8. Jg., Heft 2 (März 2004)    

 

___Walter Prigge
Dessau
 

Zur Konstruktion von Atmosphären



In Abwandlung  der Frage von Dieter Hoffmann-Axthelm (Wie kommt die Geschichte ins Entwerfen?) lautet die Antwort für alle Elemente, ob nun Geschichte, Stadt oder auch "das Soziale": Diese Elemente sind immer schon im Entwerfen anwesend, jedoch durch einfache Ideologiekritik des Entwurfsprozesses und seiner Prinzipien nicht herauszulösen und als solche zu kritisieren. Denn „das Soziale“ ist keine eigenständige Substanz, kein soziologisches Ding an sich, das der Architektur selbständig gegenübersteht.
Architektur ist vielmehr eine selbständige, durch eigene Methoden anerkannte Disziplin von gesellschaftlicher Raumproduktion, in der das architektonische Entwerfen durch den Bezug auf Stadt-Bilder und Raum-Programme mit sozialer Realität vermittelt wird. Dieser programmatische Einsatz von städtischen Bildern des Raumes bestimmt die soziale Dimension von nachmoderner Architektur. Die Diskussion ist also zunächst immanent, innerhalb der architektonischen Disziplin selbst zu führen. Zum Beispiel als Musterung der Entwurfsorientierungen von Postmoderne und Zweiter Moderne mit den sich darin immanent realisierenden Bild-Konzepten von städtischer Räumlichkeit. Unterschieden werden drei grundsätzliche Entwurfshaltungen der Gegenwart, die sich in unterschiedlicher Weise auf das Element Geschichte beziehen, urbanistisch orientiert sind und mittels differenzierter Atmosphären Architektur im urbanen Zusammenhang inszenieren.


E- und U-Architektur

Die beiden postmodernistischen Varianten der „ernsten“ und „unterhaltenden“ Architektur grenzen sich explizit von dem modernen Verhältnis von Form und Funktion ab: Beide Elemente sind nun getrennt und werden marktförmig autonomisiert. Während nun die ganze Form-Geschichte der Architektur wieder Vorrat für die formale Arbeit des Architekten ist, wird die vom Bauherrn/Markt nachgefragte Funktion in beiden Ansätzen unhinterfragt geliefert. Funktion und Form werden im Entwerfen mit Hilfe von marktgängigen Bildern der Stadt wieder zusammengefügt. Das Marktprinzip vermittelt hier Architektur mit sozialer Realität.

In der elitären Variante "Rekonstruktion" (etwa Berliner Architektur von Josef Paul Kleihues, Hans Kollhoff u. a., Retroarchitektur, New Urbanism) scheint Architektur Städte-Bau zu sein - der Kontext des Entwerfens ist die vorgefundene geschichtliche Stadt Europas. Es geht hier jedoch nicht wirklich um Geschichte und/der Stadtstruktur, also Stadtproduktion, sondern um die konventionelle Reproduktion ihrer marktgerechten Bild-Form. In der industriellen Konfektionierung geschichtlicher Formelemente des städtischen Miets- und Bürohauses sucht dieser Ansatz nach architektonischem "Ausdruck" und meint ihn zu finden in der frühmodernen, noch funktionierenden Darstellungsbeziehung von städtischer Architektur und bürgerlicher Gesellschaft (Stadtbürgertum). Mit der Industrialisierung der Architektur wird diese jedoch "Ausdruck" des Marktgeschehens – auch Fragen von Bedeutung und Sinn sind nun eine Frage des Marktes von Bedeutungsproduktionen.
Ein gutes Beispiel ist der neue Walter-Benjamin-Platz in Berlin-Charlottenburg, ein ehemaliger Brachenstreifen quer durch einen Block. Über das klassizistisch-stalinistische Retrodesign der gewaltigen Kolonnaden und Fassaden von Kollhoff mag man geschmacklich streiten – sicher ist jedoch, dass hier im Namen von europäischer Geschichte und Rekonstruktion Stadtstruktur zerstört wird: Denn weder Kolonnaden noch blockquerende Plätze sind Bestandteile der Morphologie im gründerzeitlichen Charlottenburg, Das vorhandene städtische Gewebe der Blockstruktur wird hier zerrissen von der Manier eines „europäischen“ Stadt-Platzes: Eine gewalttätige Räumungs-Geste, in der Form (klassizistische Fassade)  und Funktion (Wohnen am Großstadtplatz, im Zuschnitt sozialer Wohnungsbau) über das Bild der Europäischen Stadt zusammengezwungen werden sollen. Die Stadt erscheint hier als Gedächtnistheater, mit entsprechenden Architekturen der Erinnerung.
Solche postmoderne Trennung von Funktion und Form negiert den modernen Zusammenhang von Architekturprogramm und Stadtstruktur (vom Grundriss zum Quartier); beide Elemente werden als autonome Märkte von Stadt (Verwertungsräume, Nutzungen) und Bild (Inszenierung, Bedeutungsproduktion) formiert und industriell verwertet. Der Architektur bleibt ein marktgerechter Formalismus, der sie als substantiell formierende Instanz von Stadt bedeutungslos macht: In der rekonstruierenden oder nachahmenden Wiederholung von historischen Stadtformen verweigert sich dieser Ansatz einer zeitgenössischen Arbeit an der gesellschaftlichen Bedeutung von Architekturformen, macht diese stattdessen durch Konvention bedeutungslos.
Damit erkennt dieser Ansatz die Macht des Marktes als Grenze seiner Architekturproduktion an und liefert die Erkenntnis, dass die europäische Stadt prinzipiell nur noch als Maske inszenierbar ist – Architektur entsteht hier aus der Atmosphäre der Tarnung. Denn die soziale Basis des Architektur-Marktes ist nicht mehr ein europäisch gesinntes Stadtbürgertum, sondern global agierenden Investoren, die das "lokale" Bild der Stadt international, eben als "europäischen Standort"  vermarkten. Was dann noch vom Architekten darstellbar ist, als Bild von Stadt und Autonomie der Form, ist lediglich defensive Konfektionierung historistischer Architekturelemente in den oberen Segmenten des städtischen Marktraumes, mit den entsprechenden sozialen Schichten von Nutzern des "europäischen Lebensstils".

Architektur als marktgerechtes Design-Produkt ist die ausgesprochene und damit offensive Antwort der populistischen Entwurfs-Variante "Las Vegas"  (amerikanisches Mall-Modell, Jon Jerde u. a.) auf die Frage nach dem Verhältnis von Konsum und Massenkultur einer globalisierten Stadt-Gesellschaft. Das Entwerfen bezieht sich hier auf die Stadt als Erlebnisraum von populären Massenkulturen mit der unhinterfragten Basis von Konsumfunktionen. Privat, also mit entsprechenden sozialen Ausschließungseffekten hergestellt, jedoch öffentlich angeeignet, tendieren neuere Modelle der EventCities (Malls und Themenparks kombiniert mit Wohn- und Arbeitsfunktionen, komplexere Urban Entertainment Quartiere) zur Überlagerung und Mischung von städtischen Funktionen, die das traditionelle Einkaufszentrum zu postfordistischen Prototypen von zunehmend komplexeren Quartieren, also "Stadt" verwandeln. Es geht hier also nicht um „Geschichte“, sondern das Erzählen von Geschichten in wirklicher Produktion von Stadt: Sie erscheint hier als Marktplatz der Wünsche an Konsum und Kultur, mit entsprechenden Branding-Elementen.
Die Architektur erweitert sich hier zur Szenographie von öffentlichen Raum-Bühnen, auf denen Themen, Erzählungen und Bildgeschichten in Szene gesetzt werden. „Geschichte“ erscheint hier nicht als bedeutungsschwangere Retrofassade eines leergelaufenen „gesellschaftlichen Ausdrucks“, sondern in der Form erzählter Geschichten, die auf populäre Lebensweisen verweisen („popular culture“). Atmosphäre ist der Grundbegriff des Entwerfens dieser postmodernen Gesamtkunstwerke, in denen Architektur mit anderen räumlichen Gestaltungsdisziplinen vom Bühnenbild bis zur virtuellen Medienkunst verbunden wird: Architektur als "barocke" Raumästhetik, die über das bloße Marketing-Design von Konsumpraktiken hinausweist. Damit öffnet sich solche medial gestützte Aufladung von architektonischen Atmosphären für differenzierte Bedeutungen und Aneignungen von Seiten des Publikums. Denn das Angebot der kulturellen Inszenierungen ist weder identisch mit den notwendig damit verbundenen Konsumanreizen noch mit den eigensinnigen Rezeptionsweisen der Individuen. Vielmehr stößt das Entwerfen von EventCities mit diesem kulturellen Überschuss auf das nachmoderne Verhältnis von individueller Identitätsbildung und kollektiver Bedeutungspraxis in temporären sozialen Erlebnisgemeinschaften: In der Differenz von subjektiver, auch "abweichender" Aneignung von objektiven, auch  "vorgegebenen" Kulturangeboten werden die Individuen selbst zu interaktiven Mitproduzenten ihrer Kulturen und Identitäten - das Publikum als Produzent von Kultur.
Das gilt auch für den Raum. Atmosphären konstituieren sich im Zwischenraum von architektonischer Objektwelt (hier strahlt Atmosphäre aus dem Arrangement der Dinge) und subjektivem Raumerlebnis (hier ist Atmosphäre Wirkung subjektiver Stimmungen und Affekte): Der Entwurf von Atmosphären erkennt die Individuen prinzipiell als soziale Mitproduzenten von Raum und Architektur an – das ist der Point of no Return in der postmodernen Raumproduktion und der Kritik an der veralteten Moderne, die den Individuen alltägliche Lebensweisen durch objektive Raumordnungen vorzuschreiben suchte.
Während die elitäre Retrodesign-Variante der Postmoderne dieses fortsetzt und den Individuen Identitäten durch bürgerliche Objektmuster im gebauten Raum autoritär festzuschreiben sucht (und damit Teil von Gentrification wird), spielt die populistische Variante ein schillerndes Spiel zwischen ökonomisch kalkuliertem Objektmarketing und offener Bedeutungspraxis von subjektiven Raumerlebnissen in atmosphärischer Architektur. Liegt darin ihre soziale Zeitgenossenschaft, so jedoch auch die Gefahr, die Architektur der Stadt auf die Szenographie eines totalen Designs von Konsumpraktiken zu reduzieren.


Reflexive Moderne

Der Schweizer Minimalismus (Herzog & de Meuron, Diener & Diener u. a.) will dieser Bildfülle entgehen, indem er die Form (gleich den Modernen) extrem reduziert und sie dem Betrachter als ästhetische Inszenierung ausschließlich des Materials anbietet. Von allen symbolischen Bild- und damit gesellschaftlichen Bedeutungsgehalten gereinigt soll Form hier ausschließlich im eingesetzten Material erscheinen: Architektur als bedeutungsloses, von funktionalen und städtischen Beziehungen gelöstes und damit "formlos" inszeniertes Objekt ohne Kontext. Es wird daher umweht von einer Aura der Materialreinheit, insoweit hier die Bildqualität des Materials zur einzigartigen Instanz von Formgebung fetischisiert wird. Grundfigur ist die veredelte Standard-Kiste, die jedoch flexible Nutzungen aufnimmt. Im Gegensatz zur festgeschriebenen Funktion des modernen Behälters wird hier das offenere Raumprogramm von den Nutzern im Gebrauch selbst mitbestimmt.
In ähnlich radikaler Weise reflektieren die niederländischen De-Programmierer (Rem Koolhaas, MVRDV, Ben van Berkel u. a.) die postmoderne Trennung von Form und Funktion und können schließlich zurecht „reflexive“ Moderne genannt werden, da sie das minimalistische Architekturobjekt in Beziehungen setzen zu Raum und Stadt: In diesen Beziehungen transformieren sie die moderne Architektur durch kreative Zerstörung ihrer Formen.
Auf dem Weg vom Objekt zum Raum ist erster Einsatzpunkt das vorgegebene funktionale Programm, das hinterfragt, auf seine elementaren Parameter reduziert und damit zugleich räumlich reformuliert wird: von hierarchischen Größenverhältnissen zu ungerichteten Volumen, von determinierenden Aktivitätsmustern zu heterogenen Nutzungseinheiten, von linearen Grenzen zu diskontinuierlichen Schwellen, von strukturellen Vernetzungen zu informellen Infrastrukturen... Werden damit die alltäglichen Gewohnheiten des modernen Gebrauchs von Raum entprogrammiert, so findet das solchermaßen transformierte "Programm" Gestalt durch den Form-Bruch mit der modernen geometrischen Hülle, deren Abschirmungsfunktionen (Diagramme von Akustik, Klima, Licht, Sichtbeziehungen) isoliert und als selbständige, volumenkonstituierende Faktoren des Entwerfens eingesetzt werden. Die Konstruktion folgt drittens den Wegebeziehungen zwischen den Nutzungseinheiten, die als "Ereignisse" in der nichtgeometrischen Durchdringung des Raumes definiert werden. Gegen ihre moderne Verschaltung in programmierten Räumen setzen die programmatisch freigesetzten Aktivitätsmuster der Nutzung nun den Raum subjektlos in Bewegung ("automatisches Entwerfen"), kommunizieren miteinander als Medien polymorph geformter Gebäude. An der niederländischen Botschaft in Berlin von Koolhaas wird man diese drei Schritte ablesen können: Eine Architektur aus der Atmosphäre der Verfremdung.
Denn mit dieser entprogrammierenden Raum-Formulierung findet das architektonische Entwerfen einen neuen Zugang zum Städtebau. Innen und Außen, das Eigene und das Fremde, private und öffentlich genutzte Räume überlagern sich in diesem Ansatz im Gebäude selbst und werden im städtischen Raum nicht mehr als statisch geformte Objekte verdinglicht. Solche Überlagerung zieht die städtebaulichen Konsequenzen aus der „Mediatisierung“ von "privaten" und "öffentlichen" Handlungsmustern und ihren virtuellen Schnittstellen: Stadt erscheint hier als Collage-Prinzip, in der auch sozialräumliche Konflikte in der offeneren Form einer Kultur der Differenz präsentiert werden können. Die Informalisierung der Infrastruktur (Bewegung als Kommunikation), die hier oft zur tragenden und damit determinierenden Struktur hochstilisiert wird, ermöglicht einen komplexeren Zugang zur urbanen Realität - sei es als empirisch einzufangender Kontext von Datenumgebungen oder Imaginationen regionaler Entwicklung ("Data-Town") oder als entwurfsrelevanter institutioneller Kontext der Architekturproduktion selbst, der aufgedeckt und als politsch-ökonomischer Hintergrund von Markt-Macht und bürokratischer Normenregulierung pragmatisch anerkannt  wird. Und schließlich erlaubt solcher Pragmatismus den kreativen Zugang zu den peripheren Räumen von Stadtentwicklung ("Dirty Realism"), die aus dem ordnungsfixierten Blick der Berliner Rekonstrukteure und amerikanischen Eventisten der europäischen Stadt ausgeblendet werden: Der Schritt zum sozialen Rand und damit auch zu den Themen der "sozialen Stadt" ist für diese Entwurfshaltung nicht weit.
 

     

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