Rundgespräch zur Architekturtheorie

9. Jg., Heft 2
März 2005
   

 

___Ákos Moravánszky
Zürich
  TheorieBau

 

   

Architekturtheoretiker – wie alle Vertreter einer jungen Disziplin –  wollen zunächst das eigene Gebiet sichern, soviel ist klar aus ihren Äußerungen. Doch wo liegt dieses Gebiet? Offenbar soll es Probleme geben, deren Lösung von der Architekturtheorie erwartet wird, wenn öffentliche Gelder zur Aufstellung neuer Lehrstühle verwendet werden. Möglicherweise würde Mathematik als nutzlose Gehirngymnastik längst nicht mehr unterrichtet, wenn sie zur Entwicklung der Naturwissenschaften und Technik nicht wesentlich beitragen könnte.

Die Probleme, mit denen Architekten kämpfen müssen, sind vielschichtig und reichen vom städtischen Maßstab bis zu jenem eines Türgriffs; die Lehrfächer, die bei der Lösung zu Hilfe herangezogen werden können, existieren längst. Welche spezifischen Probleme will also die Architekturtheorie lösen? Die Antwort auf diese Frage soll zeigen, ob Architekturtheorie als Lehrfach eine Existenzberechtigung hat.

Architekturtheorie als die Gesamtheit der Traktate und Manifeste von Architekten existiert seit Vitruv. Die Entstehung der Architekturtheorie als eigene Disziplin aus der Allianz der Architekturgeschichte und der politisch engagierten Architekturkritik hängt jedoch mit der Situation nach 1968 eng zusammen. Die von Manfredo Tafuri aufgestellte These von der Unmöglichkeit einer kritischen Architektur hat zur Institutionalisierung der kritischen Theorie der Architektur wesentlich beigetragen. In diesem Zusammenhang spielte die Zeitschrift Oppositions, die das von Peter Eisenman geleitete IAUS ab 1973 herausgegeben hat, eine wichtige Rolle. Spätestens mit der Dekonstruktivismus-Ausstellung im MoMA (1988) wurden jedoch Zeichen der Ermüdung des kritischen Geistes zugunsten einer historisierenden „Begleitung“ neuer Architekturvorschläge sichtbar. Heute treten selbst aus der ANY-Familie stammende Kinder gegen criticality auf und fordern für die Theorie projectivity, das chitekturtheorie wieder stärker auf ihre Wurzeln in der Architekturgeschichte besinnt und auf ihre Ambitionen, branding-Dienste für die Praxis zu leisten, verzichtet.

In einer Architekturschule, wo es naturgemäß zumindest so viele Entwurfsphilosophien wie Entwurfslehrstühle gibt, ist die Situation noch schwieriger. Entwurfsphilosophien haben aber den Sinn, die eigene Position als die richtige darzustellen; die Förderung des kritischen Denkens steht also nicht unbedingt im Vordergrund. Solange damit nur eine entwerferische Praxis untermauert wird, führt man den Titel Architekturtheorie unverdient. Mit einer offensiven Strategie, die Praxis zu subsumieren, ist der Theorie nicht gedient; damit würde sie einen Anspruch anmelden, der sie letzten Endes isolieren könnte. Zwar ist die Phantasie einer „theoriegesteuerten“ Entwurfspraxis langlebig, die Geschichte der Architektur zeigt jedoch die Grenzen dieser Vorstellung – wie auch die Produktivität theoretischer Irrtümer für die Architektur. Natürlich darf dies nicht den Rückzug der Theorie in Wirkungslosigkeit bedeuten, von ihr müssen Veränderungen für die Praxis ausgehen. Ihre eigene Praxis ist aber keine entwerferische, sie greift auf einer begrifflichen Ebene ein. Das Unterrichtsfach Architekturtheorie zeichnet sich durch das (In-)Fragestellen und Problem-Formulieren aus. Es will die Studenten zur eigenen Reflexion bringen, statt sie davon abzuhalten. Deshalb kann dieses Fach nur Instrumente, keine fertigen Lösungen anbieten.

Der Lehrbereich Architekturtheorie der ETH Zürich, der zum Institut gta gehört, baut sein Lehrangebot entsprechend auf. Das wichtigste Werkzeug in unserer Toolbox ist die Untersuchung jener Begriffe, die so nahe zum Zentrum des Denkens über Architektur stehen, dass man nie nach ihrer Bedeutung fragt. Um das Wesen eines architektonischen Problems zu erfassen, muss man sich mit der Vorgeschichte problematischer Begriffe auseinandersetzen. Wir können gleich mit dem Begriff Architektur beginnen, um weiterzufragen: Was ist Raum? Was ist Funktion? Was ist Tektonik? Es ist wohl zunächst erstaunlich, dass es selbst in Framptons einschlägigem Band keine Antwort auf diese dritte Frage gibt, aber die maßgebenden konstitutiven Umgebungen des Tektonikbegriffs zeigen sich. Was ist Tektonik? Dies ist offensichtlich eine Frage anderer Art, als jene nach dem Kräftefluss in einem Dreigelenkrahmen. Von dieser archäologischen Arbeit kann man nur erwarten, dass das Problem der Tektonik verstanden, nicht aber, dass es „gelöst“ wird.

Architekturtheorie an der ETH soll den Studenten helfen, ihre architekturspezifischen Probleme, die oft aus der Unklarheit und Verworrenheit der Begriffe entstehen, mit anderen, außerarchitektonischen Fragen zu verbinden. Die Beschäftigung mit Konstrukten wie zum Beispiel Raum oder Identität verlangt das Durchdenken von Fragen der Politik oder der Ethik der Genforschung. Dieses Herumbasteln bringt keinesfalls voraussehbare Resultate; die bemerkenswerten Leistungen sind diejenigen, die Kant und Duchamp, Freud und Heidegger, oder (wie im Falle einer Wahlfacharbeit) Leon Krier und Rem Koolhaas mit einem Blick erfassen.

Viele kommen zu den (zurzeit obligatorischen, aber nicht prüfungspflichtigen) Architekturtheorie-Vorlesungen und zu den Seminaren und schreiben Wahlfacharbeiten, weil sie erkennen wollen, wie man verschiedene Themen in einen Zusammenhang bringen kann. Sie wollen Auskunft darüber, wie es gelingen kann, Naturwissenschaft, Informatik, Globalisierungskritik oder die „paranoisch-kritische Methode“ zusammen zu diskutieren. Die Diskussion wäre unmöglich ohne die Begeisterung von neuen Ideen, von Persönlichkeiten, von Berührungen mit der Praxis des Bauens – und diese braucht man, egal ob man mit dem Diplom dann als Entwerfer, Informatiker, Beamter, Auftraggeber oder Bühnengestalter arbeiten wird oder Aufträge vergibt. Eine andere Aufgabe der Architekturtheorie ist die Diskussion über die Schule selbst: ihre Leitbilder, ihre Wertvorstellungen, ihr Selbstverständnis. Zu diesem Zweck hat unser Lehrbereich Architekturtheorie eine Veranstaltungsreihe UmBildung initiiert.

Diese Beschreibung der Aufgaben des Architekturtheorieunterrichtes mag als Rückzug auf die Sprache gewertet werden. Obwohl es ja in der Tat um sprachliche Prozesse geht, trifft das Wort Rückzug überhaupt nicht. Architekturtheorie ist zuständig für eine bestimmte Art, sich der Architektur anzunehmen: Sie beeinflusst das begrifflich organisierte Verständnis, das von entscheidender Bedeutung dafür ist, wie wir die gebaute (und nicht nur diese) Welt sehen und mit ihr umgehen. Gerade wenn man verlangt, dass Theorie sich nicht direkt in Praxis umsetzt, nimmt sie Einfluss darauf, wie sich die Architektur entwickelt.


 


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März 2005