Rundgespräch zur Architekturtheorie

9. Jg., Heft 2
März 2005
   

 

___Karsten Harries
New Haven
  Die Architektur heute und ihre fragwürdige Liebe zur Theorie

 

   


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Uns Teilnehmern an diesem Symposium wurde die Frage gestellt, was wir denn unter 'Architekturtheorie' verstünden, welche speziellen Aufgaben sie besäße, und welche Funktion wir ihr innerhalb der Lehre zuschreiben würden. Die Frage gibt zu denken: dass ein solches Symposium überhaupt stattfindet, verrät eine gewisse Ratlosigkeit. Chemiker veranstalten keine Symposien mit dem Titel „Warum überhaupt Chemie?” Mediziner veranstalten keine Symposien mit dem Titel „Was ist und soll eigentlich die Medizin?” Sie sind sich ihres Weges sicher. Künstler dagegen beschäftigen sich heute gerne und oft mit der Frage: „Was ist und soll eigentlich die Kunst?“ Und das so sehr, dass es heute kaum mehr möglich ist, die Produktion von Kunst von der Bestimmung ihres Wesens zu trennen. Kunsttheorie ist heute Teil der Kunst. Muss das so sein? Der Frage: „Gehört die Theorie wesentlich zur Kunst?“ muss sich heute jeder ernst zu nehmende Versuch, das Wesen der Kunst zu bestimmen, stellen.

Nicht viel anders steht es mit der Architektur. Ist nicht auch sie eine Kunst, wenn auch eine Kunst, die sich immer wieder der Welt verkaufen und so ihr Wesen verraten muss? Und so ist es nicht verwunderlich, dass sich heute mehr und mehr Architekten mit der Frage herumschlagen: „Was ist Architektur?“, und das so sehr, dass es auch hier nicht immer leicht ist, eine klare Grenze zu ziehen, die eine sich als Kunst verstehende Architektur von Architekturtheorie trennt. Den Theoriehunger, dem ich bei so vielen unserer Studenten begegne, nährt diese Verwischung der Grenze, die einst Theorie und Architektur trennte. Solch beirrendes Verwischen wiederum fordert mehr Theorie.



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Nun ist ein solches Verlangen nach Theorie nichts Neues. Schon in der Einleitung zu Hegels Vorlesungen über Ästhetik finden wir diese zukunftsweisenden Worte:
In allen diesen Beziehungen ist und bleibt die Kunst nach der Seite ihrer höchsten Bestimmung für uns ein Vergangenes. Damit hat sie für uns auch die ächte Wahrheit und Lebendigkeit verloren, und ist mehr in unsere Vorstellung verlegt, als daß sie in der Wirklichkeit ihre frühere Nothwendigkeit behauptet, und ihren höheren Platz einnähme. Was durch Kunstwerke jetzt in uns erregt wird, ist außer dem unmittelbaren Genuß zugleich unser Urtheil, indem wir den Inhalt, die Darstellungsmittel des Kunstwerks und die Angemessenheit und Unangemessenheit beider unserer denkenden Betrachtung unterwerfen. Die Wissenschaft der Kunst ist darum in unserer Zeit noch viel mehr Bedürfniß, als zu den Zeiten, in welchen die Kunst für sich als Kunst schon volle Befriedigung gewährte. Die Kunst ladet uns zur denkenden Betrachtung ein, und zwar nicht zu dem Zwecke Kunst wieder hervorzurufen, sondern was Kunst sey wissenschaftlich zu erkennen.[1]

Um uns zu befriedigen, braucht Kunst heute die Hilfe der Theorie. Und das gilt mehr noch für die Architektur. Überleben auch Tempel und Kathedralen als Zeugen vom dem, was Kunst einst bedeutete, so bleiben sie doch stumm ohne den deutenden Text. Was wir unmittelbar erleben fordert ergänzende Worte. Hegel allerdings lässt Architekturtheorie nicht zum Teil der Architektur werden. Architekturtheorie, verstanden als wissenschaftliche Bestimmung des Wesens der Architektur, als Theorie über Architektur, muss also von Architekturtheorie, verstanden als Theorie in der Architektur, unterschieden werden. Dass dieser Unterschied sich verwischt, ist zu erwarten. So versteht heute so mancher Architekt, was er entwirft und baut, als Architektur und Theorie.




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Wie nie zuvor gehört heute eine fragwürdige Liebe zur Theorie zur Architektur. In ihrer viel benutzten Anthologie Theorizing a New Agenda for Architecture: An Anthology of Architectural Theory 1965-1995 deutet uns Kate Nesbitt solche Liebe als Reaktion auf eine Architektur, die sich in den sechziger Jahren mit formelhaften Wiederholungen der maßgebenden Werke des Modernismus begnügte.[2] Eine solche immer langweiliger werdende Architektur musste sich selbst in Frage stellen. Aber das Wort „Langeweile” wird dem Unbehagen nicht gerecht, das so viel, was Kultur heißt, nicht mehr als bindendes Erbe, sondern als etwas Konstruiertes und Beengendes erfahren ließ. Verunsicherung und Wegverlust nähren philosophische Betrachtungen, fordern uns und gerade auch unsere Architekten auf, an solcher Konstruktion oder vielmehr De- und Rekonstruktion der Kultur kritisch und Theorie-bewusst mitzuarbeiten. In diesem Sinne stellt auch Michael Hays in seiner Anthologie die theoretische Produktion der sechziger Jahre an den Anfang unserer heutigen Architekturtheorie.[3]

Schon der Modernismus brachte uns mit seinen Programmen and Manifesten eine der geistigen Situation der Zeit entsprechende Theorie.[4] Zurückgewiesen wurde hier nicht nur die sich mit ästhetischen Verkleidungen begnügende Architektur des ausgehenden 19. Jahrhunderts, sondern auch Hegels Satz, dass für uns die Kunst „nach der Seite ihrer höchsten Bestimmung” ein Vergangenes bleiben müsse. In Feiningers eine gotische Kathedrale in moderne kubistische Formen übersetzenden Holzschnitt wurde diese Zurückweisung zum Bild. Ihr entsprach Gropius’ Bauhausprogramm, dessen Umschlag dieses Bild zierte. Und müssen wir dieser doppelten Zurückweisung nicht immer noch folgen? Warum soll sich gerade uns Architektur „nach der Seite ihrer höchsten Bestimmung” verweigern? Genügt nicht dieselbe Vernunft, die uns Naturwissenschaft und Technik, und damit auch eine noch nie gekannte Freiheit geschenkt hat, eine Architektur zu schaffen, die mit ihren nackten Wänden und rechten Winkeln dem modernen Menschen das ihm gemäße Haus baut? Genügt sie nicht, ein Ideal aufzustellen, mächtig genug, Individuen in eine wirkliche Gemeinschaft zurückzubinden, ohne ihrer Freiheit Abbruch zu tun, wobei so mancher moderne Künstler oder Architekt sich ein solches Ideal nur als sozialistisches Paradies vorstellen konnte. Nun mussten solche Träume immer wieder zerbrechen, nicht nur an der politischen Wirklichkeit, sondern auch an dem Widerspruch, den dieses Ideal verbirgt.




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So kann es nicht überraschen, dass der Modernismus, übersetzt ins Amerikanische als „the International Style”, den ihn einst tragenden Ethos verlor und immer weniger überzeugte, immer mehr langweilte, und nicht nur Architekten nach interessanteren Formen Ausschau halten ließ. Wieder fühlte man sich auf dem falschen Weg, und wieder weckte solcher Wegverlust die Liebe zur Theorie, nun verstanden nicht nur als Wesensbestimmung der Architektur, sondern als Versuch, die Architektur dem zu öffnen, was sich in anderen Codes denken und sagen lässt. So umarmt die Architektur heute Marxismus, Phänomenologie, Semiotik und Psychoanalyse.[5] In diesem Zusammenhang betont Nesbitt zu Recht die Bedeutung von Robert Venturis Complexity and Contradiction. 1966 erschienen, führte dieses Buch „zu einer radikal veränderten Einstellung zur modernen Architektur.” Mit dieser Einschätzung folgte sie Vincent Scully, der Venturis Buch in seiner Einführung „die bedeutendste Schrift über die Produktion von Architektur seit Le Corbusiers Vers une architecture von 1923” genannt hatte.[6] Dem Buch von Venturi wird hier eine vergleichbare epochale Bedeutung zugeschrieben.

Die unbestreitbare Bedeutung dieses Buches darf uns nicht vergessen lassen, dass Venturis Worte auf vorbereiteten Boden fielen. Zwei Jahre vorher hatte das Museum of Modern Art Bernard Rudofskys Architecture without Architects: A short introduction to non-pedigreed architecture veröffentlicht, ein Buch das „einer ganzen Generation von Architekten als Ausgangspunkt diente für ihre Versuche, dem Formalismus des Modernismus zu entfliehen.”[7] Es gibt allerdings diesen entscheidenden Unterschied: Heidegger vergleichbar, träumt Rudofsky von einem scheinbar zeitlosen Wohnen und Bauen. Solch Bauen braucht keine Theorie. Venturi gehört einer anders denkenden Generation an. Bezeichnend ist, wie er sich in seinem Vorwort auf T. S. Eliots Worte über Analyse und Vergleich als Werkzeuge der Literaturkritik beruft:
Diese kritischen Methoden gelten auch für die Architektur. Auch sie enthüllt sich in der Analyse und Vergleiche machen sie lebendiger. Zur Analyse gehört die Auflösung der Architektur in ihre Elemente, eine Technik, von der ich oft Gebrauch mache, obwohl sie das Gegenteil ist von Integration, dem eigentlichen Ziel der Kunst. Mag dies auch paradox erscheinen, und ungeachtet der Vorbehalte vieler moderner Architekten, ist solche Auflösung doch ein in allem schöpferischen Schaffen gegenwärtiger Prozess und wesentlich für alles Verstehen. Selbstbewusstsein gehört notwendig zum schöpferischen Schaffen und zur Kritik. Die Architekten von heute wissen zu viel, um entweder primitiv oder völlig spontan arbeiten zu können, und auch die Architektur ist zu komplex, um sich mit einer sorgsam aufrecht erhaltenen Ignoranz angehen zu lassen.”[8]

Analyse und Vergleich, so heißt es hier, gehören wesentlich zum Verstehen und zum Erzeugen von Architektur. Damit wird die Theorie zum Teil der gebauten Architektur. Wie von Hegel vorausgesehen, breitet sich das Gefühl aus, dass ohne Theorie Architektur  heute nackt und stumm bleiben muss: es ist, als ob jemand das dazugehörige Ornament heruntergerissen hätte. Um einem Werk wie Venturis Guild House in Philadelphia gerecht zu werden, müssen wir verstehen, wie dieses Altersheim mit seinen sechs Stockwerken mit der Sprache seiner anspruchslosen Nachbarn, der Anspielung auf einen dreistöckigen italienischen Palazzo und dem Erbe des Modernismus spielt. Erst deutende Worte lassen uns dieses Gebäude als ein Hauptwerk seiner Zeit verstehen. Ähnliches lässt sich von einem Architekten wie Peter Eisenman sagen: erst die Theorie lässt seine Architektur wirklich sprechen.



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Solche Hinwendung zur Theorie verbindet Venturis Complexity and Contradiction mit Andy Warhols Brillo Box von1964. Hier war ein Werk, das in der Nachfolge von Duchamp die Identifizierung des Kunstwerks mit dem vom Künstler ausgestellten Ding in Frage stellte. Auf die Frage „Warum ist Warhols Brillo Box Kunst und nicht die ganz ähnlich aussehende Brillo Box im Supermarkt?“ kann, wie Arthur Danto betonte, das uns im Museum begegnende Ding allein keine Antwort geben. Eine solche Antwort gibt erst die Philosophie. Hier also wird Theorie zum wesentlichen Teil des Kunstwerks, das ohne solche Theorie seinen Kunstcharakter verlieren würde. Und mit dieser Hinwendung zum deutenden Wort hat Warhol einen Vorläufer in Philip Johnson, dem eminence grise der postmodernen Architektur, dem auch Venturi viel verdankte. Charles Jencks’ Interpretation von Johnsons Glass House von 1949 verweist darauf, was kommen sollte:
Bewußt übertrieb der Entwurf dieses Werks die Grundsätze der modernen Architektur in einer extremen und herausfordernden Weise. Der Effekt war durchdacht und perfekt. Nicht die Durchdringung von Raum, sondern ein ganz durchsichtiges Haus; nicht ein maschinell hergestelltes Büro, sondern ein maschinell hergestelltes Cottage; nicht nur Asymmetrie, sondern verbunden mit Symmetrie. Ein transparenter Spiegel wurde auf einen sorgsam gepflegten Rasen gestellt. Das Gebäude versah Johnson mit einer ‘explication de texte’, die es den in die Moderne Eingeweihten erlaubte, den Anspielungen zu folgen (zu den 27 gehörten Le Corbusier, Van Doesburg, Malevitch, Mies, Ledoux und Schinkel). Dieses in der Architectural Review  veröffentlichte Programm verhalf zu einer vollständigen Architektur-Erfahrung. Aber seine wirkliche Bedeutung besaß dieses Haus als eine gesellschaftliche Geste. Auf einmal war der Architektur-Journalismus Teil des Objekts geworden. Marshall McLuhan, Tom Wolfe, und Robert Rauschenberg wurden hier vorweggenommen. Plötzlich waren die die Architektur feiernden Photographien genauso wichtig wie das Bauwerk. Bald konnte Rauschenberg „ein Bild malen”, nur indem er behauptete: „Dies ist ein Portrait von Iris Clert, wenn ich das so sage.” Aber Johnson war der Erste, der die Folgen verstand, die ein höchst kultiviertes Publikum und neue Kommunikationsmittel für die tradierte Architektur haben mussten.[9]

Ich möchte den Satz „Auf einmal war der Architektur-Journalismus Teil des Objekts geworden.” unterstreichen. Die Art, wie sich Theorie uns heute oft als notwendige Zugabe jeder anspruchsvollen Architektur anbietet, wurde hier vorweggenommen. In solchen Fällen können wir von einer Architektur des gebauten Wortes sprechen.



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Architektur des gebauten Wortes” – mit diesem Ausdruck greife ich auf Tom Wolfes Charakterisierung des abstrakten Expressionismus als einer Kunst des gemalten Wortes zurück. Damit gab Wolfe uns eine Formel, die uns hilft, postmoderne Architektur, wie z. B. die von Venturi und Eisenman besser zu verstehen, das ästhetische Addendum, das nach Pevsner ein bloßes Gebäude – er nennt einen Fahrradschuppen – von einem Werk der Architektur – er nennt die Kathedrale von Lincoln – unterscheidet, anders zu deuten.[10] Was dem Architekten nun wichtig wird, ist nicht so sehr Schönheit, sondern das Einsetzen von zu entziffernden Zeichen in die Architektur, Spuren, die uns weg vom Gebauten zu einer Gedankenarchitektur führen, die erst das Werk interessant macht.

Das harmonische Zusammenspiel von Verstand und Einbildungskraft, in dem Kant den Grund des ästhetischen Wohlgefallens suchte, ersetzt nun ein bloßes Gedankenspiel, ein Spiel der Vernunft. Soll ein Bauwerk Anstöße zu solchem Spiel geben, muss es in ihm unerwartete, nicht leicht zu deutende Elemente geben, die der Theorie ein Fenster öffnen. Das überzeugende Einsetzen von solchen Elementen gelingt nur einem gedankenreichen, in der Theorie und Geschichte der Architektur versierten Architekten, der es versteht, das Wort, dem einst alle große Architektur im Westen diente, mit Worten zu ersetzen, die, wenn auch nicht mehr einer als bindend erfahrenen Wirklichkeit verpflichtet, doch interessant genug sind, um uns in ihr Spiel hineinzuziehen.



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Kundera sprach von der unerträglichen Leichtigkeit des Seins. Lässt sich Ähnliches nicht auch von unserer Architektur sagen? Wie viel Architektur bleibt heute ohne Gewicht und nackt ohne die Einkleidung durch einen interpretierenden Text. Dass die Architektur in den letzten Jahrzehnten sich wie nie zuvor der Theorie geöffnet hat, hat seinen Grund in der Erfahrung solcher Blöße. So wird in vielen Architekturschulen Theorie zu einem seltsamen und fragwürdigen Ornament. Aber ohne etwas, das die bindende Kraft des biblischen Wortes, in dem unsere Kunst einst ihren Grund fand, ersetzen könnte, muss solch Theoretisieren in irgendeine Spielart von Hermann Hesses Glasperlenspiel abrutschen. Solch Spiel kann geistreich und amüsant sein, weist aber keine Richtung. Die Ornamentalisierung der Theorie, der sich heute so mancher renommierte Architekt verschrieben hat, bestätigt nur, dass solche Architektur ihren Weg verloren hat. Aber Wegverlust, wie schon Aristoteles wusste, weckt immer aufs Neue Theorie: Theorie die die Aufgabe hat, den gegangenen Weg kritisch zu überdenken, auch das vorausgesetzte Ziel, um vielleicht der eingeschlagenen Richtung eine andere entgegenzustellen. Ohne die kritische Auseinandersetzung mit der Geschichte der Architektur, und das heißt auch mit der Geschichte, bleibt alles Theoretisieren über die Zukunft der Architektur nur ein Gedankenspiel. Dazu gehört auch die kritische Auseinandersetzung mit der heute gerade in den Universitäten so weit verbreiteten und doch so fragwürdigen Liebe zur Theorie. Eine solche Auseinadersetzung kreist um die Frage: Hilft uns solche Theorie, die Leichtigkeit unseres heutigen Wohnens und Bauens besser zu ertragen, vielleicht durch den Nachweis, dass solche Leichtigkeit nur die Kehrseite einer Freiheit ist, die mit Bataille hinter jeder platzanweisenden Architektur das Gefängnis wittert? Aber der Traum der Aufklärung, dass die reine Vernunft, wie Kant es erwartete, die Freiheit binden könnte, ist ausgeträumt. Doch ohne Bindung wird Freiheit zur Willkür. Was aber kann und soll die Freiheit heute binden? Der Versuch, die Vernunft an die Stelle des von Nietzsche totgesagten Gottes zu stellen, ist gescheitert. Ist es dann der von Nietzsche beschworene immer wieder überkritzelte ewige Grundtext homo natura, dem sich die Theorie heute zu stellen hat?

Ich habe solche Fragen hier nur angeschnitten. Einen Fingerzeig gibt uns vielleicht Hans Blumenberg, wenn er in seinem Buch Die Vollzähligkeit der Sterne die Frage stellt: warum eigentlich Weltraumfahrt und Mondflug? Genügt als Antwort der Hinweis auf jenes Verlangen zu wissen, nur um zu wissen, das nach Aristoteles unser Menschsein mitbestimmt, auf jene Neugier, in der er den Ursprung aller Philosophie und Wissenschaft suchte? Dann wäre es nichts anderes als der Ruf unserer Vernunft, der uns immer wieder auffordert, den uns von unserer Um- und Mitwelt angewiesenen Ort und die damit verbundenen Perspektiven zu übersteigen, dieses Fernweh, das uns ein wirkliches Zuhause verweigert und jede platzanweisende Architektur in Frage stellt. Immer wieder wird uns unsere Neugier irgendein Paradies verlieren lassen, ein Verlust, der nur eine Folge unserer Wahrheit fordernden Freiheit ist. Voraussetzung jeder Wahrheitssuche ist Objektivität, und Objektivität wiederum bedeutet ein Ausklammern aller subjektiven Interessen. Mit solchem Ausklammern aber „löst sich diese Welt von allen an ihr beteiligten Subjekten ab zu jener Sphäre der Gleichgültigkeit gegen alle."[11] Dieser Gleichgültigkeit der Welt entspricht der Verlust der Menschlichkeit. Beide haben ihren Grund in der Selbsterhebung des erdgebundenen Subjekts, das sich vollendet, „indem es das schwerste aller Zugeständnisse macht, die ihm zugemutet werden können: seine Welt die Welt werden zu lassen, seine Lebenszeit im Verband der Lebenszeiten zu der Weltzeit sich entfremdet zu sehen.”[12] Unsere moderne Welt, die uns solches Zugeständnis abzwingt, ist somit alles andere als gemütlich. Die schwer zu ertragende Leichtigkeit unseres Bauens spricht von diesem Verlust an Gemütlichkeit. Das Wort allein genügt vielleicht einem auf der Höhe der gegenwärtigen Diskussion stehenden Theoretiker, was ich hier zu sagen habe, als Worte eines theoretischen Sauriers abzutun. Aber das Verlangen nach einem Zuhause und einer diesem Verlangen entsprechenden Architektur lässt sich nicht so einfach abschütteln. Der Zwiespalt von Fernweh und Heimweh in uns allen lässt sich nicht heilen, ein Grund mehr, auf Blumenberg zu hören, wenn er der zentrifugalen Sehnsucht der Astronauten, ihr zentripetales Verlangen heimzukehren, entgegenstellt.

Man muß [sich] bei diesen Überlegungen die eigentümliche Kontingenz … vergegenwärtigen, daß die durch ihre Weltstellung so diskriminierte Erde – die einmal vor Kopernikus als ausgezeichneter Platz für die theoria der Welt gegolten hatte, an dem einem ‘nichts entgehen’ konnte – durch die Technik der Raumfahrt unerwartet eine gnädige Eigenschaft ‘gezeigt’ hat: die der möglichen Heimkehr zu ihr, wenn man so neugierig oder geltungssüchtig gewesen ist, sie zu verlasen. Odysseus, nochmals und gewandet in den Raumanzug einer Menschheitsfigur: Nach Ithaka heimzukehren, dabei ist es geblieben, erfordert und verlohnt den weitesten Umweg.[13]

Blumenberg eröffnet hier die Möglichkeit einer post-postmodernen Geozentrik. Und damit gibt er auch der Architekturtheorie einen Hinweis auf eine mögliche Heimkehr nach den Raumfahrten einer Theorie, die die Erde tief unter sich gelassen hat, auf die Möglichkeit, der Liebe zur Theorie mit der Liebe zur Erde zu begegnen. Hier ist ein Knochen, an dem wir noch lange werden nagen können.


Anmerkungen:

[1] Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Aesthetik, Jubiläumsausgabe, ed. Hermann Glockner (Stuttgart: Fromann, 1937), Band 12, S. 32.

[2] Kate Nesbitt, Hrsg., Theorizing a New Agenda for Architecture: An Anthology of Architectural Theory 1965-1995 (New York: Princeton Architectural Press, 1996), S. 12.

[3] K. Michael Hays, Hrsg., Architecture Theory since 1968 (Cambridge, Mass.: MIT Press, 1998), S. x.

[4] Karl Jaspers, Die geistige Situation der Zeit (Berlin und Leipzig: de Gruyter, 1931), S. 113-117. Siehe auch Ulrich Conrads, Programme und Manifeste zur Architektur des 20. Jahrhunderts (Frankfurt am Main: Ullstein, 1964).

[5] Hays, Architecture Theory, S. x-xv.

[6] Vincent Scully, “Note to the Second Edition,” Robert Venturi, Complexity and Contradiction in Architecture (New York: The Museum of Modern Art, 1966), S. 12.

[7] Andrea Bocco Guarneri, Bernard Rudofsky (Wien, New York: Springer, 2003), S. 121.

[8] Venturi, S. 13.

[9] Charles Jencks, Modern Movements in Architecture (New York: Doubleday Anchor, 1973), S. 206-207.

[10] Nikolaus Pevsner, An Outline of European Architecture (Harmondsworth: Penguin, 1958), S. 23.

[11] Hans Blumenberg, Lebenszeit und Weltzeit (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1986), S. 305-306.

[12] Ebda.

[13] Hans Blumenberg, Die Vollzähligkeit der Sterne (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 199), S. 383.

 


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