Rundgespräch zur Architekturtheorie

9. Jg., Heft 2
März 2005
   

 

___Fritz Neumeyer
Berlin
  Architekturtheorie als kulturelle Gestaltungsaufgabe

 

   

1. Architektur ist eine bergende, versammelnde Institution, die dem Menschen als Bewohner dieser Erde und gesellschaftlichem Lebewesen Schutz und Heimat bietet. An dieser essentiellen Verwurzelung im menschlichen Sein und grundsätzlichen kulturellen Funktion kommt auch die radikalste theoretische Infragestellung der Institution Architektur nicht vorbei, selbst wenn man zu deren metaphysischer Entrümpelung, wie Derrida, „den Sinn des Sinns“ der Architektonik „erzittern“ lassen und „die Architektur an ihre Grenzen“ stoßen will. Auch die „Auflösung [dissociation]“ des Architektonischen läßt sich, so Derridas Schlußfolgerung, als solche nur „im Raum einer Versammlung“ bewerkstelligen. (Am Nullpunkt der Verrücktheit, 1986)

2. Die Infragestellung des Architektonischen ist durch die modernistische Avantgarde des 20. Jahrhunderts als zwangsläufiger Bruch mit der Tradition inzwischen selbst als Tradition etabliert worden, legitimiert vor allem durch den totalen Zusammenbruch des Wertfeldes in zwei Weltkriegen. Seither ist künstlerischer Aufbruch mit dem Abbruch geschichtlicher Illusion gleichgesetzt. Auch die Architekturtheorie des Modernismus denkt in Kategorien einer Befreiungsideologie und Ästhetik des Widerstands. Aus der Beschwörung dieser Verbindlichkeit ist ein neuer Historismus entstanden, hat sich eine regelrechte Tradition der Avantgarde etabliert. Auch die jüngste Neo-Avantgarde folgt beharrlich dem Repertoire des Widerstands und sieht deshalb in der Architektur tendenziell ein Hindernis, einen Störfaktor, der mit den jeweils im Fluß befindlichen sozialen, technologischen und wissenschaftlichen „Ereignissen“ des „modernen Lebens“ kollidiert. „To resist architecture“ (Rem Koolhaas) lautet daher die progressive Widerstandsformel für Theorie und Ästhetik, die dem Regressionsmythos der „Permanenz“ die Flucht ins „Ereignis“ als Erlösung entgegenstellt. Der im Zuge der Ästhetik des Widerstands wegtheoretisierten Sinn- und Gefühlswelt des Architektonischen steht als Kehrseite der Medaille der von der modernen Bauindustrie praktizierte Widerstand gegen Ästhetik gegenüber, mit dem Ergebnis, daß das industrielle Massenprodukt mit architektonischen Ansprüchen kaum noch in Beziehung zu bringen ist.

3. Die Architektur der Gegenwart ist gekennzeichnet durch den Überfluß vermeintlich innovativer Impulse und deren universeller Vermarktung im Namen bester Absichten, bei gleichzeitigem realen Substanzverlust an baulicher, architektonischer und vor allem städtebaulicher Qualität. Der Ruf nach „Baukultur“ ist bezeichnend für die Situation. An ihr ist die Theorie der Architektur nicht unschuldig, insofern sie der Penetranz der Theorieverfechter und dem unerträglichen Jargon einer pastoralen Pseudo-Ästhetik nicht energisch genug entgegengetreten ist. Auch in der Theorie spiegelt sich die Komplexbeladenheit des architektonisches Bewußtseins einer Moderne, die sich auf die saisonale Normativität unterschiedlichster Ideologien, Theorien und wissenschaftliche Disziplinen beruft, selbst aber nur noch bedingt zur gedanklichen und formalen Bewältigung der eigenen Wirklichkeits- und Erfahrungsinhalte im Stand ist. Die Neigung, im Namen der Interdisziplinarität einen Bogen um die eigene Disziplinarität zu schlagen, hat der Kunstpsychologe Rudolf Arnheim den Theoretikern und Praktikern der modernen Architektur attestiert, die es offenbar vorzögen, hierdurch der „Auseinandersetzung mit der Architektur selbst völlig aus dem Wege zu gehen.“

4. Wer Architekturstudenten bei der Erklärung ihrer Entwurfsprojekte erlebt, den mutet diese intellektuelle Diagnose von 1980 heutzutage hoch aktuell an. Indiz dafür ist die durchgängig anzutreffende allgemeine Sprach- und Begriffslosigkeit, aus der das Unvermögen spricht, die architektonische Form als konstitutiven Träger von Bedeutung zu begreifen.

Auch von der zeitgenössischen Architekturtheorie wird die Tendenz der Reduktion des architektonischen Denkens auf andere intellektuelle Arenen und Modi des Denkens gepflegt (Michael Hays: Architecture Theory since 1968); dieser Blickwinkel löst die Architektur letztlich in fast nichts auf und unterschlägt die Möglichkeit der gegenseitigen Funktionalisierung der Fächer, nämlich die Möglichkeit, daß auch eine Theorie der Architektur für Nachbarwissenschaften, selbst für die Philosophie, eine kritische Rolle spielen kann und folglich ein Mitwirkungsrecht am Diskurs hat. Interdisziplinarität ist keine Einbahnstraße, und Architekturtheorie ist nicht nur eine Funktion angewandter Wissenschaft, sondern ebenso die Reflexion über eine eigenwertige kulturelle Institution, die durchaus auch anderen Wissensbereichen Impulse zu geben vermag. Gottfried Semper, dessen Schriften den frühen Nietzsche maßgeblich beeinflußt haben, ist hierfür ein großartiges Beispiel.

Zu den vordringlichen gestalterischen Aufgaben der Architekturtheorie heute gehört es, ein neues Bewußtsein von der Kontinuität des Nachdenkens über die eigene Disziplin herzustellen und dieses zur Fortsetzung offene Erbe neu zu erschließen. Es wäre also die Autonomie der Disziplin gegenüber den Nachbarwissenschaften anzuerkennen und die Architekturtheorie ohne „grenzpolizeiliche Befangenheit“ (Aby Warburg) mit anderen Disziplinen auf einem entfalteten Niveau methodisch zu verknüpfen. Dazu gehörte es, die Architektur als eine bergende Institution zu betrachten, die nicht nur dynamisch gedacht und erweitert, sondern die zugleich auch bedacht und als kulturelle Ressource gepflegt werden sollte.

 


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März 2005