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Im Unterschied zu den
anderen Teilnehmern des Rundgesprächs bilde ich keine Architekten aus und
kann noch nicht einmal für mich in Anspruch nehmen, als
Universitätskunsthistoriker einen Schwerpunkt in der historischen oder
gegenwärtigen Architektur zu haben. Ich beobachte aber mit Aufmerksamkeit
fach- und methodengeschichtliche Entwicklungen und bin daran interessiert zu
erfahren, wie die Kollegen von den Kunsthochschulen und Technischen
Universitäten die Position der Disziplin Architekturtheorie gegenüber ihrem
eigenen Umfeld und vis-à-vis auch der Kunstgeschichte bestimmen.
Von außen betrachtet ist der Architekturtheorie eine Erfolgsstory zu
konzedieren. 1969 gestand Sir Nikolaus Pevsner, dass ihn die Betreuung der
Doktorarbeit von Reyner Banham überhaupt erst über die Breite und Relevanz
des architekturtheoretischen Schrifttums des 19. Jahrhunderts aufgeklärt
habe. Das kam von dem Autor der „Pioneers of the Modern Movement“ (1936),
der sein Buch traditionell mit einer Übersicht über „Die Kunsttheorien von
Morris bis Gropius“ begann. Heute hätte Sir Nikolaus noch sehr viel mehr nachzuholen. Zum Beispiel die
Tatsache, dass seinem Schüler, dem Architekturtheoretiker Reyner
Banham, eine „full-fledged biography“ gewidmet wurde, ihm, dem Architekturhistoriker,
aber keine. Er würde in Lehrveranstaltungen sicher auch auf Studenten
stoßen, die mit Erstaunen die Tatsache aufnähmen, dass die großen
Theoretiker Schinkel, Semper, Viollet-le-Duc, Ruskin etc. auch gebaut haben
oder starken
Einfluss auf die Praxis des Bauens nahmen. Noch mehr hätte ihn
vielleicht gewundert, dass nach dem Erscheinen von Banhams „Theory and
Design in the First Machine Age“ das Post-Machine-Age sich mit einer Fülle
von Architektentheorien zu Wort meldete, ja dass es in der Folgezeit zu
einem Must für jeden Stararchitekten wurde, sich eine „eigene“
Theorie zuzulegen und diese in kleinen feinen oder in XXL-Büchern
darzulegen.
(Siehe dazu
die böse Bemerkung von Roger Scruton: “Architectural theory is usually
the gesture of a practical man, unused to words.”)
Würde Sir Nikolaus noch
leben und ein Seminar an einer deutschen Hochschule geben, so könnte er zum
Thema Architekturtheorie seinen Studenten vier deutschsprachige Anthologien
mit einem Gesamtumfang von 2.400 Seiten empfehlen, alle innerhalb eines
Jahres erschienen. (Nachtrag: Mittlerweile sind es fünf Anthologien und
2.760 Seiten.) Dergleichen massive Textunterstützung war man früher von
Germanisten gewöhnt – ich gehe eine Wette ein, dass ein Kurs über den
modernen Roman, ein Standardgegenstand bei unseren Kollegen, nicht über eine
solche anthologische Grundlage verfügen könnte – im deutschen wie im
englischen Sprachraum nicht.
Nun könnte man an dieser Stelle mit dem Referieren und Reflektieren aufhören
und ganz einfach sagen, dass wir hier einen typischen Vorgang der
Wissenschaftsentwicklung antreffen: eine Subdisziplin
differenziert und emanzipiert sich, sie generiert die üblichen Standards,
Arbeitsmittel, Organe der Selbstverständigung und Selbstdarstellung – wie
Kolloquien zum Beispiel. Und am
Schluss wartet die Anerkennung durch die DFG als Fachrichtung. Dieser
formalen Sichtweise wird niemand widersprechen können, aber sie befriedigt
insofern nicht, als Fachrichtungen eben nicht nur eine Existenz, sondern
auch eine Richtung haben, einen Vektor darstellen, dessen Ausgangsposition
und Ziel und dessen Feld man gerne genauer kennen lernen würde.
Und ich nehme an, dass die Aussprache diesem Ziel dient und nicht so sehr
der Beratung infrastruktureller
Maßnahmen. Was das Feld anbelangt, so darf man konstatieren, dass
dieser Vektor nicht ohne Parallelen auftritt. Die Entwicklung zur
Architekturtheorie interessiert mich als Kunsthistoriker, weil dasselbe
Phänomen auch im Fach Kunstgeschichte festzustellen ist: Eine jüngere
Generation von Kolleginnen und Kollegen fängt gar nicht erst an, bevor sie
nicht etwas „Schriftliches“ in der Hand hat: Traktate der Malerei und
Skulptur, Künstlerviten, Poetiken, Ästhetiken, Referenzschriften aus den
Bereichen Theologie, Staatswissenschaften, Naturwissenschaften, Testamente
von Auftraggebern usw. ‘Back to the library!’ heißt das Motto. Ich
finde diesen Automatismus „an sich“, vor allen Legitimations- und
Nützlichkeitserwägungen, bemerkens- und diskutierenswert.
Und machen wir uns nichts vor: Solches Gleichziehen löst natürlich
Gegenreaktionen aus. In einer vor kurzem erschienenen
Monographie über Schinkel beklagt sich der Autor, dass Schinkels Leistungen
„oft unter dicken Schleiern der Theorie verborgen blieben“ – und das
ausgerechnet bei Schinkel, dessen eigene Theorie und dessen theoretisches
Umfeld (Bötticher!) ohne Zweifel zu den Hochleistungen des Nachdenkens über
Architektur zu rechnen sind und durchaus intelligente Analysen ausgelöst
haben. An mir selbst beobachte ich, dass ich mit Vorliebe über
mittelalterlicher Architektur arbeite, wo ich mich frei von jeglicher
Traktatistik bewegen kann. Umgekehrt gesagt, ich würde es als Höchststrafe
empfinden, würde ich aus irgendwelchen Gründen gezwungen werden, mich mit
Säulenordnungen, ihrer Papierform und den Abweichungen von dieser befassen
müssen. Es gibt also auch in einer relativ jungen Disziplin Themen und
Fragestellungen, die unter Überbeanspruchung und Selbstläufigkeit leiden.
Gleichzeitig beobachte ich, wie sich eine
Bauforschung auf naturwissenschaftlicher oder kulturwissenschaftlicher Basis fast uneinholbar von der
kunsthistorischen Architekturbetrachtung entfernt hat, wie sich
Überblicksdarstellungen im Limbo aller möglichen Ansätze
verlieren, wie das formal- und strukturanalytische Instrumentarium zunehmend
außer Gebrauch gerät. Von der Architekturabteilung der nahen Kunsthochschule
und von anderen Architekturfakultäten kommen Studenten, die nach einer
„anderen“ Art der Architekturbetrachtung fragen. Ich fürchte, so sehr viel
haben wir ihnen im Moment auch nicht anzubieten. Mit ‚wir’ meine ich uns
Kunsthistoriker. Aber die Frage ist natürlich auch an die
Architekturtheoretiker gestellt, wieweit sie die schwierige Einheit des
Gesamtthemas Architektur im Auge behalten wollen.
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