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Was soll der Titel: aus- und einräumendes Bauen? Ausräumen schafft oder
besser noch befreit den Raum, dadurch vielleicht, dass jemand Gerümpel aus
einem Keller herausträgt oder ein Dieb ein Schaufenster einschlägt und es
dann ausräumt. Wir sprechen auch vom Ausräumen von Missverständnissen oder
Zweifeln. Solches Ausräumen erlaubt ein aufgeschlosseneres Miteinandersein.
Und ist solche Offenheit nicht Voraussetzung jeder eigentlichen Begegnung?
Aber was hat das mit Architektur zu tun? Architektur will doch den Raum
gerade nicht befreien, sondern binden, ihn eingrenzen. Ist es nicht Aufgabe
der Architektur, den Menschen Räume und Plätze zu schenken, Bauten, in denen
sie sich zu Hause fühlen können, die sie den in seinem Wesen unheimlichen
Raum vergessen und sie so wohnen lassen? Hat Bauen nicht diesem Raum
wohnliche Räume abzuringen? Und ist nicht Voraussetzung jedes Ausräumens ein
irgendwie schon eingeräumter Raum? Ausräumendes Bauen? Ist das nicht Unfug?
Zwei Bedeutungen von Raum spielen hier durcheinander. So verstehen wir unter
Raum erst einmal die Weite oder Ausdehnung, die Voraussetzung jeder
Körpererfahrung ist, auch jedes Ein- und Ausräumens. Ist es nicht dieser
Raum, dessen Wesen Galilei, Descartes und Newton philosophisch, mathematisch
und physikalisch zu begreifen versuchten? Solch ein Begreifen kann
allerdings diesen Raum nicht ergreifen, sondern ersetzt ihn mit einer von
uns verfügten und verfügbaren Konstruktion. Müssen wir nicht, mit Kant, den
grenzenlosen Raum, zusammen mit der Zeit, als den immer schon irgendwie
mitanwesenden, doch sich unserem Begreifen entziehenden Hintergrund alles
Geschehens, und das heißt auch, alles Bauens, verstehen?
Das Wort “ausräumen” jedoch lässt uns Raum erst einmal anders verstehen: als
Sammelwort für etwas, meist durch Bauen, Begrenztes: ein Zimmer, z. B. ein
Haus oder ein Platz. Aber auch Lichtungen und Landschaften wie das
Nördlinger Ries sind Räume. Solche Räume können ausgeräumt werden. Dies
wiederum setzt so etwas wie ein Einräumen voraus.
Aber wenn ich hier vom Ausräumen als einem Befreien des Raumes oder von
einem ausräumenden Bauen spreche, denke ich Raum im ersten Sinne als
grenzenlose Weite, die uns jede Heimat verweigert, denke also ein Bauen, das
das Gebaute diesem unheimlichen Raum öffnet. Aber heißt das nicht der
eigentlichen Aufgabe der Architektur, uns nicht nur physisch, sondern auch
geistig Obdach zu schaffen, uns ein Heim zu geben, zu widersprechen? Wäre
eine solche ausräumende Architektur nicht eine gegen Architektur gerichtete
Architektur, eine Anti-Architektur also? Was soll eine solche Architektur?
Ich werde Ihnen die Antwort erst einmal schuldig bleiben. Aber die Tatsache,
dass solche Anti-Architektur in Theorie und Praxis heute eine große Rolle
spielt, wie ja auch das Unheimliche und das Erhabene, gibt der Frage
Relevanz. Joseph Addisons Satz “ein offener Horizont ist ein Bild der
Freiheit”
gibt uns hier einen Fingerzeig. Vereinfachend gesagt: Ausräumendes Bauen
will das Erhabene, einräumendes Bauen das Schöne.
Befremdet der Ausdruck ausräumende Architektur erst einmal, so sagt
einräumende Architektur schon mehr. Das Einräumen einer Wohnung macht sie
wohnlich. Einräumendes Bauen wäre dann ein Bauen, das uns die Welt einräumt
und sie so wohnlicher oder heimeliger macht. Etwas einräumen heißt auch
jemand etwas zugestehen, ihm entgegenkommen, aber so, dass wir ihm den
nötigen Raum lassen. Solch ein Zugeständnis baut Brücken zu unseren
Mitmenschen, stiftet Gemeinschaft. Auch so verstanden macht das Einräumen
die Welt wohnlicher.
Besonders viel wird das Wort “einräumen” denen sagen, die ihm in Heideggers
“Sein und Zeit”, “Bauen Wohnen Denken”oder “Kunst und Raum” begegnet sind. Nach Heidegger geschieht das
Einräumen “in der zwiefachen Weise des Zulassens und des Einrichtens”:
Einmal gibt das Einräumen etwas zu. Es lässt Offenes walten, das unter
anderem das Erscheinen anwesender Dinge zulässt, an die menschliches Wohnen
sich verwiesen sieht.
Zum anderen bereitet das Einräumen den Dingen die Möglichkeit, an ihr
jeweiliges Wohin und aus diesem her zueinander zu gehören.
Einräumen nennt nach Heidegger den Grundcharakter alles Räumens. Räumen
“meint: Roden, die Wildnis freimachen. Das Räumen erbringt das Freie, das
Offene für ein Siedeln und Wohnen des Menschen”.
Räumen, gedacht
als “Freigabe” oder “Gewähren” von Orten und Dingen, gibt Menschen den
nötigen Raum.
Raum, Rum heißt freigemachter Platz für Siedlung und Lager. Ein Raum ist
etwas eingeräumtes, Freigegebenes, nämlich in eine Grenze, griechisch
péras. Diese Grenze ist nicht das wo etwas aufhört, sondern wie die
Griechen erkannten, von woher etwas sein Wesen beginnt. Darum ist der
Begriff horismos, d. h. Grenze. Raum ist wesenhaft das Eingeräumte,
in seine Grenze Eingelassene. Das Eingeräumte wird jeweils gestattet und so
gefügt, d. h. versammelt durch einen Ort, d. h. durch ein Ding von der Art
der Brücke.
Das Bauwerk, hier in “Bauen Wohnen Denken” eine Brücke, gibt Raum. Ganz
ähnlich heißt es in “Kunst und Raum” von einer Plastik, sie wäre “die
Verkörperung von Orten, die, eine Gegend öffnend und sie verwahrend, ein
Freies um sich versammelt halten, das ein Verweilen gewährt den jeweiligen
Dingen und ein Wohnen dem Menschen inmitten der Dinge.”
So verstanden ist Raum wesentlich wohnlich. In ihm sind wir immer schon
irgendwie zu Hause. Hier wird Raum nicht mehr verstanden als Voraussetzung
von all den Dingen und Orten, die uns begegnen können, sondern umgekehrt:
Erst das freigebende Einräumen gibt Raum: “Der Ort befindet sich nicht im
vorgegebenen Raum nach Art des physikalisch-technischen Raumes. Dieser
entfaltet sich erst aus dem Walten von Orten einer Gegend.”
Zwei Raumbegriffe stoßen hier aufeinander: Der eine gründet in der
Raumerfahrung unseres alltäglichen In-der-Welt-Seins. Was uns Raum
erschließt, ist unser Umgang mit Menschen und Dingen. So verstanden, lässt
uns jeder Raum immer schon irgendwohin gehören. Erst einmal sind wir in
unserer Welt zu Hause. Zunächst und zumeist ist Welt Umwelt, Raum, Umraum,
der uns Handlungsmöglichkeiten eröffnet, umschreibt und begrenzt. Und so
versteht Heidegger Einräumen als ein das Wesen des Menschen bestimmendes
Existenzial: Raum hat sich uns immer schon irgendwie erschlossen, aber
zunächst nicht als freie Weite, sondern als immer schon irgendwie
eingeräumt, und das heißt Menschen und Dingen ihre verschiedenen Plätze
anweisend, sie immer schon irgendwie bindend.
Erst “auf dem Boden der so entdeckten Räumlichkeit”, meint Heidegger,
“wird der Raum selbst für das Erkennen zugänglich.”
“Der Raum selbst”: damit sind wir bei dem anderen Raumbegriff. Der Weg, der
uns vom einen zum anderen Raumbegriff führt, ist ein Weg der immer
entschiedeneren Befreiung von dem Platz und den Perspektiven, die unser
körpergebundenes, und das heißt auch ort- und zeitgebundenes, natur- und
gesellschaftsgebundenes, Sehen und Verstehen zunächst bedingen. Tätigkeiten
wie Hausbau und Landvermessung sind hier ein erster Schritt:
Mit dieser noch vorwiegend umsichtigen Thematisierung der Umwelträumlichkeit
kommt der Raum an ihm selbst schon in gewisser Weise in den Blick. Dem so
sich zeigenden Raum kann das reine Hinsehen nachgehen unter Preisgabe der
vordem einzigen Zugangsmöglichkeit zum Raum, der umsichtigen Berechnung. Die
„formale Anschauung des Raumes entdeckt die reinen Möglichkeiten
räumlicher Beziehungen“.
Aber ist eine solche Befreiung von allem was unser Sehen und Verstehen
verunreinigen könnte nicht Forderung jeder Wahrheitssuche? Schon das reine
Hinsehen, das sehen will, nur um zu sehen, macht uns freier. Schon hier geht
der Mensch nicht mehr “in der besorgten Welt auf.” Nicht mehr an die
Werkwelt gebunden, wird unsere Umsicht frei. Den so befreiten Menschen zieht
es jetzt in die Ferne.
Das Fernweh, die
Neugier, die Lust zu sehen, nur um zu sehen, zu verstehen, nur um zu
verstehen, die Aristoteles als Anfang aller Theorie und Wissenschaft
verstand, gibt Flügel, lässt den Menschen seine Umwelt überfliegen, lässt
ihn von anderen Welten träumen. Neugier, Freiheit und Verlust von Heim und
Heimat gehören zusammen. Und so steht hinter meinem Titel “Aus- und
einräumendes Bauen” der Zwiespalt von Fernweh und Heimweh, der auch die
Architekturtheorie der letzten Jahrzehnte durchherrscht und auf den der
Untertitel meines Vortrags hinweist: “Unser zwiespältiges Verlangen nach
Freiheit und Geborgenheit.”
2
Ausräumende Architektur, so sagte ich, sei eine gegen Architektur gerichtete
Architektur, eine Anti-Architektur also, und als solche spiele sie in der
heutigen Architekturwelt, in Theorie und Praxis eine Rolle. Dabei dachte ich
unter anderem an zwei gerade erhaltene Einladungen, mich mit Beiträgen an
Katalogen zu Ausstellungen in Barcelona und Bilbao sowie in Pittsburgh zu
beteiligen. Beide Ausstellungen zeigen ausräumende Architekturen, die jedes
einräumende Bauen in Frage stellen. Die eine, mit dem Titel “Die Stadt, die
es niemals gab – Fantastische Architekturen in der Kunst des Abendlandes”,
zeigt Werke aus zwei Jahrtausenden, von pompejanischen Fresken zu Werken der
letzten Jahre, hauptsächlich von iberischen und englischen Künstlern. Aber
nicht unerwartet stehen Maler des Manierismus und des Barock im Mittelpunkt,
wie z. B. der Architekt, Dekorateur und Maler Hans Vredeman de Vries
(1526-1606), dessen stilbildende Meisterschaft in der Kunst der Perspektive
es ihm nicht nur erlaubte, fantastische Architekturen zu malen als Bilder
einer utopischen Freiheit, sondern auch zu zeigen, wie Raum in das Gebaute
eindringen kann, es aushöhlend oder ausräumend. Und leicht verwandelt sich
bei Vries ein Bild der Freiheit in ein Bild des Schreckens.
Ich arbeitete an diesem Beitrag, als ich die zweite Einladung erhielt: zur
Mitarbeit an einer Ausstellung von Werken von Lebbeus Woods. Wie gut seine
Arbeiten in die spanische Ausstellung gepasst hätten – ist doch auch Woods
ein Schöpfer von Raumfantasien, die die uns vertraute Architektur ausräumen,
indem sie z. B. fantastische Gebilde in sie eindringen oder polypenartig
umarmen lassen. So war ich nicht überrascht zu hören, dass Woods beim Besuch
des Museums, in dem er diese Ausstellung zu besorgen hat, die hierarchische
Organisation und herrische Sprache der Räume hervorhob. Heute ist eine
solche Reaktion nicht unerwartet: hat Bataille uns nicht gelehrt,
Architektur mit den befehlenden Stimmen von Menschen, die uns unseren Platz
anweisen, zu verbinden mit Stimmen von Priestern, Königen, Bürgern,
Kapitalisten, und Polizisten? Hat er uns nicht gelehrt, hinter jeder großen
Architektur ein Gefängnis zu wittern?
Und nicht unerwartet ist eine solche Reaktion, denken wir an neue
Technologien und die damit verbundenen Möglichkeiten, Räume und Welten zu
schaffen, die ganz anders unseren dauernd sich ändernden Nöten und Wünschen
entsprechen als die allzu fest eingeräumte Umwelt, die unser Erbe ist. Die
Utopien, die solche Möglichkeiten versprechen, müssen den Ruf nach einer
einräumenden Architektur, die das Primat der dem Körper und somit der
Schwere unterworfenen Lebenswelt protestlos anerkennt, als unerträglich
rückwärts blickend ablehnen, als zu bereit, kaum gewonnene Freiheit wieder
aufzugeben, zu bereit, sich mit leblosen Imitationen der platz- und
ortstiftenden Architektur einer nicht zu wiederholenden Vergangenheit zu
begnügen.
Und weiter war solche Reaktion auf den vorgegebenen Raum gerade von diesem
Architekten nicht unerwartet, hatte Woods doch der vielversprechenden
Karriere, die ihm seine Mitarbeit mit Eero Saarinen eröffnet hatte, den
Rücken gekehrt, um sich als Anarchitekt zu betätigen, sich ein Wort
aneignend, in dessen Namen Gordon Matta-Clark, der einst, wie mit einem
Beil, ein verwahrlostes Haus aufspaltete, 1973 eine Künstlergruppe um sich
versammelte.
Lebbeus Woods entschloss sich, die vorgegebene Architektur durch die
Einführung von in verschiedenen Winkeln in den Raum stoßenden
Sperrholzplatten, die seine Zeichnungen und Modelle tragen sollen, und von
den Raum durchspinnenden gebogenen Metallstangen so zu verwandeln und zu
verwirren, dass der verunsicherte Besucher nicht mehr wüsste, wie er sich zu
benehmen hätte. Mir stellt sich hier die Frage: warum gibt es heute dieses
Verlangen, Architektur zu dekonstruieren, zu zerstören, sie auszuräumen,
beunruhigende Räumlichkeiten zu schaffen, sie in eine von Menschen
geschaffene Wildnis zu verwandeln? Wie erklärt sich die Anziehungskraft des
Unheimlichen? Ist es der Fortschritt der Technik, der früheren Zeiten
unbekannte Möglichkeiten eröffnet und ein Verlangen geweckt hat, das keine
einräumende, erbauliche Architektur mehr erfüllen kann? Oder ist es,
umgekehrt, eben diese Technik, die unsere Lebenswelt so fest umarmt, dass
sie uns zu ersticken droht? Wie sollen wir den heute wieder so
verführerischen Anspruch des Labyrinths, übersetzt in eine neue Sprache,
verstehen?
Es wäre ein Fehler, hier nur zu betonen, was einen Künstler-Architekten wie
Lebbeus Woods so zeitgemäß macht: wie sich sein Werk mit einer Welt
auseinandersetzt, die uns, immer mehr außer Atem, den neuesten Entwicklungen
nachlaufen lässt; vielleicht träumend, dass sich mit Hilfe der Elektronik
Descartes’ Versprechen einer Wissenschaft, die uns zum Meister und Besitzer
der Natur, auch unserer eigenen Natur, machen würde, einlösen lässt; dass
jenes globale Dorf, das uns McLuhan verhieß und das wir in Entwürfen von
Lebbeus Woods, wie ein Geschöpf einer anderen Welt, in Städte wie Zagreb,
Berlin oder Wien eindringen sehen, die uns vertraute Welt auf ungeahnte
Weise verwandeln wird. Aber diese Entwürfe erschrecken auch: Ist dies nicht
ein Prozess, in dem wie alle mehr oder weniger verfangen sind, ist unsere
Technik nicht so kompliziert geworden, dass sie, die doch Werkzeug sein
sollte, heute die Menschen meistert? Kann der virtuelle Raum uns den Raum,
können virtuelle Menschen und Dinge uns die Wirklichkeit ersetzen?
Erschreckend auch sind Gedanken an Barbaren, die unsere Technik in den
Besitz von Waffen gebracht hat, die es erlauben, Massen zu morden oder zu
manipulieren.
Aber gehört auch das Werk von Lebbeus Woods in die heutige Welt und will es
auch als kritische Auseinandersetzung mit ihr und mit unserer Architektur
verstanden werden, so dürfen wir doch nicht vergessen, dass Widerstand gegen
Architektur Architektur von Anfang an begleitet hat, eine lange Geschichte,
die ihren immer wechselnden Ausdruck in Bildern von fantastischen
Architekturen gefunden hat, die, wie es die spanische Ausstellung zeigt,
doch als Variationen weniger Archetypen verstanden werden können.
3
“Fantastische Architekturen” – darin steckt eine gewisse Spannung.
“Architektur” nennt erst einmal die Baukunst, aber auch das dieser Kunst
gemäß errichtete Werk. Im übertragenen Sinne nennt es alles, was auf festem
Grund ruht und gut gebaut ist. So lieben besonders Philosophen der
Architektur entlehnte Metaphern, und keiner mehr so als Descartes, der seine
Methode gerne mit der von Architekten verglich. Die Wissenschaft und
Technik, die unsere moderne Welt gestaltet haben, haben ihren Ursprung in
der geistigen Architektur, die er bauen half.
“Fantasie” dagegen entzieht sich der Vernunft. Hier herrscht die
Einbildungskraft, sie wiederum ist beherrscht von Lust und Ekel, Verlangen
und Furcht. Was ihr entspringt, ist nicht fest Gebautes, sondern
Erdichtetes, Traumvisionen, ungeboten sich aufdrängende Erscheinungen.
“Fantastische Architekturen”: das erinnert ein wenig an die immer wieder
vergeblich versuchte Quadratur des Kreises, durch Jahrhunderte Metapher des
ebenso vergeblichen Versuches, das unendliche Wesen Gottes zu begreifen. So
bieten uns auch fantastische Architekturen immer wieder Bilder eines
glückseligen Wohnens, in dem weder Vernunft noch Lustverlangen, weder
Ordnung noch Freiheit, weder Geist noch Körper zu kurz kommen. Utopie
erscheint hier als Eutopie, mit Thomas More verstanden als ein imaginäres
Reich, in dem Vernunft, Freiheit und Zufriedenheit alles Widrige vertrieben
haben. Nun hat Utopie, dieses imaginäre und nirgendwo existierende Reich
nicht nur diesen positiven Beiklang: Auch Babel, Labyrinth und Hölle sind
Utopien, beschatten Jerusalem, Paradies und Himmel. So beschattet die
Dystopie die Eutopie. Dieser Schatten liegt auch auf den festlichen
ausräumenden Architekturen, die in den Architekturfantasien des Manierismus
eine so große Rolle spielen.
Ich erwähnte schon Hans Vredeman de Vries. Seine Kunst erlaubt es mir zu
präzisieren, was ich unter einem ausräumenden Bauen verstehe und was solch
ein Bauen anziehend und zutiefst fragwürdig macht. De Vries ist ein von der
Kunst der Perspektive besessener Künstler. Nun kann das auch von vielen
anderen Künstlern dieser Zeit gesagt werden, wie z. B. Desiderio Monsú,
Dirck van Delen oder Francisco Gutiérrez.
Warum also gerade
de Vries hier besonders hervorheben? Eine erste Antwort: der holländische
Meister ging den anderen voraus, wies ihnen den Weg und half, die
Architekturfantasie als Genre zu etablieren.
Aber was mich hier interessiert, ist anderes: seine Bilder helfen uns, die
geistige Bedeutung der Perspektive, des Raumes und eines ausräumenden Bauens
besser zu verstehen.
Vasari sagte einmal von Uccello, dass seine maßlose Begeisterung für die
Perspektive drohte, alles Leben aus seinen Bildern zu saugen, dass seine
Meisterschaft dieser Kunst ihn daran hinderte, ein besserer Maler zu werden.
Und gilt Ähnliches nicht auch für de Vries? Dass er so oft die Menschen in
seinen Bildern nicht selber malte, dass sie in diesen Bildern nur eine
ornamentale Funktion besitzen, entbehrliche Zugabe zum Wesentlichen, der
dargestellten Architektur, gibt zu denken. In zwei Bildern im
Kunsthistorischen Museum in Wien, z. B. Palastarchitektur mit Spaziergängern
(1596) und Palastarchitektur mit Musizierenden (1596), sind die Figuren von
dem jungen van Ravesteyn. Und inwiefern der Sohn Paul des Künstlers für die
Ausführung der Inventionen seines Vaters verantwortlich war, ist ungewiss.
Aber die erfinderische Einbildungskraft des Vaters wurde höher geschätzt als
die Übersetzung seiner Entwürfe in Bilder. So ist es nicht überraschend,
dass heute der Ruhm dieses Architekten, Malers, und viel beschäftigten
Stechers
weniger seinen Gemälden verdankt als seinen vielen Veröffentlichungen,
Lehrbüchern, die mit ihren Illustrationen Architekten, Malern, Gärtnern, und
Dekorationskünstlern Methode und Anregung boten, aber oft auch fantastisch
auf eine Art, die die ursprüngliche Absicht vergessen lässt. Methode befreit
hier die Einbildungskraft.
Das Verlangen nach Methoden und Leitfäden steht am Eingang unseres modernen
Weltgebäudes. In den Regulae präsentiert uns Descartes so seine
Methode als einen Ariadnefaden, der uns aus dem Labyrinth der Welt in das
offene Land der Vernunft führen soll. Den Schlüssel bietet hier die Logik
der Perspektive. Wer diese Logik verstanden hat, wird sich nicht mehr von
perspektivgebundenen Erscheinungen täuschen lassen.
Wie sich zeigen wird, gibt es eine enge Verwandtschaft zwischen den Methoden
von Descartes und de Vries. Aber dem Künstler wird die Perspektive zu einem
Ariadnefaden, der nicht so sehr aus dem Labyrinth herausführt, sondern
zurück ins Labyrinth. Die Beherrschung der Perspektive befreit hier die
Einbildungskraft, eröffnet Möglichkeiten, die Natur und ihre Ordnung
umzustürzen. De Vries lässt uns nicht vergessen, dass das Labyrinth, Werk
des mit Kain zu vergleichenden Daedalus, dessen Kunstfertigkeit es der
kretischen Königin Pasiphae erlaubte, ihr unnatürliches Verlangen nach einem
Stiere zu befriedigen, die geistige Architektur durchspukt, die Descartes,
schön geordnet, auf festen Grund stellen wollte. Wir wissen, dass Descartes’
Versprechen einer Methode, die uns zu Meistern und Besitzern der Natur
machen würde, kein eitles Sich-versprechen war. Aber versprach auch diese
Methode, die schmutzigen, zusammengewürfelten Städte der Zeit mit
herrlichen, nur der Vernunft gehorchenden utopischen Architekturen zu
ersetzen, von denen die Architekturfantasien der Zeit uns ein erstes Bild
geben können, so regt sich doch etwas in uns, dass dieser cartesischen
Architektur, die das Aussehen unserer modernen Welt immer mehr bestimmt, zu
entfliehen. Wie Nietzsche in Morgenröte schrieb: “Wollten und
wagten wir eine Architektur nach unserer Seelen-Art (wir sind zu
feige dazu!) – so müsste das Labyrinth unser Vorbild sein! Die uns eigene
und uns wirklich ansprechende Musik lässt es schon errathen.”
Oder auch, wie es in einem nachgelassenen Fragment heißt, “Es gibt Fälle
wo es eines Ariadne-Fadens bedarf ins Labyrinth hinein . . . Für den, der
die Aufgabe auf sich hat, den grossen Krieg, den Krieg gegen die
Tugendhaften (– die Guten und Gerechten heißt sie Zarathustra, auch “letzte
Menschen” auch “Anfang vom Ende”–) heraufzubeschwören, sind einige
Erfahrungen beinahe um jeden Preis einzukaufen: der Preis könnte sogar die
Gefahr sein, sich selbst zu verlieren.”
So war de Vries berühmt als Entwerfer von Gartenlabyrinthen, die natürlich
auch als Labyrinthe der Liebe gedacht waren.
Die bekannteste von de Vries’ vielen Publikationen ist seine Perspective
(1604, 1605), eine weitere Demonstration der Kunst der Perspektive in der
Tradition von Alberti, Dürer und Serlio. Was die Methode betrifft, war de
Vries kein Erneuerer: Dem, was Alberti in Della Pittura zu sagen
hatte, hatte er wenig hinzuzufügen. Auch de Vries lässt den Maler erst
einmal ein lineares Gerüst konstruieren, als perspektivische Projektion
eines dreidimensionalen euklidischen Gitterwerks. Den darzustellenden Dingen
wird dann ihr Platz in diesem Gerüst angewiesen. Die fantastischen
Architekturen in seinen Gemälden erfahren wir so als Verkörperung einer
geometrischen, geistigen Architektur, die, obwohl unsichtbar, doch die Seele
dieser Architektur ist. Und Voraussetzung dieser geistigen Architektur
wiederum ist das euklidische Gitterwerk, das den unendlichen Raum der gerade
entstehenden modernen Naturwissenschaft einräumt.
Werden solche Darstellungen des Raumes more geometrico dem Raum
unserer Lebenswelt gerecht? Natürlich nicht! Da gibt es erstens die Annahme
eines monokularen Sehens; zweitens, eines unbeweglichen Auges; drittens,
einer flachen Erde. Dass die Künstlichkeit dieser Kunst der Perspektive der
natürlichen Perspektive unserer Erfahrung Gewalt antut, wussten die
Zeitgenossen sehr wohl, wie z. B. Leonardo und Kepler. Und so trug auch das
erste 1505 gedruckte Buch über die Kunst der Perspektive den Titel De
artificiali perspectiva. Solche Künstlichkeit war ein Opfer, das man
gerne der Möglichkeit brachte, die Erscheinungen der Welt täuschend ähnlich
wiederzugeben, versprach die Kunst der Perspektive doch, den Maler in die
Nachbarschaft der Magier zu rücken. Und so versteht das 17. Jahrhundert die
Perspektive gerne als Teil der Thaumaturgie, dieser zwischen Zauber und
Wissenschaft schwankenden Wissenschaft der Wunder. Aber wir dürfen nicht
vergessen, wie problematisch doch eine Kunst ist, die die Lebenswelt ihrem
idealisierten und rationalisierten Bilde opfert, die den verkörperten, in
der Welt handelnden, umsichtigen Menschen mit einem ruhenden Auge ersetzt,
ein Handel, der den schwerer wiegenden Handel vorwegnimmt, mit dem die neue,
von Galilei und Descartes inaugurierte Wissenschaft an die Stelle der
Lebenswelt ihr idealisiertes Bild treten ließ, ein Weltbild, das die Natur
in eine mathematisch begreifbare res extensa verwandelte, den Raum
homogenisierte und als bloße extensio verstand, den Menschen zu einer
vergeistigten, körperlosen res cogitans werden ließ. Die Methode
Descartes’ hat ihren Vorläufer in Albertis Perspektive. Schon in Della
pittura zeichnen sich die Konturen unseres modernen Weltbildes ab.
In den fantastischen Architekturen, die wir de Vries verdanken, verbinden
sich geometrische, an die Vernunft gebundene Methode und Fantasie auf eine
Art, die uns seine Paläste als fast surrealistische Konstruktionen erfahren
lässt, wobei ein solcher Eindruck von der Strenge, mit der hier den Gesetzen
der perspectiva artificialis gehorcht wird, nicht zu trennen ist.
Solcher Gehorsam bedingt einen Wirklichkeitsverlust, entrückt die
Architektur im Bild der Lebenswelt. Werfen wir noch einmal einen Blick auf
die zwei Bilder, die de Vries für Kaiser Rudolf den Zweiten malte. Beide
ziehen unser Auge durch einen Tunnel zum Fluchtpunkt, ehe es ihm erlaubt
wird, die luftige Architektur zur Linken zu durchwandern. Auffallend ist,
wie Säulen, und nicht Wände, diese Palastarchitektur bestimmen. Innen und
Außen fließen ineinander. Vor Wetter oder Feinden braucht man sich in dieser
Welt nicht zu schützen. Dies ist eine Architektur für sorgenfreie
Spaziergänger und Musikanten, für erotische Spiele; eine Festarchitektur für
Menschen, die sich von den Pflichten, Sorgen und Lasten des Alltags befreit
haben; eine Architektur die Nietzsches Geist der Schwere verbannt hat.
Solche Architektur weckt die Freiheit. Aber es ist nicht nur die Luftigkeit
dieser Architektur, die das Auge einlädt, den verführerischen Diagonalen zu
folgen, hinter dem im Bilde Sichtbaren Räume aufzusuchen, in denen
vielleicht ein ungeahntes Glück zu finden wäre. Das Offene solcher
Säulenarchitektur unterstreicht nur, was hier wichtiger ist: Die Art, wie
der Maler hier die Architektur dem unsichtbaren Gitterwerk der Perspektive
unterwirft, entrückt sie der Lebenswelt, rückt sie in den unendlichen Raum
der euklidischen Geometrie. Diese Öffnung zum Unendlichen gibt ihr eine
Leichtigkeit, die sich nur schwer mit unserer erdgebundenen Existenz
vereinbaren lässt.
Mit seinem Fluchtpunkt scheint das Bild das Unendliche zu berühren. Ihm
entspricht die Fiktion eines der Zeit enthobenen Auges, schwebend in jenem
unendlichen Raum, der Giordano Bruno zur selben Zeit so begeisterte. Wie de
Vries suchte auch er die Gunst Rudolf des Zweiten in Prag. Bruno spürte in
diesem Raum den Anspruch einer Freiheit, die die Menschheit nicht nur aus
dem geozentrischen Kosmos des Ptolemäus führen sollte, als wäre dieser ein
Gefängnis. Auch der doch immer noch endliche heliozentrische Kosmos des
Kopernikus konnte diese Freiheit nicht befriedigen. Der von Hans Sedlmayr
beklagte Verlust der Mitte begegnet uns hier als Forderung der Freiheit.
Solche Freiheit will keine Raum stiftende, bindende Mitte, will
Beweglichkeit, will alles Eingeräumte ausräumen, sucht das Offene. Und so
versucht sie auch alle Architekturen, seien sie gebaut, gemalt oder nur
gedacht, die den Geist binden wollen, dem befreienden Raum zu öffnen. Der
Sog des Unendlichen gibt dem Geist Flügel, verspricht Glück, das man kaum zu
denken wagt. – Die Architekturbilder von de Vries sind Träume einer solchen
utopischen Freiheit.
Solche Freiheit versprach auch die in denselben Jahren ihren Weg findende
Naturwissenschaft. Wissenschaftliche Arbeit fordert Objektivität. Aber
Objektivität verträgt sich schlecht mit dem Weltbild des Mittelalters. Und
so finden wir auch hier die Bereitschaft, an die Stelle des eingeräumten
Raums des Aristoteles den offenen Raum der Neuzeit treten zu lassen. Bruno
erfuhr den geozentrischen Kosmos der Alten als Höhle, als Gefängnis. Ein
freier Geist wird immer wieder von einer nicht mehr erd- und
körpergebundenen Existenz träumen, von einem beweglichen Subjekt, das
endlich frei und fähig ist, nicht nur unsere Erde, sondern auch den Körper
als Mittel zur Befriedigung natürlicher und unnatürlicher Begierden zu
gebrauchen: Daedalus redivivus.
5
Bachelard meinte, dass wir alle von einem Haus träumen, das wirkliche
Geborgenheit verspricht, von der Heimat, die uns in der Erinnerung manchmal
ruft und die es doch so nie gegeben hat, wenn wir auch, wie z. B. Heidegger,
in einem Schwarzwaldhof dessen Metapher erfahren. Dem Traumhaus entspricht
die Traumstadt, von Heidegger gedacht im Bilde von Messkirch, mit schattigen
Erkern, verträumten Madonnenbildern an den Häuserecken, rauschenden Brunnen.
Aber viele heute fühlen sich zu beengt von unserer rationalisierten Welt mit
ihren Routinen und Forderungen, um von Heimat einräumenden Architekturen zu
träumen. Eher träumen wir, wie schon Nietzsche oder Jacobsen, vom Wilden,
von der unbezähmten, unbezähmbaren Natur, von der heißen, nie gesättigten
Leidenschaft der Renaissancemenschen,
träumen von Labyrinthen, von Entdeckungsreisen ins Unbekannte, das wir auch
in uns tragen, in ein Land, das unserem Anspruch auf Freiheit und
Glückseligkeit entspricht.
Solches Begehren brauchte nicht auf die Neuzeit zu warten. Von Anfang an
begleitet so ein gegen alles künstlich Eingeräumte und so auch gegen alle
den Menschen ihren Platz einräumende Architektur gerichteter Protest unser
Bauen. Das Paradies hatte kein Haus nötig: In diesem Garten waren Adam und
Eva schon zu Hause. Nun verloren wir diese Heimat durch den Sündenfall, aber
das Versprechen dieses Gartens, übersetzt ins Architektonische, wurde in die
Zukunft projiziert als Stadt, als Himmlisches Jerusalem, aber von Gott
gebaut, nicht von Menschen.
Utopische Träume von Garten und Stadt werden zum Bild in zahllosen
Architekturfantasien des 16. und 17. Jahrhunderts. Und weisen solche Utopien
uns nicht den Weg? Können Vernunft und Kunst uns nicht wiedergewinnen, was
der Apfelbiss uns einst verlor? So träumten Bacon and Descartes von einer
Wissenschaft und Technik, die es uns erlauben würde, den uns von den
Cherubim mit dem bloßen hauenden Schwert verwehrten Weg dennoch
zurückzugehen. Es ist ein Traum, dem auch heute noch viele nachhängen. Aber
jeder in diese Richtung gehende Versuch muss sich mit diesem Einwand
auseinandersetzen: erhebt ein solcher Versuch nicht Anspruch auf das, was
uns Sterblichen versagt ist und wiederholt so den Sündenfall? War es nicht
Kain, der die erste Stadt baute? Die Architekturfantasien des Manierismus
und Barock stehen so im Schatten des Turmes von Babel, im Schatten auch der
immer noch grandiosen Überreste der Architektur der heidnischen Römer. Der
Überzeugung folgend, dass keine menschliche Kunst uns unsere wahre Heimat
einräumen kann, versetzten so viele Maler die Geburt Christi in irgendeine
fantastische Ruinenarchitektur: Architektur, die vom wesentlichen Mangel
einer jeden einräumenden Architektur spricht. Ist eine Ruine nicht ein
passenderer Ort für die Geburt des Erlösers, der der Zeit ihren Stachel, der
Hölle ihren Sieg nehmen soll, als ein aufwändiger Palast?
Der Schrecken der Zeit verdunkelt unsere Träume von bergender Architektur,
übersetzt leicht Fantasien von festlichen Architekturen in Angstbilder:
Troja in Flammen, Barbaren in der Stadt, brennende Paläste, berstende
Säulen. Aber etwas in uns zieht uns zu Ruinen. Die Nähe der festlichen
Bühnendekorationen der Galli-Bibiena zu Piranesis Carceri deutet auf
den Schrecken der in diesen ausräumenden Architekturen lauert. Die
Architekturfantasien des Barocks und Darstellungen von Ruinen öffnen beide
von Menschen Gebautes dem Unendlichen auf eine Art, die die Bedeutung
unseres an Ort und Zeit gebundenen Lebens in Frage stellt. Dass solche
Erfahrung ein ganz besonderes Vergnügen mit sich bringt, zeigt die
ästhetische Kategorie des Erhabenen, das Kant uns als Bild der Freiheit zu
verstehen gelehrt hat. Robert Morris nennt so Ruinen “oft
außerordentliche, ungewöhnlich komplizierte Räumlichkeiten, die einzigartige
Beziehungen zwischen Zugang und Schranke, dem Offenen und dem
Verschlossenen, der Diagonalen und der Horizontalen, Grundfläche und Wand
bieten. In Strukturen, die von den zwiefach entropischen Angriffen der Natur
und des Vandelen verschont geblieben sind, sind solche Beziehungen nicht zu
finden.”
Was hier fasziniert, ist die Rückkehr des fest Gebauten zur Natur, und das
heißt auch ein Ausräumen der Architektur, das Räume dem Raum öffnet. Etwas
tief in uns ist unzufrieden mit den geistigen und gebauten Räumen, die uns
unsere Vernunft eingeräumt hat, erfährt Angriffe auf Architektur als
Befreiung. Das schreckliche mysterium tremendum et fascinans der
Natur, des Raumes und der Zeit, wird nicht verbannt, sondern geweckt. Es ist
dieses mysterium, das den Maler und Architekten Hundertwasser die
Luftangriffe von 1943 als beispielhaft formgebend loben ließ: gerade Linien
und nichts sagende Gebäude verdienten, was ihnen geschah.
In diesem Zusammenhang verdient der Entschluss von Malern wie Hubert Robert
oder Caspar David Friedrich, bekannte, noch stehende Bauwerke, wie z. B. den
Louvre oder Kirchen in Meißen und Greifswald, als Ruinen zu malen, besondere
Erwähnung.
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Joseph Addison nannte den offenen Horizont ein Bild der Freiheit. Ein Bild
wie Caspar David Friedrichs Mönch am Meer zeigt die ausräumende Macht
eines solchen Horizonts: dieser Macht ist der wesentlich einräumende Rahmen
hier nicht gewachsen. Der unendliche Raum weckt die unendliche Freiheit.
Heute allerdings hören wir diesen zur Ausräumung jeder Architektur
auffordernden Ruf des Raumes anders als Bruno: in dessen Enthusiasmus mischt
sich immer entschiedener die Angst.
Lassen Sie mich noch einmal zum Werk von Lebbeus Woods zurückkehren. Ein
wahrer Sohn des Daedalus, ist Woods ein Meister des künstlich Erhabenen, das
seinen Grund nicht in einer Erfahrung der Unendlichkeit Gottes oder der
unendlichen Natur hat, sondern der Unendlichkeit, die jeder von uns in sich
trägt, in einem Freiheitsverlangen, das uns auf Stimmen hören lässt, die in
jeder uns Platz anweisenden und Grenzen stiftenden Architektur ein Gefängnis
wittern. So träumen Künstler und Architekten immer wieder von einer
beweglichen, fliegenden Architektur. Architektur gedacht im Bilde des
Gefängnisses hat ihren Antityp in dem völlig beweglichen Heim, einem Heim,
so will es dieser ikarische Traum, das nicht einmal die Schwerkraft bindet:
ist sie nicht der Feind eines jeden wahrhaft freien Geistes. Ballons,
Flugzeuge und Raumschiffe verdienen so einen Platz in jeder umfassenden
Geschichte der modernen Architektur. Montgolfiers Ballonflug und Ledoux’
Kugelgebäude gehören nicht nur zeitlich zusammen. Heute verspricht uns das
Internet eine bislang unbekannte geistige Beweglichkeit, die die Bedeutung
jeder Architektur in Frage stellt.
Träume von Freiheit antworten dem unendlich offenen Raumes. Ganz im Geiste
Nietzsches, der im Geist der Schwere seinen Erzfeind fand, stellt sich
Lebbeus Woods in die Tradition solcher erhabenen Feindschaft. “Darum
bekenne ich mich Feind der Schwerkraft, denn ich bin Freund der Belebung und
der Bewegung. Und darum entscheide ich mich, der Schwerkraft den Krieg zu
erklären und proklamiere sie einen Feind, der, obwohl im Besitz einer
gewissen Noblesse, arroganterweise den Anspruch erhebt, mein ganzes Leben zu
kontrollieren. Ich weise diese Arroganz der Schwerkraft zurück und erhebe
den Gegenanspruch – ich bin ein freier Geist, autonom und selbst bestimmend,
Geschöpf und Architekt der Anti-Schwerkraft”.
Woods’ Visionen von einem in der Luft schwebenden Paris sprechen von einer
solchen Freiheit. Wie aber haben wir uns die Bewohner dieser Stadt zu
denken? Woods spricht von “Akrobaten in einem Zirkus des Werdens”.
Mich erinnert dies an einen Film von Alexander Kluge: “Die Artisten in der
Zirkuskuppel: ratlos” (1968). Kann man sich die Akteure in einem solchen
Zirkus anders denken als ratlos?
Ist wahre Heimat nicht immer Utopie? Lebbeus Woods wenigstens weiß, dass wir
immer schon “auf einem dunklen Meer” sind. “Unsere einzige Hoffnung und
unser größter Ruhm liegt in unserer Bereitschaft, das Unbekannte voll zu
ergreifen und anzuerkennen, auf der Erde als Fremde zu leben: erwartungsvoll
und tapfer, Kinder eines noch unbekannten, höheren Zeitalters.”
Und dennoch, ungeachtet solcher trotzigen Tapferkeit, weigert sich auch
Woods, dem Finsteren das letzte Wort zu lassen und setzt der ausräumenden
Macht des dunklen Raums die einräumende Kraft des Lichtes entgegen, träumt,
wie es Menschen schon immer taten, dass am Ende das Licht siegen wird.
Nicht, dass er diesen Sieg von Gott erwartet. Er hofft auf Menschen, und
ganz besonders auf Architekten, die in diesem Kampf alles einsetzen, was die
Technik heute schon bietet und einmal bieten wird. “Was mich am meisten
anzieht, von Fragen der kontingenten Nutzbarkeit ganz abgesehen, ist
Architektur, die uns das Licht intensiver erfahren lässt und den Geist
sammelt. In meinem Baufieber war es genau eine solche Architektur, die meine
Fantasie errichten wollte in der Form eines alleinstehenden Baus, der das
Licht von Sonne, Mond und Sterne spiegeln und einfangen sollte.” Woods
erfand sein Epicyclarium als Heilmittel gegen dieses Fieber, etwas bauen zu
wollen, das er wirklich sein Eigen nennen könnte und in dem er sich geistig
zu Hause fühlen würde.
Mich erinnert sein Entwurf an die utopischen Architekturen von Architekten
der Aufklärung, wie z. B. von Ledoux, Boullée, Sobre und Vaudoyer.
Wichtiger als Heimat ist Heimkehr. Wichtiger als der Entwurf ist der
Prozess, den Woods als “eine Entwicklung seines Bewußtseins beschreibt,
eine Koordination von Hand und Auge und Geist mit elementaren Naturkräften.”
Heimkehr meint auch hier ein Zusammenstimmen von Mensch und Kosmos. Auch
Woods stellt der Architektur die Aufgabe, dieser Heimkehr zu dienen. Wie er
weiß, ist dies ein Versuch, der ethischen Funktion der Sakralarchitektur
einen zeitgemäßen Ausdruck zu geben.
7
Wie so manche fantastische Architektur ist auch die von Woods ein Traum von
Freiheit. Und wiederum, wie so manche fantastische Architektur ist sie auch
ein Traum von Geometrie, ein Traum also von der Versöhnung von Freiheit und
Ordnung, von wahrer Autonomie, die, wie es schon das Wort sagt, ein Binden
der Freiheit bedeutet, nicht durch fremde Autorität, sondern durch unsere
eigene Vernunft: Traum also einer Versöhnung von ausräumendem und
einräumendem Bauen. Aber wie es der Zauber von Ruinen verrät, der Traum will
uns nicht halten. Immer wieder bestreiten Freiheit und Verlangen die
Herrschaft der Vernunft. Kant suchte in diesem Aufruhr die Wurzel des Bösen.
Doch eine solche Bestimmung lässt dessen Anspruch nicht verstummen. Und
so weigert sich Dostojewskis Untergrundmensch, den Anspruch von
zwei-mal-zwei-macht-vier anzuerkennen. In zwei-mal-zwei-macht-fünf findet
eine Freiheit, die jede Autorität, die sie binden möchte, auch die der
Vernunft, zurückweist, eine letzte Zuflucht. Zwei-mal-zwei-macht-vier, die
Herrschaft der Perspektive und jede uns von der Vernunft geschenkte
einräumende Architektur gehören zusammen. Und zusammen gehören
zwei-mal-zwei-macht-fünf, Ruinen und ausräumende Architekturen, die das uns
von der Vernunft Eingeräumte aufreißen, um der Freiheit ein Fenster zu
öffnen.
In der Geschichte der Architekturfantasien wird ein solches Aufreißen zum
Bild im Capriccio, das dem Ruinenbild verwandt, gerne Architekturen zur
Natur zurückkehren lässt. Hier zum Beispiel ein Blatt des Johann Esaias
Nilson, dessen “Neues Caffehaus” (1756) als verspielte Variation von
Hogarths “Falscher Perspektive” verstanden werden kann, letztere gemeint als
satirisches Titelbild für ein Buch über Perspektive. Aber Nilson kehrt
Satire in leichtherziges, doch subversives Spiel. Die dekorativen Entwürfe
von Woods erinnern an dieses Bild. Ist es nicht ein fantastisches
Quasi-Ornament, das Woods in die Ausstellungsräume in Pittsburgh eindringen
lässt? Und sind nicht auch die Gebilde, die Woods in seinen “Free-Zone”-Projekten
in die Stadtlandschaften von Zagreb und Berlin eindringen lässt, ähnlich
ornamental, wobei ihre subversive, politische Bedeutung nicht zu übersehen
ist, versprechen sie doch ein anarchisch-utopisches Reich der Spontaneität
und des Spiels. Wenn ich hier die Kunst von Woods ornamental nenne, so soll
das nicht ihre Bedeutung in Frage stellen, eine Bedeutung, die Architekten
wie Frank Gehry oder Daniel Libeskind nicht entgangen ist, noch den Beitrag
dieser scheinbar verspielten Interventionen in unsere zunehmend
homogenisierten Stadtlandschaften. Ich wollte vielmehr auf die subversive
Funktion des Ornaments in der Architektur hinweisen, die ein Adolf Loos so
klar erkannte.
Und nirgendwo ist diese Funktion ausgeprägter als im Ornament des 18.
Jahrhunderts. Die Architekten der Aufklärung und die Kritiker, die die uns
von der Aufklärung eingeräumte Architektur bewachen und beschützen wollten,
wussten sehr wohl um die subversive, und das heißt auch ethische und
politische Funktion des Ornaments. Kehren wir noch einmal zu Nilsons “Neuem
Caffehaus” zurück. Wichtiger als dieses fragwürdige Etablissement ist das
aus dem Rahmen herauswachsende Rocaille-Ornament, das in das Bild eindringt,
das Haus, es fast erstickend, wie Efeu umschlingt. Und dieses Ornament
richtet sich nicht nur gegen das Haus, sondern auch gegen die Regeln der
Perspektive, denen doch damals jedes vernunftgerechte Bild zu folgen hatte.
Das Entsetzen der Aufklärer, die doch hofften, das ruinöse Haus der Religion
mit einem uns von der Vernunft eingeräumten Haus zu ersetzen, ist leicht zu
verstehen. Das nur scheinbar unschuldige Spiel des Ornaments ist Metapher
des anarchischen Spiels der Fantasie und der Natur. Dionysische Mächte
drohen dem uns von der Vernunft gebauten Schiff den Untergang. Die
Einbildungskraft des Künstlers überspielt die Regeln der Vernunft, deren
Schiff, wie in diesem Stich von Jacques de la Joue, das Riff des Ornaments
scheitern lässt. Aber etwas in uns will solchen Schiffbruch.
Zugegeben: ein Abgrund trennt die Entwürfe von Lebbeus Woods von den
Ornamentstichen des Rokoko. Ihr Ziel ist immer wieder Cythera. Wie das
Paradies so braucht auch diese glückliche Insel der Venus keine einräumende
Architektur. Nicht dass Träume von Cythera dem Reich der Venus gerecht
werden. In ihrem Reich sind Geburt und Tod, Schönheit und Verwesung
Geschwister: inter faeces et urinam nascimur. Es ist diese dunkle,
chthonische Unterseite des scheinbar so leichtfertigen Rokoko, die die
Aufklärer herausspürten, nicht nur den Umsturz der Vernunft bemängelnd, die
der Fantasie den ihr gebührenden, doch sehr bescheidenen Platz einzuräumen
hat, sondern auch wie leicht dieser Umsturz zum Abjekten und Monströsen
führt. So lassen sich die Ornamentstiche des Rokoko auch als verspielter
Vorgriff der Wendung zum Abjekten verstehen, der in der Kunst der letzten
Jahre eine so große Rolle spielte und Venus immer wieder mit Kot bedeckte.
Lebbeus Woods jedoch reist nicht nach Cythera. Noch ist die Wildnis, die er
erforscht, eine Wildnis der abjekten Natur. Seine Wildnis ist Werk einer
Vernunft, die, unserer grenzenlosen Freiheit nicht gewachsen, die Herrschaft
über sich selbst verliert und so jene Architektur, die Descartes uns einst
mit seiner Methode versprach, ausräumt. Die Technik, die uns Macht über die
Natur gibt, wächst hier so, dass das Künstliche zur unheimlichen zweiten
Natur wird, komplex wie die erste, so komplex, dass all unsere Versuche, sie
in den Griff zu bekommen, versagen. Endlose Neuerungen rufen uns mit ihrem
Versprechen, wecken neues Verlangen und immer neue Erfindungen, solches
Verlangen zu stillen. So gebiert der Fortschritt der Technik Traumbilder von
nicht mehr ort- und zeitgebundenen Individuen, von Menschen, die die
Freiheit haben, sich immer wieder selbst zu erfinden, und was auch immer für
Plätze Regierungen, Götter oder die Natur den Menschen anweisen wollen,
nicht zu achten. Kein neues Jerusalem! Kein Paradies! Keine Reise nach
Cythera! An die Stelle solcher Fantasien tritt die Fantasie einer weder von
der Vernunft noch von der Natur gebundenen Existenz: eine Vision von
Cyberbabel als der schrecklich-erhabenen Heimat der wahren Freiheit.
Doch die Freiheit muss sich selbst binden, soll sie nicht zur Willkür
werden. Wo aber findet diese alles ausräumende Freiheit, was sie binden
könnte? In der heilenden Kraft des Lichtes? Menschen, die hier angelangt
sind, werden die Hinwendung der Kunst der letzten Jahre zum Dunklen,
Schweren und Abjekten fast beruhigend finden als ein erstes Geständnis, dass
jede wirkliche Selbstbejahung die Rückkehr aus der Wildnis fordert, in die
uns Freiheit und Vernunft geführt haben: die Rückkehr zum sterblichen
Menschen und zur Erde. Noch ruft uns Cythera.
Wir sind Amphibien, gehören der Erde und dem Licht. So fordert die eine
Seite unseres Wesens Freiheit, währende die andere von Geborgenheit träumt.
Die eine will Heimat, die andere Reisen ins Unbekannte. Die eine sucht das
Schöne, die andere das Erhabene. Die eine will Raum einräumen, die andere
Räume ausräumen. Als solche Amphibien träumen wir auch von dem, was diesen
Zwiespalt heilen könnte. Aber nur ein Bauen, das diesen Zwiespalt aushält
und austrägt, ermöglicht ein menschliches Wohnen.
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