Gebaute Räume
Zur kulturellen Formung von Architektur und Stadt

9. Jg., Heft 1
November 2004
   

 

___Christoph Asendorf
Frankfurt an der Oder
  Raum und Bewegung in der Moderne

 

   

I.
 

Bewegung hat immer Einfluss auf die Wahrnehmung von Räumen. Dabei spielen auch kulturelle  Dispositionen herein; heutigen Beobachtern erscheinen u. U. sogar Bauten, die lange vor der Transportmittelrevolution errichtet wurden, die seit der Industrialisierung das raumzeitliche Wahrnehmungsgefüge grundlegend veränderte, als Ausdruck einer „Ästhetik der Mobilität“. Dies zeigt beispielsweise die Analyse der Moschee von Cordoba in der 2003 vom niederländischen Architekturinstitut  herausgegebenen Publikation „Mobility“[1]. Der berühmte „Säulenwald“ dieser Moschee aus dem 8.-10. Jahrhundert hat, wenn er aus der Bewegung des Gehens heraus wahrgenommen wird, für Gläubige und Besucher einen hochgradig kinetischen Effekt, der sich wahrnehmungspsychologisch aus dem Phänomen der Parallaxe erklären lässt. Dabei handelt es sich im gegebenen Fall um eine Scheinbewegung der Säulen, die in Relation zur Eigenbewegung des Betrachters entsteht; bei jedem seiner Schritte scheinen sich die Säulen gegeneinander zu verschieben. Doch den Erbauern des Hypostyls von Cordoba ging es wohl kaum um die Artikulation von Bewegungseffekten als solchen. Ich möchte vermuten, dass sie den Effekt nutzten, um einen Raum des „Ganz Anderen“ zu erzeugen, wie sie es auf andere Weise ja auch mit der Unendlichkeitssuggestion der Ornamente in den physisch gar nicht großen Kuppeln taten.

Unter den großen Stilen der Vergangenheit ist es wohl zuerst der Barock, wo man systematisch und in jeder nur denkbaren Dimension an der Evokation von Bewegungsempfindungen arbeitete, und nun auch erklärtermaßen mit dem aus der Erlösungshoffnung abgeleiteten Ziel, die irdische Wirklichkeit zumindest virtuell zu überschreiten. Die Begriffe, unter denen wir den Barock heute betrachten, wurden ganz wesentlich von Heinrich Wölfflin ausgearbeitet, der frühere Forschungen zum Thema in seinem Hauptwerk „Kunstgeschichtliche Grundbegriffe“ von 1915 synthetisierte. Hier arbeitet er mit fünf Gegensatzpaaren, um die Ausdrucksformen von Renaissance und Barock zu unterscheiden; sie aber sind so allgemeingültig, dass sie auch ein Mittel sein können, um auf einer rein formalen Ebene grundsätzliche Ausdrucksmöglichkeiten von Kunst zu erfassen. Über die Architektur des Barock sagt er, dass in ihr die starre Form der Renaissance in eine flüssige umgewandelt werde[2]. Das Interesse gilt nicht mehr dem (statischen) Sein, sondern dem Geschehen, Baumassen kommen in Bewegung[3]. Es geht nicht mehr um das Bleibende, Messbare und Begrenzte, sondern um die wechselnde Erscheinung. Eines seiner prominenten Beispiele ist die Karlskirche Fischer v. Erlachs in Wien. Die „zwei der Front vorgestellten Säulen, deren Wert erst in den nichtfrontalen Ansichten sich offenbart, wenn die Säulen unter sich ungleich werden und die zentrale Kuppel überschnitten wird[4], demonstrieren für ihn, wie die Linie als tastbare, eindeutige Grenzsetzung entwertet und die Ränder im Dienst einer Dynamisierung des Eindrucks vervielfacht werden.

Ohne dass Wölfflin nun diesen Gedanken näher ausführte (wie es vielleicht sein Lehrer Burckhardt oder sein Schüler Giedion getan hätten), sagt er doch zusammenfassend, dass Renaissance und Barock ein „grundsätzlich verschiedenes Interesse an der Welt“ zum Ausdruck bringen. Auch seine eigene theoretische Arbeit scheint Ausdruck eines spezifischen Interesses an der Welt. Indirekt verweist sie auf den gesamtkulturellen Kontext ihrer Entstehungszeit: mit Wölfflin begann die moderne kunsthistorische Erforschung des Barock in den Jahren um 1900, in einem historischen Moment also, hinsichtlich dessen man eine „Mobilisierung der Anschauungsformen“[5] konstatierte, die durch die allumfassende Beschleunigung der Lebensvorgänge in der modernen Gesellschaft ausgelöst wurde. Sie fand, neben anderem, in neuen Medien wie dem Film, neuen künstlerischen Ausdrucksformen oder der Erforschung des „Bewusstseinsstroms“ ihren Ausdruck – und eben auch in der „Entdeckung“ des Barock.

 

II.
 

Heinrich Wölfflin fuhr 1907 vom Darmstädter Kunsthistorikerkongress nach Mannheim, um die Kunst- und Gartenbauausstellung zu besuchen. Er bezeichnete die dortigen Bauten von Peter Behrens als das Beste des Gebotenen und fügte hinzu, dass Behrens die meiste Zukunft wohl dann hätte, "wenn er zu seiner Linien- und Flächenrhythmie noch die kubische Schönheit hinzugewönne"[6]. In Wölfflins Begleitung befand sich der junge Kunsthistoriker Fritz Wichert, der von ihm gerade mit einer Arbeit zu Abbildungen antiker Werke in späteren Kunstepochen promoviert worden war. Wichert veröffentlichte 1909 den Aufsatz „Luftschiffahrt und Architektur“[7] – ein Text, der beispielhaft eine mögliche Reaktion auf einen neuen Bewegungsmodus durchspielt. Weniger der Flug als Ereignis interessiert, sondern die Frage, welche Art der Neukoordination von Wahrnehmungsbezügen nun notwendig werden würde. Geleitet von der offenbar aus dem Wölfflinschen Denken abgeleiteten These, "dass das an optische Vorstellungen gebundene Bewusstsein durch die Entwicklung der Technik Verschiebungen erleidet", untersucht Wichert die allgemeinen Folgen des Fliegens.

Für die Architektur bedeutet die Flugerfahrung im Wortsinn eine "Revolution", eine Umwälzung gewohnter Anschauungsweisen. "Die Fesseln der Schwerkraft“, so heißt es, „lösen sich (...). Das Dach des Hauses (bekommt) eine ganz andere Wichtigkeit (...) es bekommt frontalen Wert. Die Dächer werden zu Fronten." Hier ist - nach der der vier Seiten - die fünfte Ansicht gefordert, und das impliziert mehr als eine flache Terrasse, ob diese nun als Dachgarten oder, wie es auch gelegentlich vorgeschlagen wurde, als Landemöglichkeit für Luftfahrzeuge ausgebildet wird. Wichert sieht mit dem frontalen Wert der Dächer ganz generell die "Schwerkraftsarchitektur" überwunden, in der mit Gesimsen, Bekrönungen und oberen Abschlüssen die Schwere in einer Weise zur Form geworden sei, die eine ständige Erinnerung an das Erdgebundensein darstellt. Wenn das Dach zur Frontfläche geworden ist, ergibt sich die mögliche Gleichwertigkeit aller Ansichten. Wichert zieht die Konsequenz und propagiert das "stereometrische System", architektonische Komposition als das Gruppieren einzelner Körper bei gleichwertiger Behandlung der vertikalen und horizontalen Flächen.

Ohne einen bestimmten Bau zu erwähnen, nennt Wichert Peter Behrens den Architekten, der auf dem Weg zum zukünftigen, stereometrischen Stil am weitesten vorangeschritten sei. Sieht man sich etwa die Berliner AEG-Bauten daraufhin an, so wird man zwar nicht ein voll ausgebildetes kubisches bzw. stereometrisches System vorfinden, aber doch deutliche Hinweise darauf. Die Seitenhalle der Turbinenfabrik, Treppentürme der Hochspannungsfabrik oder Torentwürfe zeigen eine klare kubische Gestaltung; der Dachgarten auf der Maschinenfabrik Brunnenstraße, in einfacherer Form schon von einem von Behrens´ Vorgängern angelegt, nutzt die plane obere Abschlussfläche.

In einer Folge von Vorträgen kommt Behrens selbst ab 1909 auf seine Intentionen zu sprechen, betont, wie er durch bündige Flächen den Eindruck einer starken, geschlossenen Körperlichkeit erzielen wollte.[8] Eine derartige formale Reduktion und Konzentration sei notwendig, um architektonische Gebilde an die Beschleunigung des modernen Lebens anzupassen. Das war auch schon für  Wichert, dem Hauptargument allerdings nachgeordnet, eine Begründung seiner Forderung nach "gradlinigen, gradflächigen" Körpern gewesen. In der plastischen Formulierung von Behrens liest sich das so: „Wenn wir im überschnellen Gefährt durch die Straßen unserer Großstadt jagen, können wir nicht mehr die Details der Gebäude wahrnehmen (...). Die einzelnen Gebäude sprechen nicht mehr für sich. Einer solchen Betrachtungsweise (...) kommt nur eine Architektur entgegen, die möglichst geschlossene, ruhige Flächen zeigt"[9].

Behrens entwarf um 1912 eine Hochbahnstation[10], einen Bahnhof auf Stützen, unter dem der Straßenverkehr ungehindert hätte weiterfließen können. Die Differenz zwischen einer Vorstudie und dem ausgearbeiteten Entwurf zeigt deutlich die Richtung seiner Überlegungen. Zunächst verzichtete  er auf eine bei Bahnhofshallen übliche Dachkonstruktion in Bogen- oder Sattelform und entschied sich für ein Flachdach. Die Fassade ist im ersten Entwurf noch durch risalitartige Vorsprünge gegliedert, erst im zweiten werden die Fenster "bandartig um den Bau herumgezogen". Diese bündige Art der Fassadengestaltung betont das kubisch-blockhafte des gesamten Komplexes, der lang gestreckt über der Straße zu schweben scheint.

Unabhängig von seiner Funktion, so scheint mir, ist hier ein Prototyp der modernen Architektur schlechthin entworfen - ein typologisch voraussetzungsloses Gebilde von elementarischer, aus Horizontalen und Vertikalen gebildeter Gestalt, ohne Bezug auf Erdboden und örtliche Umgebung ganz vom funktionalen Bedürfnis her gedacht. Von hier aus lassen sich Verbindungslinien zu einigen der heroischen Projekte der Zwanziger Jahre ziehen.

So schreibt Malewitsch 1923: "Schwebende Planiten (...) werden den neuen Plan der Städte und die Form der Häuser (...) bestimmen"[11]. "Suprematistische Form" nennt er 1924 den "Planit eines Fliegers", eine horizontal betonte Schichtung kubischer Körper als Modell der zukünftigen Häuser Leningrads. Die berühmten "Fünf Punkte zu einer neuen Architektur", die Le Corbusier 1926 publizierte[12], lassen sich sogar direkt auf den Hochbahnhofsentwurf seines früheren Lehrers Behrens zurückbeziehen. Wesentliche Momente waren hier bereits vorhanden: in rudimentärer Ausführung die Bänder der Langfenster, das flache Dach und vor allem die Stützen, die das Erdgeschoss emporheben und das Terrain der Zirkulation offen halten. Und wenn man noch hinter Behrens zurückblicken will, dann erscheint als eine Art abstrakte Antizipation der späteren Entwürfe und Programmatiken das "stereometrische System" der gradflächigen Abschlüsse, welches der Wölfflin-Schüler Fritz Wichert in seinem Aufsatz "Luftschiffahrt und Architektur" als Folge der schnellen Bewegung in allen Raumebenen, ob in der Luft oder auf der irdischen Horizontalen, propagiert hatte. Offensichtlich also hat in den Jahren um 1909 im architektonischen Denken ein grundsätzlicher und lange weiterwirkender Wandel raum-zeitlicher Dispositionen eingesetzt.

 

III.
 

Eine der innerhalb der architektonischen Avantgarde wirkungsmächtigsten Explikationen des Zusammenhanges von Architektur und Bewegung stammt von den Futuristen, die sich ebenfalls 1909 formierten. Wo es einem Peter Behrens darum ging, durch gestalterische Mittel der Verflüchtigung aller Eindrücke durch steigende Geschwindigkeiten entgegenzuwirken, da idolisieren sie dieses Motiv bis hin zur Ausbildung der Stadt als gewaltiger Bewegungs- bzw. Beschleunigungsmaschinerie[13]. Ihr diesbezüglich richtungweisendes Manifest stammt aus dem Jahr 1914; Verfasser ist der Architekt Antonio Sant´ Elia, die redaktionelle Überarbeitung besorgte Marinetti. Am Anfang steht der Ausstieg aus der historischen Kontinuität, die Proklamation von etwas ganz Neuem in der Architektur[14]. Mit provozierender Deutlichkeit wird der Charakter der neuen Stadt als "riesiger, lärmender Bauplatz" betont; an den Häusern sollten sich die Aufzüge "wie Schlangen aus Eisen und Glas" emporwinden. Bauten ohne Verzierung, aufgebrochen und an die Zirkulationssysteme der Stadt angeschlossen: das war das Programm, das aber über Entwurfszeichnungen hinaus nicht gedieh.

Die Zeichnungen aber zeigen, was es bedeutet, das "Monumentale, Schwere und Statische", den gemessenen Takt der Orte der Vergangenheit überwinden zu wollen: die futuristische Stadt wird gleichsam einem Prozess der Kompression unterworfen, eine Vielfalt von Aktivitäten in den neuen Zentren konzentriert. Man gräbt sich in die Erde, nutzt die Dächer, schichtet Verkehrssysteme übereinander. Sant´ Elias Entwürfe zeigen kaum mehr horizontale Straßenzüge, sondern vielfältig ineinander geschobene Gebäude, deren Gesamtausdehnung ebenso offen bleibt wie die Frage, ob die jeweiligen Verkehrsflächen ober- oder unterirdisch liegen. Dies sind städtische Räume eines neuen Typs, deren Planungsvorgabe nicht die Erzeugung einer wie auch immer gearteten Aufenthaltsqualität ist, sondern die effektive Vernetzung verschiedener Verkehrsströme bei möglichst hoher Durchlaufgeschwindigkeit von Menschen pro Zeiteinheit.

Was er vorschlägt, sind Bauten für eine Welt der Beschleunigung, in der mit gesteigerten Geschwindigkeiten Distanzen schrumpfen. Im gleichen Maß dehnt die futuristische Sensibilität das Gefühl für des Ganze der Welt aus. Die Voraussetzung dafür ist, dass neben den Verkehrs- die Möglichkeiten der aktuellen Kommunikationstechnologien genutzt werden. Für den modernen Menschen habe es, so schreibt Marinetti 1913, "wenig Sinn zu wissen, was ihre Vorfahren taten, aber sie müssen wissen, was ihre Zeitgenossen in allen Teilen der Erde tun. Daraus ergibt sich für den einzelnen die Notwendigkeit, mit allen Völkern der Welt in Verbindung zu treten. Deshalb muß sich jeder als Mittelpunkt fühlen"[15]. So wie die Räume sich tendenziell zusammenziehen, so wird das Bewusstsein für die Tiefe der Zeit durch das der absoluten Simultaneität abgelöst. Prozesse der Distanzierung, der Vermittlung über räumliche oder zeitliche Zwischenschritte, werden durch neue Formen instantanen und direkten Austausches ersetzt. Die Futuristen sprechen von „universeller Vibration“ und meinen damit die beständige wechselseitige Durchdringung aller Dinge und Verhältnisse. Was sich hier ausbildet, so könnte man mit einer knappen Formel sagen, ist eine Welt totaler Innervation.

Auffällig ist, dass sie für ihre Bewegung immer wieder den Begriff der Avantgarde reklamieren, dass sie Modernität und Technologie mit Militarisierung in eins setzen. Tatsächlich lassen sich in avancierten militärischen Planspielen am ehesten Realentsprechungen zur futuristischen Idee übergreifender Innervation finden. Wo die Künstler von "Simultaneität", dem Dynamismus der elektrifizierten Städte sprechen, da überziehen die Militärs ihre Schlachtfelder wie Körperregionen mit Nervenfasern. Eine umfassend kommunikationstechnisch gestützte Strategie wird 1909 in einer Vision des Grafen Schlieffen über die zukünftige Form des Krieges sichtbar; im Erscheinungsjahr von Marinettis erstem Manifest entwirft er eine gleichsam militär-futuristische Weltordnung, deren Basis ein neuer Modus des Umgangs mit Raum ist.

Kriege würden sich fortan in Räumen abspielen, welche die früheren "um ein Gewaltiges übersteigen"[16]. Die großen Distanzen machen neue Verfahren der Verifikation erforderlich. Nicht mehr über Blickachsen, sondern nur über die Netze der Telekommunikation ist ein solcher Raum kontrollierbar. Der Ort der Schlacht wird von dem ihrer Steuerung abgekoppelt. Die Kontrolle großer Räume ist nur um den Preis solcher Abstraktion zu haben; erst sie erlaubt es umgekehrt aber auch, auf ein komplexes Geschehen so einzuwirken, dass es sich nicht in ein Neben- und Nacheinander separater Einzelgeschehen auflöst, sondern simultan beeinflussbar bleibt. Wie im Futurismus wird der Raum gleichsam mehrschichtig; mittels neuer Techniken werden Grenzen überspielt, gewohnte Qualitäten gegen neue ausgetauscht.

Schon im Sommer 1914 hatten sich Schlieffens Annahmen bestätigt; der Erste Weltkrieg findet im Kategoriensystem technischer Modernität statt. Denn es ist ja eine seiner "markantesten Signaturen", so Felix Auerbach in seiner 1917 bereits in vierter Auflage erschienenen "Physik im Kriege", dass er "sich in vertikaler Richtung bis an die Grenzen des möglichen erstreckt, dass er sich, unter tunlichster Vermeidung der Erdfläche, darüber und darunter abspielt, in Schützengräben und unterirdischen Gewölben, im Meereswasser und hoch oben in der Atmosphäre"[17]. Hinzufügen müsste man hier noch den Faktor Kommunikationstechnik, ohne den das Geschehen gar nicht koordinierbar wäre. All dieses zeigt einen umfassenden Zugriff auf den Raum. Die zivilisatorische Erschließung aller seiner Dimensionen wird hier auf einen Punkt vorangetrieben, wo die Möglichkeit totaler Raumbeherrschung sich als Zerstörungsmacht realisiert.

Als Walter Benjamin 1928 rückblickend den Raum des Krieges beschreibt, konzentriert er sich in ganz ähnlicher Weise auf die Möglichkeiten alldimensionaler Raumdurchdringung: "Menschenmassen, Gase, elektrische Kräfte wurden ins freie Feld geworfen, Hochfrequenzströme durchfuhren die Landschaft, neue Gestirne gingen am Himmel auf, Luftraum und Meerestiefen brausten von Propellern, und allenthalben grub man Opferschächte in die Muttererde"[18]. Für Benjamin hat hier die Technik im Verbund mit Profitgier die Menschheit verraten. Nur ein Jahr später schreibt er jedoch über die Architektur der Zwanziger Jahre: "Dem Wohnen im alten Sinne ... (hat) die Stunde geschlagen. Giedion, Mendelsohn, Corbusier machen den Aufenthaltsort von Menschen vor allem zum Durchgangsraum aller erdenklichen Kräfte und Wellen von Licht und Luft. Was kommt, steht im Zeichen der Transparenz"[19]. Diese Äußerungen spiegeln sich gegenseitig; die Affinität zu Kriegsräumen, die den futuristischen Raumkonzepten eingeschrieben war, wird hier aus der Perspektive der Nachkriegszeit und ihrer Architektur erneut sichtbar. Da aber den Avantgarden der Zwanziger Jahre bellizistische Absichten fern liegen, weist dies auf zugrunde liegende Innervationspotentiale der technischen Zivilisation, die einen neuen und in mancher Hinsicht ambivalenten Raumbegriff mit sich brachten, dem Durchdringung wichtiger als Begrenzung ist.

 

IV.
 

Sigfried Giedion fasste das Kunstwollen der Klassischen Moderne 1941 in seinen berühmten Titel: „Space, Time and Architecture“; sein Kollege Alexander Dorner sprach 1948 von der "überräumlichen Wirklichkeit reiner Energien". Das wohl wirkungsmächtigste zivilisatorische Leitbild jener Jahre entwarf Wendell Willkie mit seinem Bestseller „One World“. Was all diese Konzepte verbindet, ist die Absicht, Grenzen durchlässig zu machen und Distanzen zu überbrücken, um in eine Welt dynamischer Wechselwirkungen eintreten zu können. Die gesamtkulturellen Implikationen dieser Einstellung werden vielleicht nirgendwo sonst so greifbar wie in Laszlo Moholy-Nagys Buch "Vision in Motion" von 1947. Schon in seinen Bauhausbänden hatte er vorurteilsfrei künstlerisches Material mit solchem aus der metropolitanen Umwelt konfrontiert. Diese Entwicklung kulminiert in der neuen Publikation, in der die Arbeit der Avantgarden in den breiten Strom des modernen Lebens eingebettet erscheint. "Vision in Motion", in den USA über mehrere Jahrzehnte immer wieder aufgelegt, in Deutschland aber bis heute nicht übersetzt, ist nicht nur die Synthese der Bücher Moholys, sondern wohl auch das Hauptwerk dieses Künstler-Theoretikers.

Moholy definiert, was man sich unter "Vision in Motion" vorzustellen habe, nämlich "seeing, feeling and thinking in relationship and not as a series of isolated phenomena.
It instantaneously integrates and transmutes single elements into a coherent whole"[20]. In einem der dichtesten Kapitel des Buches, dem über "Space-Time Problems", wird deutlich, dass sich sein Titel offenbar wesentlich auf die essentiell moderne Erfahrung simultaner Bewegungsvielfalt bezieht, die ein neues Verhältnis zur Welt begründet. Er veranschaulicht dies am konkreten Beispiel der aktuellen Lebensrealität.

Ein Autofahrer etwa oder ein Pilot, denen sich entfernte und nicht verbundene Dinge aus der Dynamik der Bewegung heraus in räumlicher Beziehung darstellen[21], sehen offensichtlich eine andere Welt als ein Fußgänger sie sieht. Also macht es einen großen Unterschied, für wen jeweils einzelne Dinge oder ganze Szenerien gestaltet werden sollen. Moholy erinnert in diesem Zusammenhang an ein Experiment des französischen Plakatgestalters Jean Carlu[22]: dieser stellte 1937 ein Plakat von Toulouse-Lautrec und eines aus der Gegenwart auf zwei Förderbänder, die sich mit verschiedenen Geschwindigkeiten bewegten, im Falle von Toulouse-Lautrec mit der eines Pferdewagens, im anderen mit der eines Autos. So waren beide gut lesbar, was sich aber änderte, als das Toulouse-Lautrec-Plakat auf die Geschwindigkeit des Autos gebracht wurde: nun, in einem anderen Bezugssystem als dem, auf das hin es entworfen war, konnte es seine Aufgabe nicht mehr erfüllen.[23] Gesteigerte Bewegungsgeschwindigkeiten erfordern also neue Skalierungen in der Objektwelt.

Architektonisches Hauptbeispiel im vorliegenden Kapitel ist Frank Lloyd Wrights "Falling Water", die 1935-39 für Edgar J. Kaufmann in Bear Run bei Pittsburgh errichtete Villa, bei der sich über einem Wasserfall auf mehreren Etagen einzelne Terrassen in verschiedene Richtungen des Außenraums vorschieben.
Diese Architektur, schreibt Moholy, „shows more similarity to an airplane than to traditional buildings. To live in such a house creates the sensation of being in an airplane, giving an emotional freer relationship to the surroundings"[24]. So, wie anderswo der Umweltbezug von Innenräumen durch das Durchdringungspotential perforierter oder transparenter Flächen hergestellt wird, so wird er hier durch das gleichsam blütenhafte Sich-Öffnen erreicht, das Auseinanderfahren eines ganzen Gebäudekörpers, die allseitige Exposition einzelner Schichten. „Falling Water“ ist für Moholy, wie auf andere Weise auch der Barcelona-Pavillon von Mies, ein Inbegriff interaktionsfähiger Architektur.

In "Vision in Motion" aber tauchen, wie es in den unmittelbaren Nachkriegsjahren ja nahe liegt, neben künstlerischen und wissenschaftlich-technischen Fragen auch solche der Kriegsführung auf, einer Sphäre also, die, mit Ausnahme der Futuristen, alle Programmatiker, die den Standort der Kunst in der modernen Welt zu bestimmmen suchten, umgangen haben. Raum und Zeit sind hier auf ganz besondere Weise verschränkt. Moholy verweist auf U-Boote, die ihr Ziel durch reflektierte Radiowellen orten, "indicating distance by time"; ausführlich äußert er sich zur Komplexität militärischer Logistik im Allgemeinen[25]. In seiner Logik gehört der Krieg genauso zur modernen Kultur wie Picassos “Guernica", der Barcelona-Pavillon, ein chemisches Strukturmodell oder der Film; ein Künstler ist hier nicht mehr zuständig für eine besondere Wirklichkeit, sondern erscheint als Spezialist für Gestaltung unter anderen Spezialisten[26]. "Thinking in relationship", die Permanenz von Interaktionsprozessen - das sind für Moholy die übergreifenden zivilisatorischen Merkmale schlechthin. Was "Vision in Motion" bietet, ist, wenn schon keine elaborierte Theorie solcher Prozesse, so doch, mit seinen vielfältig aufeinander verweisenden begrifflichen und visuellen Bausteinen, ein Ansatz dazu.

 

V.
 

Ein äußerlich leicht erkennbarer Modus der Bewegungsrepräsentation in architektonischer Gestaltung lässt sich durch das ganze 20. Jahrhundert beobachten, und das sind die dynamisch ausgreifenden Formen, die zwischen dem Jugendstil und heutigen biomorphen Designs in immer neuen und neu kodierten Ausprägungen begegnen. Henry van de Velde definierte: „Die Linie ist eine Kraft“, und ließ durch seine Möbel, Bestecke und Häuser eine Art zarathustrischen Energiestrom fließen. Erich Mendelsohn arbeitete an der architektonischen Übersetzung des Kraftflusses der großstädtischen Zirkulation, Gestalter der „Streamlined Decade“ entwickelten Chiffren, die, aus der Aero- und Hydrodynamik abgeleitet, alle Dinge des Alltagslebens fließfähig zu machen schienen. Ein Eero Saarinen verband, genau wie Mendelsohn, die Inspiration durch die Dynamik der technischen Zivilisation mit einem Interesse am Barock; wo aber seine frei gekurvten Schalen wie auch die Arbeiten anderer Vertreter des „Plastischen Stils“ der fünfziger Jahre den Sachwaltern der Klassischen Moderne noch als deren illegitime Kinder erschienen, da hat sich heute ein Biomorphismus etabliert, dessen Hauptversprechen zu sein scheint, anders, als tektonisch fest gefügte Gebilde es vermöchten, flexibel auf jede gewünschte Veränderung reagieren zu können.

 

VI.
 

Mit der Ausstellung "The Un-Private House" versuchte das Museum of Modern Art unmittelbar vor der Jahrtausendwende eine Standortbestimmung für die Architektur des Wohnhauses in der Gegenwart. Eines der Beispiele ist ein Apartment in New York, das von Sulan Kolatan und William McDonald gestaltet und 1997 fertig gestellt wurde. In diesem Apartment mit seinen gekurvten und auch ineinander übergehenden Formen sind Objekte und Raumzonen nicht auf eine einzige programmatische Funktion beschränkt. In den Augen der Architekten bietet es "a chimerical condition between furniture, space and surface"[27]. Abgeleitet wurde dieses Konzept aus der Topologie, einem Zweig der Mathematik, der sich mit Geometrien wie der des Möbiusbandes beschäftigt. Praktisch heißt das, dass hier ein Kontinuum beispielsweise zwischen Schlafzimmer und Bad hergestellt ist, zwei üblicherweise klar getrennten Raumtypen. Ungefähr auf derselben Höhe wie das Bett fließt das Badewasser um dieses fast herum, nur durch eine senkrechte Glasscheibe von der Matratze bzw. einer zweiten Wanne getrennt, die aber zugleich Abstellfach oder eine Art versenkter Nachttisch sein kann.

Die Materie scheint hier in Fluss geraten, nur zufällig und für einen Moment erstarrt. Die Separation der Dinge untereinander wie auch die der verschiedenen menschlichen Bedürfnisse ist aufgehoben. So bietet das Apartment ein erstaunliches Bild, als wäre ein möglichst umfassender Grenzabbau das Ziel, die Erzeugung totaler Flexibilität. Dinge (und gewohnte Verhaltensweisen) erscheinen nur wie im Übergangszustand; alles spricht von der steten Neigung, sich zu verändern.

Der Kurator der Ausstellung, Terence Riley, spricht hier von "liquid spatiality".  Dies scheint mir ein Terminus, der nicht nur für dieses Beispiel angewendet werden kann, sondern überhaupt für Konzepte in der Gegenwartsarchitektur, in denen das Thema verflüssigter, in Bewegung geratener Räume durchgespielt wird. So verdankt ein anderer Typ von Räumen mit unfester Erscheinung sich dem Versuch einer integralen Verbindung von Medientechnik und Architektur; hier entstanden Projekte durchaus hybriden Charakters. Toyo Itos Mediathek in Sendai etwa erscheint gewichtslos und polymorph; raffinierte Beleuchtung macht aus dem Gebäude eine veränderliche Erscheinung farbigen Lichts. Bewegung entsteht durch innere Wandlungsfähigkeit. Herzog und de Meuron arbeiteten in der Kramlich Residence mit inneren und äußeren Raumbegrenzungen aus Glasflächen, z. T. für Projektionen genutzt; über das so entstehende Raumbild schrieben sie: "Our architectural treatment of the space was devised to allow the exterior, the interior and the ... projected images to flow into each other"[28]. Das Physische und das Immaterielle verschmelzen und ergeben ein scheinbares Kontinuum verschiedenartiger Wirklichkeiten.

Eigenbewegung hingegen induziert ein Gefühl der Loslösung von gewohnten Schemata der Raumwahrnehmung, wenn man auf dem „Trajekt“ der kürzlich eingeweihten Niederländischen Botschaft in Berlin auf- oder absteigt: Koolhaas verbindet hier Räume, die nicht auf durchgängigen Etagen, sondern auf einer Vielzahl ´autonomer´ Ebenen angeordnet sind, durch einen mäandernd geführten Weg, der zwischen Flur, Rampe und Treppe changiert. Auch sind Wand- und Fußbodenfarbe nicht unterschieden, was den Eindruck, beim Auf und Ab durch ein kunstvoll derangiertes Gebäude zu gleiten, eigentümlich verstärkt. - All diese Arbeiten verbinden Bewegungssensationen der verschiedensten Art; man gewinnt den Eindruck, als würden heute sämtliche Verfahren architektonischer Bewegungsrepräsentation, wie sie im 20. Jahrhundert ausgebildet wurden, koexistieren und zugleich, wo die Aufgabe es nahe legt, mit dem symbolischen Potential neuer Technologien gekreuzt werden. Die Gründe liegen auf der Hand: wenn Zygmunt Bauman unsere Epoche zu Recht als „Liquid Modernity“ beschreibt, dann ist die immer neue Suche nach einer „Liquid Spatiality“ eine angemessene architektonische Reaktion darauf.

 


Anmerkungen:

[1] Kat. Mobility: A Room with a View, Hg. F. Houben/L. M. Calabrese, Rotterdam 2003, S. 377f

[2] Heinrich Wölfflin, Kunstgeschichtliche Grundbegriffe, Dresden 1984, S. 213

[3] Ebd., S. 17

[4] Ebd., S. 69

[5] Karl Clausberg, Die Wiener Genesis, Frankfurt 1984, S. 25

[6] Zit. n. T. Buddensieg/H. Rogge, Industriekultur – Peter Behrens und die AEG, Berlin 1979, S. D292

[7] Leicht gekürzt wieder in: Buddensieg/Rogge, Industriekultur, S. D292ff

[8] Peter Behrens, Die Turbinenhalle der Allgemeinen Elektricitätsgesellschaft zu Berlin (1910), ebd., S. D277

[9] Peter Behrens, Kunst und Technik (1910), ebd., S. D284

[10] S. Sabine Bohle, Peter Behrens und die Schnellbahnpläne der AEG, ebd, S. 200

[11] Kasimir Malewitsch, Suprematismus I/46, in: K. M., Suprematismus - Die gegenstandslose Welt, Hg. Werner Haftmann, Köln 1989, S. 229

[12] Wieder in: Ulrich Conrads (Hg.), Programme und Manifeste zur Architektur des 20 Jahrhunderts, Braunschweig 1981, S. 93f  

[13] Vgl. etwa: Johannes L. Schröder, Das Automobil als Geschoss, in: Kritische Berichte, 12. Jg., 1984, H. 2, S. 36ff

[14] Antonio Sant ´Elia, Die futuristische Architektur, wieder in: Hansgeorg Schmidt-Bergmann, Futurismus, Reinbek 1993, S. 230ff; zum Anteil Marinettis s.: Conrads, Programme und Manifeste, a. a. O., S. 30ff

[15] F. T. Marinetti, Zerstörung der Syntax. Drahtlose Phantasie. Befreite Worte, wieder in: Schmidt-Bergmann, Futurismus, a. a. O., S. 210ff, hier 212

[16] Alfred von Schlieffen, Der Krieg in der Gegenwart, in: ders., Gesammelte Schriften, Berlin 1913, Bd. 1, S. 15f. Vgl. Stefan Kaufmann, Kommunikationstechnik und Kriegführung 1815-1945, München 1996, S. 140ff u. Stephen Kern, The Culture of Time and Space 1880-1918, Cambridge MA 1983, S. 285ff, bes. 300. Auch: Vom Verschwinden der Ferne, Hg. Edith Decker u. Peter Weibel, Köln 1990, S. 40

[17] Felix Auerbach, Die Physik im Kriege, Jena 1917, S. 143

[18] Walter Benjamin, Zum Planetarium, in: Gesammelte Schriften, Bd. IV/1, Frankfurt 1972, S. 147

[19] Walter Benjamin, Die Wiederkehr des Flaneurs, in: ebd., Bd. III, S. 196f

[20] Laszlo Moholy Nagy, Vision in Motion, Chicago 1947, S. 12

[21] Ebd., S. 245

[22] Ebd., S. 245f

[23] Moholy gebraucht hier das Wort "blur", das gleiche also, das gegenwärtig Toyo Ito benutzt ("Blurring Architecture"),  um sein Bauen für das elektronische Zeitalter zu charakterisieren.  Wo der klassische Modernist Moholy aber das Verschwimmende wieder verdeutlichen wollte, versucht Ito, daraus eigene Gestaltreize zu gewinnen

[24] Ebd., S. 257

[25] Ebd., S. 266-268

[26] Ebd., S. 269

[27] T. Riley, The Un-Private House, New York 1999, S. 116

[28] Ebd., S. 48

 


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