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Stadt ist eine soziale Tatsache, die
sich räumlich geformt hat in Gebäuden, Plätzen und Straßen. Die soziale
Tatsache, die in der europäischen Stadt Gestalt gewonnen hat, ist die
bürgerliche Gesellschaft. Die europäische Stadt ist damit Ort einer
dreifachen Emanzipation des Bürgers:
Sie ist Ort einer besonderen Organisation der Ökonomie, der Marktwirtschaft,
und damit Ort der Emanzipation des Bourgeois, des Wirtschaftsbürgers, aus
den unproduktiven Kreisläufen geschlossener Hauswirtschaften.
Sie ist Ort einer besonderen Organisation des Politischen, der
demokratischen Selbstverwaltung einer zivilen Gesellschaft, und damit Ort
der Emanzipation des Citoyen, des politischen Bürgers aus den Abhängigkeiten
feudalistischer Herrschaft.
Und sie ist Ort der Emanzipation des Individuums aus den dichten sozialen
Kontrollen dörflicher Nachbarschaften.
Die europäische Stadt und insbesondere ihre öffentlichen Räume als die Orte
von Politik, Markt und Selbstdarstellung sind deshalb historisch aufgeladen
mit den Emanzipationsversprechen der bürgerlichen Gesellschaft:
durchgesetzte Demokratie, offene Märkte und Individualisierung. Über die
Qualität des öffentlichen Raums der europäischen Stadt entscheiden damit
aber nicht allein seine Erreichbarkeit, seine Nutzungsvielfalt, die Qualität
seiner architektonischen und städtebaulichen Gestaltung, also klassische
Kriterien des Städtebaus. Entscheidend für den Öffentlichkeitscharakter
städtischer Räume sind die Art und Weise, wie er produziert und wie er
verwaltet wird, also die Funktionsfähigkeit von Markt und Demokratie. Um ein
literarisches Bild dafür zu verwenden: die Stadt stellt die Bühne und die
Kulisse für ein Theaterstück, das
–
vom ökonomischen System
verfasst,
–
vom politischen System
inszeniert
–
und von Schauspielern
dargeboten wird, die die urbanen Verhaltensweisen gelernt haben müssen.
Wenn der Stückeschreiber, der Regisseur und die Schauspieler schlecht sind,
dann macht auch das beste Bühnenbild daraus kein gutes Theater.
Die Stalin-Allee oder Karl-Marx-Allee stellt vielleicht ein gelungenes
Bühnenbild der europäischen Stadt, jedenfalls führt sie die Versatzstücke
eines solchen Bildes vor. Aber solange die DDR existierte, war die
Karl-Marx-Allee kein öffentlicher Raum. Unter den Bedingungen von Diktatur
und Zentralverwaltungswirtschaft kann es keine öffentlichen Räume im Sinne
des öffentlichen Raums der europäischen Stadt geben. Genauso wenig existiert
der öffentliche Raum einer Stadt als Raum ökonomischer und politischer
Teilhabe für diejenigen, die dauerhaft aus dem Arbeitsmarkt und dem
politischen System ausgegrenzt sind. Diesen Zusammenhang zwischen
gesellschaftlicher Herrschaft und dem Öffentlichkeitscharakter von Räumen
will ich am Beispiel einer neuen Organisationsform von Markt, den großen
Shopping-Malls erläutern. Die Malls sind deshalb ein besonders gewichtiges
Beispiel für die Frage nach dem Qualitätswandel des öffentlichen Raums im
Zuge der Tendenzen einer Privatisierung von Stadt, als sie die
Gründungsfunktionen der europäischen Stadt betreffen, den Markt.
Die häufig vertretene These vom Verfall des öffentlichen Raums wird mit den
Tendenzen einer Privatisierung der europäischen Stadt begründet. Aber es
gibt Gegentendenzen zu solcher Privatisierung. Im zweiten Teil werde ich
solche Gegentendenzen am Beispiel der Umnutzung von Industriebrachen
diskutieren. Sie kennzeichnen Prozesse der Veröffentlichung ehemals privater
Räume und des Entstehens neuer öffentlicher Räume. Am Schluss steht die
These, dass es sich gegenwärtig nicht um einen Verlust des öffentlichen
Raums, sondern um dessen Wandel handelt. Damit einher geht auch ein Wandel
der Gefährdungen des Öffentlichkeitscharakters städtischer Räume.
Öffentliche und private Räume lassen sich in vier Dimensionen voneinander
unterscheiden (Siebel/Wehrheim 2003):
1.
funktional: Dem öffentlichen Raum von Platz und Straße sind die
Funktionen Markt und Politik zugeordnet, den privaten Räumen von Betrieb und
Wohnung die Funktionen Produktion und Reproduktion.
2.
juristisch: Der öffentliche Raum unterliegt dem öffentlichen Recht,
private Räume unterstehen dem privaten Hausrecht der Eigentümer.
3.
sozial: Der öffentliche Raum ist Bühne stilisierter
Selbstdarstellung, Ort der Anonymität, der Begegnung mit Fremden, eines
distanzierten, blasierten und gleichgültigen Verhaltens, bei dem nur kleine
Ausschnitte der Person sichtbar gemacht werden. Private Räume dagegen sind
Orte der Unmittelbarkeit, der Vertrautheit, wo der Einzelne als ganze Person
in Beziehung zu anderen tritt, Orte der Intimität, der Körperlichkeit und
der Emotionalität.
4.
baulich/symbolisch: es gibt eine Fülle architektonischer und
städtebaulicher Gestaltungselemente, die Offenheit resp. Geschlossenheit von
Räumen signalisieren.
In allen vier Dimensionen lassen sich Veränderungen beobachten, die die
Polarität von Öffentlichkeit und Privatheit aushöhlen.
1.
funktional: die Politik ist schon lange aus dem öffentlichen Raum der
Städte ausgewandert in die Parteiorganisationen, die Verbände und die
Medien. Die Marktfunktion wurde schon um 1900 eingehaust in den Passagen und
großen Kaufhäusern. Dieser Prozess hat mit den großen Shopping-Malls nur
eine neue Qualität erreicht.
2.
juristisch: damit geraten die klassischen Funktionen des öffentlichen
Raums, Markt und Politik, aus dem Geltungsbereich des öffentlichen Rechts in
Räume, die dem privaten Recht des Eigentümers unterworfen sind.
3.
sozial: auch die soziale Polarität von öffentlichen und privaten
Räumen verwischt sich. Warum stören Handynutzer wie Obdachlose im
öffentlichen Raum der Stadt? Weil beide die urbanen Verhaltenscodes des
öffentlichen Raums verletzen. Der Handybenutzer, indem er lautstark seine
Familien- und Geschäftsangelegenheiten vor Fremden zu Gehör bringt, der
Obdachlose, indem er in öffentlichen Anlagen schläft, isst, sich wäscht oder
uriniert, also Verhaltensweisen sichtbar macht, die der europäische Städter
in einem langen Prozess der Zivilisierung gelernt hat, hinter den Mauern der
Privatheit zu verbergen.
4.
symbolisch: schließlich werden öffentliche Räume im Wortsinne
exklusiv gestaltet durch elitäre Zeichen und teure Materialien: Marmor,
verspiegeltes Glas, Messing und Palmen, alle diese häufig in den
Innenstädten verwendeten Gestaltungselemente wirken als soziale Filter. Der
öffentliche Raum wird auch dadurch exklusiv, dass Minderheiten die
symbolische Präsenz im Stadtbild versagt bleibt wie gegenwärtig den
Muslimen.
Einhausung, juristische Privatisierung, Auflösung der Verhaltenscodes im
öffentlichen Raum und exklusive Gestaltung – stimmt also die These von der
Privatisierung der europäischen Stadt und damit vom Verfall des öffentlichen
Raums? Ich möchte diese These am Beispiel der Mall diskutieren.
Große Shopping-Malls werden nicht nur kritisiert als Privatisierung des
öffentlichen Raums, sondern auch als ästhetisch-sterile,
funktional-monotone, bloße Simulationen von Stadt. Die fortgeschrittensten
Beispiele sind der Versuch einer perfektionierten Nachbildung
innerstädtischer Fußgängerzonen. Sie stehen diesen in Nichts nach, weder
hinsichtlich der Vielfalt der Nutzungen noch hinsichtlich der Heterogenität
der Besucher oder dem Abwechslungsreichtum der Gestaltung. Nur sind sie
weitgehend ohne die negativen Begleiterscheinungen der Innenstädte: ohne
Schmutz, ohne Bettelei und ohne schlechtes Wetter. Abwesenheit störender
Verhaltensweisen, Sauberkeit und gutes Wetter sind allgemein erwünschte
Annehmlichkeiten. Diese Wünsche sind durch und durch legitim. Also werden
auch die Innenstädte gesäubert, von unerwünschten Personen freigehalten,
verkehrsberuhigt und video-überwacht. Es gibt auch Diskussionen, sie zu
überdachen. Die Unterschiede in den Umwelten von Mall und innerstädtischer
Fußgängerzone nivellieren sich auf rein Quantitatives, ein Mehr oder
Weniger vom Gleichen:
die gleichen Filialen, die gleiche Kundschaft, die gleichen Spiegel,
Marmorplatten und Videokameras, die gleichen Marktkarren, Kunstwerke und
Versatzstücke von Natur, mittlerweile auch die gleichen Standorte in den
Kernstädten.
Angesichts dieser Tendenzen einer gegenseitigen Angleichung von Mall und
Innenstadt bleibt anscheinend nur noch eine akademische Kulturkritik, die
auf der Bühne der Stadt auch die Schattenseiten der Gesellschaft sehen will,
also Elend und Armut und die Nachtseiten der Urbanität – Rotlichtviertel mit
Prostitution, Spielhöllen und Drogenszene – und die darauf besteht, dass die
Unsicherheiten der Städte eben etwas seien, was der gelernte Städter
auszuhalten habe. Aber solche Appelle an einen heroischen Urbanismus bleiben
hilflos gegenüber den ja durchaus mehrheitsfähigen Wünschen nach Sicherheit,
Sauberkeit und Service.
Aber selbst wenn sich die Erscheinungsformen städtischen Lebens in den
Fußgängerzonen der Innenstädte und den großen Shopping-Malls mehr und mehr
ähneln, so bleibt doch ein entscheidender Unterschied. Dieser Unterschied
liegt in der Art und Weise, wie diese Räume produziert und verwaltet werden,
also in der Struktur von Herrschaft, in die diese Räume eingebunden sind.
Das International
Council of Shopping-Centers definiert die Mall als: “A group of retail or
other commercial establishments, that is planned, developed, owned and
managed as a single property” (Urban Land Institute, zit. nach Falk
1998, 15).
Was die Mall von der innerstädtischen
Geschäftsstraße unterscheidet ist die Tatsache, dass ein Subjekt die Mall
plant, produziert, besitzt und verwaltet.
Es verfügt über alle relevanten Informationen, über alle notwendigen Mittel
(Eigentumsrechte, Geld), und es verfolgt widerspruchsfreie Ziele: die
Maximierung des Ertrags auf das eingesetzte Kapital. Kurz, die Mall wird in
jener idealen Planungssituation realisiert, die man das Gott-Vater-Modell
von Planung nennen kann (Siebel 1996): von einem allmächtigen und
allwissenden Subjekt, das jenseits von Gut und Böse handelt.
Der öffentliche Raum der Stadt dagegen wird produziert durch die Mechanismen
des Immobilienmarkts und der kommunalen Politik, die wechselnden
Förderrichtlinien von Bund und Ländern, den Denkmalschutz, die rationalen
und auch irrationalen Entscheidungen einzelner Eigentümer und
Geschäftsinhaber, die Wohnpräferenzen der Bevölkerung und durch das Wirken
von Generationen von Städtebauern und Architekten.
Innerstädtische Räume werden nach dem Modell von Planung als einer
Stückwerkstechnik produziert, d. h. in einem Aushandlungsprozess zwischen
einer Vielzahl von Akteuren - Eigentümern, Geschäftsinhabern,
Bürgerinitiativen, Denkmalschutz, Stadtplanern, Politikern ... -, die
teilweise widersprüchliche Ziele verfolgen und unter Bedingungen strukturell
unzulänglicher Mittel und Information handeln müssen.
Die Mall ist eine vollständig kontrollierte Umwelt, eine Kontrolle, die
Nutzer, Besucher, Architektur, Warenangebot, Klima, Beleuchtung,
Schrittgeschwindigkeit etc. umfasst. Vollständigkeit und Einheitlichkeit der
Kontrolle bezeichnen die qualitative Differenz zwischen Mall und städtischen
Räumen. Diese Differenz der Herrschaftsstrukturen von Mall und
traditionellem städtischen Raum hat Konsequenzen für die Qualität des
öffentlichen Raums. Die vollständige Kontrolle bei Planung und Betrieb der
Mall ermöglicht drei Ebenen von Kontrolle der Nutzungen und der Nutzer:
1.
Negative, ausgrenzende Kontrollen. Als alleiniger Eigentümer kann der
Betreiber der Mall darüber bestimmen, wer zu welchen Bedingungen welche
Flächen anmietet. Nicht die Mechanismen des Immobilienmarkts und schon gar
nicht die Prozesse demokratischer Willensbildung bestimmen das Warenangebot,
den Mix der Geschäfte, die Standorte und die Gestaltung der Läden. Das tun
allein die Strategien des Mall-Managements und zwar bis in die Details der
Reklame und der Auslage der Waren. Die Herrschaftsstruktur der Mall hat
wenig Ähnlichkeiten mit Markt und Demokratie und viel mit feudalistischen
Lehnsverhältnissen.
Analoges wie für die Regelung des Angebots gilt für die Regelung des Zugangs
für Kunden. Sie unterliegt nicht dem öffentlichen Recht, sondern dem
privaten Hausrecht.
Dabei ist das empirisch feststellbare Ausmaß von Überwachung und Ausgrenzung
weniger bedeutsam. Entscheidend ist die Entscheidungsstruktur, die Tatsache,
dass der Mallbetreiber allein darüber bestimmen kann, dass „angemessene
Kleidung“ zu tragen ist und Rauchen, Betteln, „unnötiger Aufenthalt“ und das
Mitführen von Ghettoblastern oder Hunden unzulässig. Ausgrenzende Kontrollen
durch Videokameras, Polizei, private Sicherheitsdienste und
Ordnungsvorschriften können in der Fußgängerzone wie in der Mall
stattfinden. Aber die Machtverhältnisse sind jeweils andere und damit die
Chancen, etwas zu ändern. In der Mall hilft nur der Käuferstreik, also der
Verzicht auf die Nutzung des Standorts auf Seiten der potentiellen Mieter
und der Verzicht auf die Nutzung des Warenangebots seitens der Kunden. In
der Stadt ist eine politische Einflussnahme möglich, ohne gleich auf
Teilhabe an den ökonomischen Chancen des Standorts verzichten zu müssen.
Anders ausgedrückt: auch bei identischer Exklusivität ist der städtische
Raum insofern immer noch grundsätzlich öffentlicher Raum, als seine
Exklusivität im Unterschied zur Mall durch öffentliches, politisches Handeln
geändert werden kann.
2.
Positive Kontrollen. Die Ziele der Kontrolle beschränken sich in der
Mall nicht darauf, störendes Verhalten und unerwünschte Besucher
auszuschließen. Es geht darüber hinaus um die Stabilisierung erwünschter
Verhaltensweisen. Dazu werden die Profile und Präferenzen der anvisierten
Klientel gründlich erforscht. Auf Basis dieser Informationen wird die Mall
so arrangiert, dass der Besucher sich in einer Umwelt wiederfindet, die ihm
eben jene Verhaltensweisen nahe legt, die er selber gewünscht hat. Legnaro
und Birenheide (2004) haben das als Doppelgesicht der Mall zwischen
Konsumentensouveränität und Kontrolle herausgearbeitet. Wie der Slogan einer
Boulevardzeitung „Dir Deine Meinung“, so verspricht die Mall dem Kunden die
exakte Erfüllung seiner Wünsche. So entsteht ein geschlossener Kreislauf von
Konsumforschung, Gestaltung der Umwelt und induziertem Verhalten, aus dem
nur das ausgeschlossen bleibt, was an Bedürfnissen verdrängt oder doch vor
den Augen einer gesitteten Öffentlichkeit verborgen wird.
Die Mall ist ein Ort der Normalisierung als Sicherung von statistischer
Normalität und normativer Erwünschtheit.
3.
Beseitigung von Unsicherheit. Unsicherheit ist das Charakteristikum
des öffentlichen Raums der Stadt. Stadt ist ein Ort, an dem Fremde leben.
Der Fremde verunsichert auf doppelte Weise: als Unbekannter und als
Andersartiger: Der Fremde als der Unbekannte ist in seinem Verhalten nicht
kalkulierbar. Situationen, in denen Fremde einander begegnen, sind deshalb
Situationen, in denen keiner über genügend Informationen verfügt, um die
Situation kontrollieren zu können. Der Fremde als der Andersartige
verunsichert, weil er an die eigenen verdrängten sexuellen und aggressiven
Wünsche erinnert. Angst vor dem Fremden ist immer auch Angst vor innerem
Kontrollverlust. Der öffentliche Raum ist ein Raum der Verunsicherung, weil
man fürchten muss, die Kontrolle über die äußere Situation und die innere
Kontrolle zu verlieren.
Verunsicherung des Kunden ist tödlich fürs Geschäft. Das Arrangement der
Mall-Umwelt zielt daher auf eine vertraute, sichere Atmosphäre, in der der
Kunde jederzeit die Situation kontrollieren kann:
–
Sichtbeziehungen dürfen nicht
länger sein als die normale Reichweite des Blicks.
–
Jeder Ort muss eindeutige
Orientierung erlauben und eindeutig definiert sein.
–
Die Vielfalt der Angebote darf
nicht das Maß überschreiten, an dem der Eindruck der Fülle in Überforderung
umschlägt und damit jene Selbstpanzerung und Abschottung auslöst, die Georg
Simmel als Reaktion des Großstädters auf die Überreizung seiner Sinne
beschrieben hat.
Das Ganze muss „clean, warm, safe, friendly, welcoming“ anmuten (Miller et
al 1998, S.104). Die Chiffre für das angestrebte Wohlgefühl in der Mall ist
die familiale Atmosphäre als dem Inbegriff von Vertrautheit und Sicherheit:
„family environments“, „family appeal“(a. a. O.). Um die strukturelle
Unsicherheit des öffentlichen Raums zu beseitigen, bedienen sich die Manager
der Mall der Kategorien des Privaten. In dem Maße, indem es gelingt,
jegliche Verunsicherung des Kunden zu vermeiden, d. h. in dem es gelingt,
einen Raum zu schaffen, in dem der Besucher den Eindruck hat, jederzeit Herr
der Situation zu sein, in dem Maße wird die Mall zum privaten Raum.
Das oberste Ziel der Mallbetreiber wie jedes Unternehmens im Kapitalismus
muss der ökonomische Erfolg sein. Verunsicherung der Kunden stellt dieses
Ziel infrage. Also muss sie beseitigt werden. Verunsicherung aber ist
Strukturmerkmal des öffentlichen Raums. Also darf der Raum der Mall kein in
diesem Sinne öffentlicher Raum sein.
Auf der ersten Ebene zielt Kontrolle negativ auf die Vermeidung aller
Unannehmlichkeiten, die man im öffentlichen Raum der Stadt gewärtigen muss.
Auf der zweiten Ebene zielt Kontrolle positiv auf die Stabilisierung
erwünschten Verhaltens durch Anpassung an die Wünsche der Kunden.
Beide Male sind die Kunden Objekte der Kontrolle.
Auf der dritten Ebene dagegen zielt Kontrolle gerade darauf, den Kunden zum
Subjekt zu machen. Dem Kunden soll die Erfahrung vermittelt werden,
jederzeit Herr der Situation, also Subjekt zu sein, indem ihm jegliche
Verunsicherung aus dem Weg geräumt wird. Dadurch aber wird privater Raum
produziert, nicht öffentlicher.
Vermeidung von Unannehmlichkeiten, Erfüllung der Kundenwünsche und das
Gefühl der Sicherheit sind durch und durch legitime Ziele. Jede
Stadtregierung muss sie verfolgen, wenn sie die nächsten Wahlen gewinnen
will. Der Unterschied besteht darin, dass die Bedingungen, unter denen Malls
produziert und verwaltet werden, es ermöglichen, diese Ziele auch zu
verwirklichen. Aber die widerspruchsfreie Verwirklichung dieser Ziele bringt
den öffentlichen Raum zum Verschwinden.
Das aber heißt: gerade die scheinbare Schwäche der öffentlichen Planung als
nie ganz gelingender Aushandlungsprozess zwischen widerstreitenden
Interessen lässt immer wieder neue öffentliche Räume entstehen.
Was sind das für Räume?
Öffentlicher Raum entsteht aus der Überlagerung von Geschichte und
Gegenwart, aus den Handlungen einer Vielzahl von Akteuren, die
unterschiedliche oder sogar widersprüchliche Ziele verfolgen mit
unzureichenden Mitteln und unter Bedingungen unvollständiger Information.
Öffentliche Räume sind Spannungsräume, an denen gesellschaftliche Umbrüche,
die Tatsache und die Möglichkeit gesellschaftlicher Veränderungen erfahrbar
werden. Der Psychoanalytiker Winnicott spricht von intermediären Räumen,
Räumen, deren Deutungen nicht festgelegt sind und die deshalb offen sind
für Umdeutungen und Aneignungen. Ein Kind braucht solche Räume zu seiner
Entwicklung als autonomes Individuum. Weil intermediäre Räume eben nicht
eindeutig definiert sind, kann das Kind sie mit eigenen Bedeutungen
besetzen. Und indem es das tut, erfährt das Kind sich als eigenständiges
Subjekt, das seine Umwelt gestalten kann. Deuten ist mehr als nur Auswählen,
es ist ein Akt der Aneigung, indem man den Raum umdefiniert, verändert man
ihn, es ist ein produktiver, kein konsumtiver Akt. Intermediäre Räume sind
also Räume, die mehr bieten als nur ein breites Spektrum von Gütern oder
Betätigungsmöglichkeiten, unter denen das Individuum auswählen kann. Es sind
Räume, die selber verändert werden können durch das Subjekt.
In Analogie dazu kann man von öffentlichen Räumen sprechen, wenn sie nicht
eindeutig der Herrschaft eines Interesses, eines Eigentümers, einer Funktion
unterworfen sind. Solche Räume sind offen dafür, unter den verschiedensten
Interessen, Absichten und Hoffnungen ausgedeutet zu werden. In Anlehnung an
Robert Musils Möglichkeitssinn könnte man sie Möglichkeitsräume nennen.
Das sind gerade nicht die hochgestylten Indoorplazas moderner Hochhäuser
oder die geleckten Fußgängerzonen der Innenstädte. Sie sind im Wortsinne
exklusive Räume. Es sind auch keine leeren Flächen. Es sind mehrdeutige,
ambivalente Räume, und solche Mehrdeutigkeit entsteht, wo gesellschaftliche
Veränderungen sich konzentrieren. Ich will zwei Beispiele nennen.
Industriebrachen zum Ersten:
Woher die Attraktivität der baulichen Hinterlassenschaften der
Industriegesellschaft? Einmal aus handfest ökonomischen Gründen. Sie sind
entwertet, also billig und deshalb überhaupt erst zugänglich für ökonomisch
schwache Nutzer. Weit wichtiger noch aber ist ihr symbolisches Potential! In
nutzlos gewordenen Industrieanlagen kann sich eine Spannung entwickeln
zwischen dem Gehäuse, das noch Geschichten erzählt von Maloche und
Ausbeutung, also von industrieller Herrschaft, und den neuen Nutzern, die
dieser Herrschaft nicht unterworfen sind, und die deshalb diese Räume als
ihre Spiel- und Möglichkeitsräume neu interpretieren können.
Die zum Park oder einem soziokulturellen Zentrum umgenutzte Industriebrache
ist nur ein jüngeres Beispiel für ein allgemeines Element der Urbanität: die
Präsenz von Geschichte im Alltag heutiger Städter. Das Gehäuse einer
vergangenen gesellschaftlichen Formation, das seine Zwecke überlebt hat, und
nun für ganz andere Zwecke in Dienst genommen wird, weist ökonomisch und
symbolisch jene Überschüsse und Möglichkeitsräume auf, in denen sich
Phantasie entfalten kann. Historische Bauten, sofern sie alltäglich genutzt
sind, erinnern an die abgelebten Möglichkeiten städtischen Lebens. Damit
halten sie das Wissen wach, dass auch die gegenwärtige städtische Realität
nur eine von vielen Möglichkeiten städtischen Lebens darstellt. Stadt als
Präsenz von Geschichte im Alltag des Städters stärkt jenen Möglichkeitssinn,
von dem Robert Musil geschrieben hat, er sei
„die Fähigkeit, alles, was ebenso gut sein könnte, zu denken, und das,
was ist, nicht wichtiger zu nehmen als das, was nicht ist“.
Historisch überkommene Gebäude halten Distanz zu ihren aktuellen Nutzungen
und Nutzern. Damit eröffnen sie Möglichkeiten zu verschiedenen Deutungen.
Ähnliches gilt auch für die Architektur und den Städtebau. Das Programm des
Funktionalismus, ein Gebäude gänzlich in seinem Zweck aufgehen zu lassen,
hätte – wenn es denn überhaupt realisierbar wäre – gerade keine urbanen Orte
geschaffen. Erst in der Spannung zwischen verschiedenen Logiken, der der
Ästhetik und der der Funktion, können Räume entstehen, in denen der
Musilsche Möglichkeitssinn Platz hat.
Als ein zweites Beispiel für öffentliche, urbane Räume sind
Einwanderer-Quartiere zu nennen, sofern sie als “zones of transition“, als
Zonen des Übergangs fungieren, in denen die Spannungen zwischen
verschiedenen Kulturen produktiv ausgetragen werden. Dass das sehr fragile
Voraussetzungen hat, muss ich hier nicht ausführen.
Öffentliche Räume sind gekennzeichnet durch Spannungsverhältnisse:
–
von Geschichte und Gegenwart,
–
von Funktionalität und ästhetischer Logik,
–
von physischer Nähe und sozialer Distanz,
–
von lokaler Identität und Weltverbundenheit,
–
von Sicherheit und Verunsicherung.
Erst aus solcher Spannung entstehen neue Möglichkeiten der Wahrnehmung, des
Ausgleichs von Interessen, kurz von individuellen und kollektiven
Lernprozessen. Solche produktiven Spannungen konzentrieren sich an
bestimmten Orten zu bestimmten Zeiten, dann und dort, wo etwa eine neue
Gesellschaft sich die Gehäuse einer historisch gewordenen aneignet. Das
geschieht heute im Ruhrgebiet oder dort, wo die Transformation der
sozialistischen Gesellschaft wie in einem Brennglas sichtbar wird. Deshalb
sind heute so gänzlich verschiedene Orte wie der Prenzlauer Berg in
Ostberlin, ein umgenutztes Stahlwerk im Ruhrgebiet oder ein
Migrantenquartier in Frankfurt/Main Kristallisationspunkte des Urbanen.
Es gibt also nicht nur die Tendenzen einer Privatisierung des öffentlichen
Raums. Es entstehen umgekehrt auch neue öffentliche Räume. Schon deshalb ist
die These vom Verlust des öffentlichen Raums fragwürdig.
Über die europäische Stadt sind immer Verfallsgeschichten erzählt worden: Im
19. Jahrhundert die vom Verfall von Sitte und Ordnung in den industriellen
Massenstädten, im 20. Jahrhundert die vom Verlust der Urbanität durch den
funktionalistischen Städtebau, heute die von der Privatisierung des
öffentlichen Raums. Alle diese Erzählungen enthalten Wahrheiten, aber doch
nur halbe Wahrheiten, denn sie erzählen nur von den Verlusten und nicht von
den Gewinnen, die auch mit diesen Entwicklungen verbunden sein können.
Ein zweiter Grund für das Misstrauen gegenüber Verfallserzählungen liegt
darin, dass sie die Gegenwart an einem verklärten Bild der Vergangenheit
messen. Als hätten früher öffentliche Räume im emphatischen Sinne in den
europäischen Städten überhaupt existiert. Öffentlicher Raum als jederzeit
für jeden zugänglicher Raum hat es nie gegeben. Auf der Agora der
griechischen Polis hatten Sklaven, Fremde und Frauen nichts zu suchen, denn
sie verfügten nicht über die Bürgerrechte. Ebenso wenig die Banausoi.
Damit waren die (niederen) Handwerker und Kaufleute gemeint, die in
notwendige Arbeiten eingebunden seien und deswegen nicht die Tugenden
erwerben könnten, die als Voraussetzung für das politische Bürgertum der
griechischen Polis galten. Das Bürgerrecht der griechischen Polis sollte
nach Platon und Aristoteles nur der erhalten, der von allen notwendigen
Arbeiten befreit war.
Im Mittelalter gab es strikte Bestimmungen, wer zu welchen Zeiten in welcher
Kleidung sich an welchen Orten aufhalten durfte. Das krasseste Beispiel für
solche Exklusion sind die Juden. Im 19. Jahrhundert waren es die Frauen, die
weitgehend vom politischen und ökonomischen Leben ausgeschlossen blieben und
deshalb auch im öffentlichen Raum der Stadt nichts zu suchen hatten. Eine
Frau, die sich im öffentlichen Raum der Stadt ohne männliche Begleitung
bewegte, galt als fille publique, als Prostituierte. Und in Friedrich
Engels Schilderung der Stadt Manchester im 19. Jahrhundert wird deutlich,
wie rigide das Proletariat aus den öffentlichen Räumen der bürgerlichen
Städte ausgegrenzt war. Öffentlicher Raum war immer exklusiver Raum,
gewandelt hat sich nur, wie wer aus welchen Räumen jeweils draußen gehalten
wird.
Die These vom Verlust des öffentlichen Raums ist also doppelt fragwürdig.
Noch im 19. Jahrhundert dürfte die Mitte der Stadt für weniger Menschen
zugänglich gewesen sein als heutige Fußgängerzonen und Shopping-Malls. Und
mit der Öffnung der ehemals verbotenen Zonen großer Militärareale, Zechen,
Stahlwerke und Hafenanlagen dürfte allein schon eine Flächenbilanz zwischen
veröffentlichten und privatisierten Räumen positiv für die europäische Stadt
ausfallen.
Was sich allerdings verändert hat, ist die Art und Weise der Gefährdungen
des öffentlichen Raums. Der öffentliche Raum ist heute bedroht durch die
Tendenzen der ökonomischen und politischen Ausgrenzung wachsender
Minderheiten. Die europäische Stadt ist der historisch einmalige Ort, an dem
Marktwirtschaft und Demokratie entstanden sind. Ihre öffentlichen Räume sind
deshalb historisch verbunden mit den Idealen der bürgerlichen
Öffentlichkeit: durchgesetzte Demokratie und aufnahmefähige, offene Märkte.
Wenn soziale Ungleichheit sich zur sozialen Spaltung der Gesellschaft
vertieft, und wenn politische Konflikte nicht mehr verhandelbar sind, dann
lässt das die Qualität des öffentlichen Raums nicht unberührt. Das Versagen
von Markt und Demokratie ist die eigentliche Bedrohung des öffentlichen
Raums.
Der Mall droht etwas ganz anderes: nicht unbeherrschbare gesellschaftliche
Spannungen, sondern das Gegenteil. In dem Maße, in dem die Mall das
verwirklicht, worauf sie zielt, nämlich die vollständige Kontrolle der
Situation und damit die Beseitigung aller Unsicherheiten, in dem Maße droht
ihr das Schlimmste, was einem Ort des Konsums drohen kann: die Langeweile.
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Der Vortrag beruht auf
vorläufigen Thesen, die dem von der DFG finanzierten Projekt "Kontrolle und
Öffentlicher Raum" zugrunde liegen. An dem Projekt sind außer dem Autor Dr.
Norbert Gestring, Dipl. Soz. Anna Maibaum und Dr. Jan Wehrheim beteiligt.
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