Gebaute Räume
Zur kulturellen Formung von Architektur und Stadt

9. Jg., Heft 1
November 2004
   

 

___Walter Siebel
Oldenburg
  Qualitätswandel des öffentlichen Raums *

 

   

Stadt ist eine soziale Tatsache, die sich räumlich geformt hat in Gebäuden, Plätzen und Straßen. Die soziale Tatsache, die in der europäischen Stadt Gestalt gewonnen hat, ist die bürgerliche Gesellschaft. Die europäische Stadt ist damit Ort einer dreifachen Emanzipation des Bürgers:

Sie ist Ort einer besonderen Organisation der Ökonomie, der Marktwirtschaft, und damit Ort der Emanzipation des Bourgeois, des Wirtschaftsbürgers, aus den unproduktiven Kreisläufen geschlossener Hauswirtschaften.

Sie ist Ort einer besonderen Organisation des Politischen, der demokratischen Selbstverwaltung einer zivilen Gesellschaft, und damit Ort der Emanzipation des Citoyen, des politischen Bürgers aus den Abhängigkeiten feudalistischer Herrschaft.

Und sie ist Ort der Emanzipation des Individuums aus den dichten sozialen Kontrollen dörflicher Nachbarschaften.

Die europäische Stadt und insbesondere ihre öffentlichen Räume als die Orte von Politik, Markt und Selbstdarstellung sind deshalb historisch aufgeladen mit den Emanzipationsversprechen der bürgerlichen Gesellschaft: durchgesetzte Demokratie, offene Märkte und Individualisierung. Über die Qualität des öffentlichen Raums der europäischen Stadt entscheiden damit aber nicht allein seine Erreichbarkeit, seine Nutzungsvielfalt, die Qualität seiner architektonischen und städtebaulichen Gestaltung, also klassische Kriterien des Städtebaus. Entscheidend für den Öffentlichkeitscharakter städtischer Räume sind die Art und Weise, wie er produziert und wie er verwaltet wird, also die Funktionsfähigkeit von Markt und Demokratie. Um ein literarisches Bild dafür zu verwenden: die Stadt stellt die Bühne und die Kulisse für ein Theaterstück, das

        vom ökonomischen System verfasst,

        vom politischen System inszeniert

        und von Schauspielern dargeboten wird, die die urbanen Verhaltensweisen gelernt haben müssen.


Wenn der Stückeschreiber, der Regisseur und die Schauspieler schlecht sind, dann macht auch das beste Bühnenbild daraus kein gutes Theater.

Die Stalin-Allee oder Karl-Marx-Allee stellt vielleicht ein gelungenes Bühnenbild der europäischen Stadt, jedenfalls führt sie die Versatzstücke eines solchen Bildes vor. Aber solange die DDR existierte, war die Karl-Marx-Allee kein öffentlicher Raum. Unter den Bedingungen von Diktatur und Zentralverwaltungswirtschaft kann es keine öffentlichen Räume im Sinne des öffentlichen Raums der europäischen Stadt geben. Genauso wenig existiert der öffentliche Raum einer Stadt als Raum ökonomischer und politischer Teilhabe  für diejenigen, die dauerhaft aus dem Arbeitsmarkt und dem politischen System ausgegrenzt sind. Diesen Zusammenhang zwischen gesellschaftlicher Herrschaft und dem Öffentlichkeitscharakter von Räumen will ich am Beispiel einer neuen Organisationsform von Markt, den großen Shopping-Malls erläutern. Die Malls sind deshalb ein besonders gewichtiges Beispiel für die Frage nach dem Qualitätswandel des öffentlichen Raums im Zuge der Tendenzen einer Privatisierung von Stadt, als sie die Gründungsfunktionen der europäischen Stadt betreffen, den Markt.

Die häufig vertretene These vom Verfall des öffentlichen Raums wird mit den Tendenzen einer Privatisierung der europäischen Stadt begründet. Aber es gibt Gegentendenzen zu solcher Privatisierung. Im zweiten Teil werde ich solche Gegentendenzen am Beispiel der Umnutzung von Industriebrachen diskutieren. Sie kennzeichnen Prozesse der Veröffentlichung ehemals privater Räume und des Entstehens neuer öffentlicher Räume. Am Schluss steht die These, dass es sich gegenwärtig nicht um einen Verlust des öffentlichen Raums, sondern um dessen Wandel handelt. Damit einher geht auch ein Wandel der Gefährdungen des Öffentlichkeitscharakters städtischer Räume.

Öffentliche und private Räume lassen sich in vier Dimensionen voneinander unterscheiden (Siebel/Wehrheim 2003):
 

1.      funktional: Dem öffentlichen Raum von Platz und Straße sind die Funktionen Markt und Politik zugeordnet, den privaten Räumen von Betrieb und Wohnung die Funktionen Produktion und Reproduktion.

2.      juristisch: Der öffentliche Raum unterliegt dem öffentlichen Recht, private Räume unterstehen dem privaten Hausrecht der Eigentümer.

3.      sozial: Der öffentliche Raum ist Bühne stilisierter Selbstdarstellung, Ort der Anonymität, der Begegnung mit Fremden, eines distanzierten, blasierten und gleichgültigen Verhaltens, bei dem nur kleine Ausschnitte der Person sichtbar gemacht werden. Private Räume dagegen sind Orte der Unmittelbarkeit, der Vertrautheit, wo der Einzelne als ganze Person in Beziehung zu anderen tritt, Orte der Intimität, der Körperlichkeit und der Emotionalität.

4.      baulich/symbolisch: es gibt eine Fülle architektonischer und städtebaulicher Gestaltungselemente, die Offenheit resp. Geschlossenheit von Räumen signalisieren.


In allen vier Dimensionen lassen sich Veränderungen beobachten, die die Polarität von Öffentlichkeit und Privatheit aushöhlen.
 

1.      funktional: die Politik ist schon lange aus dem öffentlichen Raum der Städte ausgewandert in die Parteiorganisationen, die Verbände und die Medien. Die Marktfunktion wurde schon um 1900 eingehaust in den Passagen und großen Kaufhäusern. Dieser Prozess hat mit den großen Shopping-Malls nur eine neue Qualität erreicht.

2.      juristisch: damit geraten die klassischen Funktionen des öffentlichen Raums, Markt und Politik, aus dem Geltungsbereich des öffentlichen Rechts in Räume, die dem privaten Recht des Eigentümers unterworfen sind.

3.      sozial: auch die soziale Polarität von öffentlichen und privaten Räumen verwischt sich. Warum stören Handynutzer wie Obdachlose im öffentlichen Raum der Stadt? Weil beide die urbanen Verhaltenscodes des öffentlichen Raums verletzen. Der Handybenutzer, indem er lautstark seine Familien- und Geschäftsangelegenheiten vor Fremden zu Gehör bringt, der Obdachlose, indem er in öffentlichen Anlagen schläft, isst, sich wäscht oder uriniert, also Verhaltensweisen sichtbar macht, die der europäische Städter in einem langen Prozess der Zivilisierung gelernt hat, hinter den Mauern der Privatheit zu verbergen.

4.      symbolisch: schließlich werden öffentliche Räume im Wortsinne exklusiv gestaltet durch elitäre Zeichen und teure Materialien: Marmor, verspiegeltes Glas, Messing und Palmen, alle diese häufig in den Innenstädten verwendeten Gestaltungselemente wirken als soziale Filter. Der öffentliche Raum wird auch dadurch exklusiv, dass Minderheiten die symbolische Präsenz im Stadtbild versagt bleibt wie gegenwärtig den Muslimen.


Einhausung, juristische Privatisierung, Auflösung der Verhaltenscodes im öffentlichen Raum und exklusive Gestaltung – stimmt also die These von der Privatisierung der europäischen Stadt und damit vom Verfall des öffentlichen Raums? Ich möchte diese These am Beispiel der Mall diskutieren.

Große Shopping-Malls werden nicht nur kritisiert als Privatisierung des öffentlichen Raums, sondern auch als ästhetisch-sterile, funktional-monotone, bloße Simulationen von Stadt. Die fortgeschrittensten Beispiele sind der Versuch einer perfektionierten Nachbildung innerstädtischer Fußgängerzonen. Sie stehen diesen in Nichts nach, weder hinsichtlich der Vielfalt der Nutzungen noch hinsichtlich der Heterogenität der Besucher oder dem Abwechslungsreichtum der Gestaltung. Nur sind sie weitgehend ohne die negativen Begleiterscheinungen der Innenstädte: ohne Schmutz, ohne Bettelei und ohne schlechtes Wetter. Abwesenheit störender Verhaltensweisen, Sauberkeit und gutes Wetter sind allgemein erwünschte Annehmlichkeiten. Diese Wünsche sind durch und durch legitim. Also werden auch die Innenstädte gesäubert, von unerwünschten Personen freigehalten, verkehrsberuhigt und video-überwacht. Es gibt auch Diskussionen, sie zu überdachen. Die Unterschiede in den Umwelten von Mall und innerstädtischer Fußgängerzone nivellieren sich  auf rein Quantitatives, ein Mehr oder Weniger vom Gleichen:
die gleichen Filialen, die gleiche Kundschaft, die gleichen Spiegel, Marmorplatten und Videokameras, die gleichen Marktkarren, Kunstwerke und Versatzstücke von Natur, mittlerweile auch die gleichen Standorte in den Kernstädten.

Angesichts dieser Tendenzen einer gegenseitigen Angleichung von Mall und Innenstadt bleibt anscheinend nur noch eine akademische Kulturkritik, die auf der Bühne der Stadt auch die Schattenseiten der Gesellschaft sehen will, also Elend und Armut und die Nachtseiten der Urbanität – Rotlichtviertel mit Prostitution, Spielhöllen und Drogenszene – und die darauf besteht, dass die Unsicherheiten der Städte eben etwas seien, was der gelernte Städter auszuhalten habe. Aber solche Appelle an einen heroischen Urbanismus bleiben hilflos gegenüber den ja durchaus mehrheitsfähigen Wünschen nach Sicherheit, Sauberkeit und Service.

Aber selbst wenn sich die Erscheinungsformen städtischen Lebens in den Fußgängerzonen der Innenstädte und den großen Shopping-Malls mehr und mehr ähneln, so bleibt doch ein entscheidender Unterschied. Dieser Unterschied liegt in der Art und Weise, wie diese Räume produziert und verwaltet werden, also in der Struktur von Herrschaft, in die diese Räume eingebunden sind.

Das International Council of Shopping-Centers definiert die Mall als: “A group of retail or other commercial establishments, that is planned, developed, owned and managed as a single property” (Urban Land Institute, zit. nach Falk 1998, 15).

Was die Mall von der innerstädtischen Geschäftsstraße unterscheidet ist die Tatsache, dass ein Subjekt die Mall plant, produziert, besitzt und verwaltet.

Es verfügt über alle relevanten Informationen, über alle notwendigen Mittel (Eigentumsrechte, Geld), und es verfolgt widerspruchsfreie Ziele: die Maximierung des Ertrags auf das eingesetzte Kapital. Kurz, die Mall wird in jener idealen Planungssituation realisiert, die man das Gott-Vater-Modell von Planung nennen kann (Siebel 1996): von einem allmächtigen und allwissenden Subjekt, das jenseits von Gut und Böse handelt.

Der öffentliche Raum der Stadt dagegen wird produziert durch die Mechanismen des Immobilienmarkts und der kommunalen Politik, die wechselnden Förderrichtlinien von Bund und Ländern, den Denkmalschutz, die rationalen und auch irrationalen Entscheidungen einzelner Eigentümer und Geschäftsinhaber, die Wohnpräferenzen der Bevölkerung und durch das Wirken von Generationen von Städtebauern und Architekten.

Innerstädtische Räume werden nach dem Modell von Planung als einer Stückwerkstechnik produziert, d. h. in einem Aushandlungsprozess zwischen einer Vielzahl von Akteuren - Eigentümern, Geschäftsinhabern, Bürgerinitiativen, Denkmalschutz, Stadtplanern, Politikern ... -, die teilweise widersprüchliche Ziele verfolgen und unter Bedingungen strukturell unzulänglicher Mittel und Information handeln müssen.


Die Mall ist eine vollständig kontrollierte Umwelt, eine Kontrolle, die Nutzer, Besucher, Architektur, Warenangebot, Klima, Beleuchtung, Schrittgeschwindigkeit etc. umfasst. Vollständigkeit und Einheitlichkeit der Kontrolle bezeichnen die qualitative Differenz zwischen Mall und städtischen Räumen. Diese Differenz der Herrschaftsstrukturen von Mall und traditionellem städtischen Raum hat Konsequenzen für die Qualität des öffentlichen Raums. Die vollständige Kontrolle bei Planung und Betrieb der Mall ermöglicht drei Ebenen von Kontrolle der Nutzungen und der Nutzer:
 

1.      Negative, ausgrenzende Kontrollen. Als alleiniger Eigentümer kann der Betreiber der Mall darüber bestimmen, wer zu welchen Bedingungen welche Flächen anmietet. Nicht die Mechanismen des Immobilienmarkts und schon gar nicht die Prozesse demokratischer Willensbildung bestimmen das Warenangebot, den Mix der Geschäfte, die Standorte und die Gestaltung der Läden. Das tun allein die Strategien des Mall-Managements und zwar bis in die Details der Reklame und der Auslage der Waren. Die Herrschaftsstruktur der Mall hat wenig Ähnlichkeiten mit Markt und Demokratie und viel mit feudalistischen Lehnsverhältnissen.

Analoges wie für die Regelung des Angebots gilt für die Regelung des Zugangs für Kunden. Sie unterliegt nicht dem öffentlichen Recht, sondern dem privaten Hausrecht.

Dabei ist das empirisch feststellbare Ausmaß von Überwachung und Ausgrenzung weniger bedeutsam. Entscheidend ist die Entscheidungsstruktur, die Tatsache, dass der  Mallbetreiber allein darüber bestimmen kann, dass „angemessene Kleidung“ zu tragen ist und Rauchen, Betteln, „unnötiger Aufenthalt“ und das Mitführen von Ghettoblastern oder Hunden unzulässig. Ausgrenzende Kontrollen durch Videokameras, Polizei, private Sicherheitsdienste und Ordnungsvorschriften können in der Fußgängerzone wie in der Mall stattfinden. Aber die Machtverhältnisse sind jeweils andere und damit die Chancen, etwas zu ändern. In der Mall hilft nur der Käuferstreik, also der Verzicht auf die Nutzung des Standorts auf Seiten der potentiellen Mieter und der Verzicht auf die Nutzung des Warenangebots seitens der Kunden. In der Stadt ist eine politische Einflussnahme möglich, ohne gleich auf Teilhabe an den ökonomischen Chancen des Standorts verzichten zu müssen. Anders ausgedrückt: auch bei identischer Exklusivität ist der städtische Raum insofern immer noch grundsätzlich öffentlicher Raum, als seine Exklusivität im Unterschied zur Mall durch öffentliches, politisches Handeln geändert werden kann.
 

2.      Positive Kontrollen. Die Ziele der Kontrolle beschränken sich in der Mall nicht darauf, störendes Verhalten und unerwünschte Besucher auszuschließen. Es geht darüber hinaus um die Stabilisierung erwünschter Verhaltensweisen. Dazu werden die Profile und Präferenzen der anvisierten Klientel gründlich erforscht. Auf Basis dieser Informationen  wird die Mall so arrangiert, dass der Besucher sich in einer Umwelt wiederfindet, die ihm eben jene Verhaltensweisen nahe legt, die er selber gewünscht hat. Legnaro und Birenheide (2004) haben das als Doppelgesicht der Mall zwischen Konsumentensouveränität und Kontrolle herausgearbeitet. Wie der Slogan einer Boulevardzeitung „Dir Deine Meinung“, so verspricht die Mall dem Kunden die exakte Erfüllung seiner Wünsche. So entsteht ein geschlossener Kreislauf von Konsumforschung, Gestaltung der Umwelt und induziertem Verhalten, aus dem nur das ausgeschlossen bleibt, was an Bedürfnissen verdrängt oder doch vor den Augen einer gesitteten Öffentlichkeit verborgen wird.

Die Mall ist ein Ort der Normalisierung als Sicherung von statistischer Normalität und normativer Erwünschtheit.
 

3.      Beseitigung von Unsicherheit. Unsicherheit ist das Charakteristikum des öffentlichen Raums der Stadt. Stadt ist ein Ort, an dem Fremde leben. Der Fremde verunsichert auf doppelte Weise: als Unbekannter und als Andersartiger: Der Fremde als der Unbekannte ist in seinem Verhalten nicht kalkulierbar. Situationen, in denen Fremde einander begegnen, sind deshalb Situationen, in denen keiner über genügend Informationen verfügt, um die Situation kontrollieren zu können. Der Fremde als der Andersartige verunsichert, weil er an die eigenen verdrängten sexuellen und aggressiven Wünsche erinnert. Angst vor dem Fremden ist immer auch Angst vor innerem Kontrollverlust. Der öffentliche Raum ist ein Raum der Verunsicherung, weil man fürchten muss, die Kontrolle über die äußere Situation und die innere Kontrolle zu verlieren.


Verunsicherung des Kunden ist tödlich fürs Geschäft. Das Arrangement der Mall-Umwelt zielt daher auf eine vertraute, sichere Atmosphäre, in der der Kunde jederzeit die Situation kontrollieren kann:
 

        Sichtbeziehungen dürfen nicht länger sein als die normale Reichweite des Blicks.

        Jeder Ort muss eindeutige Orientierung erlauben und eindeutig definiert sein.

        Die Vielfalt der Angebote darf nicht das Maß überschreiten, an dem der Eindruck der Fülle in Überforderung umschlägt und damit jene Selbstpanzerung und Abschottung auslöst, die Georg Simmel als Reaktion des Großstädters auf die Überreizung seiner Sinne beschrieben hat.


Das Ganze muss „clean, warm, safe, friendly, welcoming“ anmuten (Miller et al 1998, S.104). Die Chiffre für das angestrebte Wohlgefühl in der Mall ist die familiale Atmosphäre als dem Inbegriff von Vertrautheit und Sicherheit: „family environments“, „family appeal“(a. a. O.). Um die strukturelle Unsicherheit des öffentlichen Raums zu beseitigen, bedienen sich die Manager der Mall der Kategorien des Privaten. In dem Maße, indem es gelingt, jegliche Verunsicherung des Kunden zu vermeiden, d. h. in dem es gelingt, einen Raum zu schaffen, in dem der Besucher den Eindruck hat, jederzeit Herr der Situation zu sein, in dem Maße wird die Mall zum privaten Raum.


Das oberste Ziel der Mallbetreiber wie jedes Unternehmens im Kapitalismus muss der ökonomische Erfolg sein. Verunsicherung der Kunden stellt dieses Ziel infrage. Also muss sie beseitigt werden. Verunsicherung aber ist Strukturmerkmal des öffentlichen Raums. Also darf der Raum der Mall kein in diesem Sinne öffentlicher Raum sein.


Auf der ersten Ebene zielt Kontrolle negativ auf die Vermeidung aller Unannehmlichkeiten, die man im öffentlichen Raum der Stadt gewärtigen muss.

Auf der zweiten Ebene zielt Kontrolle positiv auf die Stabilisierung erwünschten Verhaltens durch Anpassung an die Wünsche der Kunden.

Beide Male sind die Kunden Objekte der Kontrolle.

Auf der dritten Ebene dagegen zielt Kontrolle gerade darauf, den Kunden zum Subjekt zu machen. Dem Kunden soll die Erfahrung vermittelt werden, jederzeit Herr der Situation, also Subjekt zu sein, indem ihm jegliche Verunsicherung aus dem Weg geräumt wird. Dadurch aber wird privater Raum produziert, nicht öffentlicher.

Vermeidung von Unannehmlichkeiten, Erfüllung der Kundenwünsche und das Gefühl der Sicherheit sind durch und durch legitime Ziele. Jede Stadtregierung muss sie verfolgen, wenn sie die nächsten Wahlen gewinnen will. Der Unterschied besteht darin, dass die Bedingungen, unter denen Malls produziert und verwaltet werden, es ermöglichen, diese Ziele auch zu verwirklichen. Aber die widerspruchsfreie Verwirklichung dieser Ziele bringt den öffentlichen Raum zum Verschwinden.

Das aber heißt: gerade die scheinbare Schwäche der öffentlichen Planung als nie ganz gelingender Aushandlungsprozess zwischen widerstreitenden Interessen lässt immer wieder neue öffentliche Räume entstehen.


Was sind das für Räume?

Öffentlicher Raum entsteht aus der Überlagerung von Geschichte und Gegenwart, aus den Handlungen einer Vielzahl von Akteuren, die unterschiedliche oder sogar widersprüchliche Ziele verfolgen mit unzureichenden Mitteln und unter Bedingungen unvollständiger Information.

Öffentliche Räume sind Spannungsräume, an denen gesellschaftliche Umbrüche, die Tatsache und die Möglichkeit gesellschaftlicher Veränderungen erfahrbar werden. Der Psychoanalytiker Winnicott spricht von intermediären Räumen, Räumen, deren Deutungen nicht festgelegt sind und die deshalb  offen sind für Umdeutungen und Aneignungen. Ein Kind braucht solche Räume zu seiner Entwicklung als autonomes Individuum. Weil intermediäre Räume eben nicht eindeutig definiert sind, kann das Kind sie mit eigenen Bedeutungen besetzen. Und indem es das tut, erfährt das Kind sich als  eigenständiges Subjekt, das seine Umwelt gestalten kann. Deuten ist mehr als nur Auswählen, es ist ein Akt der Aneigung, indem man den Raum umdefiniert, verändert man ihn, es ist ein produktiver, kein konsumtiver Akt. Intermediäre Räume sind also Räume, die mehr bieten als nur ein breites Spektrum von Gütern oder Betätigungsmöglichkeiten, unter denen das Individuum auswählen kann. Es sind Räume, die selber verändert werden können durch das Subjekt.

In Analogie dazu kann man von öffentlichen Räumen sprechen, wenn sie nicht eindeutig der Herrschaft eines Interesses, eines Eigentümers, einer Funktion unterworfen sind. Solche Räume sind offen dafür, unter den verschiedensten Interessen,  Absichten und Hoffnungen ausgedeutet zu werden. In Anlehnung an Robert Musils Möglichkeitssinn  könnte man sie Möglichkeitsräume nennen.

Das sind gerade nicht die hochgestylten Indoorplazas moderner Hochhäuser oder die geleckten Fußgängerzonen der Innenstädte. Sie sind im Wortsinne exklusive Räume. Es sind auch keine leeren Flächen. Es sind mehrdeutige, ambivalente Räume, und solche Mehrdeutigkeit entsteht, wo gesellschaftliche Veränderungen sich konzentrieren. Ich will zwei Beispiele nennen.


Industriebrachen zum Ersten:

Woher die Attraktivität der baulichen Hinterlassenschaften der Industriegesellschaft? Einmal aus handfest ökonomischen Gründen. Sie sind entwertet, also billig und deshalb überhaupt erst zugänglich für ökonomisch schwache Nutzer. Weit wichtiger noch aber ist ihr symbolisches Potential! In nutzlos gewordenen Industrieanlagen kann sich eine Spannung entwickeln zwischen dem Gehäuse, das noch Geschichten erzählt von Maloche und Ausbeutung, also von industrieller Herrschaft, und den neuen Nutzern, die dieser Herrschaft nicht unterworfen sind, und die deshalb diese Räume als ihre Spiel- und Möglichkeitsräume neu interpretieren können.

Die zum Park oder einem soziokulturellen Zentrum umgenutzte Industriebrache ist nur ein jüngeres Beispiel für ein allgemeines Element der Urbanität: die Präsenz von Geschichte im Alltag heutiger Städter. Das Gehäuse einer vergangenen gesellschaftlichen Formation, das seine Zwecke überlebt hat, und nun für ganz andere Zwecke in Dienst genommen wird, weist ökonomisch und symbolisch jene Überschüsse und Möglichkeitsräume  auf, in denen sich Phantasie entfalten kann. Historische Bauten, sofern sie alltäglich genutzt sind, erinnern an die abgelebten Möglichkeiten städtischen Lebens. Damit halten sie das Wissen wach, dass auch die gegenwärtige städtische Realität nur eine von vielen Möglichkeiten städtischen Lebens darstellt. Stadt als Präsenz von Geschichte im Alltag des Städters stärkt jenen Möglichkeitssinn, von dem Robert Musil geschrieben hat, er sei
die Fähigkeit, alles, was ebenso gut sein könnte, zu denken, und das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen als das, was nicht ist“.

Historisch überkommene Gebäude halten Distanz zu ihren aktuellen Nutzungen und Nutzern. Damit eröffnen sie Möglichkeiten zu verschiedenen Deutungen. Ähnliches gilt auch für die Architektur und den Städtebau. Das Programm des Funktionalismus, ein Gebäude gänzlich in seinem Zweck aufgehen zu lassen, hätte – wenn es denn überhaupt realisierbar wäre – gerade keine urbanen Orte geschaffen. Erst in der Spannung zwischen verschiedenen Logiken, der der Ästhetik und der der Funktion, können Räume entstehen, in denen der Musilsche Möglichkeitssinn Platz hat.


Als ein zweites Beispiel für öffentliche, urbane Räume sind Einwanderer-Quartiere zu nennen, sofern sie als “zones of transition“, als Zonen des Übergangs fungieren, in denen die Spannungen zwischen verschiedenen Kulturen produktiv ausgetragen werden. Dass das sehr fragile Voraussetzungen hat, muss ich hier nicht ausführen.


Öffentliche Räume sind gekennzeichnet durch  Spannungsverhältnisse:

        von Geschichte und Gegenwart,

        von Funktionalität und ästhetischer Logik,

        von physischer Nähe und sozialer Distanz,

        von lokaler Identität und Weltverbundenheit,

        von Sicherheit und Verunsicherung.

Erst aus solcher Spannung entstehen neue Möglichkeiten der Wahrnehmung, des Ausgleichs von Interessen, kurz von individuellen und kollektiven Lernprozessen. Solche produktiven Spannungen konzentrieren sich an bestimmten Orten zu bestimmten Zeiten, dann und dort, wo etwa eine neue Gesellschaft sich die Gehäuse einer historisch gewordenen aneignet. Das geschieht heute im Ruhrgebiet oder dort, wo die Transformation der sozialistischen Gesellschaft wie in einem Brennglas sichtbar wird. Deshalb sind heute so gänzlich verschiedene Orte wie der Prenzlauer Berg in Ostberlin, ein umgenutztes Stahlwerk im Ruhrgebiet oder ein Migrantenquartier in Frankfurt/Main Kristallisationspunkte des Urbanen.

Es gibt also nicht nur die Tendenzen einer Privatisierung des öffentlichen Raums. Es entstehen umgekehrt auch neue öffentliche Räume. Schon deshalb ist die These vom Verlust des öffentlichen Raums fragwürdig.

Über die europäische Stadt sind immer Verfallsgeschichten erzählt worden: Im 19. Jahrhundert die vom Verfall von Sitte und Ordnung in den industriellen Massenstädten, im 20. Jahrhundert die vom Verlust der Urbanität durch den funktionalistischen Städtebau, heute die von der Privatisierung des öffentlichen Raums. Alle diese Erzählungen enthalten Wahrheiten, aber doch nur halbe Wahrheiten, denn sie erzählen nur von den Verlusten und nicht von den Gewinnen, die auch mit diesen Entwicklungen verbunden sein können.

Ein zweiter Grund für das Misstrauen gegenüber Verfallserzählungen liegt darin, dass sie die Gegenwart an einem verklärten Bild der Vergangenheit messen. Als hätten früher öffentliche Räume im emphatischen Sinne in den europäischen Städten überhaupt existiert. Öffentlicher Raum als jederzeit für jeden zugänglicher Raum hat es nie gegeben. Auf der Agora der griechischen Polis hatten Sklaven, Fremde und Frauen nichts zu suchen, denn sie verfügten nicht über die Bürgerrechte. Ebenso wenig die Banausoi. Damit waren die (niederen) Handwerker und Kaufleute gemeint, die in notwendige Arbeiten eingebunden seien und deswegen nicht die Tugenden erwerben könnten, die als Voraussetzung für das politische Bürgertum der griechischen Polis galten. Das Bürgerrecht der griechischen Polis sollte nach Platon und Aristoteles nur der erhalten, der von allen notwendigen Arbeiten befreit war.

Im Mittelalter gab es strikte Bestimmungen, wer zu welchen Zeiten in welcher Kleidung sich an welchen Orten aufhalten durfte. Das krasseste Beispiel für solche Exklusion sind die Juden. Im 19. Jahrhundert waren es die Frauen, die weitgehend vom politischen und ökonomischen Leben ausgeschlossen blieben und deshalb auch im öffentlichen Raum der Stadt nichts zu suchen hatten. Eine Frau, die sich im öffentlichen Raum der Stadt ohne männliche Begleitung bewegte, galt als fille publique, als Prostituierte. Und in Friedrich Engels Schilderung der Stadt Manchester im 19. Jahrhundert wird deutlich, wie rigide das Proletariat aus den öffentlichen Räumen der bürgerlichen Städte ausgegrenzt war. Öffentlicher Raum war immer exklusiver Raum, gewandelt hat sich nur, wie wer aus welchen Räumen jeweils draußen gehalten wird.

Die These vom Verlust des öffentlichen Raums ist also doppelt fragwürdig. Noch im 19. Jahrhundert dürfte die Mitte der Stadt für weniger Menschen zugänglich gewesen sein als heutige Fußgängerzonen und Shopping-Malls. Und mit der Öffnung der ehemals verbotenen Zonen großer Militärareale, Zechen, Stahlwerke und Hafenanlagen dürfte allein schon eine Flächenbilanz zwischen veröffentlichten und privatisierten Räumen positiv für die europäische Stadt ausfallen.

Was sich allerdings verändert hat, ist die Art und Weise der Gefährdungen des öffentlichen Raums. Der öffentliche Raum ist heute bedroht durch die Tendenzen der ökonomischen und politischen Ausgrenzung wachsender Minderheiten. Die europäische Stadt ist der historisch einmalige Ort, an dem Marktwirtschaft und Demokratie entstanden sind. Ihre öffentlichen Räume sind deshalb historisch verbunden mit den Idealen der bürgerlichen Öffentlichkeit: durchgesetzte Demokratie und aufnahmefähige, offene Märkte. Wenn soziale Ungleichheit sich zur sozialen Spaltung der Gesellschaft vertieft, und wenn politische Konflikte nicht mehr verhandelbar sind, dann lässt das die Qualität des öffentlichen Raums nicht unberührt. Das Versagen von Markt und Demokratie ist die eigentliche Bedrohung des öffentlichen Raums.

Der Mall droht etwas ganz anderes: nicht unbeherrschbare gesellschaftliche Spannungen, sondern das Gegenteil. In dem Maße, in dem die Mall das verwirklicht, worauf sie zielt, nämlich die vollständige Kontrolle der Situation und damit die Beseitigung aller Unsicherheiten, in dem Maße droht ihr das Schlimmste, was einem Ort des Konsums drohen kann: die Langeweile.
 



* Der Vortrag beruht auf vorläufigen Thesen, die dem von der DFG finanzierten Projekt "Kontrolle und Öffentlicher Raum" zugrunde liegen. An dem Projekt sind außer dem Autor Dr. Norbert Gestring, Dipl. Soz. Anna Maibaum und Dr. Jan Wehrheim beteiligt.
 


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9. Jg., Heft 1
November 2004