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Von der
Dominanz der Zeichen zur Dominanz der Bilder
- Zum
ontologischen Statuswandel der Architektur
- Zur
spekulativen Logik der Architektur
Zur modernen und postmodernen Vorgeschichte
- Moderne und
die produktivistische Rekonzeptualisierung der Architektur
- Postmoderne
und die semiologische Rekonzeptualisierung der Architektur
Architekturtheorie und der digitale Paradigmenwechsel
- Die digitale
Avantgarde in der Architektur
-
Architekturtheorie als kritische Bildtheorie
**************
Jedes Nachdenken über die Architekturtheorie heute im digitalen
Medienzeitalter hat von einem auszugehen: das ist die beispiellose
Verschiebung der kulturellen Dominante[1]
von der modernistischen Objektproduktion zur postindustriellen
Bilderkonsumtion. Mit dem total flow der Bilder sind wir mit neuen
Formen der Gegenstandslosigkeit konfrontiert, die sich keineswegs auf die
Welt der digitalen Bilder beschränken lassen. Das Ausmaß des Eingriffs in
die Architektur wird sichtbar, wo nach K. Michael Hays über soziale
Ordnungen heute nicht mehr nachgedacht werden kann ohne ein konkretes
Konzept der Medien und ihre zwei konstituierenden Faktoren, die digitalen
Technologien und die Idee heterogener Kommunikation[2].
Das bedeutet, dass die Architektur heute in nichts weniger als in ihrem
ureigensten, ja privilegiertesten Feld in Frage gestellt ist, das ist im
Sinne von Henri Lefebvre die Produktion des Raumes[3]
als zentrale Instanz für die menschlichen Sozialisierungsprozesse.
Aufgrund der sich dramatisch verschiebenden
kulturellen Dominante steht die Architektur im Zentrum jener Dynamik, die
sich als Übergang vom linguistic turn der sechziger Jahre zum
iconic turn des Medienzeitalters beschreiben lässt. War seit den
sechziger Jahren Architekturtheorie weitestgehend zeichenbasiert – wie in
den dominanten Konzepten des Strukturalismus, der Postmoderne und des
Dekonstruktivismus –, so scheint heute mit dem iconic turn eine
grundlegende Rekonzeptualisierung der Architektur auf medien- und
bildtheoretischer Basis notwendig. Insofern sie schon immer Medium
materialer Konkretisierungen von räumlichen Vorstellungen und Bildern war,
kommt die Architektur nicht umhin, sich den neuen Wahrnehmungsweisen zu
öffnen und die neuen Bildpraktiken in ihrem anachronistischen Zug in ihre
Substanz aufzunehmen.
Ist heute mit einer generellen visuellen Kontamination zu rechnen, so wird
die Frage nach den Bildpraktiken zu einem zentralen Anliegen für alle
kulturellen Bereiche, auch diejenigen, die ihre Bildtechniken nicht dem
digitalen Medium direkt entlehnen, wie die materiellste aller kulturellen
Praktiken, die Architektur. Gegen die Prädominanz der Materialität, der
Körperdiskurse und Performativität und auch gegen die
Ontologisierungsversuche der Architektur allein im Raum drängt sich die
Frage ins Bewusstsein, ob
und inwiefern denn nicht die Architekturpraxis immer auch Bildpraxis und
Architekturtheorie immer auch Bildtheorie ist und seit Vitruv[4]
vielleicht immer schon war. Mit dem iconic turn ist die
Architekturtheorie zu einem eigenen, kritischen Bilddiskurs aufgefordert –
mit all seinen sozialen, ästhetischen und technologischen Implikationen.
Von der Dominanz der Zeichen zur Dominanz der Bilder
Zum ontologischen Statuswandel der Architektur. Zu Beginn des
zwanzigsten Jahrhunderts führten die neuen Technologien und
gesellschaftlichen Umwälzungen zu einer „gewaltigen Erschütterung des
Tradierten – einer Erschütterung der Tradition, die die Kehrseite der
gegenwärtigen Krise und Erneuerung der Menschheit ist“[5],
schrieb Walter Benjamin im Hinblick auf die künstlerische Avantgarde der
Moderne und ihr damals neuestes Bildmedium, den
Film. Einem ähnlichen Begründungszusammenhang, darüber dürfte weitgehend
Einigkeit bestehen, entsprang auch das Bedürfnis nach Theoriebildung in der
Architektur. In der Tat führte der produktivistische Paradigmenwechsel der
Moderne, also die Wende zur Maschinenproduktion, zur Serialisierung,
Standardisierung und Typisierung, zur Lösung der Architektur aus ihrer
Traditionsgebundenheit und zur generellen Erschütterung des tradierten
Selbstverständnisses der Disziplin.
Für den digitalen Paradigmenwechsel, der seit den neunziger Jahren alle
kulturellen Bereiche in ihrem Selbstverständnis herausfordert, kommt man
jedoch nicht um die Einsicht herum, dass die Rekonzeptualisierung der
Architektur gleichsam historisch wie auch konzeptuell tiefer anzusetzen ist,
insofern nämlich, als heute nicht mehr nur allein von einem
Traditionsverlust die Rede sein kann. Denn jede avancierte architektonische
Praxis, die sich der Verflüchtigung der Realität in der Virtualität der
neuen Medientechnologien stellt, stellt nichts anderes in Frage als das, was
bisher als kulturelle Konstante der Architektur betrachtet wurde: ihre
ontologische Eindeutigkeit als materiellste und damit konkreteste aller
kulturellen Praktiken. In der Tat, als
Günther Anders vor gut fünfzig Jahren in Die Antiquiertheit des Menschen[6]
den Begriff der
ontologischen Zweideutigkeit prägte, dachte er an das damals aktuellste
Massenmedium, das Fernsehen, nicht aber an die Architektur und das, obwohl
die Architektur das älteste Massenmedium schlechthin ist[7].
Dem stand entgegen, dass es keinen Zweifel am ontologischen Status der
Architektur und ihrer eindeutigen Bestimmung gab, wo sie doch für dauerhafte
Gründung und Fundament, Standhaftigkeit und Konstruktion stand. Heute
dagegen mit der Liquidisierung der Grenzen zwischen Objekt- und Bilderwelt
im Kontext des iconic turn scheint dies radikal in Frage gestellt. Es
kehrt in gewendeter Form die Frage zurück, was die Architektur denn nun
wirklich ist, mehr Objekt oder mehr Bild, mehr Realität oder mehr Fiktion,
mehr materielles Sein oder mehr flüchtiger Schein.
Mit der allumfassenden Medialisierung der Lebenswelten geht es heute weniger
um einen Traditionsverlust als um einen radikalen Wandel des ontologischen
Status der Architektur. Er bildet den konstanten Hintergrund für jede
Reflexion über die Architektur heute. Und doch hat die Architekturtheorie
diesen nicht nur zu ihrem Inhalt, insofern der ontologische Statuswandel
selbst Auslöser für die Notwendigkeit theoretischer Reflexion und
Rekonzeptualisierung der Architektur ist. Die Situation heute unterscheidet
sich von den Theorieansätzen der modernen Avantgarde, wo diese die eigene
Epoche von ihrer Vorgeschichte zu scheiden und die Architektur der Moderne
in ästhetischer, materialer und konstruktiver Hinsicht im Bewusstsein eines
Epochenbruchs zu rekonzeptualisieren versuchte. Ohne jetzt den Verlockungen
einer allzu einfachen Periodisierung der Architekturgeschichte nachzugeben,
ist für die Architektur im Zeitalter der alles umgreifenden
Medientechnologien festzustellen, dass sie einerseits, was das Verhältnis zu
den jeweils neuesten Technologien betrifft, eine moderne Vorgeschichte im
produktivistischen Paradigmenwechsel hat, andererseits aber auch eine
postmoderne Vorgeschichte im linguistic turn. Denn mit den
strukturalistischen und später dekonstruktivistischen Methoden geht dem
heutigen total flow der digitalen Bilder so etwas wie ein total
flow der analogen Zeichen und Metaphern voraus. Was sich heute
technologisch als digitaler Paradigmenwechsel vollzieht, lässt sich
kulturgeschichtlich als Übergang von der Dominanz der Zeichen zur Dominanz
der Bilder konzeptualisieren.
Zur spekulativen Logik der Architektur. Das Bedürfnis nach
Architekturtheorie heute resultiert direkt aus dem ontologischen
Statuswandel der Architektur im Zeitalter der digitalen Medientechnologien.
Im Zentrum steht die Rekonzeptualisierung ihrer kommunikativen Funktion und
intersubjektiven Stellung und keineswegs die Idee der Kompensation eines wie
auch immer gearteten Verlusts oder einer Entwertung der Tradition.
Kompensation im Sinne von Odo Marquardt läuft als Kulturtechnik darauf
hinaus, alle jene Lücken zu schließen, die die avanciertesten
technologischen und gesellschaftlichen Entwicklungen in die imaginierte
Idealgestalt der Architektur schlagen. Würde Kultur auf einen Impuls der
Kompensation von Mängeln und von sich ihrerseits akkumulierenden
Kompensationsdefiziten reduziert, wäre sie im
Allgemeinen und die Architektur im Besonderen
dem Verdacht einer generellen Insuffizienz ausgesetzt. Denn sie stünde so in
grundsätzlicher Opposition zur Dynamik des Lebens, sei diese technischer,
sozialer oder ästhetischer Art.
Der Kompensationstheorie Marquardts ist hier Ernst Cassirers Philosophie
der symbolischen Formen entgegenzustellen, ergänzt einerseits um ihr
kunstwissenschaftliches Pendant, um Erwin Panofskys Begriff des habitus
und andererseits um die Soziologie der symbolischen Formen, um Pierre
Bourdieus Idee des kulturellen beziehungsweise intellektuellen Kräftefelds.
Die Bedeutung Cassirers für die Rekonzeptualisierung der Architekturtheorie
heute besteht unzweifelhaft in dessen
zentraler Intention, die verschiedenen Weisen der menschlichen Erfahrung als
Typen von symbolischen Aktivitäten und Formen zu begreifen. Unter den
symbolischen Formen versteht Cassirer jene Phänomene, in denen Sinn und
Sinnlichkeit in einer Weise gekoppelt sind, dass im Sinnlichen zugleich Sinn
erscheint und umgekehrt aller Sinn sich im Medium des Sinnlichen darstellt
und verkörpert. Bedeutung und Funktion sind so immer an ein sinnliches
Substrat gebunden, so dass in den sinnlichen Erscheinungen immer eine
bestimmte, nicht anschauliche Bedeutung mitgefasst
ist.
Interessanterweise thematisierte Cassirer neben den Künsten und der
Geschichte auch die Sprache, die Technik und die Wissenschaften als
symbolische Formen, die Architektur[8]
kommt aber nicht vor. Dabei lässt sich keine andere kulturelle Praxis
benennen, die mehr Zwischenbereich wäre, die mehr Reservoir für produktive
Umformungen und Transformationen des Alltagslebens und seiner sinnhaften
Besetzungen wäre als die Architektur. In der Architektur ist es, dass
Bedeutung und Funktion unmittelbar an die sinnliche Gewahrwerdung gekoppelt
sind, dass geistige Bedeutungsgehalte an konkrete sinnliche Zeichen geknüpft
und diesen innerlich zugeeignet sind. Die Architektur ist so Medium der
Kommunikation, das dynamisch und offen ist und Reservoire für produktive
Umformungen, Verschiebungen und Transformationen. Mit Bourdieu kann man von
der Architektur als Knotenpunkt und Durchgangsstelle im symbolischen Netz
des kulturellen Kräftefeldes[9]
sprechen.
Bedeutend für die Architekturtheorie ist, dass sich mit Cassirer der
ausschließlich semiotische Ansatz des linguistic turn der sechziger
Jahre um eine phänomenologische Komponente – Cassirer spricht hier auch von
der symbolischen Prägnanz – erweitern lässt, ohne dass dabei der
Wissenschaftscharakter aufzugeben wäre. Im Sinne von Panofsky stellt die
Architektur dann eine Figur dar, in der Bedeutungs- und Phänomensinn,
Struktur und Praxis ineinander verschränkt auftreten und doch gegeneinander
analysierbar bleiben. In ihr verbindet sich somatische Sinnlichkeit, aktive
Sinngebung und geistige Vorprägung, was Bourdieu als das kulturell Unbewusste verinnerlichter Muster bezeichnete. Insofern die Frage
nach der Genese, Formverschiebung und Formwandlung aufgeworfen ist, spricht
Cassirer auch von der spekulativen Logik der symbolischen
Aktivitäten, hier die spekulative Logik der Architektur. Mit der
Architekturtheorie ist damit jene zentrale Instanz angesprochen, die im sich stetig verändernden kulturellen
Kräftefeld versucht, die Architektur immer wieder auf ihre eigentliche
Funktion als symbolische Form zurückzuführen: nämlich zentrale, bis heute
einzig intersubjektiv und universell gültige Grundform des Verstehens der
Welt zu sein, die die verschiedensten kulturellen Praktiken miteinander in
Beziehung setzt und so kulturell bedeutsame Lebenswelten schafft.
Zur modernen und postmodernen Vorgeschichte
Moderne und die produktivistische Rekonzeptualisierung der Architektur.
Die Frage nach der Architekturtheorie heute stellt sich vornehmlich in Bezug
auf den digitalen Paradigmenwechsel, das heißt auf die gewandelte,
technologische Basis der Kultur. Als objektivierte Form der Vermittlung und
Vernetzung unterschiedlichster kultureller Praktiken wird dies als die
Grundproblematik der Architektur sichtbar. Doch ist sie keineswegs vorbild-
oder traditionslos, sondern besitzt ihre Vorgeschichte im produktivistischen
Paradigmenwechsel der Moderne. Dieses umso mehr, als nach Theodor W. Adorno
die Autorität des Neuen immer die des „geschichtlich Unausweichlichen“[10]
ist. Die Moderne werde ja gerade „beredt“ durch ihre Stellung zu den
avanciertesten Technologien. Dass sie daher kein Harmloses und Seichtes mehr
dulde, sondern sich durch Radikalität und Exzess
auszeichne, werde ihr fälschlicherweise immer wieder als Traditionsverlust
angelastet, was letztendlich jedoch allein durch die Veränderungen innerhalb
der Kategorie Tradition selbst bedingt sei.
Moderne ist Kunst durch „Mimesis ans Verhärtete und Entfremdete“[11],
postulierte Adorno für die Verfahrensweisen der Avantgarde der Moderne, das
Neue in der Moderne sei eben das „ästhetische Signum der erweiterten
Reproduktion, auch mit deren Versprechen ungeschmälerter Fülle.“[12]
Auf für beide Positionen fruchtbare Weise kommen hier Adorno und Cassirer
zur Überlagerung. Cassirer mit Adorno interpretiert,
heißt das: Will die Architektur ihre traditionelle gesellschaftliche
Funktion als einzig intersubjektiv gültige Form kultureller Vermittlung, vor
allem aber der jeweils herrschenden Rationalität mit der Lebenspraxis
wahren, so kann es zur Aufnahme der neuesten technologischen Verfahren in
ihren Gehalt keine Alternative geben. In der „Mimesis ans Verhärtete und
Entfremdete“ nur kann die Architektur im Sinne von Cassirer ihrer Funktion
als zentrale Instanz kultureller Vermittlung gerecht werden. Das heißt, dass
die Aufnahme der fortgeschrittensten Technologien, wie Stahl und Glas,
Serialisierung und Standardisierung, keineswegs nur den Gesetzen der
Wirtschaftlichkeit folgt. Wo das Neue von der Sache her erzwungen ist, die
anders nicht zu sich selbst kommen kann, war die produktivistische
Rekonzeptualisierung der Architektur nicht so sehr dem Wunsch nach einem
bloßem Up-to-date-Sein oder dem ökonomischen
Verwertungsdruck getragen, sondern der Tradition ihrer kulturellen
Funktionsweise[13]
geschuldet. Traditionell ist die Moderne nicht ihrer äußeren Form, sondern
ihrer symbolischen Funktionsweise nach.
Schien jedoch die Technik der „Mimesis ans Verhärtete und Entfremdete“ in
der Architektur ihren sichtbaren, das heißt formal- und materialästhetischen
Niederschlag in den Serialisierungs- und Standardisierungsverfahren, den
neuen Bautechniken und -materialien zu finden, so scheint die Mimesis an die
digitalen Technologien heute buchstäblich ins Leere zu laufen, in die
Virtualität und damit in die Entmaterialisierung und Verflüchtigung der
Architektur in den digitalen Medien. Denn was bedeutete Mimesis an die
digitalen Technologien, wo diese im Gegensatz zur Architektur materiallos
sind, d. h. als Oberflächenerscheinungen und Lichtspuren auf den
Bildschirmen aufleuchten oder sich im Nanobereich verflüchtigen. Selbst eine
produktionsästhetische Ausrichtung scheint im Zeitalter müheloser, zwischen
Original und Kopie nicht mehr zu
unterscheidender Vervielfältigung kaum mehr überzeugend. Damit wird eines
deutlich: wo es heute keine Alternative zur Aufnahme der digitalen
Technologien in den Gehalt der Architektur gibt, führt das Bemühen der
Architektur um Erhalt ihrer gesellschaftlichen Funktion zwangsläufig und
alternativlos in die Aporie, d. h. in den unaufhebbaren Selbstwiderspruch.
Ins Zentrum rückt der grundsätzlich antinomische Charakter der Architektur
heute, dass nämlich ihre Rekonzeptualisierung im Kontext der gewandelten
kulturellen Dominante, der Virtualität der digitalen Medientechnologien, nur
mit der Infragestellung ihres ontologischen Status gelingen kann. Bedeutet
Modernsein, die antinomische Konstitution von Kultur zu akzeptieren, so
vollzieht die Architektur tatsächlich erst heute
unter dem digitalen Paradigmenwechsel, mit dem Verlust ihrer
ontologischen Eindeutigkeit, den Wandel hin zur modernen Kulturtechnik.
Postmoderne und die semiologische Rekonzeptualisierung der Architektur.
Ihre zweite, nicht minder bedeutende Vorgeschichte besitzt die
Architekturtheorie heute in der Zeit zwischen den sechziger und achtziger
Jahren des vergangenen Jahrhunderts. In den Worten von Bourdieu ließe sich
von einem sich neu formierenden kulturellen
Kräftefeld sprechen, in dem jenseits des Funktionalismus der
Wiederaufbaumoderne die Semiotik und der Strukturalismus nicht nur zum neuen
Analyseinstrument der Architekturtheorie wurden, sondern gleichermaßen einen
starken Einfluss auf die Architekturpraxis ausübten. Tatsächlich war die
Kritik am Funktionalismus der Nachkriegszeit keineswegs eine
architekturimmanente Kritik. Erst der linguistic turn war es, also
die Semiotik und der Strukturalismus, mit dem die defizitären Strukturen des
Funktionalismus analysierbar und in ästhetischer, soziologischer und
philosophischer Hinsicht artikulierbar wurden.
Der linguistic turn, so wie er 1967
von Richard Rorty verkündet wurde, wurde zum Gründungsimpuls und zur
Basiswissenschaft der Architekturtheorie und löste die vordem neo-marxistischen Kulturtheorien ab. Sowohl
Robert Venturi, Charles Jencks, Heinrich Klotz wie auch Peter Eisenman, um
nur einige zu nennen, gründeten ihre theoretischen Positionen auf der
Semiotik und den strukturalistischen Analysemethoden. Selbst Manfredo
Tafuris neo-marxistische Architekturkritik bezog sich maßgeblich auf den
russischen und tschechischen Strukturalismus von Viktor Sklovskij und Yuri
Tynjanov, Roman Jakobson oder Jan Mukarovsky. Aber mit der
strukturalistischen Methode lag nicht nur ein Instrument zur kritischen
Analyse der Architektur vor, sondern gleichzeitig auch der entscheidende Ansatz zur Überwindung
jener Leere, die durch die Ablehnung der Ikonographie im Allgemeinen und des Ornaments im Besonderen in der frühen Moderne entstanden
war. Auf semiotischer Basis kehrten die Ornamentdebatten der frühen Moderne
gleichsam in ihrer Verwissenschaftlichung in die Architekturdebatten zurück,
wenn auch erst noch in ihrer zeichentheoretischen Reduktion.
Die Architekturtheorie seit den sechziger Jahren verstand sich wesentlich
als ein Projekt der semiologischen Rekonzeptualisierung der Architektur, die
mit ihrem Konzept des flottierenden Signifikanten, also eines permanenten,
nie abgeschlossenen Zeichenprozesses, versuchte, mit dem Anspruch auf
Autonomie der Disziplin und ihren ideologischen Verhärtungen zu brechen. Wie
in Venturis und Eisenmans rhetorischen Ansätzen je verschieden, ironisch
oder analytisch, aber unmissverständlich deutlich wurde, konnte das nur
bedeuten, die Architektur der semiologischen Vieldeutigkeit und Polysemie zu
öffnen – was die Architektur gleichsam in eine tiefe Krise stürzte.
Exemplarisch dafür steht Aldo Rossis typologischer Ansatz, also das, was K.
Michael Hays Rossis Strategie einer „resistance through disciplinary
autonomy“[14]
nannte. Rückbezug der Architektur auf ihr tradiertes Wertesystem durch ihre
formale, materiale und semantische Essenzialisierung war das Programm. Rossi
dürfte damit einer jener gewesen sein, die die ambivalente Kraft im
linguistic turn frühzeitig erkannt hatten und sich diesem
entgegenzustellen versuchten. Mit der Formulierung von architektonischen
Archetypen entzog er die Architektur der Technik des flottierenden
Signifikanten, also dem total flow der analogen Zeichen und Metaphern
und setzte der Polysemie ein ontologisches Konzept einer typologisch
reduzierten Architektursprache entgegen.
Als letzte aller kulturellen Praktiken widersetzte sich die Architektur der
Idee der fortgesetzten Semiose und des flottierenden Signifikanten der
strukturalistischen Methode. Der Grund dafür ist im besonderen semiotischen
Status der Architektur zu suchen, wie dies 1993 Eisenman in einem Gespräch
mit Jacques Derrida formulierte. „Der Unterschied zwischen dem
sprachlichen Zeichen und dem architektonischen Zeichen besteht darin, daß
die Säule zunächst und in erster Linie als Säule und nicht als Zeichen
wahrgenommen wird. Die Säule ist kein willkürliches Zeichen“[15],
sondern etwas, das in seiner konkreten Materialität eine nicht minder
konkrete Funktion besitzt. Die Idee des „Unmotiviertwerdens
des Zeichens“, also des flottierenden Signifikanten, welche zur Schrift
gehöre, lasse sich daher in der Architektur nur schwierig umsetzen. Aber
gerade darauf hatte in den achtziger Jahren der Dekonstruktivismus von
Eisenman wie Jacques Derrida abgezielt. Derrida nach war jede eindeutige
Festlegung der Bedeutung eines architektonischen Elements nichts anderes als
ein Versuch, ein gegenständlich verfestigtes „transzendentales Signifikat"
zu bestimmen. Im Sinne des Dekonstruktivismus verbarg sich für Derrida
dahinter die Zwangsvorstellung und der Versuch, die frei flottierende
Interpretationsbewegung der Zeichen zu unterbrechen und die Architektur auf
ihre ontologische Eindeutigkeit zu fixieren. Tatsächlich zielte das
strukturalistische, aber vor allem das dekonstruktivistische Interesse auf
das Eigenverständnis der Architektur als in ihrem Sein eindeutig bestimmte,
kulturelle Praxis, doch nicht im Sinne der Bestätigung, als der Subversion
ihres ontologischen Status. So wurde Ende der achtziger Jahre die subversive
Unterwanderung des ontologischen Status der Architektur geradezu zum
Gradmesser für die Etablierung des Dekonstruktivismus als alles umfassende
Kulturtheorie.
Als Anfang der neunziger Jahre die digitalen Medientechnologien auf breiter
Basis in die Architekturpraxis eingeführt wurden, hatte sich Eisenman jedoch
schon von einer rein zeichentheoretisch ausgerichteten
dekonstruktivistischen Architekturtheorie und -praxis abgewendet.
Sicherlich, mit den dekonstruktivistischen Verfahren war einerseits
erfolgreich die klassische Figur-Grund-Relation in der Architektur in Frage
gestellt worden, andererseits waren die Defizite der semiologischen
Verengung der Architekturtheorie selbst sichtbar geworden. Anfang der
neunziger Jahre war in der Architektur mit dem dekonstruktivistischen Ansatz
philosophisch gescheitert, was sich mit dem digitalen Paradigmenwechsel
heute ernsthaft kaum mehr bestreiten lässt: die Unterminierung des
ontologischen Status der Architektur.
Architekturtheorie und der digitale Paradigmenwechsel
Die digitale Avantgarde in der Architektur. Es war Konrad Paul Liessmann,
der die Problematik der virtuellen Realität für die künstlerischen
Disziplinen früh erkannt hatte. In einem ersten Resümee schrieb er 1995,
dass es keinerlei Anlass gebe, jede digitale Illusion am Bildschirm allein
schon als eine ästhetische Erfahrung zu idealisieren. Dies war an die neu
sich formierende Avantgarde des digitalen Zeitalters gerichtet. Deren erste
Produktionen im virtuellen Raum bezeichnete Liessmann nicht ganz
unberechtigt als „Jahrmarktattraktionen“, wobei er gleichzeitig der
Hoffnung Ausdruck gab, dass sich aus diesen technischen Potentialen „nicht
ästhetische Strategien gewinnen ließen.“[16]
Ähnliches lässt sich auch zur ersten digitalen Avantgarde in der Architektur
anmerken, auch hier wird erst die Rede von einem Scheitern sein müssen. So
entwarfen ihre Protagonisten wie Greg Lynn, Jesse Reisser, Hani Rashid oder
Ben van Berkel und Lars Spuybroeck in einem ersten Schritt mit hohem konzeptuellen Engagement und methodischem
Aufwand Gebilde, die aus morphologischen, sich selbst generierenden
Prozessen entstanden waren und allein in der virtuellen Realität des
digitalen Mediums existierten. Diese formierten sich einerseits zu
eigenartig biomorphen Gebilden, den sogenannten Blobbs, wie zum
Beispiel das Embryonic House von Greg Lynn. Interessanterweise ließen
diese oftmals an Entwürfe von Friedrich Kiesler, Hermann Finsterlin oder
auch an Hans Scharouns Architekturphantasien denken. In den weniger
gelungenen Beispielen führte dies dagegen zu nicht minder exzessiven, jedoch
bezugslosen und naiven Strukturen, die in der Tat kaum mehr als
Jahrmarktattraktionen waren.
Vom heutigen Standpunkt aus wird erkennbar, dass die erste digitale
Avantgarde insgesamt kaum mehr war als die Verlängerung der
dekonstruktivistischen Methoden der achtziger Jahre in die virtuelle
Realität des digitalen Mediums hinein. Selbst die indeterministischen,
mathematischen Modelle, wie zum Beispiel die strange attractors oder
das Möbiusband, konnten kaum darüber hinwegtäuschen, dass die
Generierungsverfahren, die dabei zum Einsatz kamen, wie scaling, mapping,
folding, layering, superimposition, grafting, voiding und blurring,
unmittelbar dem analogen Repertoire des Dekonstruktivismus entnommen waren.
In der Tat, es lässt sich nicht leugnen, dass es vor allem die
dekonstruktivistische Experimentalästhetik war, wie sie sich in den
achtziger Jahren entwickelt hatte, die von vorn herein bedingungslos offen
für die Möglichkeitspotenziale des indeterminierten Raums des virtuellen
Mediums war.
Die Erwartungen wie auch die Grenzen, die sich mit dem neuen digitalen
Medium verbinden, lassen sich am Möbiushaus von Ben van Berkel
aufzeigen. Ausgangspunkt dafür war das Möbiusband, das sich aufgrund der zwei Operationen wie
Dehnung und Drehung dadurch auszeichnet, dass es als doppelt gewundene Figur
auf seiner Oberfläche eine endlose Bewegung ermöglicht, die innerhalb zweier
Durchläufe von der Außenseite zur Innenseite und wieder zurück auf die
Außenseite führt. In architektonischen Begriffen heißt das, dass es nicht
nur kein Außen und kein Innen gibt, sondern auch kein Oben und kein Unten.
Die architektonische Faszination für das Möbiusband entspringt dann der
Tatsache, dass die Parameter, die die Architektur ontologisch in ihrer
Eindeutigkeit konstituieren, wie das Verhältnis von
Innen zu Außen oder Oben zu Unten,
aufgelöst werden. Andererseits muss man darin gerade den Grund sehen,
weshalb das gebaute Möbiushaus hinter seinem virtuellen Modell zurückbleiben
musste. Denn die Rückübersetzung des virtuellen Modells in die
lebensweltliche Realität konnte nur unter Verlust seiner charakteristischen
Qualitäten stattfinden: das ist die kontinuierliche, die Kategorien von Oben und Unten, Innen und Außen
negierende Bewegung. Im realen Haus lässt sich die Schwerkraft nicht außer
Kraft setzen, wir können weder an der Decke laufen, noch uns problemlos
wechselseitig von außen nach innen und wieder nach außen bewegen, ohne dabei
klare Grenzen zu überschreiten.
Trotz aller sonstigen Qualitäten, in der Verkehrung des üblichen
Arbeitsablaufes stellt sich das gebaute Haus quasi als ein nachgeholtes
Arbeitsmodell für einen im digitalen Medium vorweggenommenen Idealzustand
dar. Damit ist das realisierte Projekt kaum mehr als ein irdisch hinfälliges
Abbild seiner virtuellen Idealform, das digitale Entwurfsverfahren eine Form
der Retranszendentalisierung der Architektur. Wie ihre klassizistischen
Vorgänger erscheint die Architektur lediglich als die mit Mängeln behaftete
irdische Vorstufe ihres imaginierten, hier eben virtuellen Idealzustands. In
der direkten Applikation der dekonstruktivistischen Verfahrensweisen auf das
neue digitale Medium bestätigt sich Marshall McLuhans Erkenntnis, nach dem
jedes neue Medium erst wie ein altes Verwendung findet. Unbefriedigend
bleibt jedoch, dass sich McLuhan der Analyse der Ursachen dafür entzieht.
Man müsste auch hier historisch wie erkenntnistheoretisch tiefer ansetzen.
Denn interessant ist, dass in der Projektion der dekonstruktivistischen
Methoden auf das andere Medium eines in aller Deutlichkeit hervortritt: das
sind die ideologischen Verkürzungen und immanenten Nostalgien des
Dekonstruktivismus selbst. An analytischer Schärfe gewinnt McLuhans Satz,
wenn man ihn dahingehend umbaut, dass erst das neue Medium die Defizite des
alten deutlich zu Tage treten lässt.
In der Tat, im Falle des Dekonstruktivismus
ist es die in ihm latent nachwirkende, nostalgisch verbrämte
Avantgardeattitüde der Moderne, das heißt die
Fokussierung auf die produktivistischen Verfahrensweisen, die mit der
Applikation der dekonstruktivistischen Methoden auf das neue digitale Medium
zu Trage treten. Die erste digitale Avantgarde ist, wie zum Beispiel Lynns
Embryonic House, noch ganz der objektorientierten Prozessualität der
modernen Avantgarde verhaftet. Wo sie sich weiterhin innerhalb des
produktivistischen Paradigmas der Moderne bewegt, allein potenziert durch
die Flüchtigkeit des virtuellen Raums, verkennt sie die spezifische
Charakteristik der neuen Technologien. Denn im total flow der
digitalen Bilder geht es nicht mehr um die permanente Zeichenverschiebung
und um Prozesse der Semiose, die im Sinne des
flottierenden Signifikanten auf klar gekennzeichnete Operatoren
zurückgreifen. Es geht nicht mehr um den Übergang von Zeichen zu Zeichen
oder von Metapher zu Metapher, sondern um eine Bildtechnik der Dichte, der
Ersetzung und Durchdringung und im Übergangsbereich von der modernistischen
Objektproduktion zur postindustriellen Bilderkonsumtion um die
Liquidisierung der Grenze zwischen den analogen Objekt- und den digitalen
Bildwelten.
Architekturtheorie als kritische Bildtheorie. Als Manfredo Tafuri
Ende der sechziger Jahre für die Architektur forderte: „Architecture must
model itself on technological reality, so intimately as to become an
epistemological metaphor“[17],
verband sich dies für ihn mit dem Konzept eines „kritischen Wertes der
Bilder“[18].
Tafuri forderte für die Architektur nichts weniger als einen kritischen
Bilddiskurs! Wie aktuell, könnte man anmerken, auch wenn nicht übersehen
werden darf, dass die Basis dafür noch ganz das produktivistische Paradigma
der Moderne und ihre semiologische Erweiterung war. Trotzdem, aus heutiger
Sicht kommen Zweifel auf, ob Tafuris semiologischer Ansatz nicht doch mehr
auf einem Konzept von Bildern als auf einem von Zeichen
beruhte. Nicht zufällig ist immer wieder die
Referenz auf die malerische Tradition der europäischen Kulturgeschichte, auf
die Maler Carracci, Caravaggio oder Michelangelo. Der Verdacht verhärtet
sich, wo er wiederholt auf Giulio Romano zu sprechen kommt, der Architektur, Malerei und Skulptur, also Raum und Bild
miteinander verschmolzen habe.
Vielleicht heute erst, im Zeitalter des digitalen Paradigmenwechsels,
realisiert sich Tafuris Intuition. Es tritt das in den Vordergrund, was
Tafuri als „Eclipse of History“ bezeichnete. Denn in der Tat,
mit den digitalen Medientechnologien und der Frage, ob die Architektur nun
mehr virtuelle Erscheinung oder mehr materiale Manifestation sei, gelangt
ihre bisherige Geschichte irgendwie an ein Ende, ohne jedoch dadurch zum
Stillstand zu kommen. Denn mit der Aufnahme der antinomischen Konstitution
von Kultur in ihren Gehalt scheint die Architektur erst zum Bewusstsein
ihrer selbst zu kommen. Während in ihrer vormodernen wie auch modernen
Praxis Architektur kaum mehr als eine Variation über die mehr oder weniger
gleichen Themen war, scheint sie heute in ihrer avanciertesten Form Resultat
einer Reflexion über das Ganze und Ausdruck eines eigenen Bewusstseins zu
sein. Im Kontext des digitalen Paradigmenwechsels werden Architekturtheorie
und Philosophie plötzlich füreinander offen. Wie man mit Arthur C. Danto
sagen könnte, sie brauchen einander, um sich gegenseitig auseinanderhalten
zu können.
Im Sinne einer Philosophie der Architektur ist die Architekturtheorie
heute demnach nichts gänzlich Neues, sondern der Versuch, die mühsame
Beschäftigung mit dem schwierigen Ganzen zu bedenken. Jenseits des
linguistic turn geht es um die Entwindung der Architekturtheorie aus
ihrer Fixierung auf die strukturalistische Methode. Nicht ihre Abschaffung
ist das Ziel, sondern ihre Erweiterung auf medien- und bildtheoretischer
Basis. Mit der Aufnahme der antinomischen Konstitution der Kultur in ihren
Gehalt öffnet sich die Architektur der Kontingenz und der Momentanität der
kulturellen Dynamik. In ihren avanciertesten Formen nähert sie sich so der
von Friedrich Nietzsche geforderten Experimental-Ästhetik. Nur so, als
kritische Bildpraxis aus der Aktualität des Wandels heraus Zukunft
gestaltend, kann ihr die Rekonzeptualisierung ihres kulturellen Status als
symbolische Form gelingen. Oder anders ausgedrückt: Über die Architektur
lässt sich heute nicht sprechen ohne Bestimmung ihres ikonischen Status in
seiner je eigenen kommunikativen Struktur. Glaubte man noch zu Beginn der
Moderne, dass unter dem produktivistischen Paradigmenwechsel kein Platz fürs
Bildhafte mehr sei, so kann heute kein Zweifel mehr daran bestehen, dass die
neuen digitalen Bildverfahren das Technisch-Konstruktive mit dem
Bildhaft-Mimetischen wieder in eine neue Einheit zusammenzwingen.
Anmerkungen:
[1] Fredric Jameson prägte den Begriff
der kulturellen Dominante erstmals in seiner Analyse der Logik der
Kultur im Spätkapitalismus. Er versteht darunter „eine Konzeption,
die es ermöglicht, die Präsenz und die Koexistenz eines Spektrums ganz
verschiedener, jedoch einer bestimmten Dominanz untergeordneter Elemente
zu erfassen.“ Fredric Jameson, Postmoderne – Zur Logik der Kultur im
Spätkapitalismus, in: Postmoderne. Zeichen eines kulturellen Wandels,
hrsg. v. Andreas Huyssen u. Klaus R. Scherpe, Reinbek bei Hamburg 1986,
S. 48.
[2]
„Henceforth the social system will be inconceivable without a concept
of media and its two constituents, electronic, consumer technology and
heterogeneous communication […]“. K. Michael Hays, Smooth
Architecture and the De-differentiation of Practice, Vortrag auf dem 9.
Internationalen
Bauhaus-Kolloquium Weimar 2003, Vortragsmanuskript im Besitz des Autors,
S. 7.
[3]
Henri Lefebvre, La production de l’espace, Paris 2000.
[4]
Bei Vitruv sind unter dem Begriff der Ratiocinatio all jene, auf die
Visualisierung der Ideen ausgerichteten „verfeinerten Sinnesarten“ zusammengefasst, die aus dem „geistigen
Vermögen“ heraus fähig sind, die technischen Objekte in „individuellem
künstlerischen Gefühle nebst ästhetischer Berechnung ihres geziemenden
Ebenmaßes auszugestalten und deren stilistische Bedeutung zu erläutern.“
Marcus Vitruvius Pollio, Zehn Bücher über Architektur, Baden-Baden 1974,
1. Kapitel.
[5]
Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen
Reproduzierbarkeit, Frankfurt/M. 1963, S. 13 f.
[6]
Günther Anders, Die Antiquiertheit des Menschen, 2 Bde, München 1987,
Bd. 1, S. 97 ff.
[7]
Von der Architektur als Massenmedium kann auch Viktor Hugos eingängige
Formel, dass die Erfindung des Buchdrucks die Kathedrale und damit die
Buchkunst die Baukunst abgelöst habe, nicht ablenken. Dass das
Massenmedium Architektur unterschiedliche Phasen durchmachte – von der
Gotik über den Barock, den Klassizismus, die Weltausstellungen, die Neue
Sachlichkeit bis zu den populistischen Formen in der Postmoderne und
ihren Themenparks – spricht eher für als gegen ihren Status als
dynamisches und anpassungsfähiges Massenmedium.
[8]
Es scheint, als ob trotz des neukantianischen Ausgangspunkts in
Cassirers Kulturphilosophie noch die idealistische Ästhetik von Hegel
und Schopenhauer nachwirkt. Für Schopenhauer stellte die Architektur die
ungeistigste der Künste und damit die unterste Kategorie aller Künste
dar. In der dumpfen Dialektik von Stütze und Last, dem Antagonismus von
Starrheit und Schwere verbrauche sich quasi der Wille des Steines. In
Die Welt als Wille und Vorstellung heißt es dazu: „Die Materie
als solche kann nicht Darstellung einer Idee seyn.“ Andererseits
scheint Cassirer darüber hinaus den entscheidenden Schritt der
Kulturphilosophie zur Überwindung der Dualität zwischen hoher und
populärer Kultur nicht konsequent gegangen zu sein. Vgl. Arthur
Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung II, Zürich 1977,
Zweiter Teilband, § 35 u. 43.
[9]
Ersichtlich wird, dass Cassirer mit seiner Philosophie der symbolischen
Formen den Schritt von der Erkenntnistheorie im neukantianischen Sinne
zur Kulturphilosophie beschritt und weiter in grundlegender Absicht in
eine Anthropologie erweiterte. An die Stelle der Dominanz rationaler
Erkenntnis, auf die Immanuel Kant noch die Ästhetik im Sinne einer
bloßen „Urteilskraft“ beschränkte, tritt die Pluralität des
semiotischen wie sinnlichen Überschusses der Werke. Cassirer versucht
nichts weniger, als die bei Kant präsente antinomische Entgegensetzung
von ästhetischer Interesselosigkeit und aktiver geistiger Sinngebung zu
überwinden.
[10]
Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, Frankfurt/M. 1973, S. 38.
[11]
Ders., Ästhetische Theorie, a. a. O., S. 39.
[13]
Es ist aber nicht erst die Architektur der Moderne, die in der
Maschinenproduktion, später im digitalen Paradigmenwechsel ihre
entscheidenden Impulse erfuhr. Zuvor schon sind es die Wehrtechnologie
und die Entwicklung der Kriegskunst, auf die die Architektur und die
Stadtbaukunst reagieren. Erst sind es die Befestigungsbauwerke und
Verteidigungsringe – z. B. von Pietro Paolo Floriani, Sanmicheli, René
de Montalembert oder Sébastien le Prestre de Vauban –, die die
Stadtgestalt bestimmten. Später ist es das Schleifen der
Befestigungsanlagen, das die moderne Stadt mitgestaltet und als Reaktion
auf die neuesten Entwicklungen der Wehrtechnologie interpretiert werden
muss.
[14]
K. Michael Hays, Smooth Architecture and the De-differentiation of
Practice, a. a. O., S. 1.
[15]
Peter Eisenman, Architektur Schreiben. Ein Gespräch zwischen Peter
Eisenman und Jacques Derrida (1993), in: ders., Aura und Exzeß. Zur
Überwindung der Metaphysik der Architektur, Wien 1995, S. 296.
[16]
Konrad Paul Liessmann, Von Tomi nach Moor. Ästhetische Potenzen – nach
der Postmoderne, in: Kursbuch. Die Zukunft der Moderne, Dezember 1995,
Heft 122, S. 29.
[17]
Manfredo Tafuri, Theories and History in Architecture, London u. a. 1979
(1968), S. 41.
[18]
Ders., Theories and History in Architecture, a. a. O., S. 103.
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