From Outer Space:
Architekturtheorie außerhalb der Disziplin

10. Jg., Heft 1
September 2006
   

 

___Rainer Kazig &
___
Claus C. Wiegandt
Bonn
  Zur Stellung von Architektur
im geographischen Denken und Forschen

 

   

Einführung

Landläufig wird Geographie mit Erdkunde gleichgesetzt und als jene Disziplin betrachtet, die sich insbesondere mit der Ausprägung und Verbreitung ganz unterschiedlicher Phänomene auf der Erde befasst. Geht man zunächst einmal von dieser Vorstellung geographischen Denkens und Forschens aus, erscheint es durchaus plausibel, auch Geographen dazu aufzufordern, einen Beitrag zur Thematisierung und Theoretisierung von Architektur außerhalb der klassischen Architekturtheorie zu leisten. Denn ganz offensichtlich ist auch das Phänomen der gebauten Umwelt in erdräumlicher Betrachtung unterschiedlich gestaltet und kann insofern Gegenstand geographischen Forschens werden. Gleichzeitig dürfte vor dem Hintergrund eines solchen Verständnisses von Geographie als Erdkunde von einem Beitrag aus dieser Disziplin aber nicht viel zu erwarten sein, da über viel mehr als die Verbreitung von Baustilen oder Gebäudeformen aus der Geographie nicht zu berichten wäre.
Dass wir uns als Geographen trotzdem dazu bereit erklärt haben, hier einen Beitrag über die außerdisziplinäre Thematisierung von Architektur in der deutschsprachigen Geographie beizusteuern, ist darin begründet, dass unsere Fachdisziplin in ihrem Denken schon seit mehreren Jahrzehnten nicht mehr mit der klassischen Erdkunde gleichzusetzen ist. Im Übergang von den 1960er zu den 1970er Jahren erfolgte nach einer kritischen Auseinandersetzung mit dem landschafts- und länderkundlichen Paradigma, das bis dahin das geographische Denken bestimmt und das Bild von Geographie als Erdkunde begründet hatte, eine zunehmende Integration sozial- und wirtschaftswissenschaftlicher Ansätze in der Humangeographie. Gleichzeitig setzen sich Geographen seit dieser Zeit vermehrt auch mit anwendungsbezogenen Problem- und Fragestellungen auseinander, die eine Vielzahl von Berührungspunkten zum Städtebau und zur Raumordnung bieten. Insgesamt haben diese beiden Entwicklungen zu einer Pluralisierung humangeographischen Denkens geführt.
Diese Pluralisierung bedeutet aber nicht zwangsläufig, dass der gebauten Umwelt dadurch mehr Aufmerksamkeit geschenkt wird. So stehen in der pluralisierten Humangeographie heute neben vielfältigen Ansätzen ohne Bezug zur materiellen Umwelt auch solche, die sich mehr oder weniger ausdrücklich auf die Architektur beziehen. Zusammengenommen lassen sich drei Phasen ausmachen, in denen die gebaute Umwelt in jeweils unterschiedlichem Maß im geographischen Denken und Forschen Berücksichtigung findet: Nach einer traditionellen Phase, die eher  vom landschafts- und länderkundlichen Paradigma mit ihrem spezifischen Blick auf die gebaute Umwelt geprägt war, folgte eine zweite Phase der sozialwissenschaftlichen Modernisierung, in der das Thema der Architektur weitgehend ausgeblendet wurde. Erst in jüngerer Zeit haben sich in der Humangeographie verschiedene Ansätze entwickelt, die dem Materiellen bzw. visuell Wahrnehmbaren wieder eine stärkere Aufmerksamkeit geben. Damit rückt grundsätzlich auch die Architektur wieder stärker in den Fokus der Humangeographie, so dass wir von einer dritten Phase der Neuthematisierung der gebauten Umwelt sprechen. Insofern trifft dieses Themenheft auf eine günstige Konstellation, um sich ältere Formen der Beschäftigung mit Architektur in der Fachdisziplin noch einmal zu vergegenwärtigen und gleichzeitig das noch im Entstehen begriffene Feld verschiedener neuer Ansätze zur Thematisierung der gebauten Umwelt auszuleuchten.


Siedlungsmorphologische Perspektiven im Rahmen der traditionellen Geographie

In der traditionellen Geographie wird die Architektur im Bereich der Siedlungsmorphologie thematisiert, deren erste Arbeiten bereits an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert entstanden sind. Ihre Perspektive auf die gebaute Umwelt steht deshalb in einer engen Verbindung mit dem Landschaftsparadigma, das vom Ende des 19. Jahrhunderts bis in die 60er Jahre des 20. Jahrhunderts wesentlich geographisches Denken und Forschen beeinflusst hat (vgl. Schultz 1980).
Die vom Landschaftsparadigma geleitete Geographie war an dem Totalcharakter einer Gegend interessiert und zielte darauf ab, das Wesen von Landschaften zu bestimmen. Nachdem zunächst allein Naturlandschaften den Gegenstand der geographischen Landschaftsforschung bildeten, hat sie sich mit der Entwicklung der Anthropogeographie Ende des 19. Jahrhunderts schließlich auch dem Menschen bzw. vom Menschen gestalteten Teilen der Erdoberfläche zugewandt und Geographie auch als Kulturlandschaftsforschung entwickelt. Damit ist auch die gebaute Umwelt in den Blick der Geographie gelangt. Die Auseinandersetzung mit der Gestalt der gebauten Umwelt im Rahmen der Kulturlandschaftsforschung hat sich vor dem Hintergrund der starken physiognomischen Grundlegung des Landschaftsbegriffes (vgl. Schultz 1980, 229f) geradezu aufgedrängt. Entsprechend ihrer langen Tradition haben siedlungsmorphologische Untersuchungen im Laufe der Zeit im Detail durchaus unterschiedliche Fragestellungen verfolgt. Da sich die Stadtgeographie und die Geographie ländlicher Siedlungen innerhalb der Geographie sehr früh als Subdisziplinen herausgebildet und sich als solche in gewissem Maß eigenständig entwickelt haben, folgen wir hier dieser Unterscheidung.

Stadtmorphologie
In ihrer Entstehungsphase hatte die Stadtmorphologie überwiegend deskriptiven Charakter. Sie entsprach damit einem Verständnis der Landschaftsgeographie als einer in erster Linie beschreibenden Disziplin (vgl. Werlen 2000, 101f). In dieser deskriptiven Phase haben sich stadtmorphologische Arbeiten zunächst einmal unter dem Namen Stadtplanforschung auf die Grundrisse von Siedlungen beschränkt (vgl. Dörries 1969, 25ff). In zahlreichen Arbeiten zu den Stadtgrundrissen wurde eine Vielzahl von Grundrissformen herausgearbeitet und unterschieden. Später haben stadtmorphologische Untersuchungen zusätzlich zum Grundriss auch den Aufriss von Städten untersucht und sich damit stärker auch auf einzelne Gebäude bezogen. Hierbei wurden insbesondere die Stellung der Gebäude, das Baualter, der Baustil und die verwendeten Baumaterialien thematisiert. So kommt Geissler (1924) in seiner überaus differenzierten, als Höhepunkt der deskriptiven Stadtmorphologie geltenden Arbeit über deutsche Städte neben zahlreichen Grundrisstypen von Städten auch zu einer umfangreichen Typologie von Hausformen. Beachtung finden dabei Fassadenformen, Dachformen sowie die Grundrisse der Häuser und Wohnungen, die vielfach nach historischen Epochen geordnet dargestellt werden. Darüber hinaus spielen auch die Baustoffe eine wichtige Rolle als „landschaftsgebundene Konstanten“ (Schöller 1967, S. 41). Schließlich hat die länderkundliche Tradition der Geographie dazu beigetragen, dass die stadtmorphologische Perspektive systematisch auch mit Blick auf andere Länder und Kulturkreise angewendet wurde (vgl. Passarge 1930).
Ähnlich wie die Landschaftskunde hat sich auch die Stadtmorphologie nach einer überwiegend auf eine reine Deskription beschränkten Phase später mit der Genese von Siedlungsformen auseinandergesetzt (vgl. Heineberg 2006). Hierbei wurden in Abhängigkeit von der Entwicklung des kulturgeographischen Denkens auf unterschiedliche Argumentationszusammenhänge zurückgegriffen. Anfangs war der Einfluss einer geodeterministischen Argumentation, die soziale oder gesellschaftliche Phänomene aus der naturräumlichen Ausstattung einer Region oder eines Landes ableitete, noch deutlich erkennbar. So führt beispielsweise Passarge (1930, IV) im Vorwort des von ihm herausgegeben Buches über Stadtlandschaften der Erde an, dass Städte zwar „lediglich“ vom Menschen geschaffene „Kunstlandschaften“ seien, die „…aber auch oft genug in Abhängigkeit von der Natur des Landes entstanden [sind].“ Die Landschaft wird von ihm folgerichtig auch an erster Stelle der möglichen Einflussfaktoren auf die Gestalt von Städten genannt. Die naturräumliche Ausstattung in der Umgebung einer Stadt wird aber auch noch später ohne ausdrücklich geodeterministischen Hintergrund als Erklärungsfaktor bemüht. So hat Huttenlocher (1963, 177) den Begriff der „Materialprovinzen“ geprägt. Regionale Stadttypen wie beispielsweise das fränkische oder auch bairische Städtewesen entlang der jeweils verwendeten Baumaterialien und des daran gebundenen Baucharakters wurden darüber hinaus ausdifferenziert.
Im Verlauf des 20. Jahrhunderts verlor das geodeterministische Denken in der Geographie dann aber zunehmend an Bedeutung und schuf in der stadtmorphologischen Forschung Platz für sozial- oder kulturgeschichtliche Erklärungen von Stadtgestalt. In diesem Sinn argumentiert beispielsweise Huttenlocher (1963, 181), der regionale Differenzierungen der Stadtgestaltung auf spezifische regionale Geisteshaltungen zurückführt. Aus heutiger Sicht erscheinen derartige Schlussfolgerungen aber stark verkürzt. Deutlicher ist hier Klaus Tiborski (1987), der sich intensiv mit dem Wiederaufbau der Solinger Altstadt im ‚neuzeitlichen Stil’ auseinandergesetzt hat. Er interpretiert das neue Erscheinungsbild, das weder an tradierte Bauformen noch an regionalspezifische Bauweisen und Materialpräferenzen anknüpft, als eine bauliche Innovation, während sich gleichzeitig durch die Beibehaltung der Grundrissstruktur aber auch eine Persistenz im Wiederaufbau der Solinger Altstadt zeigt.
Besonders nach dem Zweiten Weltkrieg sind mit funktionalen und sozialräumlichen Ansätzen neue Forschungsperspektiven zur Betrachtung innerstädtischer Phänomene neben die Stadtmorphologie getreten (vgl. Schöller 1953, 166ff). Damit hat die morphologische Betrachtungsweise in Stadtmonographien und vergleichenden Arbeiten der Stadtforschung erheblich an Stellenwert eingebüßt (vgl. beispielsweise Ohnesorge 1974 für die Stadt Wolfenbüttel).
Noch entscheidender für den Bedeutungsverlust der morphologischen Ansätze innerhalb der Stadtgeographie war der Abschied vom Landschaftsparadigma als zentraler Perspektive geographischen Denkens Ende der 1960er Jahre und der gleichzeitigen Entwicklung einer auf der einen Seite stärker an die Sozial- oder Wirtschaftswissenschaften angelehnten und auf der anderen Seite gegenwarts- und zukunftsbezogenen angewandten Stadtforschung. Mit dieser Neuausrichtung sind die regionale Stadtgeographie und die darin enthaltende Stadtmorphologie als zeitgemäße Forschungsperspektive deutlich in den Hintergrund getreten. Insbesondere innerhalb der deutschsprachigen Geographie sind in den letzten Jahren nur wenige Arbeiten (vgl. beispielsweise Freund 2000) als Ausnahmen allein aus stadtmorphologischer Perspektive entstanden.
Im angelsächsischen Raum verdeutlichen die Zeitschrift Urban Morphology sowie eine im zweijährigen Turnus abgehaltene Tagung zur urbanen Form jedoch, dass die Stadtmorphologie im internationalen Rahmen der Geographie – wenn auch eher als ein Randbereich – weiterhin fortbesteht (vgl. Heineberg 2006). Ungeachtet dieses Bedeutungsverlustes der Stadtmorphologie als Forschungsperspektive innerhalb der deutschen Stadtgeographie hat sich die Betrachtung der Gestalt städtischer Siedlungen in Form von Beschreibungen und Erklärungen städtischer Grundriss- und Gebäudeformen als fester Bestandteil der regionalen Stadtgeographie etabliert (vgl. Bähr/Jürgens 2005).

Geographie ländlicher Siedlungen
Für die Geographie ländlicher Räume kann bis Ende der 1960er Jahre eine grundsätzlich ähnliche Entwicklung der Thematisierung der gebauten Umwelt nachgezeichnet werden wie zuvor für die Stadtmorphologie geschehen. Auch hier wurde unter einer morphologischen Perspektive zunächst eine umfassende Typologie von Dorfgrundrissen und dörflichen Hausformen sowie deren Verbreitung erstellt (vgl. Henkel 2004, 229ff). Im Unterschied zur Stadtmorphologie werden die Grundrisstypen hier allerdings überwiegend in einer engen Verbindung mit Flurformen betrachtet. Und wie in der Stadtmorphologie entwickelten sich auch hier nach einer deskriptiven Phase historisch-genetische Ansätze, die nach Bestimmungsfaktoren der Form ländlicher Siedlungen fragten (vgl. Lienau 1995, 30).
Die Abkehr vom Landschaftsparadigma Ende der 1960er Jahre bedeutete im Bereich der Geographie ländlicher Räume jedoch einen weniger scharfen Bruch mit der morphologischen Perspektive als in der Stadtgeographie. Selbstverständlich traten auch in der Geographie ländlicher Räume neue Forschungsperspektiven neben die morphologische Perspektive. Das akkumulierte Wissen über Gebäude- und Siedlungsformen behielt jedoch hier einen Stellenwert, da mit dem Beginn der Dorferneuerung im Verlauf der 1970er Jahre die Erkenntnisse aus der historisch-genetischen Siedlungsforschung in planungsbezogenen Zusammenhängen für die Bewertung und den Schutz von Gebäuden in Wert gesetzt werden konnten (vgl. Denecke 1981; Henkel 1981). So finden sich noch heute in den Lehrbüchern zur Geographie ländlicher Räume selbstverständlich eigenständige Kapitel, in denen weiterhin Teile des umfassenden Wissensbestandes zur Gestalt ländlicher Siedlungen vermittelt werden (vgl. Lienau 1995, 39ff; Henkel 2004, 227ff).


Sozialwissenschaftliche Modernisierung und die weitgehende Ausblendung der gebauten Umwelt

In den 1970er Jahren haben nach der Kritik von Landschafts- und Länderkunde als Kernparadigma in der Geographie zunächst raumwissenschaftliche Ansätze in der Humangeographie einen Aufschwung erlebt (vgl. Werlen 2000, 205ff). In ihrem Verständnis von geographischem Denken sollte Humangeographie darauf abzielen, Raumgesetze menschlichen Handelns zu erarbeiten. In der Folgezeit hat in kritischer Auseinandersetzung mit raumwissenschaftlichen Ansätzen in der Sozialgeographie die eingangs bereits angedeutete Pluralisierung von Forschungsperspektiven eingesetzt. Auf der einen Seite wurden in dieser Zeit – mit der raumwissenschaftlichen Humangeographie oder der Zeitgeographie – Ansätze entwickelt, die bereits in ihrer konzeptionellen Ausrichtung systematisch keinen inhaltlichen Bezug zur Architektur aufwiesen. Auf der anderen Seite wurden mit der behaviouristischen Geographie oder der Regionalbewusstseinsforschung durchaus auch Forschungsperspektiven verfolgt, die grundsätzlich offen für eine Berücksichtigung von Architektur und gebauter Umwelt waren. Sie wurde – wie wir im Folgenden verdeutlichen werden – jedoch in beiden Fällen nur am Rande beachtet. Diese Ausblendung der gebauten Umwelt spiegelt den radikalen Bruch im humangeographischen Denken wider, das nach seiner Abkehr vom Landschaftsparadigma die materielle Welt und damit auch die Architektur fast systematisch vernachlässigt hat.

Verhaltenstheoretische Ansätze
Aus der Kritik an der raumwissenschaftlichen Perspektive der Humangeographie, die sich insbesondere auf das diesem Ansatz zugrunde liegende Bild des Menschen als homo oeconomicus zielte, ist mit der verhaltenstheoretischen Humangeographie eine am Individuum ansetzende Humangeographie entstanden (vgl. Wießner 1978). Im Kern dieses Ansatzes steht die Überlegung, dass für die Erklärung räumlicher Strukturen insbesondere die subjektiv wahrgenommene Wirklichkeit der Individuen zu berücksichtigen sei. Neben der Raumwahrnehmung wurde dabei auch das Bewertungs- und Entscheidungsverhalten in den Blick genommen.
Als bedeutendes Forschungsinstrument zur Annäherung an die subjektiven Wahrnehmungen dienten so genannte mental maps oder kognitive Karten (vgl. Downs/Stea 1982). Mit Hilfe von Zeichnungen versuchte man, den individuellen oder intersubjektiv vorhandenen Raumbildern von Menschen auf die Spur zu kommen und gegebenenfalls deren Bedeutung für das raumrelevante Handeln zu analysieren. Eine überragende Bedeutung hat dabei die Untersuchung von Kevin Lynch erlangt, der am Beispiel der drei Städte Boston, Jersey City und Los Angeles untersucht hat, welche Elemente des Stadtraumes das Bild der Bewohner von ihrer Stadt prägen (Lynch 1960). Obwohl Kevin Lynch selbst kein Geograph sondern Stadtplaner war, haben die Ergebnisse seiner Studie Eingang in zahlreiche stadtgeographische Lehrbücher gefunden und gehören heute zum stadtgeographischen Basiswissen (vgl. Heineberg 2000, 156). Jenseits der Studie von Lynch wurde die Architektur in verhaltenstheoretischen oder wahrnehmungsgeographischen Untersuchungen von Geographen jedoch nur selten und eher am Rande thematisiert. So wurde beispielsweise in Untersuchungen zur Wahrnehmung und Bewertung sperriger Infrastruktur (Raffinerieanlagen und ein Atomkraftwerk) der Stellenwert der Sichtbarkeit des Gebäudes vom Wohnstandort aus bzw. während der alltäglichen Wege zur Arbeit als eine erklärende Variable für die individuelle Risikobewertung für die entsprechenden Anlagen herausgearbeitet (vgl. Niedenzu u. a. 1982).

Regionalbewusstseinsforschung
Auch die Regionalbewusstseinsforschung, die sich in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre vor dem Hintergrund der Entstehung deutlicher regionalistischer Bezüge im alltagsweltlichen wie im politischen Bereich als neue humangeographische Perspektive herausgebildet hat, weist grundsätzlich Bezüge zur gebauten Umwelt auf. Denn neben konzeptionellen Arbeiten, die sich um eine Präzisierung des Konzepts Regionalbewusstsein bemüht haben, sind auch zahlreiche empirische Arbeiten zur Ausprägung des Regionalbewusstseins in verschiedenen regionalen Kontexten entstanden. Auch hier sind Architektur und regionsspezifische Bauweisen als ein Bezugspunkt von Regionalbewusstsein nur am Rande untersucht worden. So hat lediglich Pohl (1993, 154ff) neben landschaftlichen und folkloristischen Symbolen auch historisch bedeutsame Gebäude in einer Untersuchung zum Regionalbewusstsein im Friaul thematisiert.


Neuthematisierung der gebauten Umwelt

Seit den 1990er Jahren lassen sich in der Humangeographie verschiedene Ansätze ausmachen, in denen die Architektur wieder ausdrücklich thematisiert wird. Wir werden mit Thematisierung von „Stadt als Text“ und der Stadtgeographie der postmodernen Stadt zunächst zwei zum Teil eng miteinander verbundene Perspektiven vorstellen, die im Kontext der kulturgeographischen Neuorientierung der Humangeographie stehen und explizit auch die Architektur zum Gegenstand haben. Daneben stehen aber auch nicht ausdrücklich auf die Architektur fokussierte Forschungsperspektiven, die durch ihre konzeptionelle Ausrichtung grundsätzlich auch die Architektur in den Blick nehmen können. Wir werden mit Blick auf  Atmosphärenforschung sowie die „action setting“ Theorie erläutern, unter welchen Voraussetzungen diese Perspektiven Erfolg versprechend auch auf die Architektur bezogen werden können.

Die Stadt als Text
Im Zusammenhang mit dem cultural turn hat sich im Verlauf der 1990er Jahre in der Humangeographie eine Denkrichtung herausgebildet, die die Kulturlandschaft als Text betrachtet (vgl. Crang 1998, 27ff). Die Kulturlandschaft wird hier im Unterschied zur morphologischen Perspektive nicht in erster Linie in ihrer materiellen, sondern in ihrer symbolischen Dimension betrachtet. Sie wird als Trägerin von Bedeutungen, Werten oder Ideologien verstanden. Geleitet von diesem Verständnis ist in der Humangeographie auch die Architektur neu in den Blick geraten (vgl. auch Basten 2005, 61). Dabei lassen sich unseres Erachtens drei unterschiedliche Zugangsweisen zur symbolischen Bedeutung der gebauten Umwelt ausmachen:

1.      Zunächst einmal kann gefragt werden, welche Bedeutungen sich in der gebauten Umwelt lesen lassen. Hierbei wird davon ausgegangen, dass in der gebauten Umwelt eine Bedeutung eingeschrieben ist, die in einer wissenschaftlichen Analyse herausgelesen werden kann. In diesem Sinn erfolgte die Analyse von drei, zu unterschiedlichen Zeitpunkten (1937, 1967 und 1997 bis heute) nach Planungen auf dem Reißbrett entstandenen Siedlungen im suburbanen Raum von Washington DC (vgl. Gerhard/Warnke 2002). Ulrike Gerhard und Ingo Warnke deuten die Form der drei Siedlungen als Ausdruck von drei Lebenseinstellungen, die die amerikanische Gesellschaft zu den jeweiligen Zeitpunkten gekennzeichnet haben. Mit Blick auf die Gestaltung der Grundrisse und der Zentren, der Baustile, der verwendeten Baustoffe und der Inneneinrichtungen zeigen sie auf, dass die untersuchten Siedlungen die jeweiligen Lebenseinstellungen zu dieser Zeit repräsentieren.

2.      Die Analyse der Stadt als Text kann aber auch stärker die Produzenten von Bedeutungen in den Blick nehmen. In diesem Sinn steht die Arbeit von Claudia Wucherpfennig (2006), die aufzeigt, wie infolge der Privatisierung der Deutschen Bahn die Bahnhöfe als Ausdruck einer neuen Bahnhofskultur eine spezifische neue Gestalt annehmen. Im Unterschied zu der zuerst angeführten Untersuchung wird hier gezeigt, welches Selbstbild sich die privatisierte Deutsche Bahn geschaffen hat und wie sie dieses in die Bahnhöfe einschreibt. Die bauliche Gestaltung des Bahnhofes ist dabei neben der funktionalen Gestaltung und sozialen Regulierung nur eine von verschiedenen Ausdrucksformen der neuen Bahnhofskultur.

3.      In der Arbeit von Katharina Fleischmann (2005) wird neben der Produktion auch die Rezeption von Bedeutungen im Text der Stadt am Beispiel von Botschaftsneubauten in Berlin untersucht. Konkreter Untersuchungsgegenstand ihrer Arbeit sind die Neubauten der indischen und der südafrikanischen Botschaft. Ausgangspunkt ihrer Untersuchung ist die Überlegung, dass die Regierungen die Gestalt ihrer Botschaftsgebäude nutzen, um Bilder von ihrem Land zu vermitteln. Zunächst einmal untersucht auch sie die Seite der Zeichenproduktion, indem sie nachzeichnet, welche Länderbilder von den Regierungen intendiert und wie diese von den mit dem Neubau beauftragten Architekturbüros in der Gestaltung des Gebäudes umgesetzt wurden. Sie nimmt dabei sowohl die Formen der Gebäude, deren Farbgestaltung als auch die Wahl der verwendeten Materialien in den Blick. Sie geht in ihrer Untersuchung aber noch einen Schritt weiter als die zuvor genannten Arbeiten, da sie im Rahmen einer Passantenbefragung auch den Versuch unternimmt, der Rezeption der Bilder auf die Spur zu kommen.


Die Auswahl der Untersuchungsgegenstände in den drei Untersuchungen verdeutlicht, dass der Blick auf die „Stadt als Text“ insbesondere dann fruchtbar eingesetzt werden kann, wenn man a priori von einer deutlichen Einschreibung von Bedeutungen im Text der Stadt ausgehen kann.

Stadtgeographie und Postmoderne
Besonders eng ist die Neuthematisierung der Architektur in der Humangeographie mit dem Begriff der Postmoderne verbunden. Dieser äußerst vielschichtige Begriff hat auch das geographische Denken in unterschiedlichen Bereichen berührt. So hat die Berücksichtigung der philosophischen Dimension der Postmoderne die Entwicklung konstruktivistischer Ansätze und die Übernahme dekonstruktivistischer Perspektiven in der Humangeographie angeregt (vgl. Lossau 2003). Auch die zuvor angesprochene semiotische Forschungsrichtung, die Stadt und Architektur als Text versteht, steht in Teilen in einem ausdrücklichen Bezug zum philosophischen Postmoderne-Diskurs, so dass durchaus auch Überschneidungen zwischen den beiden hier getrennt aufgeführten Perspektiven bestehen. Wie die Arbeit von Ulrike Gerhard und Ingo Warnke (2002) verdeutlicht, kann die Analyse von Stadt als Text aber auch ohne ausdrückliche Bezüge zur Postmoderne erfolgen, so dass wir sie zuvor als eigene Perspektive aufgeführt haben.
Für die Neuthematisierung von Architektur in der Humangeographie ist insbesondere das Verständnis von Postmoderne als Begriff zur Kennzeichnung eines epochalen Wandels von Bedeutung. Postmoderne kennzeichnet in diesem Verständnis eine neue gesellschaftliche Konstellation, die durch eine neue kulturelle Ausdrucksform gekennzeichnet ist (vgl. Basten 2005, 51ff; Wood 2003a, 37ff). Zu ihren wichtigen Kennzeichen zählen auf der einen Seite der Bedeutungsgewinn von Gestaltung und Ästhetik, auf der anderen Seite eine zunehmende Durchdringung von Kultur und Ökonomie (vgl. Hasse 1989, 24; Wood 2003b, 137ff). Im Kontext dieses Beitrages steht die Widerspiegelung dieser Entwicklungen in Stadtentwicklung und Architektur im Vordergrund, die sich in einem Bedeutungsgewinn der gestalterischen gegenüber der funktionalen Dimension ausdrückt. So hat verständlicherweise auch die Architektur in der geographischen Stadtforschung erneute Beachtung erfahren.
Von Seiten der Wirtschaft wird diese Entwicklung in die Städte getragen, weil die Unternehmen insbesondere bei der Gestaltung ihrer Hauptsitze dem Zeichencharakter der Architektur große Bedeutung beimessen. Auf diese Weise haben Städte mit einem großen Anteil an Unternehmenshauptsitzen eine bedeutende architektonische Neugestaltung erfahren. Hier kann insbesondere Frankfurt als europäisches Bankenzentrum angeführt werden, das in den vergangenen Jahren mit seiner Skyline eine vollkommen neue Form erhalten hat.
Der Bedeutungsgewinn des Zeichencharakters von Architektur wird aber nicht nur für die Seite der Unternehmen festgestellt, die Architektur und damit den städtischen Raum im Sinne einer Ökonomie der Zeichen nutzen. Auch die Kommunen nutzen zunehmend den Zeichencharakter von Architektur, um sich in der Städtekonkurrenz um hochwertige Dienstleistungsunternehmen, einkommensstarke Einwohner und Touristen einen Vorsprung zu verschaffen (vgl. Wood 2003b, 137f). Als besonders bekanntes Projekt kann hier das Guggenheim Museum in Bilbao angeführt werden, das nicht nur einen spektakulären Museumsbau darstellt, sondern auch als Zeichen für den Wandel Bilbaos von einer ursprünglich durch Schwerindustrie geprägten Stadt zu einer Dienstleistungsmetropole eingesetzt wird.
Bezug nehmend auf die Diskussion über die Zwischenstadt und die damit verbundenen Defizite in der physischen Gestaltung des Stadtrandes beschäftigt sich Ludger Basten in seiner Habilitationsschrift zum „Postmodernen Urbanismus“ sowohl mit den „Prozessen der Gestaltung“ als auch mit „den Vorstellungsbildern, die dort in der Produktion und Reproduktion von Stadt bedeutsam werden“ (Basten 2005, 69). Dabei richtet sich sein Augenmerk besonders auf die Entwicklungsprozesse, in denen die Bilder der neuen, materiellen Stadtgestalt entworfen und erzeugt werden. An die Ergebnisse dieser Arbeit und an die bundesweite Debatte über die Initiative Architektur und Baukultur (Wiegandt 2003, 145ff) anknüpfend untersuchen Katharina Brzenczek und Claus-C. Wiegandt derzeit mit Hilfe des akteurszentrierten Institutionalismus die unterschiedlichen Bedingungen, in denen sich heute die Prozesse der Stadtgestaltung in räumlich differenzierter Form darstellen (www.giub.uni-bonn.de/wiegandt).
Aber auch im Zusammenhang mit der sozialen Polarisierung und Fragmentierung, die als weiteres Kennzeichen postmoderner Stadtentwicklung gelten (vgl. Wood 2003a, 69), ist das Thema der Architektur in der geographischen Stadtforschung verankert. Denn sowohl die Zäune und Tore der Gated Communities als auch die Formensprache der so genannten „Bunker“-Architektur sind gleichermaßen Ausdruck und Mittel der Abschottung und Fragmentierung.

Erforschung städtischer Atmosphären
In jüngerer Zeit wurde von verschiedener Seite gefordert, auch die gespürte oder gefühlte Räumlichkeit zum Gegenstand geographischer Stadtforschung zu erheben. Diese für die Humangeographie neue Perspektive hat sich vor dem Hintergrund einer gestiegenen Bedeutung des Erlebens in vielen sozialen und gesellschaftlichen Zusammenhängen entwickelt. Hier hat in der Humangeographie insbesondere Jürgen Hasse (2002a, 12) dafür plädiert, den Menschen nicht mehr nur als vernunftbegabtes, sondern auch als sinnliches Wesen zu thematisieren. Ähnliche Überlegungen sind selbst in der bisher stark am Bild des homo oeconomicus orientierten geographischen Handelsforschung zu vernehmen, wo Frank Schröder (1999, 69) fordert, „die Anmutung von Einzelhandelslandschaften stärker zu berücksichtigen“. Dass die gefühlte Räumlichkeit nicht nur in der Freizeit, sondern auch im Kontext wirtschaftlicher Aktivitäten von Bedeutung sein kann, hat Ilse Helbrecht (2004, 197f) in einer Untersuchung zur Standortwahl kreativer Dienstleistungsunternehmen gezeigt, die das „look&feel“ auf verschiedenen räumlichen Ebenen als zentralen Standortfaktor nannten. Während also spätestens seit dieser Untersuchung von Ilse Helbrecht keine Zweifel mehr bestehen dürften, dass der gefühlten Räumlichkeit eine soziale und gesellschaftliche Bedeutung zukommt, fehlen zumindest in der deutschsprachigen Geographie bisher weitgehend Untersuchungen, die zeigen, durch welche Umgebungselemente ein Wohlbefinden ausgelöst werden. So ist zwar unbestritten, dass Architektur einen Einfluss auf menschliche Befindlichkeiten haben kann, doch konnte bisher noch nicht im Detail herausgearbeitet werden, wie – d.h. durch welche Formen, Volumina oder Flächigkeiten – bestimmte Befindlichkeiten beeinflusst werden.
Das im deutschen Sprachraum ursprünglich in der Philosophie entwickelte und durch Jürgen Hasse (2002b) in die Geographie eingeführte Konzept der Atmosphären bietet hier einen viel versprechenden konzeptionellen Rahmen für die Analyse gefühlter Räumlichkeit. Obwohl mit der Betonung der gefühlten Räumlichkeit des Atmosphärenbegriffs zunächst einmal das Subjekt mit seiner Leiblichkeit und Befindlichkeit in den Vordergrund gerückt wird, hat die materielle Umwelt und damit ebenso die Architektur als ein Bereich der Erzeugenden von Atmosphären in dem Konzept grundsätzlich ihren Platz (vgl. Böhme 1998, 59ff; Meisenheimer 2004).
Nachdem inzwischen die konzeptionelle Fassung des Atmosphärenbegriffs in differenzierter Form entwickelt und seine grundsätzliche Bedeutung für die Stadtforschung klar herausgearbeitet wurde (vgl. Augoyard 1998, 18ff), stellt dieses Konzept die Humangeographie vor die Herausforderung, in konkreten empirischen Arbeiten insbesondere die Atmosphären städtischer Räume zu bestimmen. Inwiefern die gebaute Umwelt und welche Dimensionen der gebauten Umwelt menschliche Befindlichkeiten in konkreten Stadträumen beeinflussen, sind dabei zu untersuchenden Fragen. Darüber hinaus gilt es aber auch, der Bedeutung der gebauten Umwelt im Zusammenspiel mit anderen Bestimmungsgrößen von Atmosphären auf die Spur zu kommen.
Mit Blick auf die bisherigen Arbeiten muss man feststellen, dass im deutschen Sprachraum die Übertragung des in einer geisteswissenschaftlichen Tradition entwickelten Atmosphärenkonzepts in eine sozialwissenschaftliche Forschungspraxis noch in den Anfängen steckt und bisher in der Geographie nur in einer einzigen Arbeit unternommen wurde. Hierbei hat Jürgen Hasse (2002c) versucht, die Atmosphäre der Drosselgasse in Rüdesheim empirisch zu bestimmen. Als Defizit dieser Studie, die nur als Impuls für andere Forschungsvorhaben gedacht war, ist die zu wenig differenzierte und methodisch kontrollierte Aufnahme der Bestimmungsfaktoren der Atmosphäre in der Drosselgasse zu sehen. Die fehlende Berücksichtigung materieller Elemente ist jedoch kein spezifisches Defizit dieser Untersuchung, sondern ein generelles Problem der derzeitigen Humangeographie, in der heute überwiegend diskursanalytische Forschungsmethoden etabliert sind (vgl. Helbrecht 2003, 166). Wenn die Humangeographie die Erforschung städtischer Atmosphären als ernst zu nehmenden Forschungsgegenstand weiter entwickeln will, muss sie auch in der Lage sein, präzise Angaben über die Bestimmungsfaktoren von Atmosphären zu treffen.
Hierzu kann die frankophone Atmosphärenforschung wertvolle Beiträge leisten, die ihre konzeptionellen Wurzeln stärker auch in der ökologischen Wahrnehmungsforschung hat und deshalb auch über eine stärker ausgeprägte empirische Tradition verfügt. Hier wurden verschiedene Methoden entwickelt, die es ermöglichen, sowohl die Bestimmungsgrößen städtischer Atmosphären als auch die Seite der Befindlichkeiten in den Blick zu bekommen (vgl. Thibaud 2001; Augoyard 2001). Mit Hilfe der Methode der „Parcours commentés“ haben Chelkoff und Thibaud (o. J.) beispielsweise die Atmosphäre von zwei unterirdischen Passagen untersucht und dabei sowohl die Befindlichkeiten bei der Durchquerung der entsprechenden Räume als auch die Umgebungsgrößen beschrieben, die die Befindlichkeiten bestimmen. Im Rahmen eines internationalen Forschungsnetzwerkes zur Dynamik städtischer Atmosphären wird derzeit mit einer ähnlichen Methodik eine Untersuchung zur Dynamik der Atmosphäre eines Platzes durchgeführt.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Architektur als Erzeugende in der Atmosphärenforschung grundsätzlich einen bedeutenden Stellenwert hat. Wenn es der Humangeographie gelingt, präzise und methodisch abgesicherte Studien zur gespürten Räumlichkeit zu erstellen und dabei auch die Seite der Bestimmungsgrößen zu berücksichtigen, kann sie damit langfristig einen wichtigen Beitrag zur Wirkung von Architektur leisten.

Action Setting
Während die Übertragung des Atmosphärenkonzepts in die Humangeographie in erster Linie das nicht rationalistische Menschenbild des Atmosphärenkonzepts im Blick hatte und die gebaute Umwelt dabei quasi als Nebeneffekt als eine von vielen möglichen Bestimmungsgrößen von Atmosphären in den Blick kam, zielt der von Peter Weichart (2003; 2004) entwickelte Ansatz des „action setting“ explizit auf eine konzeptionelle Verbindung des Materiellen mit dem Sozialen und schenkt insofern der materiellen Umwelt und damit prinzipiell auch der Architektur eine noch größere Aufmerksamkeit.
Er knüpft dabei an das Konzept des „behaviour setting“ an (vgl. Weichart 2003, 45f), das von dem Psychologen Roger G. Barker entwickelt wurde. Seine Kernthese besteht in der Annahme, dass zwischen den Beschaffenheiten eines Ortes und dem Tun der Akteure an diesem Ort Entsprechungen bestehen. Mit anderen Worten erleichtert oder unterstützt die Ausstattung eines Ortes – von Barker als Milieu bezeichnet – den Ablauf bestimmter Verhaltensmuster. Die an einem Setting üblichen Verhaltensmuster sind im Bewusstsein der Akteure gespeichert, können aber auch schriftlich in Form einer Regel festgehalten sein. Diese als Programme bezeichneten Verhaltensmuster sind auf spezifische Milieus abgestimmt, so dass an einem spezifischen Ort wie beispielsweise einer Schulklasse immer dieselben Verhaltensabläufe stattfinden.
Im Gegensatz zu dem behaviouristisch geprägten Ansatz von Barker, der von einer Beeinflussung der Verhaltensmuster durch die Ausstattung eines Ortes ausgeht, dreht Weichart aus der Sicht einer handlungstheoretisch informierten Perspektive den Zusammenhang zwischen den materiellen Rahmenbedingungen und den Tätigkeiten um: es sind die von Intentionen geleiteten Akteure, die für ihre Handlungen Milieus mit spezifischen materiellen Konstellationen bevorzugen, welche ihrerseits bereits durch vorausgehende Handlungen entsprechend gestaltet wurden.
Bisher sind auf Grundlage des „action setting“ Konzepts noch keine empirischen Arbeiten entstanden, die ausdrücklich die Bedeutung der Architektur als Milieuelement untersuchen. Mit seiner handlungstheoretischen Grundlegung auf der einen und der ausdrücklichen Berücksichtigung materieller Elemente auf der anderen Seite hat Weichart jedoch einen viel versprechenden konzeptionellen Rahmen geschaffen, mit dem in der Geographie zukünftig auch die soziale Bedeutung von Architektur untersucht werden kann. Ähnlich wie bereits im Zusammenhang mit der Atmosphärenforschung angedeutet bedarf es auch bei der Verwendung des „action setting“ Konzepts als Grundlage konkreter Untersuchungen methodischer Weiterentwicklungen, um nicht nur die soziale Bedeutung des Materiellen, sondern auch die materielle Grundlage des Sozialen mit hinreichender Präzision erfassen zu können.
Das Konzept des „action setting“ lässt sich grundsätzlich auch mit dem Konzept der Atmosphären verbinden (vgl. Klamt 2006, 34f). In diesem Sinn kann auch gefragt werden, in welchem Maß Akteure Milieus mit spezifischen Atmosphären für ihre Handlungen auswählen. Geleitet von dieser Überlegung konnte Kazig (2006) zeigen, dass und auf welche Weise Personen bei ihrer Einkaufsstättenwahl bewusst auch die atmosphärische Qualität von Einzelhandelsgeschäften und deren Umgebung berücksichtigen.


Fazit

Unsere Ausführungen haben verdeutlicht, dass Architektur und gebaute Umwelt durchaus einen Gegenstand humangeographischen Denkens und Forschens darstellen. Der von uns beschrittene Weg, entlang verschiedener Konzeptionen geographischen Denkens und Forschens die Thematisierung von Architektur in der Geographie aufzuzeigen, hat die spezifischen Formen verdeutlicht, wie Architektur in der Humangeographie bisher Beachtung geschenkt wurde: Im Unterschied etwa zur Soziologie oder Psychologie, wo sich mit einer Architektursoziologie oder einer Architekturpsychologie jeweils – wenn auch kleine – Kristallisationspunkte des Denkens über Architektur herausgebildet haben, besteht in unserem Fach (bisher) keine eigene Architekturgeographie oder Geographie der gebauten Umwelt.
Vielmehr erfolgte die Thematisierung von Architektur in der Geographie bisher weitgehend zufällig, wenn die jeweilige Konzeption geographischen Denkens auch einen Blick auf die gebaute Umwelt zugelassen hat. Mit anderen Worten: Die Auseinandersetzung mit der gebauten Umwelt war nie ein eigenständiges Motiv innerhalb der Humangeographie. Dies hat auch zur Folge, dass kein etablierter Wissensbestand einer Geographie der Architektur geschaffen und systematisch neue Perspektiven der Thematisierung von Architektur in der Geographie entwickelt wurden.
Erschwerend für eine Thematisierung der Architektur in der Humangeographie ist außerdem die traditionelle Präferenz einer Maßstäblichkeit, die Räume erst ab der Größe mehrerer Häuserblöcke zu einem geographischen Gegenstand werden lässt (vgl. Haggett 1983, 48f). Auf diese Weise stehen einzelne Gebäude traditionell zunächst einmal außerhalb des geographischen Blicks. In jüngerer Zeit hat zumindest die angelsächsische Humangeographie ihre Begrenzung auf die traditionellen Maßstäblichkeiten aufgebrochen und sich beispielsweise den menschlichen Körper oder auch die Wohnung als Gegenstände ihres Denkens und Forschens angeeignet (vgl. Valentine 2001). Ähnliche Entwicklungen lassen sich jüngst auch für die deutschsprachige Geographie beobachten bzw. können für die Zukunft erwartet werden.
Nachdem zudem – wie in den vorangegangenen Abschnitten angesprochen – die gebaute Umwelt wieder aus verschiedenen Perspektiven in den Blick der Humangeographie geraten ist, besteht derzeit ein günstiger Zeitpunkt, die verschiedenen Blickwinkel auf die Architektur systematisch aufzuarbeiten und auf diese Weise einen Ausgangspunkt für eine Architekturgeographie zu schaffen. So könnte sich auch die Geographie ähnlich wie beispielsweise die Soziologie oder Psychologie zu einem systematischen Beobachter der gebauten Umwelt und damit zu einem Gewinn bringenden Partner von Architekturtheoretikern entwickeln.

 




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10. Jg., Heft 1
September 2006