Rundgespräch zur Architekturtheorie

9. Jg., Heft 2
März 2005
   

 

___Wolfgang Kemp
Hamburg
  Back to the Library!
Beitrag zum Rundgespräch Architekturtheorie in Berlin am 10./11. Juni 2004

 

   

Im Unterschied zu den anderen Teilnehmern des Rundgesprächs bilde ich keine Architekten aus und kann noch nicht einmal für mich in Anspruch nehmen, als Universitätskunsthistoriker einen Schwerpunkt in der historischen oder gegenwärtigen Architektur zu haben. Ich beobachte aber mit Aufmerksamkeit fach- und methodengeschichtliche Entwicklungen und bin daran interessiert zu erfahren, wie die Kollegen von den Kunsthochschulen und Technischen Universitäten die Position der Disziplin Architekturtheorie gegenüber ihrem eigenen Umfeld und vis-à-vis auch der Kunstgeschichte bestimmen.

Von außen betrachtet ist der Architekturtheorie eine Erfolgsstory zu konzedieren. 1969 gestand Sir Nikolaus Pevsner, dass ihn die Betreuung der Doktorarbeit von Reyner Banham überhaupt erst über die Breite und Relevanz des architekturtheoretischen Schrifttums des 19. Jahrhunderts aufgeklärt habe. Das kam von dem Autor der „Pioneers of the Modern Movement“ (1936), der sein Buch traditionell mit einer Übersicht über „Die Kunsttheorien von Morris bis Gropius“ begann. Heute hätte Sir Nikolaus noch sehr viel mehr nachzuholen. Zum Beispiel die Tatsache, dass seinem Schüler, dem Architekturtheoretiker Reyner Banham, eine „full-fledged biography“ gewidmet wurde, ihm, dem Architekturhistoriker, aber keine. Er würde in Lehrveranstaltungen sicher auch auf Studenten stoßen, die mit Erstaunen die Tatsache aufnähmen, dass die großen Theoretiker Schinkel, Semper, Viollet-le-Duc, Ruskin etc. auch gebaut haben oder starken Einfluss auf die Praxis des Bauens nahmen. Noch mehr hätte ihn vielleicht gewundert, dass nach dem Erscheinen von Banhams „Theory and Design in the First Machine Age“ das Post-Machine-Age sich mit einer Fülle von Architektentheorien zu Wort meldete, ja dass es in der Folgezeit zu einem Must für jeden Stararchitekten wurde, sich eine „eigene“ Theorie zuzulegen und diese in kleinen feinen oder in XXL-Büchern darzulegen.
(Siehe dazu die böse Bemerkung von Roger Scruton: “Architectural theory is usually the gesture of a practical man, unused to words.”) Würde Sir Nikolaus noch leben und ein Seminar an einer deutschen Hochschule geben, so könnte er zum Thema Architekturtheorie seinen Studenten vier deutschsprachige Anthologien mit einem Gesamtumfang von 2.400 Seiten empfehlen, alle innerhalb eines Jahres erschienen. (Nachtrag: Mittlerweile sind es fünf Anthologien und 2.760 Seiten.) Dergleichen massive Textunterstützung war man früher von Germanisten gewöhnt – ich gehe eine Wette ein, dass ein Kurs über den modernen Roman, ein Standardgegenstand bei unseren Kollegen, nicht über eine solche anthologische Grundlage verfügen könnte – im deutschen wie im englischen Sprachraum nicht.

Nun könnte man an dieser Stelle mit dem Referieren und Reflektieren aufhören und ganz einfach sagen, dass wir hier einen typischen Vorgang der Wissenschaftsentwicklung antreffen: eine Subdisziplin differenziert und emanzipiert sich, sie generiert die üblichen Standards, Arbeitsmittel, Organe der  Selbstverständigung und Selbstdarstellung – wie Kolloquien zum Beispiel. Und am Schluss wartet die Anerkennung durch die DFG als Fachrichtung. Dieser formalen Sichtweise wird niemand widersprechen können, aber sie befriedigt insofern nicht, als Fachrichtungen eben nicht nur eine Existenz, sondern auch eine Richtung haben, einen Vektor darstellen, dessen Ausgangsposition und Ziel und dessen Feld man gerne genauer kennen lernen würde. Und ich nehme an, dass die Aussprache diesem Ziel dient und nicht so sehr der Beratung infrastruktureller Maßnahmen. Was das Feld anbelangt, so darf man konstatieren, dass dieser Vektor nicht ohne Parallelen auftritt. Die Entwicklung zur Architekturtheorie interessiert mich als Kunsthistoriker, weil dasselbe Phänomen auch im Fach Kunstgeschichte festzustellen ist: Eine jüngere Generation von Kolleginnen und Kollegen fängt gar nicht erst an, bevor sie nicht etwas „Schriftliches“ in der Hand hat: Traktate der Malerei und Skulptur, Künstlerviten, Poetiken, Ästhetiken, Referenzschriften aus den Bereichen Theologie, Staatswissenschaften, Naturwissenschaften, Testamente von Auftraggebern usw. ‘Back to the library!’ heißt das Motto. Ich finde diesen Automatismus „an sich“, vor allen Legitimations- und Nützlichkeitserwägungen, bemerkens- und diskutierenswert.

Und machen wir uns nichts vor: Solches Gleichziehen löst natürlich Gegenreaktionen aus. In einer vor kurzem erschienenen Monographie über Schinkel beklagt sich der Autor, dass Schinkels Leistungen „oft unter dicken Schleiern der Theorie verborgen blieben“ – und das ausgerechnet bei Schinkel, dessen eigene Theorie und dessen theoretisches Umfeld (Bötticher!) ohne Zweifel zu den Hochleistungen des Nachdenkens über Architektur zu rechnen sind und durchaus intelligente Analysen ausgelöst haben. An mir selbst beobachte ich, dass ich mit Vorliebe über mittelalterlicher Architektur arbeite, wo ich mich frei von jeglicher Traktatistik bewegen kann. Umgekehrt gesagt, ich würde es als Höchststrafe empfinden, würde ich aus irgendwelchen Gründen gezwungen werden, mich mit Säulenordnungen, ihrer Papierform und den Abweichungen von dieser befassen müssen. Es gibt also auch in einer relativ jungen Disziplin Themen und Fragestellungen, die unter Überbeanspruchung und Selbstläufigkeit leiden. Gleichzeitig beobachte ich, wie sich eine Bauforschung auf naturwissenschaftlicher oder kulturwissenschaftlicher Basis fast uneinholbar von der kunsthistorischen Architekturbetrachtung entfernt hat, wie sich Überblicksdarstellungen im Limbo aller möglichen Ansätze verlieren, wie das formal- und strukturanalytische Instrumentarium zunehmend außer Gebrauch gerät. Von der Architekturabteilung der nahen Kunsthochschule und von anderen Architekturfakultäten kommen Studenten, die nach einer „anderen“ Art der Architekturbetrachtung fragen. Ich fürchte, so sehr viel haben wir ihnen im Moment auch nicht anzubieten. Mit ‚wir’ meine ich uns Kunsthistoriker. Aber die Frage ist natürlich auch an die Architekturtheoretiker gestellt, wieweit sie die schwierige Einheit des Gesamtthemas Architektur im Auge behalten wollen.

 


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