Rundgespräch zur Architekturtheorie

9. Jg., Heft 2
März 2005
   

 

___Jochen Meyer
Berlin
  Perspektiven der Architekturtheorie
Überlegungen zu einer lebensverbundenen Theorie der Architektur

 

   

1. Ausgangspunkt: Erfahrungen mit den Architekturtheorien des 20. Jahrhunderts

[1] Um die Disziplin der Architekturtheorie steht es – ähnlich wie um die Architektur – derzeit nicht gut. Das 20. Jahrhundert, insbesondere die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg hat in Deutschland eine Reihe von Entwicklungstendenzen hervorgebracht, die ich als Symptome eines grundsätzlichen Bedeutungsverlustes der Architektur und auch der Architekturtheorie werte.
[2] Eine symptomatische Tendenz ist das Verschwinden ernst zu nehmender theoretischer Auseinandersetzungen. Es gibt derzeit keine öffentlichen architekturtheoretischen Debatten, die über die Grenzen der Fachwelt hinaus von Belang wären. Es gibt noch nicht einmal eine architekturtheoretische Fachzeitschrift, welche die Anliegen dieser Disziplin vertreten würde (die Online-Zeitschrift
Wolkenkuckucksheim" einmal ausgenommen). Weitaus schlimmer aber ist, dass Architekturgeschehen und Umweltgestaltung gesamtgesellschaftlich kaum noch als zukunftsrelevante Aufgaben wahrgenommen werden.
[3] Verstärkt hat sich dagegen die Tendenz zum schnellen Wechsel kurzlebiger Architekturmoden mit ebenso kurzlebigen Begleitdiskursen. Zu diesem Strohfeuer-Phänomen gehört die modische Ausrichtung der so genannten „
Avantgarden" auf die jeweils aktuellen Trends und architekturfremde Leitbilder, worüber dann auch heftigst theoretisiert wird.
[4] Architekturtheorie wird kaum noch als ein auf intellektuelle Nachhaltigkeit angelegtes Projekt betrieben. Sie ist nicht mehr als Arbeit am Grundsätzlichen angelegt, zielt nicht auf eine stabilisierende Langzeitwirkung, sondern auf mehr oder weniger kurzfristige Interventionen mit schneller Verfallszeit. Begünstigt wird dies auch durch die modernen Medien und ihre gefräßigen Publikationsorgane, die den Starkult von Architekten, Designern, etc. zelebrieren.
[5] Eine weitere Tendenz betrifft den Realitätsverlust der Architekturtheorie: Damit meine ich das eklatante Fehlen einer wirklichen Beziehung der vorhandenen, intellektuell anspruchsvollen theoretischen Ansätze zum realen Architekturgeschehen. Einer verschwindend kleinen Zahl ernst zu nehmender Einzelbeiträge zur Förderung der architektonischen Kultur steht eine erdrückende Masse durchschnittlicher bis banalster Alltagsarchitektur gegenüber, welche die Zerstörung von Stadt und Umwelt allen theoretischen Anstrengungen zum Trotz unaufhörlich fortschreibt. Theoretischer Diskurs und reales Baugeschehen haben so gut wie nichts miteinander zu tun. Die von der Politik lancierte Initiative Baukultur ist das offizielle Eingeständnis, dass das Baugeschehen in Deutschland gesamtheitlich keine Kultur mehr hat und zugleich der hilflose und zum Scheitern verurteilte Versuch, der dem globalisierten Wirtschaftlichkeitsdenken unterworfenen Architektur das hehre Mäntelchen der Kultur doch noch einmal umzuhängen.
[6] Schließlich ist ein Verlust an Öffentlichkeitsrelevanz in der Architekturtheorie festzustellen: die gegenwärtigen theoretischen Diskurse gehen an der Lebensrealität der meisten Architekturbenutzer vorbei, sie sind oft nicht mehr als narzistische (Selbst-)Bespiegelung egozentrischer Architekten und deren publizistischer Gewährsleute. Die sich dramatisch verändernden Lebens- und Arbeitsbedingungen der Menschen in der heutigen Gesellschaft ignorieren sie weitgehend.



2. Aufgaben und Inhalte der Architekturtheorie

2. 1  Die Theoriebedürftigkeit der Architektur


[1] Eine Architekturpraxis ohne theoretisches Fundament ist ein Unding. Die Architektur bedarf stets und immer wieder der theoretischen Fundierung, ansonsten wäre sie unreflektiertes Tun und würde über den Zustand bloßen Machens nicht hinauskommen.
[2] Die Architektur bedarf der intellektuellen Rückbindung an Philosophie und benachbarte Geistes- und Humanwissenschaften sowie nicht zuletzt an ihre eigene jahrhundertelange Entwicklungsgeschichte. Auch die Geschichte der Architekturtheorie muss lebendig gehalten und durch neue Forschungsimpulse neu vergegenwärtigt werden.
[3] Architektur ist demnach theoriebedürftig und ohne Theorie nicht lebensfähig. Ohne Theorie kann sich die Architektur nur quantitativ weiterentwickeln. Eine Architekturentwicklung ohne qualitatives Wachstum aber bedeutet Niedergang und langfristig Tod durch Selbstzerstörung. Wenn sich niemand mehr über die Architektur Gedanken macht, wird vielleicht noch gebaut werden, aber die Architektur wird verschwinden. Für das Leben der Architektur bedarf es einer lebendigen Architekturtheorie, die ständig weiterentwickelt werden muss.
[4] Architekturtheorie muss grundsätzlich dem Prinzip Hoffnung verpflichtet sein und braucht eine positive, das heißt lebensbejahende und lebensbestärkende Grundausrichtung. Ohne eine solche kann sie keine neuen Entwicklungsperspektiven erschließen. Und ohne eine positive Grundhaltung kann Architektur nicht zukunftsfähig sein. Die Verantwortung der Architekturtheorie für die Zukunftsfähigkeit der Architektur muss vor diesem Horizont neu reflektiert werden.


2. 2  Zu meinem Verständnis von Architekturtheorie

[1] Architekturtheorie ist im Idealfall die Fundierung der architektonischen Praxis mit einem lebensfreundlichen Menschenbild. Sie ist zum einen Weltanschauungsarbeit auf wissenschaftlichem Niveau, zum anderen intellektueller Partner und als solcher so etwas wie ein fördernder Mentor oder konkreter Berater praktizierender Architekten.

  • Ausgangspunkt ist die Erkenntnis der Architekturbedürftigkeit des Menschen, das heißt unser aller Angewiesensein auf gute Architektur.

  • Ziel ist die Verankerung des Prinzips der Menschenzuträglichkeit: Architektur muss nicht nur umweltverträglich sein, wie im Zuge der Nachhaltigkeitsdebatten immer wieder verlangt wird, sie müsste vor allem erst mal menschenverträglich oder vielmehr menschenzuträglich werden. Es gilt daher, das Prinzip der Menschenzuträglichkeit der Architektur als ungelöstes Problem zu begreifen, es neu zu definieren, theoretische Standards dafür zu etablieren und diese in die Praxis umzusetzen.

  • Aufgabe ist die wissenschaftliche Erforschung der elementaren Zusammenhänge zwischen Mensch und Architektur und die Stärkung der architektonischen Beziehungskompetenz in Architektenschaft und Öffentlichkeit.

[2] Architekturtheorie ist des Weiteren eine kritische Instanz zur intellektuellen Überwachung der zeitgenössischen Architekturproduktion, nicht bloß deren affirmative Selbstlegitimation. Zugleich ist sie mehr als Architekturkritik, da sie nicht bei temporären Momentaufnahmen stehen bleibt, sondern aufs Grundsätzliche zielt und übergreifende Zusammenhänge herstellt.
[3] Architekturtheorie muss der Aufklärung der breiten Öffentlichkeit verpflichtet sein. Sie muss

  • Aufklärung über die negativen Folgen ästhetischer Umweltzerstörung leisten,

  • alternative Entwicklungen aufzeigen und ermöglichen,

  • die Etablierung eines Grundrechts auf eine menschenwürdig gestaltete Umwelt einklagen,

  • die Kriterien ästhetischer Nachhaltigkeit begründen und an der Verwirklichung des Prinzips der Menschenzuträglichkeit der Architektur arbeiten.

[4] Architekturtheorie ist Grundsatzarbeit im interdisziplinären Austausch. Das heute verfügbare Wissen muss in die theoretischen Diskurse integriert und in die Architekturproduktion umgesetzt werden. Eine zukunftsfähige Architekturtheorie muss neue Ansätze fächerübergreifenden und ganzheitlichen Denkens entwickeln und Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft auf eine versöhnliche Weise miteinander verbinden.



3. Entwicklungsperspektiven der Architekturtheorie: Fragestellungen, Themen, Inhalte

3. 1  Die Architekturbedürftigkeit des Menschen


[1] Die Erforschung des Menschen und seiner grundsätzlichen Bedürftigkeit nach guter Behausung ist ein zentrales, aber kaum bearbeitetes Gebiet der Architekturtheorie. Die Architekturbedürftigkeit des Menschen besteht unter anderem in unserem Angewiesensein auf eine uns entsprechende architektonische Mitwelt; eine würdevolle Umgebung, die uns Sicherheit gewährt und zugleich Erholung, Wachstum und Entfaltung ermöglicht; auf ästhetische Korrespondenz, das heißt auf die Vermittlung eines positiven Grundgefühls beziehungsweise auf die Bestärkung unseres Lebensgefühls durch Halt, Getragenwerden, Aufgehobensein, das Gefühl der Stimmigkeit, das Gefühl, am richtigen Ort zu sein, und anderes mehr.
[2] Unabdingbar ist hierbei die Verknüpfung der Architekturtheorie mit anderen Disziplinen, insbesondere mit Anthropologie, Verhaltensforschung, Wahrnehmungs- und Kognitionspsychologie sowie Neurobiologie und Neuropsychologie. Aufgrund der Forschungsleistungen dieser Disziplinen wissen wir heute, dass der Mensch der Schönheit in seiner alltäglichen Umgebung bedarf, um sich wohl fühlen und gedeihlich entwickeln zu können; dass wir in einer als ästhetisch empfundenen Umgebung ein besseres Lebensgefühl haben; dass ästhetische Reize schon beim Säugling erhöhte Gehirnaktivitäten und zelluläre Wachstumsprozesse auslösen und sich kreativitäts- und intelligenzfördernd auswirken. Wir wissen heute, dass das „Lebensmittel Schönheit“ (Hermann Glauber) für die menschliche Entwicklung tatsächlich unverzichtbar ist. Erkenntnisse wie diese müssen endlich auf die Architektur übertragen werden.
[3] Die biologische Verhaltensforschung hat unlängst erkannt, dass ein „entspanntes Feld“, in dem eine Atmosphäre von Sicherheit und Anregung herrscht, die Voraussetzung für die Ausbildung eines natürlichen Neugierverhaltens und damit für eine gesunde, das heißt weitgehend angstfreie Entwicklung ist. Diese wiederum ist notwendig für die kreative Ausbildung innovativer Strategien zur Sicherung der Überlebensfähigkeit. Für die Architekturtheorie stellt sich die Aufgabe, die Konsequenzen solcher Einsichten für die Architektur zu erforschen und daraus entsprechende Richtlinien für die Praxis abzuleiten.


3. 2  Das Prinzip der Menschenzuträglichkeit in der Architektur

[1] Architektur soll dem Menschen zuträglich sein. Das ist eigentlich eine Selbstverständlichkeit und war jahrhundertelang unausgesprochenes Grundaxiom architekturtheoretischer Abhandlungen. Ungeachtet dessen finden wir heute eine Vielzahl von Bauten vor, die aufgrund ihrer formalen Aufdringlichkeit, ihrer verletzenden Grobheit oder ihrer ästhetischen Belanglosigkeit nur als menschenverachtend bezeichnet werden können. Solche Bauten sind nicht etwa wirkungsneutral, sondern destruktiv und erniedrigend. Sie zwingen einen, die Augen zu verschließen und sind für jeden auch nur halbwegs empfindsamen Menschen eine Beleidigung. Sie sind Teil einer immer weiter um sich greifenden ästhetischen Umweltzerstörung, die im Bereich städtischer Peripherien beziehungsweise urban sprawls, wie solche Agglomerationen heute beschönigend genannt werden, bereits großflächige Ausmaße angenommen hat.
[2] Das Prinzip der Menschenzuträglichkeit in der Architektur scheint bislang weder in ausreichendem Maße erkannt noch verwirklicht zu sein. Eine zukunftsorientierte Architekturtheorie muss diesem Notstand ein Ende bereiten und die hierbei relevanten Zusammenhänge von Mensch und Architektur neu erforschen. Dazu gehört die Bestimmung anthropologischer Konstanten in Architekturwahrnehmung und Architekturästhetik; die Bestimmung der menschlichen Grundbedürfnisse gegenüber der Architektur sowie die Verknüpfung von Umwelt- und Menschenverträglichkeit.
[3] Die Architekturtheorie muss Kriterien entwickeln und Hinweise geben, wie das Prinzip der Menschenzuträglichkeit in der Architektur verankert werden kann. Sie muss begründen, dass, warum und wie Architektur menschenzuträglich sein soll (und nicht nur menschenverträglich). Sie muss für die Verbreitung und Durchsetzung dieses Wissens in einer Öffentlichkeit sorgen, die für derartige Fragestellungen weitgehend desensibilisiert ist. Da hier ein jahrhundertelang in der europäischen Kulturtradition gespeichertes intuitives Wissen wiedergewonnen werden muss, ist diese Aufgabe eine besondere Herausforderung für Architekturgeschichte und Architekturtheorie.


3. 3  Stärkung der architektonischen Beziehungskompetenz

[1] Die heutige Gegenwartsarchitektur ist zu einem großen Teil ein Symptom der kollektiven Psychopathologie unserer Zivilisation. In der weitgehend seelenlosen Gegenwartsarchitektur drückt sich unser Unvermögen nach tiefer gehenden Beziehungen aus, seien es die Beziehung zu uns selbst, intakte soziale Beziehungen oder die Beziehungen zu Natur und Mitwelt.
[2] Getreu dem Grundsatz, dass therapiert werden kann, was nicht unheilbar krank ist, besteht die Aufgabe für eine nach vorn gerichtete Architekturtheorie darin, die allgegenwärtige architektonische Beziehungslosigkeit eingehender zu diagnostizieren und durch entsprechende Gegenmaßnahmen zu therapieren.
[3] Die Architekturtheorie kann hier ganz konkret zur Förderung der architektonischen Beziehungskompetenz beitragen – z. B. durch neue Lehrinhalte sowie neu zu entwickelnde Unterrichtsformen an den Hochschulen: ihre Aufgabe ist es, Haltungen und Einstellungen im gemeinsamen Miteinander von Lehrenden und Studierenden zu erarbeiten und nicht nur Wissen zu vermitteln. In das weite Feld der architektonischen Beziehungskompetenz gehört unter anderem das Verhältnis zu sich selbst, zum eigenen Körper und zur eigenen Sinnlichkeit; also zum Leben und Lebendigsein im weitesten Sinn; damit auch zum Schöpferischen, Kreativen und Gestalterischen; zum Menschen als solchen wie zum konkreten Architekturbenutzer oder zum Bauherrn und Investor; zu Geschichte und Kultur ebenso wie zu Umwelt, Mitwelt und Natur; zu Landschaft und Topographie sowie nicht zuletzt zur Architektur selbst, das heißt zum Bauwerk als Artefakt und schließlich zu Technik, Technologie und Material als elementaren Grundbedingungen allen Bauens. Architektonische Beziehungskompetenz bedeutet immer, ein lebensfreundliches, Menschen-zugewandtes und positives Verhältnis zu den Dingen zu entwickeln und sich nicht von vermeintlichen Sachzwängen und anderen Vorgaben – zu denen auch lebensfeindliche Denkhaltungen gehören – einschränken zu lassen. Den Architekturhochschulen, die unter massiven Sparzwängen der öffentlichen Haushalte und dem von Seiten der Bauwirtschaft ausgeübten Ökonomisierungsdruck immer kürzere Studiengänge etablieren und ein immer einseitiger werdendes, überwiegend ingenieurwissenschaftliches Architekturverständnis vermitteln, muss die Architekturtheorie zur Seite springen und den aktuellen Tendenzen zum weiteren Vormarsch des Technokratentums Einhalt gebieten.


3. 4  Ästhetische Nachhaltigkeit in der Architektur

[1] Das Leitbild der „nachhaltigen Entwicklung“ hat in den letzten Jahren in Architektur und Städtebau massiv an Bedeutung gewonnen. Es ist zwar inzwischen weitgehend in aller Munde, oft aber nicht mehr als ein Lippenbekenntnis. Dabei ist der Nachhaltigkeitsbegriff durchaus nicht unproblematisch: Nachhaltigkeit ist kein lebendiger Begriff der Gegenwartssprache; die Idee der Nachhaltigkeit ist der breiten Öffentlichkeit bislang nicht vermittelbar. Nachhaltigkeit ist jedoch auch inhaltlich problematisch, solange damit gleichzeitig Vorsorge und wachsender Wohlstand für alle versprochen wird, denn selbst ein stagnierender Wohlstand auf heutigem Niveau würde weiteren Raubbau an den natürlichen Ressourcen bedeuten und wird auf Dauer nicht zu halten sein.
[2] In der Architekturdiskussion wird Nachhaltigkeit zudem vorwiegend unter ökologischen und ökonomischen Parametern betrachtet; eine Verknüpfung mit den ästhetisch-gestalterischen und historisch-kulturellen Dimensionen der Architektur ist bislang nicht erfolgt.
[3] Architektur muss aber – wie schon gesagt – nicht nur umweltgerecht sein, sie muss dem Prinzip der Menschenzuträglichkeit gehorchen. Ob Architektur dem Menschen zuträglich ist, entscheiden indes nicht allein technisch kontrollierbare Faktoren, sondern vor allem gestalterische Qualitäten.
[4] Ein Nachhaltigkeitsbegriff, aus dem das Ästhetische ausgeklammert bleibt, kann gar nicht nachhaltig sein, weil der Mensch als ästhetisches Wesen ignoriert wird. Und eine Architektur, die unästhetisch oder gar anti­ästhetisch ist, kann ebenfalls nicht nachhaltig sein, weil sie zur Zerstörung der Umwelt beiträgt und von negativem Einfluss auf den Menschen ist.
[5] Für die Architekturtheorie ergeben sich hier vielfältige neue Forschungsaufgaben. Zum Beispiel die Analyse von Formen ästhetischer Nachhaltigkeit und die Untersuchung historischer Architektur als gebauter Ressource. Auf dieser Grundlage können allgemein gültige und übertragbare Kriterien ästhetischer Nachhaltigkeit bestimmt werden.
[6] Ziel ist die Definition eines umfassenden Nachhaltigkeitsbegriffs unter Einbeziehung der ästhetischen Dimensionen der Architektur. Dazu gehört das Zusammendenken des Ästhetischen, Historischen und Kulturellen mit der Nachhaltigkeitsidee, die Kritik des bislang geläufigen Nachhaltigkeitsbegriffs, seine qualitative Erweiterung und – notfalls – seine Überwindung.
[7] Zu untersuchen ist ferner, wie der Gedanke der Nachhaltigkeit, wonach Architektur das langfristige Weiterleben der menschlichen Gattung sichern soll, auf die aktuelle Überlebensproblematik einer globalisierten Zivilisation übertragen und auf gestalterischer Ebene in die Architektur integriert werden kann. Es stellt sich die Frage, was eine ästhetisch nachhaltige Architektur jenseits der Ansprüche von Ökologie und Umweltverträglichkeit leisten muss, und was ästhetische Nachhaltigkeit mit einem lebendigen Verhältnis der Architektur zur Geschichte zu tun hat, die ebenfalls Teil unserer Umwelt ist. Architekturtheorie hat sich der Frage zu widmen, wie sich die Architektur konstruktiv zur Geschichte verhalten kann, sich in das Kontinuum des Vorhandenen einfügt und dieses Kontinuum fortbaut, und wie sie gegebenenfalls ein neues Kontinuum erzeugen kann, ohne Vergangenheit und Umwelt zu verleugnen oder gar zu zerstören.


3. 5  Die Beziehung von Architektur und menschlicher Gefühlswelt – Architekturwahrnehmung und Architekturerkenntnis

[1]
Ein Bewusstsein für die tieferen seelischen Dimensionen im menschlichen Erleben von Architektur zu entwickeln, ist eine der vornehmsten Aufgaben der Architekturtheorie. Wir haben heute einen höchst oberflächlichen Begriff vom Wirken der Architektur; eine Auffassung, die nicht auf Kontinuität und Nachhaltigkeit hin angelegt ist, sondern auf Effekthascherei und spektakuläre Eindrücke, und die in der so genannten Event- und Medienarchitektur begeistert vermarktet wird.
[2] Architektur wird jedoch sinnlich-ganzkörperlich wahrgenommen und verarbeitet. Die zentrale Frage, wie Architektur erlebt wird, richtet sich gleichermaßen an gegenwärtige wie historische Bauten. Sie konfrontieren uns mit der Frage, wie eine sinnlich ansprechende Architektur entworfen werden konnte beziehungsweise kann. Dies verlangt eine philosophisch begründete, phänomenologische Architekturtheorie, die eine erlebensorientierte Zugangs- und Verstehensweise ermöglicht.
[3] Die rasanten Fortschritte im Bereich von Neurobiologie und Bewusstseinsforschung verändern unser Verständnis der Zusammenhänge von Fühlen und Denken dramatisch. In den gegenwärtigen Architekturdebatten spielt dies bislang keine große Rolle. Die Frage, wie Architektur tatsächlich erlebt und was in ihr eigentlich erkannt wird, nimmt darin keinen allzu großen Raum ein. Wie Architektur positiv auf den Menschen wirken und was sie diesbezüglich leisten soll, muss heute auf veränderter wissenschaftlicher Grundlage erforscht und neu diskutiert werden.
[4] Die Architekturtheorie muss in diesem Zusammenhang folgende Forschungsfelder bearbeiten: sie muss die anthropologischen Konstanten im menschlichen Leben und die sich daraus ergebenden Bedingungen für die Architektur untersuchen; sie muss die anthropologisch und kulturell bedingten Erwartungen des Menschen an die Architektur ermitteln. Es geht um die Begründung einer Architekturtheorie, die von den Grundtatsachen des menschlichen Lebens ausgeht und Raum für persönliche Erfahrungs- und Erlebenshorizonte lässt.
[5] Ziel ist die Entwicklung eines „energetischen“ Verständnisses der Dynamik architektonischer Phänomene, das dem ebenfalls energetisch-dynamischen Erleben von Architektureindrücken im menschlichen Körper-Geist-Seele-System entspricht. Dazu gehört die Neubewertung der ästhetisch-gestalterischen Dimensionen der Architektur auf der Grundlage des gegenwärtig neu entstehenden Wissens von der biologischen Verankerung der Ästhetik als Optimierungs- und Überlebensstrategie im Umgang mit der Natur und schließlich die Entwicklung eines besseren Verständnisses der atmosphärischen Dimensionen der Architektur, ihres Zustandekommens und ihrer Bedeutung für den Menschen und sein Lebensgefühl.


3. 6  Das Verhältnis von Architektur und Natur

[1] Die klassische Frage nach den Beziehungen der Architektur zur Natur spielt in heutigen Architekturtheorien keine Rolle mehr. Dabei ist doch jedes Bauwerk zunächst ein Stück Naturzerstörung (durch quantitativen Verbrauch von Flächen und Ressourcen) oder / und Naturumgestaltung (durch qualitative Verwandlung, egal ob positiv oder negativ).
[2] Das Verhältnis zur Natur sollte jedoch in mehr bestehen als in der Erfüllung einiger gesetzlich vorgegebener Umweltverträglichkeitsrichtlinien oder in ein paar nett bepflanzten Grünflächen. Ohne ein bewusstes Naturverhältnis, das sich auch auf der Gestaltungsebene mitteilt und für den Architekturbenutzer ästhetisch erlebbar ist, schwebt die Architektur gleichsam im luftleeren Raum und entbehrt ihrer wesentlichsten Grundlage.
[3] Die Frage, ob Architektur in der Natur, mit ihr oder gegen sie gebaut wird, ist für die Zukunft unserer Gesellschaft überlebenswichtig und muss daher neu erörtert werden. Besonders problematisch und bezeichnend für den Zustand des Fachs erscheint die Tatsache, dass den heutigen Architekturtheorien kein aktueller Begriff von Leben zugrunde liegt; ja dass Leben oder Lebendigkeit heute überhaupt kein Problem der Architekturtheorie mehr zu sein scheinen.
[4] Philosophische Bezugspunkte bei der Auseinandersetzung mit diesen Fragen könnten unter anderen Georg Picht sein, mit dem wir die Natur als den Rahmen allen Lebens verstehen können, in dem ein Überleben in Zukunft nur noch dann möglich ist, wenn wir die Bedingungen dieses Rahmens begreifen und ihnen endlich gerecht werden; oder auch Heinrich Rombach und seine Philosophie der Konkreativität als eines schöpferischen Miteinanders von Mensch und Natur, wie es nicht zuletzt auch in der Geschichte der Architektur über viele Jahrhunderte hinweg kulturübergreifend existiert hat.
[5] Für die Architekturtheorie stellt sich in diesem Zusammenhang die Aufgabe der Verteidigung des Authentischen in Natur und Architektur, der Infragestellung des klassischen Dualismus von Natur und Kultur und der Formulierung neuer Ansätze zum Verständnis des Natur-Architektur-Verhältnisses. Erforderlich ist auch ein stärkeres Engagement der Architekturtheorie bei der Entwicklung nachhaltiger Lebensmodelle.
[6] Die Verantwortung der Architekturtheorie besteht ferner in der Begründung einer neuen, naturbezogenen Architekturanschauung, in welcher die Natur als nicht zu überwindender Bedingungsrahmen allen Lebens mitgedacht wird. Dazu gehört auch die naturphilosophische Fundierung einer neuen und zeitgemäßen Architekturtheorie und ihre Verknüpfung mit den heutigen naturphilosophischen Diskursen. Schließlich ist die Integration eines tragfähigen Begriffs von Leben in die Architekturtheorie unabdingbar.
[7] Architekturtheorie muss Antworten geben auf die Frage, wie eine naturverbundene Architektur aussehen könnte, die der Natur unter den gegenwärtigen Bedingungen unserer modernen Zivilisation auf umfassende Weise gerecht wird. Sie kann Beispiele dafür liefern oder Kriterien entwickeln, wie ein respektvoller Umgang der Architektur mit der Natur aussehen und wie Natur als Prinzip in die Architektur integriert und transzendiert werden kann. Schließlich muss sie sich der Frage zuwenden, wie eine Architektur aussehen könnte, die Natur nicht nur verbraucht, sondern etwas an sie zurückgibt.



4. Ausblick: Zukünftige Aufgaben der Architekturtheorie

4. 1  Interventionen gegen den Niedergang der Architektur


[1] Architektur – und folglich auch die Architekturtheorie – sind heute keine Leitwissenschaften mehr. Sie vermögen anderen gesellschaftlichen Debatten keine Impulse mehr zu geben. Die heutige Architektur ist vom Bewusstsein ihrer künstlerischen Marginalität und ästhetischen Epigonalität geprägt, welche bislang im Widerspruch zur stetig wachsenden quantitativen Bauproduktion stand. Doch im Zeichen schrumpfender Städte befindet sich die Architektur nun auch in einem quantitativen Niedergang ohnegleichen. Rückläufige Tendenzen im Bausektor, Bevölkerungsrückgang und wirtschaftliche Rezession sowie die absehbare Verarmung der unteren bis mittleren Bevölkerungsschichten bedeuten eine enorme Herausforderung für Architektur und Architekturtheorie.
[2] In einer solchen Situation nach vorne denken könnte heißen, sich nicht in diese Trends fügen, Visionen für die Architektur im postkapitalistischen Zeitalter entwerfen, die Frage nach dem zukünftigen Stellenwert der Architektur in der Gesellschaft neu stellen, die Krise als Chance begreifen und höhere qualitative Standards bei weitaus niedrigeren Investitionsvolumina entwickeln, mit anderen Worten: den Forderungen nach ästhetischer Nachhaltigkeit gerecht werden.
[3] Die Etablierung einer lebensverbundenen Architekturtheorie bedeutet letzten Endes die Abkehr von dem heute immer noch geltenden Paradigma einer dem Leitbild der Technik verpflichteten Architektur, wie es mit dem Funktionalismus des 20. Jahrhunderts aufgekommen ist. Ob es nun das Computer- und Medienzeitalter ist oder die (ebenfalls Computer-basierte) Erforschung des menschlichen Genoms, welche im einen Fall zur Virtualisierung, im anderen zu pseudoorganischen „Biologismen“ architektonischer Formen führen – stets bleibt die Architektur dabei an das Leitbild einer für kurze Zeit avantgardistisch geltenden Technologie gebunden. Die Etablierung einer lebensverbundenen Architekturtheorie setzt jedoch die Orientierung an gänzlich anderen Paradigmen – nämlich am Leben selbst (und das heißt an einem nichtmechanistischen Verständnis von Leben) – voraus und bedeutet den Sprung in eine Zukunft, in der der Mensch sich nicht mehr als technologischer und ökonomischer Alleinherrscher über die Welt begreift, sondern als verbundener Teil eines universalen Geschehens von unüberschaubaren Dimensionen.


4. 2  Persönliche Schlussbemerkung

[1] Bauen ist ursprünglich ein Akt der Zuwendung und hat etwas mit dem Verhältnis des Menschen zur Welt zu tun. Mit dem Verhältnis zum Menschen wie zur Architektur; zum Detail wie zum Leben im Ganzem. Wer heute einen solchen Gedanken ausspricht und ihn zum zentralen Programm seines architekturtheoretischen Ansatzes macht, läuft Gefahr, für unwissenschaftlich erklärt zu werden. Wenn aber die Wissenschaft die vielleicht wesentlichste Frage überhaupt aus ihrem Zuständigkeitsbereich ausklammert, welchen Wert soll sie dann für die Weiterentwicklung bestehenden und die Sicherung zukünftigen Lebens haben? Lebenszugewandtheit kann zwar nicht im wissenschaftlichen Sinn Inhalt von Architekturtheorie sein, aber sie kann sie durchdringen. Lebenszugewandtheit ist die zudem höchste Form von Beziehungskompetenz und als solche auch für die Architektur von Belang. Die Idee der ästhetischen Nachhaltigkeit, welche unter anderem auf dem Prinzip der Gemeinschaft von Vorsorge und Fürsorge beruht, ist ohne eine umfassende und überindividuelle Idee von Lebenszugewandtheit nicht denkbar und wird sich ohne einen Glauben daran auch nicht durchsetzen lassen. Die Frage, ob in einem Gebäude ein zugewandtes Verhältnis zur Welt auf überzeugende Weise Gestalt gewonnen hat, ist am Ende das einzige Qualitätskriterium, das über den Moment hinaus Bestand hat.
[2] Die Architektur unserer Zeit strahlt jedoch nur wenig Zugewandtheit aus. Nie zuvor in der Menschheitsgeschichte war Architektur so oberflächlich. Die heutige Gegenwartsarchitektur hat keine Tiefe; nur selten kann sie etwas Sinnliches, Spirituelles, Metaphysisches oder gar Transzendentales vermitteln. Sie ignoriert die Vergänglichkeit alles Seienden und verhält sich so, als gebe es nur das Heute und den hedonistischen Genuss im Hier und Jetzt. Sie terrorisiert uns durch ihre Augenblicksbezogenheit, anstatt uns durch Zeitlosigkeit zu beflügeln. Damit betrügt sie uns um das Wesentlichste, was Architektur dem Menschen geben kann: die Erfahrung von Glück. Allein diese bestürzende Diagnose macht deutlich, dass in den letzten Jahrzehnten etwas grundsätzlich falsch gelaufen sein muss in der Architekturentwicklung der so genannten zivilisierten Gesellschaften. Darüber aber wird nicht diskutiert. Lieber tut man so, als seien wir weiter auf dem richtigen Weg.
[3] Wir haben jedoch allen Grund, innezuhalten und uns zu fragen, worin diese Fehlentwicklungen bestehen, worin sie ihre Ursachen haben, und wie sie zu korrigieren sind. Ob der Mensch die Fähigkeit besitzt, das Überleben der eigenen Gattung in den nächsten ein- bis zweihundert Jahren zu sichern, wird heute aus ernst zu nehmenden Gründen bezweifelt (George Steiner). Betrachtet man die Architekturproduktion der letzten Jahrzehnte, so hat man das Gefühl, der Mensch habe sich bereits aufgegeben, da es ihm auf eine menschengerechte und menschenwürdige Gestaltung seines eigenen Lebensraums nicht mehr ankommt – die anhaltende ästhetische Vermüllung der Landschaften und Städte durch ordinäre Wegwerfarchitektur überwiegt bei weitem die Zahl gelungener und gestalterisch befriedigender Einzelbeispiele, die es glücklicherweise auch gibt.
[4] Bei der Erforschung der hier deutlich werdenden Phänomene tun sich neue und kaum absehbare Aufgaben für die Architekturtheorie auf. Ein wichtiger Schritt für eine kulturstiftende und zugleich zivilisationskritische Architekturtheorie könnte die ideelle Verbrüderung und Vernetzung mit Ökologiebewegung, Umweltschutz oder progressiven Tendenzen der Denkmalpflege sein mit dem Ziel einer breit angelegten Gesamtbewegung im Kampf gegen eine immer lebensferner und lebensfremder werdende technische Zivilisation.
[5] Meine Aufgabe als Architekturtheoretiker sehe ich daher auch darin, anderen zu helfen, um diesem Missstand ein Ende zu machen: zum Beispiel beim Sehen-Lernen, um unsere Umgebung mit größerer Aufmerksamkeit wahrnehmen zu können. Zum Beispiel beim Verstehen-Lernen, um bessere Entscheidungen in Gestaltungsfragen treffen zu können. Zum Beispiel beim Denken-Lernen, um präzisere Problemstellungen und damit auch bessere Lösungen entwickeln zu können. Zum Beispiel beim Fühlen-Lernen, um beim eigenen Beobachten sensibler zu werden. Und schließlich dabei, eine größere Bewusstheit für sich selbst und andere zu entwickeln, um sich selbst als Spürenden und immerzu Lernenden im Kontakt mit anderen neu zu entdecken. Diese Stärkung der architektonischen Beziehungskompetenz könnte zur Ausbildung eines größeren architektonischen Feingefühls führen und wäre ein erster Schritt hin zu einer menschenfreundlicheren und lebensverbundenen Architektur.

 


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