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I.
Bewegung hat immer Einfluss auf die Wahrnehmung von Räumen. Dabei spielen
auch kulturelle Dispositionen herein; heutigen Beobachtern erscheinen u. U.
sogar Bauten, die lange vor der Transportmittelrevolution errichtet wurden,
die seit der Industrialisierung das raumzeitliche Wahrnehmungsgefüge
grundlegend veränderte, als Ausdruck einer „Ästhetik der Mobilität“. Dies
zeigt beispielsweise die Analyse der Moschee von Cordoba in der 2003 vom
niederländischen Architekturinstitut herausgegebenen Publikation „Mobility“[1].
Der berühmte „Säulenwald“ dieser Moschee aus dem 8.-10. Jahrhundert hat,
wenn er aus der Bewegung des Gehens heraus wahrgenommen wird, für Gläubige
und Besucher einen hochgradig kinetischen Effekt, der sich
wahrnehmungspsychologisch aus dem Phänomen der Parallaxe erklären lässt.
Dabei handelt es sich im gegebenen Fall um eine Scheinbewegung der Säulen,
die in Relation zur Eigenbewegung des Betrachters entsteht; bei jedem seiner
Schritte scheinen sich die Säulen gegeneinander zu verschieben. Doch den
Erbauern des Hypostyls von Cordoba ging es wohl kaum um die Artikulation von
Bewegungseffekten als solchen. Ich möchte vermuten, dass sie den Effekt
nutzten, um einen Raum des „Ganz Anderen“ zu erzeugen, wie sie es auf andere
Weise ja auch mit der Unendlichkeitssuggestion der Ornamente in den physisch
gar nicht großen Kuppeln taten.
Unter den großen Stilen der Vergangenheit ist es wohl zuerst der Barock, wo
man systematisch und in jeder nur denkbaren Dimension an der Evokation von
Bewegungsempfindungen arbeitete, und nun auch erklärtermaßen mit dem aus der
Erlösungshoffnung abgeleiteten Ziel, die irdische Wirklichkeit zumindest
virtuell zu überschreiten. Die Begriffe, unter denen wir den Barock heute
betrachten, wurden ganz wesentlich von Heinrich Wölfflin ausgearbeitet, der
frühere Forschungen zum Thema in seinem Hauptwerk „Kunstgeschichtliche
Grundbegriffe“ von 1915 synthetisierte. Hier arbeitet er mit fünf
Gegensatzpaaren, um die Ausdrucksformen von Renaissance und Barock zu
unterscheiden; sie aber sind so allgemeingültig, dass sie auch ein Mittel
sein können, um auf einer rein formalen Ebene grundsätzliche
Ausdrucksmöglichkeiten von Kunst zu erfassen. Über die Architektur des
Barock sagt er, dass in ihr die starre Form der Renaissance in eine flüssige
umgewandelt werde[2].
Das Interesse gilt nicht mehr dem (statischen) Sein, sondern dem Geschehen,
Baumassen kommen in Bewegung[3].
Es geht nicht mehr um das Bleibende, Messbare und Begrenzte, sondern um die
wechselnde Erscheinung. Eines seiner prominenten Beispiele ist die
Karlskirche Fischer v. Erlachs in Wien. Die „zwei der Front vorgestellten
Säulen, deren Wert erst in den nichtfrontalen Ansichten sich offenbart, wenn
die Säulen unter sich ungleich werden und die zentrale Kuppel überschnitten
wird“[4],
demonstrieren für ihn, wie die Linie als tastbare, eindeutige Grenzsetzung
entwertet und die Ränder im Dienst einer Dynamisierung des Eindrucks
vervielfacht werden.
Ohne dass Wölfflin nun diesen Gedanken näher ausführte (wie es vielleicht
sein Lehrer Burckhardt oder sein Schüler Giedion getan hätten), sagt er doch
zusammenfassend, dass Renaissance und Barock ein „grundsätzlich
verschiedenes Interesse an der Welt“ zum Ausdruck bringen. Auch seine eigene
theoretische Arbeit scheint Ausdruck eines spezifischen Interesses an der
Welt. Indirekt verweist sie auf den gesamtkulturellen Kontext ihrer
Entstehungszeit: mit Wölfflin begann die moderne kunsthistorische
Erforschung des Barock in den Jahren um 1900, in einem historischen Moment
also, hinsichtlich dessen man eine „Mobilisierung der Anschauungsformen“[5]
konstatierte, die durch die allumfassende Beschleunigung der Lebensvorgänge
in der modernen Gesellschaft ausgelöst wurde. Sie fand, neben anderem, in
neuen Medien wie dem Film, neuen künstlerischen Ausdrucksformen oder der
Erforschung des „Bewusstseinsstroms“ ihren Ausdruck – und eben auch in der
„Entdeckung“ des Barock.
II.
Heinrich Wölfflin fuhr 1907 vom Darmstädter Kunsthistorikerkongress nach
Mannheim, um die Kunst- und Gartenbauausstellung zu besuchen. Er bezeichnete
die dortigen Bauten von Peter Behrens als das Beste des Gebotenen und fügte
hinzu, dass Behrens die meiste Zukunft wohl dann hätte, "wenn er zu
seiner Linien- und Flächenrhythmie noch die kubische Schönheit hinzugewönne"[6].
In Wölfflins Begleitung befand sich der junge Kunsthistoriker Fritz Wichert,
der von ihm gerade mit einer Arbeit zu Abbildungen antiker Werke in späteren
Kunstepochen promoviert worden war. Wichert veröffentlichte 1909 den Aufsatz
„Luftschiffahrt und Architektur“[7]
– ein Text, der beispielhaft eine mögliche Reaktion auf einen neuen
Bewegungsmodus durchspielt. Weniger der Flug als Ereignis interessiert,
sondern die Frage, welche Art der Neukoordination von Wahrnehmungsbezügen
nun notwendig werden würde. Geleitet von der offenbar aus dem Wölfflinschen
Denken abgeleiteten These, "dass das an optische Vorstellungen gebundene
Bewusstsein durch die Entwicklung der Technik Verschiebungen erleidet",
untersucht Wichert die allgemeinen Folgen des Fliegens.
Für die Architektur bedeutet die Flugerfahrung im Wortsinn eine
"Revolution", eine Umwälzung gewohnter Anschauungsweisen. "Die Fesseln
der Schwerkraft“, so heißt es, „lösen sich (...). Das Dach des Hauses
(bekommt) eine ganz andere Wichtigkeit (...) es bekommt frontalen Wert. Die
Dächer werden zu Fronten." Hier ist - nach der der vier Seiten - die
fünfte Ansicht gefordert, und das impliziert mehr als eine flache Terrasse,
ob diese nun als Dachgarten oder, wie es auch gelegentlich vorgeschlagen
wurde, als Landemöglichkeit für Luftfahrzeuge ausgebildet wird. Wichert
sieht mit dem frontalen Wert der Dächer ganz generell die "Schwerkraftsarchitektur"
überwunden, in der mit Gesimsen, Bekrönungen und oberen Abschlüssen die
Schwere in einer Weise zur Form geworden sei, die eine ständige Erinnerung
an das Erdgebundensein darstellt. Wenn das Dach zur Frontfläche geworden
ist, ergibt sich die mögliche Gleichwertigkeit aller Ansichten. Wichert
zieht die Konsequenz und propagiert das "stereometrische System",
architektonische Komposition als das Gruppieren einzelner Körper bei
gleichwertiger Behandlung der vertikalen und horizontalen Flächen.
Ohne einen bestimmten Bau zu erwähnen, nennt Wichert Peter Behrens den
Architekten, der auf dem Weg zum zukünftigen, stereometrischen Stil am
weitesten vorangeschritten sei. Sieht man sich etwa die Berliner AEG-Bauten
daraufhin an, so wird man zwar nicht ein voll ausgebildetes kubisches bzw.
stereometrisches System vorfinden, aber doch deutliche Hinweise darauf. Die
Seitenhalle der Turbinenfabrik, Treppentürme der Hochspannungsfabrik oder
Torentwürfe zeigen eine klare kubische Gestaltung; der Dachgarten auf der
Maschinenfabrik Brunnenstraße, in einfacherer Form schon von einem von
Behrens´ Vorgängern angelegt, nutzt die plane obere Abschlussfläche.
In einer Folge von Vorträgen kommt Behrens selbst ab 1909 auf seine
Intentionen zu sprechen, betont, wie er durch bündige Flächen den Eindruck
einer starken, geschlossenen Körperlichkeit erzielen wollte.[8]
Eine derartige formale Reduktion und Konzentration sei notwendig, um
architektonische Gebilde an die Beschleunigung des modernen Lebens
anzupassen. Das war auch schon für Wichert, dem Hauptargument allerdings
nachgeordnet, eine Begründung seiner Forderung nach "gradlinigen,
gradflächigen" Körpern gewesen. In der plastischen Formulierung von Behrens
liest sich das so: „Wenn wir im überschnellen Gefährt durch die Straßen
unserer Großstadt jagen, können wir nicht mehr die Details der Gebäude
wahrnehmen (...). Die einzelnen Gebäude sprechen nicht mehr für sich. Einer
solchen Betrachtungsweise (...) kommt nur eine Architektur entgegen, die
möglichst geschlossene, ruhige Flächen zeigt"[9].
Behrens entwarf um 1912 eine Hochbahnstation[10],
einen Bahnhof auf Stützen, unter dem der Straßenverkehr ungehindert hätte
weiterfließen können. Die Differenz zwischen einer Vorstudie und dem
ausgearbeiteten Entwurf zeigt deutlich die Richtung seiner Überlegungen.
Zunächst verzichtete er auf eine bei Bahnhofshallen übliche
Dachkonstruktion in Bogen- oder Sattelform und entschied sich für ein
Flachdach. Die Fassade ist im ersten Entwurf noch durch risalitartige
Vorsprünge gegliedert, erst im zweiten werden die Fenster "bandartig um
den Bau herumgezogen". Diese bündige Art der Fassadengestaltung betont
das kubisch-blockhafte des gesamten Komplexes, der lang gestreckt über der
Straße zu schweben scheint.
Unabhängig von seiner Funktion, so scheint mir, ist hier ein Prototyp der
modernen Architektur schlechthin entworfen - ein typologisch
voraussetzungsloses Gebilde von elementarischer, aus Horizontalen und
Vertikalen gebildeter Gestalt, ohne Bezug auf Erdboden und örtliche Umgebung
ganz vom funktionalen Bedürfnis her gedacht. Von hier aus lassen sich
Verbindungslinien zu einigen der heroischen Projekte der Zwanziger Jahre
ziehen.
So schreibt Malewitsch 1923: "Schwebende Planiten (...) werden den neuen
Plan der Städte und die Form der Häuser (...) bestimmen"[11].
"Suprematistische Form" nennt er 1924 den "Planit eines Fliegers", eine
horizontal betonte Schichtung kubischer Körper als Modell der zukünftigen
Häuser Leningrads. Die berühmten "Fünf Punkte zu einer neuen Architektur",
die Le Corbusier 1926 publizierte[12],
lassen sich sogar direkt auf den Hochbahnhofsentwurf seines früheren Lehrers
Behrens zurückbeziehen. Wesentliche Momente waren hier bereits vorhanden: in
rudimentärer Ausführung die Bänder der Langfenster, das flache Dach und vor
allem die Stützen, die das Erdgeschoss emporheben und das Terrain der
Zirkulation offen halten. Und wenn man noch hinter Behrens zurückblicken
will, dann erscheint als eine Art abstrakte Antizipation der späteren
Entwürfe und Programmatiken das "stereometrische System" der gradflächigen
Abschlüsse, welches der Wölfflin-Schüler Fritz Wichert in seinem Aufsatz "Luftschiffahrt
und Architektur" als Folge der schnellen Bewegung in allen Raumebenen, ob in
der Luft oder auf der irdischen Horizontalen, propagiert hatte.
Offensichtlich also hat in den Jahren um 1909 im architektonischen Denken
ein grundsätzlicher und lange weiterwirkender Wandel raum-zeitlicher
Dispositionen eingesetzt.
III.
Eine der innerhalb der architektonischen Avantgarde wirkungsmächtigsten
Explikationen des Zusammenhanges von Architektur und Bewegung stammt von den
Futuristen, die sich ebenfalls 1909 formierten. Wo es einem Peter Behrens
darum ging, durch gestalterische Mittel der Verflüchtigung aller Eindrücke
durch steigende Geschwindigkeiten entgegenzuwirken, da idolisieren sie
dieses Motiv bis hin zur Ausbildung der Stadt als gewaltiger Bewegungs- bzw.
Beschleunigungsmaschinerie[13].
Ihr diesbezüglich richtungweisendes Manifest stammt aus dem Jahr 1914;
Verfasser ist der Architekt Antonio Sant´ Elia, die redaktionelle
Überarbeitung besorgte Marinetti. Am Anfang steht der Ausstieg aus der
historischen Kontinuität, die Proklamation von etwas ganz Neuem in der
Architektur[14].
Mit provozierender Deutlichkeit wird der Charakter der neuen Stadt als "riesiger,
lärmender Bauplatz" betont; an den Häusern sollten sich die Aufzüge "wie
Schlangen aus Eisen und Glas" emporwinden. Bauten ohne Verzierung,
aufgebrochen und an die Zirkulationssysteme der Stadt angeschlossen: das war
das Programm, das aber über Entwurfszeichnungen hinaus nicht gedieh.
Die Zeichnungen aber zeigen, was es bedeutet, das "Monumentale, Schwere und
Statische", den gemessenen Takt der Orte der Vergangenheit überwinden zu
wollen: die futuristische Stadt wird gleichsam einem Prozess der Kompression
unterworfen, eine Vielfalt von Aktivitäten in den neuen Zentren
konzentriert. Man gräbt sich in die Erde, nutzt die Dächer, schichtet
Verkehrssysteme übereinander. Sant´ Elias Entwürfe zeigen kaum mehr
horizontale Straßenzüge, sondern vielfältig ineinander geschobene Gebäude,
deren Gesamtausdehnung ebenso offen bleibt wie die Frage, ob die jeweiligen
Verkehrsflächen ober- oder unterirdisch liegen. Dies sind städtische Räume
eines neuen Typs, deren Planungsvorgabe nicht die Erzeugung einer wie auch
immer gearteten Aufenthaltsqualität ist, sondern die effektive Vernetzung
verschiedener Verkehrsströme bei möglichst hoher Durchlaufgeschwindigkeit
von Menschen pro Zeiteinheit.
Was er vorschlägt, sind Bauten für eine Welt der Beschleunigung, in der mit
gesteigerten Geschwindigkeiten Distanzen schrumpfen. Im gleichen Maß dehnt
die futuristische Sensibilität das Gefühl für des Ganze der Welt aus. Die
Voraussetzung dafür ist, dass neben den Verkehrs- die Möglichkeiten der
aktuellen Kommunikationstechnologien genutzt werden. Für den modernen
Menschen habe es, so schreibt Marinetti 1913, "wenig Sinn zu wissen, was
ihre Vorfahren taten, aber sie müssen wissen, was ihre Zeitgenossen in allen
Teilen der Erde tun. Daraus ergibt sich für den einzelnen die Notwendigkeit,
mit allen Völkern der Welt in Verbindung zu treten. Deshalb muß sich jeder
als Mittelpunkt fühlen"[15].
So wie die Räume sich tendenziell zusammenziehen, so wird das Bewusstsein
für die Tiefe der Zeit durch das der absoluten Simultaneität abgelöst.
Prozesse der Distanzierung, der Vermittlung über räumliche oder zeitliche
Zwischenschritte, werden durch neue Formen instantanen und direkten
Austausches ersetzt. Die Futuristen sprechen von „universeller Vibration“
und meinen damit die beständige wechselseitige Durchdringung aller Dinge und
Verhältnisse. Was sich hier ausbildet, so könnte man mit einer knappen
Formel sagen, ist eine Welt totaler Innervation.
Auffällig ist, dass sie für ihre Bewegung immer wieder den Begriff der
Avantgarde reklamieren, dass sie Modernität und Technologie mit
Militarisierung in eins setzen. Tatsächlich lassen sich in avancierten
militärischen Planspielen am ehesten Realentsprechungen zur futuristischen
Idee übergreifender Innervation finden. Wo die Künstler von "Simultaneität",
dem Dynamismus der elektrifizierten Städte sprechen, da überziehen die
Militärs ihre Schlachtfelder wie Körperregionen mit Nervenfasern. Eine
umfassend kommunikationstechnisch gestützte Strategie wird 1909 in einer
Vision des Grafen Schlieffen über die zukünftige Form des Krieges sichtbar;
im Erscheinungsjahr von Marinettis erstem Manifest entwirft er eine
gleichsam militär-futuristische Weltordnung, deren Basis ein neuer Modus des
Umgangs mit Raum ist.
Kriege würden sich fortan in Räumen abspielen, welche die früheren "um
ein Gewaltiges übersteigen"[16].
Die großen Distanzen machen neue Verfahren der Verifikation erforderlich.
Nicht mehr über Blickachsen, sondern nur über die Netze der
Telekommunikation ist ein solcher Raum kontrollierbar. Der Ort der Schlacht
wird von dem ihrer Steuerung abgekoppelt. Die Kontrolle großer Räume ist nur
um den Preis solcher Abstraktion zu haben; erst sie erlaubt es umgekehrt
aber auch, auf ein komplexes Geschehen so einzuwirken, dass es sich nicht in
ein Neben- und Nacheinander separater Einzelgeschehen auflöst, sondern
simultan beeinflussbar bleibt. Wie im Futurismus wird der Raum gleichsam
mehrschichtig; mittels neuer Techniken werden Grenzen überspielt, gewohnte
Qualitäten gegen neue ausgetauscht.
Schon im Sommer 1914 hatten sich Schlieffens Annahmen bestätigt; der Erste
Weltkrieg findet im Kategoriensystem technischer Modernität statt. Denn es
ist ja eine seiner "markantesten Signaturen", so Felix Auerbach in
seiner 1917 bereits in vierter Auflage erschienenen "Physik im Kriege",
dass er "sich in vertikaler Richtung bis an die Grenzen des möglichen
erstreckt, dass er sich, unter tunlichster Vermeidung der Erdfläche, darüber
und darunter abspielt, in Schützengräben und unterirdischen Gewölben, im
Meereswasser und hoch oben in der Atmosphäre"[17].
Hinzufügen müsste man hier noch den Faktor Kommunikationstechnik, ohne den
das Geschehen gar nicht koordinierbar wäre. All dieses zeigt einen
umfassenden Zugriff auf den Raum. Die zivilisatorische Erschließung aller
seiner Dimensionen wird hier auf einen Punkt vorangetrieben, wo die
Möglichkeit totaler Raumbeherrschung sich als Zerstörungsmacht realisiert.
Als Walter Benjamin 1928 rückblickend den Raum des Krieges beschreibt,
konzentriert er sich in ganz ähnlicher Weise auf die Möglichkeiten
alldimensionaler Raumdurchdringung: "Menschenmassen, Gase, elektrische
Kräfte wurden ins freie Feld geworfen, Hochfrequenzströme durchfuhren die
Landschaft, neue Gestirne gingen am Himmel auf, Luftraum und Meerestiefen
brausten von Propellern, und allenthalben grub man Opferschächte in die
Muttererde"[18].
Für Benjamin hat hier die Technik im Verbund mit Profitgier die Menschheit
verraten. Nur ein Jahr später schreibt er jedoch über die Architektur der
Zwanziger Jahre: "Dem Wohnen im alten Sinne ... (hat) die Stunde
geschlagen. Giedion, Mendelsohn, Corbusier machen den Aufenthaltsort von
Menschen vor allem zum Durchgangsraum aller erdenklichen Kräfte und Wellen
von Licht und Luft. Was kommt, steht im Zeichen der Transparenz"[19].
Diese Äußerungen spiegeln sich gegenseitig; die Affinität zu Kriegsräumen,
die den futuristischen Raumkonzepten eingeschrieben war, wird hier aus der
Perspektive der Nachkriegszeit und ihrer Architektur erneut sichtbar. Da
aber den Avantgarden der Zwanziger Jahre bellizistische Absichten fern
liegen, weist dies auf zugrunde liegende Innervationspotentiale der
technischen Zivilisation, die einen neuen und in mancher Hinsicht
ambivalenten Raumbegriff mit sich brachten, dem Durchdringung wichtiger als
Begrenzung ist.
IV.
Sigfried Giedion fasste das Kunstwollen der Klassischen Moderne 1941 in
seinen berühmten Titel: „Space, Time and Architecture“; sein Kollege
Alexander Dorner sprach 1948 von der "überräumlichen Wirklichkeit reiner
Energien". Das wohl wirkungsmächtigste zivilisatorische Leitbild jener
Jahre entwarf Wendell Willkie mit seinem Bestseller „One World“. Was all
diese Konzepte verbindet, ist die Absicht, Grenzen durchlässig zu machen und
Distanzen zu überbrücken, um in eine Welt dynamischer Wechselwirkungen
eintreten zu können. Die gesamtkulturellen Implikationen dieser Einstellung
werden vielleicht nirgendwo sonst so greifbar wie in Laszlo Moholy-Nagys
Buch "Vision in Motion" von 1947. Schon in seinen Bauhausbänden hatte er
vorurteilsfrei künstlerisches Material mit solchem aus der metropolitanen
Umwelt konfrontiert. Diese Entwicklung kulminiert in der neuen Publikation,
in der die Arbeit der Avantgarden in den breiten Strom des modernen Lebens
eingebettet erscheint. "Vision in Motion", in den USA über mehrere
Jahrzehnte immer wieder aufgelegt, in Deutschland aber bis heute nicht
übersetzt, ist nicht nur die Synthese der Bücher Moholys, sondern wohl auch
das Hauptwerk dieses Künstler-Theoretikers.
Moholy definiert, was man sich unter "Vision in Motion" vorzustellen habe,
nämlich "seeing, feeling and thinking in relationship and not as a series
of isolated phenomena.
It
instantaneously integrates and transmutes single elements into a coherent
whole"[20].
In einem der
dichtesten Kapitel des Buches, dem über "Space-Time Problems", wird
deutlich, dass sich sein Titel offenbar wesentlich auf die essentiell
moderne Erfahrung simultaner Bewegungsvielfalt bezieht, die ein neues
Verhältnis zur Welt begründet. Er veranschaulicht dies am konkreten Beispiel
der aktuellen Lebensrealität.
Ein Autofahrer etwa oder ein Pilot, denen sich entfernte und nicht
verbundene Dinge aus der Dynamik der Bewegung heraus in räumlicher Beziehung
darstellen[21],
sehen offensichtlich eine andere Welt als ein Fußgänger sie sieht. Also
macht es einen großen Unterschied, für wen jeweils einzelne Dinge oder ganze
Szenerien gestaltet werden sollen. Moholy erinnert in diesem Zusammenhang an
ein Experiment des französischen Plakatgestalters Jean Carlu[22]:
dieser stellte 1937 ein Plakat von Toulouse-Lautrec und eines aus der
Gegenwart auf zwei Förderbänder, die sich mit verschiedenen
Geschwindigkeiten bewegten, im Falle von Toulouse-Lautrec mit der eines
Pferdewagens, im anderen mit der eines Autos. So waren beide gut lesbar, was
sich aber änderte, als das Toulouse-Lautrec-Plakat auf die Geschwindigkeit
des Autos gebracht wurde: nun, in einem anderen Bezugssystem als dem, auf
das hin es entworfen war, konnte es seine Aufgabe nicht mehr erfüllen.[23]
Gesteigerte Bewegungsgeschwindigkeiten erfordern also neue Skalierungen in
der Objektwelt.
Architektonisches Hauptbeispiel im vorliegenden Kapitel ist Frank Lloyd
Wrights "Falling Water", die 1935-39 für Edgar J. Kaufmann in Bear Run bei
Pittsburgh errichtete Villa, bei der sich über einem Wasserfall auf mehreren
Etagen einzelne Terrassen in verschiedene Richtungen des Außenraums
vorschieben.
Diese
Architektur, schreibt Moholy, „shows more similarity to an airplane than
to traditional buildings. To live in such a house creates the sensation of
being in an airplane, giving an emotional freer relationship to the
surroundings"[24].
So, wie anderswo der
Umweltbezug von Innenräumen durch das Durchdringungspotential perforierter
oder transparenter Flächen hergestellt wird, so wird er hier durch das
gleichsam blütenhafte Sich-Öffnen erreicht, das Auseinanderfahren eines
ganzen Gebäudekörpers, die allseitige Exposition einzelner Schichten. „Falling
Water“ ist für Moholy, wie auf andere Weise auch der Barcelona-Pavillon von
Mies, ein Inbegriff interaktionsfähiger Architektur.
In "Vision in Motion" aber tauchen, wie es in den unmittelbaren
Nachkriegsjahren ja nahe liegt, neben künstlerischen und
wissenschaftlich-technischen Fragen auch solche der Kriegsführung auf, einer
Sphäre also, die, mit Ausnahme der Futuristen, alle Programmatiker, die den
Standort der Kunst in der modernen Welt zu bestimmmen suchten, umgangen
haben. Raum und Zeit sind hier auf ganz besondere Weise verschränkt. Moholy
verweist auf U-Boote, die ihr Ziel durch reflektierte Radiowellen orten, "indicating
distance by time"; ausführlich äußert er sich zur Komplexität
militärischer Logistik im Allgemeinen[25].
In seiner Logik gehört der Krieg genauso zur modernen Kultur wie Picassos
“Guernica", der Barcelona-Pavillon, ein chemisches Strukturmodell oder der
Film; ein Künstler ist hier nicht mehr zuständig für eine besondere
Wirklichkeit, sondern erscheint als Spezialist für Gestaltung unter anderen
Spezialisten[26].
"Thinking in relationship", die Permanenz von Interaktionsprozessen - das
sind für Moholy die übergreifenden zivilisatorischen Merkmale schlechthin.
Was "Vision in Motion" bietet, ist, wenn schon keine elaborierte Theorie
solcher Prozesse, so doch, mit seinen vielfältig aufeinander verweisenden
begrifflichen und visuellen Bausteinen, ein Ansatz dazu.
V.
Ein äußerlich leicht erkennbarer Modus der Bewegungsrepräsentation in
architektonischer Gestaltung lässt sich durch das ganze 20. Jahrhundert
beobachten, und das sind die dynamisch ausgreifenden Formen, die zwischen
dem Jugendstil und heutigen biomorphen Designs in immer neuen und neu
kodierten Ausprägungen begegnen. Henry van de Velde definierte: „Die
Linie ist eine Kraft“, und ließ durch seine Möbel, Bestecke und Häuser
eine Art zarathustrischen Energiestrom fließen. Erich Mendelsohn arbeitete
an der architektonischen Übersetzung des Kraftflusses der großstädtischen
Zirkulation, Gestalter der „Streamlined Decade“ entwickelten Chiffren, die,
aus der Aero- und Hydrodynamik abgeleitet, alle Dinge des Alltagslebens
fließfähig zu machen schienen. Ein Eero Saarinen verband, genau wie
Mendelsohn, die Inspiration durch die Dynamik der technischen Zivilisation
mit einem Interesse am Barock; wo aber seine frei gekurvten Schalen wie auch
die Arbeiten anderer Vertreter des „Plastischen Stils“ der fünfziger Jahre
den Sachwaltern der Klassischen Moderne noch als deren illegitime Kinder
erschienen, da hat sich heute ein Biomorphismus etabliert, dessen
Hauptversprechen zu sein scheint, anders, als tektonisch fest gefügte
Gebilde es vermöchten, flexibel auf jede gewünschte Veränderung reagieren zu
können.
VI.
Mit der Ausstellung "The Un-Private House" versuchte das Museum of Modern
Art unmittelbar vor der Jahrtausendwende eine Standortbestimmung für die
Architektur des Wohnhauses in der Gegenwart. Eines der Beispiele ist ein
Apartment in New York, das von Sulan Kolatan und William McDonald gestaltet
und 1997 fertig gestellt wurde. In diesem Apartment mit seinen gekurvten und
auch ineinander übergehenden Formen sind Objekte und Raumzonen nicht auf
eine einzige programmatische Funktion beschränkt. In den Augen der
Architekten bietet es "a chimerical condition between furniture, space
and surface"[27].
Abgeleitet wurde dieses Konzept aus der Topologie, einem Zweig der
Mathematik, der sich mit Geometrien wie der des Möbiusbandes beschäftigt.
Praktisch heißt das, dass hier ein Kontinuum beispielsweise zwischen
Schlafzimmer und Bad hergestellt ist, zwei üblicherweise klar getrennten
Raumtypen. Ungefähr auf derselben Höhe wie das Bett fließt das Badewasser um
dieses fast herum, nur durch eine senkrechte Glasscheibe von der Matratze
bzw. einer zweiten Wanne getrennt, die aber zugleich Abstellfach oder eine
Art versenkter Nachttisch sein kann.
Die Materie scheint hier in Fluss geraten, nur zufällig und für einen Moment
erstarrt. Die Separation der Dinge untereinander wie auch die der
verschiedenen menschlichen Bedürfnisse ist aufgehoben. So bietet das
Apartment ein erstaunliches Bild, als wäre ein möglichst umfassender
Grenzabbau das Ziel, die Erzeugung totaler Flexibilität. Dinge (und gewohnte
Verhaltensweisen) erscheinen nur wie im Übergangszustand; alles spricht von
der steten Neigung, sich zu verändern.
Der Kurator der Ausstellung, Terence Riley, spricht hier von "liquid
spatiality". Dies scheint mir ein Terminus, der nicht nur für dieses
Beispiel angewendet werden kann, sondern überhaupt für Konzepte in der
Gegenwartsarchitektur, in denen das Thema verflüssigter, in Bewegung
geratener Räume durchgespielt wird. So verdankt ein anderer Typ von Räumen
mit unfester Erscheinung sich dem Versuch einer integralen Verbindung von
Medientechnik und Architektur; hier entstanden Projekte durchaus hybriden
Charakters. Toyo Itos Mediathek in Sendai etwa erscheint gewichtslos und
polymorph; raffinierte Beleuchtung macht aus dem Gebäude eine veränderliche
Erscheinung farbigen Lichts. Bewegung entsteht durch innere
Wandlungsfähigkeit. Herzog und de Meuron arbeiteten in der Kramlich
Residence mit inneren und äußeren Raumbegrenzungen aus Glasflächen, z. T.
für Projektionen genutzt; über das so entstehende Raumbild schrieben sie: "Our
architectural treatment of the space was devised to allow the exterior, the
interior and the ... projected images to flow into each other"[28].
Das Physische und das Immaterielle verschmelzen und ergeben ein scheinbares
Kontinuum verschiedenartiger Wirklichkeiten.
Eigenbewegung hingegen induziert ein Gefühl der Loslösung von gewohnten
Schemata der Raumwahrnehmung, wenn man auf dem „Trajekt“ der kürzlich
eingeweihten Niederländischen Botschaft in Berlin auf- oder absteigt:
Koolhaas verbindet hier Räume, die nicht auf durchgängigen Etagen, sondern
auf einer Vielzahl ´autonomer´ Ebenen angeordnet sind, durch einen mäandernd
geführten Weg, der zwischen Flur, Rampe und Treppe changiert. Auch sind
Wand- und Fußbodenfarbe nicht unterschieden, was den Eindruck, beim Auf und
Ab durch ein kunstvoll derangiertes Gebäude zu gleiten, eigentümlich
verstärkt. - All diese Arbeiten verbinden Bewegungssensationen der
verschiedensten Art; man gewinnt den Eindruck, als würden heute sämtliche
Verfahren architektonischer Bewegungsrepräsentation, wie sie im 20.
Jahrhundert ausgebildet wurden, koexistieren und zugleich, wo die Aufgabe es
nahe legt, mit dem symbolischen Potential neuer Technologien gekreuzt
werden. Die Gründe liegen auf der Hand: wenn Zygmunt Bauman unsere Epoche zu
Recht als „Liquid Modernity“ beschreibt, dann ist die immer neue Suche nach
einer „Liquid Spatiality“ eine angemessene architektonische Reaktion darauf.
Anmerkungen:
[1]
Kat. Mobility: A Room with a View, Hg. F. Houben/L.
M. Calabrese, Rotterdam 2003, S. 377f
[2]
Heinrich Wölfflin, Kunstgeschichtliche Grundbegriffe, Dresden 1984, S.
213
[5]
Karl Clausberg, Die Wiener Genesis, Frankfurt 1984, S. 25
[6]
Zit. n. T. Buddensieg/H. Rogge, Industriekultur – Peter Behrens und die
AEG, Berlin 1979, S. D292
[7]
Leicht gekürzt wieder in: Buddensieg/Rogge, Industriekultur, S. D292ff
[8]
Peter Behrens, Die Turbinenhalle der Allgemeinen
Elektricitätsgesellschaft zu Berlin (1910), ebd., S. D277
[9]
Peter Behrens, Kunst und Technik (1910), ebd., S. D284
[10]
S. Sabine Bohle, Peter Behrens und die Schnellbahnpläne der AEG, ebd, S.
200
[11]
Kasimir Malewitsch, Suprematismus I/46, in: K. M., Suprematismus - Die
gegenstandslose Welt, Hg. Werner Haftmann, Köln 1989, S. 229
[12]
Wieder in: Ulrich Conrads (Hg.), Programme und Manifeste zur Architektur
des 20 Jahrhunderts, Braunschweig 1981, S. 93f
[13]
Vgl. etwa: Johannes L. Schröder, Das Automobil als Geschoss, in:
Kritische Berichte, 12. Jg., 1984, H. 2, S. 36ff
[14]
Antonio Sant ´Elia, Die futuristische Architektur, wieder in: Hansgeorg
Schmidt-Bergmann, Futurismus, Reinbek 1993, S. 230ff; zum Anteil
Marinettis s.: Conrads, Programme und Manifeste, a. a. O., S. 30ff
[15]
F. T. Marinetti, Zerstörung der Syntax. Drahtlose Phantasie. Befreite
Worte, wieder in: Schmidt-Bergmann, Futurismus, a. a. O., S. 210ff, hier
212
[16]
Alfred von Schlieffen, Der Krieg in der Gegenwart, in: ders., Gesammelte
Schriften, Berlin 1913, Bd. 1, S. 15f. Vgl. Stefan Kaufmann,
Kommunikationstechnik und Kriegführung 1815-1945, München 1996, S. 140ff
u. Stephen Kern, The Culture of Time and Space 1880-1918, Cambridge MA
1983, S. 285ff, bes. 300. Auch: Vom Verschwinden der Ferne, Hg. Edith
Decker u. Peter Weibel, Köln 1990, S. 40
[17]
Felix Auerbach, Die Physik im Kriege, Jena 1917, S. 143
[18]
Walter Benjamin, Zum Planetarium, in: Gesammelte Schriften, Bd. IV/1,
Frankfurt 1972, S. 147
[19]
Walter Benjamin, Die Wiederkehr des Flaneurs, in: ebd., Bd.
III, S. 196f
[20]
Laszlo Moholy Nagy, Vision in Motion,
Chicago 1947, S. 12
[23] Moholy
gebraucht hier das Wort "blur", das gleiche also, das gegenwärtig Toyo
Ito benutzt ("Blurring Architecture"), um sein Bauen für das
elektronische Zeitalter zu charakterisieren. Wo der klassische
Modernist Moholy aber das Verschwimmende wieder verdeutlichen wollte,
versucht Ito, daraus eigene Gestaltreize zu gewinnen
[27]
T. Riley, The Un-Private House,
New York 1999, S. 116
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