From Outer Space:
Architekturtheorie außerhalb der Disziplin

10. Jg., Heft 1
September 2006
   

 

___Bettina Graf
Berlin
  "Atmosphäre" in der Stadt
Denkansätze für einen psychologisch reflektierten Städtebau 

 

    1. Einleitung: Architektur und Stadtlandschaft psychologisch betrachtet

Wer sich als Psychologe oder Psychologin mit Architektur und Stadtplanung beschäftigt, richtet den Blick auf die Stadtbewohnerinnen und -bewohner. Ihr Verhalten und Erleben im Raum, ihre Wünsche und Bedürfnisse, ihre Wahrnehmung und Bewertung der gebauten Umwelt, ihre Lebensqualität, ihr Wohlergehen sind wichtige Themen für eine Psychologie der Stadt. Wesentliches Kriterium für die Beurteilung von Architektur ist dem entsprechend ob, und wie gut es gelingt, Nutzerinnen und Nutzern eine Umwelt bereit zu stellen, die einen geeigneten Rahmen für ihren Alltag, ihre Entwicklung und ihr Leben insgesamt darstellt. Architektur kann dabei nicht nur Verhalten ermöglichen oder verhindern; sie kann auch das Erleben der Menschen positiv oder negativ beeinflussen. Schon frühe umwelt- und architekturpsychologische Studien konnten zeigen, dass wir uns in Räumen, die wir als schön wahrnehmen, wohl fühlen und gerne aufhalten. Auch unsere Kommunikationsbereitschaft und unsere Leistungsfähigkeit sind dort höher, als in Räumen, die uns nicht gefallen
[1]. Verschiedene Autorinnen und Autoren wiesen darüber hinaus darauf hin, dass jegliches menschliche Verhalten stark mit den räumlichen Bedingungen verknüpft ist[2]. Durch diese würden „Verhaltensangebote“ gemacht, die bestimmten, was möglich sei und was nicht[3]. Auch wenn Erleben und Verhalten noch vielen weiteren Einflussfaktoren unterliegen, so ergibt sich aus der wichtigen Bedeutung der räumlichen Umwelt doch eine große Verantwortung für die mit Planung und Gestaltung menschlicher Lebensräume befassten Expertinnen und Experten. Sie schaffen die äußeren Bedingungen, innerhalb derer sich das Leben der Menschen vollzieht. Bedürfnisse und Wünsche der zukünftigen Nutzerinnen und Nutzer sollten darum eine zentrale Rolle im Planungsprozess einnehmen. Betrachtet man aber, was tatsächlich passiert, so stellt man fest, dass Bewohnerinnen und Bewohner bzw. Nutzerinnen und Nutzer, trotz wiederholter Bemühungen seit den 1980er Jahren, kaum eine Rolle spielen. Manchmal wird Bürgern und Bürgerinnen von vornherein eine ästhetisch-gestalterische Unmündigkeit unterstellt, die die Frage ob und wie man sie in Planungsprozesse mit einbeziehen kann, von vorneherein ausschließt. Darüber hinaus sind Wohnungsunternehmen durch Strukturen gekennzeichnet, die die Berücksichtigung von Wünschen der Bewohnerinnen und Bewohner nicht vorsehen, so dass selbst dort, wo der politische Wille vorhanden ist, entsprechende Initiativen im Sand verlaufen. Oft werden (scheinbare) Widersprüche aufgebaut: So sei etwa ästhetisch anspruchsvolle Arbeit nicht mit Bewohnerinnen- und Bewohnerbeteiligung vereinbar oder der wirtschaftliche Rahmen würde dadurch gesprengt. Die Untersuchungen unseres transdisziplinären Projektes zeigen aber, dass das keineswegs so sein muss: Auch Laien verfügen über ästhetisches Alltagswissen und -empfinden und sind durchaus in der Lage ökonomisch bzw. Kosten sparend zu denken[4]. Der Prozess, dieses Wissen adäquat zu nutzen, scheitert aber häufig an nicht vorhandener oder nicht gelingender Kommunikation zwischen Planungsexperten und Laien einerseits und Planenden und Forschenden andererseits.


2. Umwelt, Emotion und Gesundheit

Menschliche Entwicklung findet an der Schnittstelle zwischen Mensch und Umwelt statt. Wie wir zu dem werden, was wir sind, ob wir zufrieden sind oder nicht, ob wir uns wohl fühlen und uns gemäß unserer Anlagen entfalten können – all das wird stark durch die physische und soziale Umwelt beeinflusst. Aber auch ob und wie soziale Beziehungen entstehen, wird durch die physischen Rahmenbedingungen des Lebensraumes mitbestimmt
[5]. In den folgenden theoretischen Ausführungen soll unsere emotionale Reaktion auf physische Umwelt im Vordergrund stehen.
In neuerer Zeit hat sich die so genannte „Positive Psychologie“ mit der Entstehung und Bedeutung von positiven Emotionen beschäftigt
[6]. Sie konnte zeigen, dass positive emotionale Prozesse zu Resilienz führen. Resilienz ist eine innere Widerstandskraft, die uns hilft, mit den Belastungen des Lebens besser umzugehen und Herausforderungen ohne Angst anzunehmen. Wie können positive Emotionen in der Umwelt entstehen, bzw. wie muss physische Umwelt gestaltet werden, damit sie einen solchen Prozess begünstigen kann?
Es gibt in der Psychologie einige Forschungsansätze, die sich mit der Entstehung positiver Emotionen in der Umwelt befassen: Der Flowansatz
[7] beschäftigt sich mit der Interaktion zwischen Mensch und Umwelt. Verläuft diese Interaktion ideal, so tritt sog. Flowerleben ein: Es kommt zu einer Zeit-, Raum- und Selbstvergessenheit, die Csikszentmihalyi, der Begründer dieses Ansatzes, als „Glück“ bezeichnet hat. Flow tritt genau dann auf, wenn die Umwelt einen Menschen so herausfordert, dass es ihm gelingt, eine für ihn anspruchsvolle Aufgabe gerade noch zu bewältigen. Sie sollte demnach möglichst vielfältige Entwicklungsoptionen bereitstellen, so dass Menschen sich erproben können, jeder auf seinem jeweils individuellen Niveau.
Auch die Psychologische Ästhetiktheorie ist ein Forschungsfeld, das sich mit dem Zusammenhang von physischer Umwelt und Emotion beschäftigt. Die erste psychologische (experimentelle) Ästhetiktheorie stammt von Berlyne
[8]. Für ihn sind zwei Konzepte von zentraler Bedeutung: zum einen die kollativen Reizeigenschaften und zum anderen die spezifische und die diversive Exploration. Kollative Reizeigenschaften sind Merkmale der Umwelt, die beim Menschen Neugier hervorrufen. Diese sind nach Berlyne die Komplexität, die Neuheit, die Inkongruenz und der Überraschungsgehalt einer Umgebung. Als diversive Exploration bezeichnet er Erkundungsreaktionen des Menschen, die dann auftauchen, wenn ein Individuum gelangweilt ist und nach Abwechslung sucht. Spezifische Exploration hingegen tritt dann auf, wenn ein Mensch bereits stark angeregt ist und einen Gegenstand exploriert, um seine Unsicherheiterregung zu senken oder seine Neugier zu befriedigen. Berlyne ging davon aus, dass ästhetische Urteile über zwei Dimensionen mit kollativen Reizeigenschaften und Exploration verbunden sind: Die Dimension Unsicherheitserregung und die Dimension „Hedonic tone“ (Gefallen). Die Beziehung zwischen diesen beiden sah er als kurvilinear an (höchstes Gefallen bei mittlerem Unsicherheitsarousal). Die schönsten Umwelten, die die positivste emotionale Reaktion auslösten, sollten demnach jene sein, deren kollative Reizeigenschaften mittelstark ausgeprägt sind und die dadurch ein mittleres Erregungsniveau im Betrachter oder in der Betrachterin erzeugen.
Die umweltpsychologische Landschaftsästhetik beschäftigt sich damit, wie positiv oder negativ Menschen Landschaften beurteilen. Wenn uns eine Umwelt gefällt, kommt es zu positivem ästhetischem Erleben. Damit gehen Emotionen wie Freude oder körperlich-seelische Reaktionen wie Entspannung einher
[9]. Umwelt- und Landschaftsästhetik wird so zu einem Forschungsfeld, das Gesundheit und Wohlbefinden mit einbezieht. Die umweltpsychologische Landschaftsästhetik hat eine Fülle interessanter Ergebnisse hervorgebracht, welche Merkmale der Umwelt von Menschen bevorzugt werden[10]. Eine wesentliche Rolle spielt dabei die zentrale Bedeutung von Natur[11]. Untersuchungen haben immer wieder gezeigt, dass natürliche Szenen gegenüber urbanen Szenen von den meisten Menschen bevorzugt werden[12]. Darüber hinaus konnten positive Effekte von Natur auf Gesundheit und Heilung nachgewiesen werden[13]. Natur kann darüber hinaus zu positiverem emotionalen Erleben führen[14].


3. Das Konzept des „Atmosphärischen“: Mensch und Umwelt zusammen betrachtet
 
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Abbildung 1:
Das "Atmosphärische" umschließt Mensch und Umwelt
 
 

Unsere inter- und transdisziplinäre Forschungsgruppe „Zeilenumbruch“ (siehe 4.), die sich u. a. mit der Bedeutung von physischer Umwelt für den Menschen beschäftigt, hat sich theoretisch auf das Konzept des „Atmosphärischen“ nach Böhmes neuer Ästhetik[15] bezogen.

„Die … neue Ästhetik hat es mit der Beziehung von Umgebungsqualitäten und menschlichem Befinden zu tun. Dieses Und, dieses zwischen beidem, dasjenige, wodurch Umgebungsqualitäten und Befinden aufeinander bezogen sind, das sind die Atmosphären“ [16].

Dieser Denkansatz hat auch in der Architektur eine relativ starke Resonanz erfahren. Es wird hier versucht, Mensch und Umwelt gemeinsam zu betrachten[17]. Gegenstand ist das individuelle Erleben des Rezipienten in einer bestimmten Umwelt, die sinnlich-emotionale Reaktion einer Person auf die Anwesenheit der gegenständlichen Welt.

Böhme spricht von einer sog. ökologischen Ästhetik, die sich deutlich von der traditionellen Ästhetik von Kant bis Adorno abhebe. Es handele sich hierbei weniger um eine Ästhetik, die die Kunst, bzw. das Kunstwerk zum Gegenstand habe, sondern um eine, die beim Alltagsleben des Menschen in seiner Lebenswelt anknüpfe. Sie beschäftige sich weniger mit dem ästhetischen Urteil als Konsequenz eines kognitiven Bewertungsprozesses, als vielmehr mit der direkten sinnlichen Wahrnehmung. Wahrnehmung wird dabei ganzheitlich verstanden, sie beschränke sich nicht auf die Grenzen dessen, was im Rahmen kognitiver Informationsverarbeitungsansätze dargestellt werden könne. Sie beinhalte vielmehr auch affektive, emotionale und imaginative Elemente. In diesem Zusammenhang betont Böhme auch die zentrale gesellschaftliche Rolle der Architektur, die über die Schaffung von Atmosphären Grundbefindlichkeiten in einer Zivilisation produziere und dadurch politischen Einfluss nehme. Böhme kennzeichnet seine Ästhetik als eine „Theorie der ästhetischen Arbeit“. Es ginge dabei vor allem darum, dass die Theorie von der Praxis zu lernen habe und nicht andersherum. Atmosphären können darüber hinaus Macht über Menschen ausüben indem sie (unbewusst) Emotionen evozieren. Sie würden durch Politik und Wirtschaft auch gezielt eingesetzt. Diese Möglichkeit der Einflussnahme sei vor allem darum problematisch, weil sie sich häufig der bewussten Wahrnehmung der Beeinflussten entziehe und gar nicht bemerkt werde. Böhme hebt aber auch das kritische Potential einer Ästhetik der Atmosphären hervor. Es bestehe darin, dass sie die ästhetischen Qualitäten des Alltagslebens legitimiere und sich damit gegen den ästhetischen Hochmut bildungsbürgerlich geprägter Geschmacksurteile richte. Die Trennung zwischen Kunst auf der einen Seite und Kunsthandwerk bzw. Kitsch auf der anderen Seite werde somit aufgehoben. Die ästhetische Wahrnehmung des Alltagsmenschen rückt in den Vordergrund.

4. Das Forschungsprojekt „Zeilenumbruch“

Unser Forschungsteam beschäftigt sich mit ökonomischen, ökologischen und sozialen Rahmenbedingen einer nachhaltigen Stadt- und Siedlungsentwicklung
[18]. Ein Teilbereich ist die Bedeutung des Wohnumfeldes für Gesundheit und Lebensqualität. Hier werden ästhetische und erholungsrelevante Qualitäten des Wohnumfeldes untersucht. Ziel ist es Ergebnisse zu generieren, wie das Wohnumfeld zu einem Ort der Erholung wird, und was zu einer „positiven Atmosphäre“ im Wohngebiet beiträgt. Dabei interessiert uns Atmosphäre als Potenzial, die wirkliche Lebensqualität zu steigern und nicht als Kategorie der Standortvermarktung, wie es in der öffentlichen Stadtdebatte häufig anklingt[19]. Wir gehen aber davon aus, dass durch die Schaffung real wahrnehmbarer, Wohnqualität steigernder Atmosphäre eine Situation entsteht, die auch ökonomisch relevante positive Folgewirkungen hat, wie z. B. die Vermeidung von Leerstand in Wohnsiedlungen.

4.1   Architekturpsychologische Forschung: Fotostudie zur Bewertung des physischen Außenraumes

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Abbildung 2:
Innovativ saniertes Haus in Zeilenbauweise: Das am positivsten eingeschätzte Foto
(Foto: Olaf Saphörster)

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Abbildung 3:
Architektonisch anspruchsvolle Hausfassade mit Außenraum: Das am negativsten eingeschätzte Foto
(Foto: Olaf Saphörster)

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Abbildung 4:
Standardsanierter Zeilenbau: Überraschend positiv eingeschätztes Foto
(Foto: Olaf Saphörster)
 
  Im Rahmen unserer Projektarbeit wurde eine Fotostudie durchgeführt, mit dem Ziel, Merkmale der physischen Umwelt zu identifizieren, die bei Betrachtern und Betrachterinnen positive Emotionen auslösen. Dabei wurden 40 Bewohnerinnen und Bewohnern von Zeilensiedlungen der Nachkriegszeit sechs Fotos verschiedener Hausfassaden mit Außenräumen gezeigt. Die Betrachterinnen und Betrachter wurden aufgefordert, frei zu erzählen, was die Fotos in ihnen auslösten. Anschließend wurden sie gebeten, die Fotos ergänzend auf Semantischen Differentialen[20] einzuschätzen (Gesamteinschätzung).
Im Folgenden sollen exemplarisch einige Ergebnisse der Studie vorgestellt werden. Dabei kann in diesem Rahmen nur ein kurzer Einblick geboten werden
[21]. Zunächst wird das von den Bewohnerinnen und Bewohnern insgesamt am besten eingeschätzte Foto dargestellt, daran anschließend das insgesamt am schlechtesten bewertete Foto und schließlich ein weiteres Foto, dessen Bewertung besonders stark von den Erwartungen unseres Forschungsteams abweicht. Dieser kurze Ausschnitt aus den Ergebnissen soll die erheblichen Unterschiede in der Einschätzung der gezeigten Umweltausschnitte durch Bewohnerinnen und Bewohner einerseits und Planende und Forschende andererseits deutlich machen.

Die quantitative Einschätzung mit Hilfe semantischer Differentiale ergab, dass dieses Foto, das einen innovativ sanierten Zeilenbau umgeben von Grünanlagen zeigt, von den Interviewten insgesamt betrachtet am positivsten eingeschätzt wurde. Die qualitativen Ergebnisse aus den Interviews machen aber deutlich, dass diese positive Einschätzung fast ausschließlich dem Landschaftsraum gilt und nicht der Architektur. Zitate aus den Interviews lauten: „ein grünes Idyll“, „genug Raum, genug Abstand zwischen den Häusern“, „gepflegt, sauber“, „ruhig und sicher“ und „entspannend“, ein „guter Ort für Familien mit Kindern“, „lädt zum Spazierengehen ein“. Der Landschaftsraum wurde durchgängig positiv beschrieben. Die Architektur hingegen wurde eher kritisch beurteilt: die Fassaden wären „unharmonisch, zu scharf, zu eckig“. Die Fenster und die Balkone wären zu klein. Darüber hinaus zeigten die Balkone keine Nutzungsspuren und würden keine Privatheit bieten. Die Architektur regte die Interviewten zu Metaphern an: Sieht aus wie „ein Vogelkäfig“, „ein Ameisenhaufen“, „ein Bienenkorb“.

Dieses Foto wurde von den Bewohnerinnen und Bewohnern am negativsten eingeschätzt. Weder Architektur noch Außenraum fanden Gefallen. Die Fassade wurde als langweilig, gesichtslos, kahl, monoton, geschmacklos, undifferenziert beschrieben. Die Fenster wurden als zu klein, altmodisch, gedrängt dargestellt. Diese negative Einschätzung stand in starkem Widerspruch zur einheitlich positiven Bewertung dieser Szene durch unsere Architekten im Team. Ebenso negativ wurde von den Bewohnerinnen und Bewohnern der Außenraum eingeschätzt: Der im Vordergrund des Bildes sichtbare Bürgersteig wurde von den meisten als „Straße“ wahrgenommen und als anonym, verwahrlost und gefährlich beschrieben.

Im Gegensatz zu unseren Erwartungen wurde diese Szene überwiegend positiv eingeschätzt. Das Forschungsteam hatte im Rahmen der theoretischen Vorüberlegungen sowohl die architektonische Gestaltung als auch den Landschaftsraum als zu gleichförmig und wenig aussagekräftig beurteilt. Die Ergebnisse der Befragungen zeigen aber in eine grundlegend andere Richtung: nicht nur der Landschaftsraum sondern auch die Architektur wurde zu unserer großen Überraschung positiv beurteilt „dies ist die schönste Hausfassade, die schönsten Farben“ (Zitat aus Interview). Besonders positiv wurde hervorgehoben, dass die Fassade hell und sonnig sei. Am Außenraum wurde die Weitläufigkeit und Geräumigkeit positiv hervorgehoben. Der weite Blick, viel Platz, eine sonnige Wiese, das wurde von den Interviewpartnerinnen und -partnern sehr positiv bewertet.
Dieser kurze Ausschnitt aus den Ergebnissen zeigt, dass die Einschätzungen von Bewohnerinnen und Bewohnern einerseits und die von uns Forschenden andererseits keineswegs übereinstimmten. Die Bewohnerinnen und Bewohner schätzen grüne, sonnige Außenräume im Wohnumfeld, möglichst ohne Verkehr. Ambitionierte Architektur kam im Rahmen dieser Studie nicht unbedingt gut an. Vielmehr wurde die wesentlich kostengünstigere Standardsanierung (vgl. Abbildung 3) deutlich positiver eingeschätzt als die aufwändige und teure Mustersanierung (vgl. Abbildung 1) oder die von Seiten der Architekten als anspruchsvoll eingeschätzte Hausfassade (vgl. Abbildung 3). Wohnungsunternehmen, die sich bei der Sanierung der Baukörper aufs Nötigste beschränken („Standardsanierung“) und dafür stärker in die Außenanlagen investieren, handeln auf der Grundlage der Untersuchungsergebnisse dieser Studie also durchaus im Sinne der Bewohnerinnen und Bewohner.

4.2   Beteiligung von Bewohnerinnen und Bewohnern: „Grüne Mappe“
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Abbildung 5:
Die Grüne Mappe

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Abbildung 6:
Seite aus der Grünen Mappe. Die Bewohner und Bewohnerinnen kleben Sticker auf einen Plan ihres Wohnquartiers

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Abbildung 7:
Seite aus der Grünen Mappe. Gestaltungsalternativen zum Ankreuzen

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Abbildung 8:
Seite aus der Grünen Mappe.
Die Bewohner und Bewohnerinnen zeichnen in einen Plan.

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Abbildung 9:
Gestaltungsentwurf auf der Grundlage von Beteiligungsergebnissen
 

Das Projekt „Zeilenumbruch“ hat ein neues Beteiligungsinstrument entwickelt, um Bewohnerinnen und Bewohner bei der Planung von wohnungsnahen Freiflächen mit einzubeziehen. Dabei wurde großer Wert darauf gelegt, das Instrument so zu gestalten, dass es möglichst viele verschiedene Menschen anspricht.

Die Grüne Mappe besteht aus verschiedenen Teilen: offenen Fragen, Bildern und Fragen zum Ankreuzen sowie Elementen zum Malen und Kleben. Ziel war es, für möglichst jede/n Ansatzpunkte zu finden, die ihn/sie inspirierten, ihre/seine Meinung und Ideen zu äußern. Die „Grüne Mappe“ wurde durch unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter persönlich an die Haushalte verteilt. Die Ergebnisse der Bürgerbeteiligung mit der „Grünen Mappe“ wurden den Teilnehmenden im Rahmen von Ausstellungen und Vortragsveranstaltungen zurückgespiegelt. Erste Evaluationen zeigen eine hohe Akzeptanz der „Grünen Mappe“.


5. Anforderungen der Psychologie an Architektur und Stadtplanung:
Wahrnehmung und Bedürfnisse der Bewohnerinnen und Bewohner ernst nehmen und partizipativ forschen und planen!

Im Rahmen der Projektarbeit von „Zeilenumbruch“ wurde versucht, zum einen die Ergebnisse der Interviewstudien und zum anderen die Ergebnisse des Partizipationsverfahrens mit der „Grünen Mappe“ in landschaftsplanerische Entwurfskonzeptionen umzusetzen[22]. Nach Einschätzungen von Planenden liefern die Ergebnisse der Studien gute Ansatzpunkte für erste Gestaltungsentwürfe auf der Grundlage der Befragungen von Bewohnerinnen und Bewohnern.

Aus den dargestellten Überlegungen ergibt sich folgende Anforderung an Architektur und Stadtplanung, die ich aus meiner Sicht als eine in diesem Bereich forschende Psychologin formulieren will: Die Planung und Gestaltung von Lebensräumen sollte den Menschen ins Zentrum setzen und seine Reaktionen auf die physische Umwelt berücksichtigen. Die Psychologie liefert vielfältige Ansatzpunkte für das Studium der Mensch-Umwelt-Wechselbeziehungen. Darüber hinaus sollte „mit den Menschen“ und nicht über die Menschen geforscht werden. Das bedeutet, dass partizipative Verfahren mit einzubeziehen sind. Forschung sollte sich darüber hinaus bemühen, Zugang zu möglichst vielen verschiedenen Menschen zu gewinnen. Erst auf einer solchen Grundlage können in Vereinbarung mit ökonomischen Rahmenbedingungen, gestalterischen Idealen sowie ökologischen und gesellschaftspolitischen Zielsetzungen integrative Lösungen erarbeitet werden, die eine zunehmende Humanisierung von Lebensräumen ermöglichen.

 


 

Literatur

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Berlyne, D. E. (1974). Studies in the new experimental aesthetics: Steps towards an objective psychology of aesthetic appreciation. New York: Halsted Press.

Böhme, G. (1989). Für eine ökologische Naturästhetik. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

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Böhme, G. (1998). Anmutungen. Über das Atmosphärische. Ostfildern: Edition tertium.

Csikszentmihalyi, M. (1975). Beyond boredom and anxiety. San Francisco: Jossey-Bass.

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Sherrod, D. R., Armstrong, D., Hewitt, J., Madonia, B., Speno, S. & Fenyd, D. (1977). Environmental attention, affect, and altruism. Journal of Applied Social Psychology, 7, 359-371.

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Wendorf, G., Felbinger, D., Graf, B. Gruner, S., Jonuschat, H. & Saphörster, O. (2004). Von den Qualitäten des Wohnumfeldes zur Lebensqualität? Das Konzept des „Atmosphärischen“ als Ausgangspunkt einer integrierten Theorie. Diskussionspapier des Zentrums Technik und Gesellschaft. Technische Universität Berlin.

Wendorf, G. (2005). Wohnsiedlungen im Umbruch. VHW Forum Wohneigentum. Zeitschrift für Wohneigentum in der Stadtentwicklung und Immobilienwirtschaft, 5, 271-275.

 

 

[1] vgl. Maslow & Mintz, 1956; Campbell, 1979; Sherrod et al., 1977; Russel & Mehrabian, 1978

[2] z. B. Gibson, 1982

[3] vgl. „Affordanzen“, Gibson, 1982

[4] vgl. Untersuchungsergebnisse „Zeilenumbruch“, 2005, noch unveröffentlicht

[5] vgl. z. B. Harloff et al., 2000; Graf, 2002, S. 9 f.

[6] vgl. z. B. Fredrickson, 2000; 2002; 2003.

[7] vgl. Csikszentmihalyi, 1975, 1998

[8] vgl. Berlyne 1960, 1974

[9] vgl. Ulrich, 1979, 1983, 1991; Hartig, 2003; Herzog, 2003

[10] z. B. Kaplan & Kaplan, 1987

[11] z. B. Kaplan, 1997

[12] z. B. Ulrich, 1979

[13] vgl. Ulrich et al., 1991

[14] z. B. Ulrich, 1979

[15] vgl. Böhme 1989, 1995, 1998

[16] vgl. Böhme 1995, S. 22-23

[17] vgl. auch Wendorf et al., 2004

[18] weitere Informationen unter www.zeilen-umbruch.de. Die vorgestellten Gedanken und Ergebnisse sind in der Nachwuchsforschungsgruppe „Umbauen statt neu Bauen – sozial-ökologische Gestaltungspotentiale im Wohnungsbau der Nachkriegszeit“ (kurz: „Zeilenumbruch“) unter der Leitung von Dr. Gabriele Wendorf entstanden. Die Förderung erfolgt durch das BMBF im Rahmen des Programms „Sozial-ökologische Forschung (SÖF)“.

[19] vgl. Göschel, 2005, Vortrag

[20] Semantische Differentiale bestehen aus Paaren von Adjektiven (Gegensatzpaare) und einer in der Regel siebenstufigen Skala auf der Bearbeiterin oder Bearbeiter einen Gegenstand (hier ein Foto) einschätzt.
Bsp.:

 

sehr a

ziemlich a

etwas a

weder a noch b

etwas b

ziemlich b

sehr b

 

Adjektiv a

 

 

 

 

 

 

 

Adjektiv b

 

[21] Ausführliche Ergebnisse erscheinen in 2007 im Rahmen der Abschlussveröffentlichung des Projektteams.

[22] vgl. Saphörster, erscheint voraussichtlich in 2007.
 


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