonstruktivistischer
Perspektiven in der Humangeographie angeregt (vgl. Lossau 2003). Auch die
zuvor angesprochene semiotische Forschungsrichtung, die Stadt und
Architektur als Text versteht, steht in Teilen in einem ausdrücklichen Bezug
zum philosophischen Postmoderne-Diskurs, so dass durchaus auch
Überschneidungen zwischen den beiden hier getrennt aufgeführten Perspektiven
bestehen. Wie die Arbeit von Ulrike Gerhard und Ingo Warnke (2002)
verdeutlicht, kann die Analyse von Stadt als Text aber auch ohne
ausdrückliche Bezüge zur Postmoderne erfolgen, so dass wir sie zuvor als
eigene Perspektive aufgeführt haben.
Für die Neuthematisierung von Architektur in der Humangeographie ist
insbesondere das Verständnis von Postmoderne als Begriff zur Kennzeichnung
eines epochalen Wandels von Bedeutung. Postmoderne kennzeichnet in diesem
Verständnis eine neue gesellschaftliche Konstellation, die durch eine neue
kulturelle Ausdrucksform gekennzeichnet ist (vgl. Basten 2005, 51ff; Wood
2003a, 37ff). Zu ihren wichtigen Kennzeichen zählen auf der einen Seite der
Bedeutungsgewinn von Gestaltung und Ästhetik, auf der anderen Seite eine
zunehmende Durchdringung von Kultur und Ökonomie (vgl. Hasse 1989, 24; Wood
2003b, 137ff). Im Kontext dieses Beitrages steht die Widerspiegelung dieser
Entwicklungen in Stadtentwicklung und Architektur im Vordergrund, die sich
in einem Bedeutungsgewinn der gestalterischen gegenüber der funktionalen
Dimension ausdrückt. So hat verständlicherweise auch die Architektur in der
geographischen Stadtforschung erneute Beachtung erfahren.
Von Seiten der Wirtschaft wird diese Entwicklung in die Städte getragen,
weil die Unternehmen insbesondere bei der Gestaltung ihrer Hauptsitze dem
Zeichencharakter der Architektur große Bedeutung beimessen. Auf diese Weise
haben Städte mit einem großen Anteil an Unternehmenshauptsitzen eine
bedeutende architektonische Neugestaltung erfahren. Hier kann insbesondere
Frankfurt als europäisches Bankenzentrum angeführt werden, das in den
vergangenen Jahren mit seiner Skyline eine vollkommen neue Form erhalten
hat.
Der Bedeutungsgewinn des Zeichencharakters von Architektur wird aber nicht
nur für die Seite der Unternehmen festgestellt, die Architektur und damit
den städtischen Raum im Sinne einer Ökonomie der Zeichen nutzen. Auch die
Kommunen nutzen zunehmend den Zeichencharakter von Architektur, um sich in
der Städtekonkurrenz um hochwertige Dienstleistungsunternehmen,
einkommensstarke Einwohner und Touristen einen Vorsprung zu verschaffen
(vgl. Wood 2003b, 137f). Als besonders bekanntes Projekt kann hier das
Guggenheim Museum in Bilbao angeführt werden, das nicht nur einen
spektakulären Museumsbau darstellt, sondern auch als Zeichen für den Wandel
Bilbaos von einer ursprünglich durch Schwerindustrie geprägten Stadt zu
einer Dienstleistungsmetropole eingesetzt wird.
Bezug nehmend auf die Diskussion über die Zwischenstadt und die damit
verbundenen Defizite in der physischen Gestaltung des Stadtrandes
beschäftigt sich Ludger Basten in seiner Habilitationsschrift zum
„Postmodernen Urbanismus“ sowohl mit den „Prozessen der Gestaltung“ als auch
mit „den Vorstellungsbildern, die dort in der Produktion und Reproduktion
von Stadt bedeutsam werden“ (Basten 2005, 69). Dabei richtet sich sein
Augenmerk besonders auf die Entwicklungsprozesse, in denen die Bilder der
neuen, materiellen Stadtgestalt entworfen und erzeugt werden. An die
Ergebnisse dieser Arbeit und an die bundesweite Debatte über die Initiative
Architektur und Baukultur (Wiegandt 2003, 145ff) anknüpfend untersuchen
Katharina Brzenczek und Claus-C. Wiegandt derzeit mit Hilfe des
akteurszentrierten Institutionalismus die unterschiedlichen Bedingungen, in
denen sich heute die Prozesse der Stadtgestaltung in räumlich
differenzierter Form darstellen (www.giub.uni-bonn.de/wiegandt).
Aber auch im Zusammenhang mit der sozialen Polarisierung und Fragmentierung,
die als weiteres Kennzeichen postmoderner Stadtentwicklung gelten (vgl. Wood
2003a, 69), ist das Thema der Architektur in der geographischen
Stadtforschung verankert. Denn sowohl die Zäune und Tore der Gated
Communities als auch die Formensprache der so genannten „Bunker“-Architektur
sind gleichermaßen Ausdruck und Mittel der Abschottung und Fragmentierung.
Erforschung städtischer Atmosphären
In jüngerer Zeit wurde von verschiedener Seite gefordert, auch die gespürte
oder gefühlte Räumlichkeit zum Gegenstand geographischer Stadtforschung zu
erheben. Diese für die Humangeographie neue Perspektive hat sich vor dem
Hintergrund einer gestiegenen Bedeutung des Erlebens in vielen sozialen und
gesellschaftlichen Zusammenhängen entwickelt. Hier hat in der
Humangeographie insbesondere Jürgen Hasse (2002a, 12) dafür plädiert, den
Menschen nicht mehr nur als vernunftbegabtes, sondern auch als sinnliches
Wesen zu thematisieren. Ähnliche Überlegungen sind selbst in der bisher
stark am Bild des homo oeconomicus orientierten geographischen
Handelsforschung zu vernehmen, wo Frank Schröder (1999, 69) fordert, „die
Anmutung von Einzelhandelslandschaften stärker zu berücksichtigen“. Dass die
gefühlte Räumlichkeit nicht nur in der Freizeit, sondern auch im Kontext
wirtschaftlicher Aktivitäten von Bedeutung sein kann, hat Ilse Helbrecht
(2004, 197f) in einer Untersuchung zur Standortwahl kreativer
Dienstleistungsunternehmen gezeigt, die das „look&feel“ auf verschiedenen
räumlichen Ebenen als zentralen Standortfaktor nannten. Während also
spätestens seit dieser Untersuchung von Ilse Helbrecht keine Zweifel mehr
bestehen dürften, dass der gefühlten Räumlichkeit eine soziale und
gesellschaftliche Bedeutung zukommt, fehlen zumindest in der
deutschsprachigen Geographie bisher weitgehend Untersuchungen, die zeigen,
durch welche Umgebungselemente ein Wohlbefinden ausgelöst werden. So ist
zwar unbestritten, dass Architektur einen Einfluss auf menschliche
Befindlichkeiten haben kann, doch konnte bisher noch nicht im Detail
herausgearbeitet werden, wie – d.h. durch welche Formen, Volumina oder
Flächigkeiten – bestimmte Befindlichkeiten beeinflusst werden.
Das im deutschen Sprachraum ursprünglich in der Philosophie entwickelte und
durch Jürgen Hasse (2002b) in die Geographie eingeführte Konzept der
Atmosphären bietet hier einen viel versprechenden konzeptionellen Rahmen für
die Analyse gefühlter Räumlichkeit. Obwohl mit der Betonung der gefühlten
Räumlichkeit des Atmosphärenbegriffs zunächst einmal das Subjekt mit seiner
Leiblichkeit und Befindlichkeit in den Vordergrund gerückt wird, hat die
materielle Umwelt und damit ebenso die Architektur als ein Bereich der
Erzeugenden von Atmosphären in dem Konzept grundsätzlich ihren Platz (vgl.
Böhme 1998, 59ff; Meisenheimer 2004).
Nachdem inzwischen die konzeptionelle Fassung des Atmosphärenbegriffs in
differenzierter Form entwickelt und seine grundsätzliche Bedeutung für die
Stadtforschung klar herausgearbeitet wurde (vgl. Augoyard 1998, 18ff),
stellt dieses Konzept die Humangeographie vor die Herausforderung, in
konkreten empirischen Arbeiten insbesondere die Atmosphären städtischer
Räume zu bestimmen. Inwiefern die gebaute Umwelt und welche Dimensionen der
gebauten Umwelt menschliche Befindlichkeiten in konkreten Stadträumen
beeinflussen, sind dabei zu untersuchenden Fragen. Darüber hinaus gilt es
aber auch, der Bedeutung der gebauten Umwelt im Zusammenspiel mit anderen
Bestimmungsgrößen von Atmosphären auf die Spur zu kommen.
Mit Blick auf die bisherigen Arbeiten muss man feststellen, dass im
deutschen Sprachraum die Übertragung des in einer geisteswissenschaftlichen
Tradition entwickelten Atmosphärenkonzepts in eine sozialwissenschaftliche
Forschungspraxis noch in den Anfängen steckt und bisher in der Geographie
nur in einer einzigen Arbeit unternommen wurde. Hierbei hat Jürgen Hasse
(2002c) versucht, die Atmosphäre der Drosselgasse in Rüdesheim empirisch zu
bestimmen. Als Defizit dieser Studie, die nur als Impuls für andere
Forschungsvorhaben gedacht war, ist die zu wenig differenzierte und
methodisch kontrollierte Aufnahme der Bestimmungsfaktoren der Atmosphäre in
der Drosselgasse zu sehen. Die fehlende Berücksichtigung materieller
Elemente ist jedoch kein spezifisches Defizit dieser Untersuchung, sondern
ein generelles Problem der derzeitigen Humangeographie, in der heute
überwiegend diskursanalytische Forschungsmethoden etabliert sind (vgl.
Helbrecht 2003, 166). Wenn die Humangeographie die Erforschung städtischer
Atmosphären als ernst zu nehmenden Forschungsgegenstand weiter entwickeln
will, muss sie auch in der Lage sein, präzise Angaben über die
Bestimmungsfaktoren von Atmosphären zu treffen.
Hierzu kann die frankophone Atmosphärenforschung wertvolle Beiträge leisten,
die ihre konzeptionellen Wurzeln stärker auch in der ökologischen
Wahrnehmungsforschung hat und deshalb auch über eine stärker ausgeprägte
empirische Tradition verfügt. Hier wurden verschiedene Methoden entwickelt,
die es ermöglichen, sowohl die Bestimmungsgrößen städtischer Atmosphären als
auch die Seite der Befindlichkeiten in den Blick zu bekommen (vgl. Thibaud
2001; Augoyard 2001). Mit Hilfe der Methode der „Parcours commentés“ haben
Chelkoff und Thibaud (o. J.) beispielsweise die Atmosphäre von zwei
unterirdischen Passagen untersucht und dabei sowohl die Befindlichkeiten bei
der Durchquerung der entsprechenden Räume als auch die Umgebungsgrößen
beschrieben, die die Befindlichkeiten bestimmen. Im Rahmen eines
internationalen Forschungsnetzwerkes zur Dynamik städtischer Atmosphären
wird derzeit mit einer ähnlichen Methodik eine Untersuchung zur Dynamik der
Atmosphäre eines Platzes durchgeführt.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Architektur als Erzeugende in der
Atmosphärenforschung grundsätzlich einen bedeutenden Stellenwert hat. Wenn
es der Humangeographie gelingt, präzise und methodisch abgesicherte Studien
zur gespürten Räumlichkeit zu erstellen und dabei auch die Seite der
Bestimmungsgrößen zu berücksichtigen, kann sie damit langfristig einen
wichtigen Beitrag zur Wirkung von Architektur leisten.
Action Setting
Während die Übertragung des Atmosphärenkonzepts in die Humangeographie in
erster Linie das nicht rationalistische Menschenbild des Atmosphärenkonzepts
im Blick hatte und die gebaute Umwelt dabei quasi als Nebeneffekt als eine
von vielen möglichen Bestimmungsgrößen von Atmosphären in den Blick kam,
zielt der von Peter Weichart (2003; 2004) entwickelte Ansatz des „action
setting“ explizit auf eine konzeptionelle Verbindung des Materiellen mit dem
Sozialen und schenkt insofern der materiellen Umwelt und damit prinzipiell
auch der Architektur eine noch größere Aufmerksamkeit.
Er knüpft dabei an das Konzept des „behaviour setting“ an (vgl. Weichart
2003, 45f), das von dem Psychologen Roger G. Barker entwickelt wurde. Seine
Kernthese besteht in der Annahme, dass zwischen den Beschaffenheiten eines
Ortes und dem Tun der Akteure an diesem Ort Entsprechungen bestehen. Mit
anderen Worten erleichtert oder unterstützt die Ausstattung eines Ortes –
von Barker als Milieu bezeichnet – den Ablauf bestimmter Verhaltensmuster.
Die an einem Setting üblichen Verhaltensmuster sind im Bewusstsein der
Akteure gespeichert, können aber auch schriftlich in Form einer Regel
festgehalten sein. Diese als Programme bezeichneten Verhaltensmuster sind
auf spezifische Milieus abgestimmt, so dass an einem spezifischen Ort wie
beispielsweise einer Schulklasse immer dieselben Verhaltensabläufe
stattfinden.
Im Gegensatz zu dem behaviouristisch geprägten Ansatz von Barker, der von
einer Beeinflussung der Verhaltensmuster durch die Ausstattung eines Ortes
ausgeht, dreht Weichart aus der Sicht einer handlungstheoretisch
informierten Perspektive den Zusammenhang zwischen den materiellen
Rahmenbedingungen und den Tätigkeiten um: es sind die von Intentionen
geleiteten Akteure, die für ihre Handlungen Milieus mit spezifischen
materiellen Konstellationen bevorzugen, welche ihrerseits bereits durch
vorausgehende Handlungen entsprechend gestaltet wurden.
Bisher sind auf Grundlage des „action setting“ Konzepts noch keine
empirischen Arbeiten entstanden, die ausdrücklich die Bedeutung der
Architektur als Milieuelement untersuchen. Mit seiner handlungstheoretischen
Grundlegung auf der einen und der ausdrücklichen Berücksichtigung
materieller Elemente auf der anderen Seite hat Weichart jedoch einen viel
versprechenden konzeptionellen Rahmen geschaffen, mit dem in der Geographie
zukünftig auch die soziale Bedeutung von Architektur untersucht werden kann.
Ähnlich wie bereits im Zusammenhang mit der Atmosphärenforschung angedeutet
bedarf es auch bei der Verwendung des „action setting“ Konzepts als
Grundlage konkreter Untersuchungen methodischer Weiterentwicklungen, um
nicht nur die soziale Bedeutung des Materiellen, sondern auch die materielle
Grundlage des Sozialen mit hinreichender Präzision erfassen zu können.
Das Konzept des „action setting“ lässt sich grundsätzlich auch mit dem
Konzept der Atmosphären verbinden (vgl. Klamt 2006, 34f). In diesem Sinn
kann auch gefragt werden, in welchem Maß Akteure Milieus mit spezifischen
Atmosphären für ihre Handlungen auswählen. Geleitet von dieser Überlegung
konnte Kazig (2006) zeigen, dass und auf welche Weise Personen bei ihrer
Einkaufsstättenwahl bewusst auch die atmosphärische Qualität von
Einzelhandelsgeschäften und deren Umgebung berücksichtigen.
Fazit
Unsere Ausführungen haben verdeutlicht, dass Architektur und gebaute Umwelt
durchaus einen Gegenstand humangeographischen Denkens und Forschens
darstellen. Der von uns beschrittene Weg, entlang verschiedener Konzeptionen
geographischen Denkens und Forschens die Thematisierung von Architektur in
der Geographie aufzuzeigen, hat die spezifischen Formen verdeutlicht, wie
Architektur in der Humangeographie bisher Beachtung geschenkt wurde: Im
Unterschied etwa zur Soziologie oder Psychologie, wo sich mit einer
Architektursoziologie oder einer Architekturpsychologie jeweils – wenn auch
kleine – Kristallisationspunkte des Denkens über Architektur herausgebildet
haben, besteht in unserem Fach (bisher) keine eigene Architekturgeographie
oder Geographie der gebauten Umwelt.
Vielmehr erfolgte die Thematisierung von Architektur in der Geographie
bisher weitgehend zufällig, wenn die jeweilige Konzeption geographischen
Denkens auch einen Blick auf die gebaute Umwelt zugelassen hat. Mit anderen
Worten: Die Auseinandersetzung mit der gebauten Umwelt war nie ein
eigenständiges Motiv innerhalb der Humangeographie. Dies hat auch zur Folge,
dass kein etablierter Wissensbestand einer Geographie der Architektur
geschaffen und systematisch neue Perspektiven der Thematisierung von
Architektur in der Geographie entwickelt wurden.
Erschwerend für eine Thematisierung der Architektur in der Humangeographie
ist außerdem die traditionelle Präferenz einer Maßstäblichkeit, die Räume
erst ab der Größe mehrerer Häuserblöcke zu einem geographischen Gegenstand
werden lässt (vgl. Haggett 1983, 48f). Auf diese Weise stehen einzelne
Gebäude traditionell zunächst einmal außerhalb des geographischen Blicks. In
jüngerer Zeit hat zumindest die angelsächsische Humangeographie ihre
Begrenzung auf die traditionellen Maßstäblichkeiten aufgebrochen und sich
beispielsweise den menschlichen Körper oder auch die Wohnung als Gegenstände
ihres Denkens und Forschens angeeignet (vgl. Valentine 2001). Ähnliche
Entwicklungen lassen sich jüngst auch für die deutschsprachige Geographie
beobachten bzw. können für die Zukunft erwartet werden.
Nachdem zudem – wie in den vorangegangenen Abschnitten angesprochen – die
gebaute Umwelt wieder aus verschiedenen Perspektiven in den Blick der
Humangeographie geraten ist, besteht derzeit ein günstiger Zeitpunkt, die
verschiedenen Blickwinkel auf die Architektur systematisch aufzuarbeiten und
auf diese Weise einen Ausgangspunkt für eine Architekturgeographie zu
schaffen. So könnte sich auch die Geographie ähnlich wie beispielsweise die
Soziologie oder Psychologie zu einem systematischen Beobachter der gebauten
Umwelt und damit zu einem Gewinn bringenden Partner von
Architekturtheoretikern entwickeln.
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