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In Abwandlung der Frage von
Dieter Hoffmann-Axthelm (Wie kommt die Geschichte ins Entwerfen?) lautet die
Antwort für alle Elemente, ob nun Geschichte, Stadt oder auch "das Soziale":
Diese Elemente sind immer schon im Entwerfen anwesend, jedoch durch einfache
Ideologiekritik des Entwurfsprozesses und seiner Prinzipien nicht herauszulösen
und als solche zu kritisieren. Denn „das Soziale“ ist keine eigenständige
Substanz, kein soziologisches Ding an sich, das der Architektur selbständig
gegenübersteht.
Architektur ist vielmehr eine selbständige, durch eigene Methoden anerkannte
Disziplin von gesellschaftlicher Raumproduktion, in der das architektonische
Entwerfen durch den Bezug auf Stadt-Bilder und Raum-Programme mit sozialer
Realität vermittelt wird. Dieser programmatische Einsatz von städtischen Bildern
des Raumes bestimmt die soziale Dimension von nachmoderner Architektur. Die
Diskussion ist also zunächst immanent, innerhalb der architektonischen Disziplin
selbst zu führen. Zum Beispiel als Musterung der Entwurfsorientierungen von
Postmoderne und Zweiter Moderne mit den sich darin immanent realisierenden
Bild-Konzepten von städtischer Räumlichkeit. Unterschieden werden drei
grundsätzliche Entwurfshaltungen der Gegenwart, die sich in unterschiedlicher
Weise auf das Element Geschichte beziehen, urbanistisch orientiert sind und
mittels differenzierter Atmosphären Architektur im urbanen Zusammenhang
inszenieren.
E- und U-Architektur
Die beiden
postmodernistischen Varianten der „ernsten“ und „unterhaltenden“ Architektur
grenzen sich explizit von dem modernen Verhältnis von Form und Funktion ab:
Beide Elemente sind nun getrennt und werden marktförmig autonomisiert. Während
nun die ganze Form-Geschichte der Architektur wieder Vorrat für die formale
Arbeit des Architekten ist, wird die vom Bauherrn/Markt nachgefragte Funktion in
beiden Ansätzen unhinterfragt geliefert. Funktion und Form werden im Entwerfen
mit Hilfe von marktgängigen Bildern der Stadt wieder zusammengefügt. Das
Marktprinzip vermittelt hier Architektur mit sozialer Realität.
In der elitären Variante
"Rekonstruktion" (etwa Berliner Architektur von Josef Paul Kleihues, Hans
Kollhoff u. a., Retroarchitektur, New Urbanism) scheint Architektur Städte-Bau zu
sein - der Kontext des Entwerfens ist die vorgefundene geschichtliche Stadt
Europas. Es geht hier jedoch nicht wirklich um Geschichte und/der Stadtstruktur,
also Stadtproduktion, sondern um die konventionelle Reproduktion ihrer
marktgerechten Bild-Form. In der industriellen Konfektionierung geschichtlicher
Formelemente des städtischen Miets- und Bürohauses sucht dieser Ansatz nach
architektonischem "Ausdruck" und meint ihn zu finden in der frühmodernen, noch
funktionierenden Darstellungsbeziehung von städtischer Architektur und
bürgerlicher Gesellschaft (Stadtbürgertum). Mit der Industrialisierung der
Architektur wird diese jedoch "Ausdruck" des Marktgeschehens – auch Fragen von
Bedeutung und Sinn sind nun eine Frage des Marktes von Bedeutungsproduktionen.
Ein gutes Beispiel ist der neue Walter-Benjamin-Platz in Berlin-Charlottenburg,
ein ehemaliger Brachenstreifen quer durch einen Block. Über das
klassizistisch-stalinistische Retrodesign der gewaltigen Kolonnaden und Fassaden
von Kollhoff mag man geschmacklich streiten – sicher ist jedoch, dass hier im
Namen von europäischer Geschichte und Rekonstruktion Stadtstruktur zerstört
wird: Denn weder Kolonnaden noch blockquerende Plätze sind Bestandteile der
Morphologie im gründerzeitlichen Charlottenburg, Das vorhandene städtische
Gewebe der Blockstruktur wird hier zerrissen von der Manier eines „europäischen“
Stadt-Platzes: Eine gewalttätige Räumungs-Geste, in der Form (klassizistische
Fassade) und Funktion (Wohnen am Großstadtplatz, im Zuschnitt sozialer
Wohnungsbau) über das Bild der Europäischen Stadt zusammengezwungen werden
sollen. Die Stadt erscheint hier als Gedächtnistheater, mit entsprechenden
Architekturen der Erinnerung.
Solche postmoderne Trennung von Funktion und Form negiert den modernen
Zusammenhang von Architekturprogramm und Stadtstruktur (vom Grundriss zum
Quartier); beide Elemente werden als autonome Märkte von Stadt
(Verwertungsräume, Nutzungen) und Bild (Inszenierung, Bedeutungsproduktion)
formiert und industriell verwertet. Der Architektur bleibt ein marktgerechter
Formalismus, der sie als substantiell formierende Instanz von Stadt
bedeutungslos macht: In der rekonstruierenden oder nachahmenden Wiederholung von
historischen Stadtformen verweigert sich dieser Ansatz einer zeitgenössischen
Arbeit an der gesellschaftlichen Bedeutung von Architekturformen, macht diese
stattdessen durch Konvention bedeutungslos.
Damit erkennt dieser Ansatz die Macht des Marktes als Grenze seiner
Architekturproduktion an und liefert die Erkenntnis, dass die europäische Stadt
prinzipiell nur noch als Maske inszenierbar ist – Architektur entsteht hier aus
der Atmosphäre der Tarnung. Denn die soziale Basis des Architektur-Marktes ist
nicht mehr ein europäisch gesinntes Stadtbürgertum, sondern global agierenden
Investoren, die das "lokale" Bild der Stadt international, eben als
"europäischen Standort" vermarkten. Was dann noch vom Architekten darstellbar
ist, als Bild von Stadt und Autonomie der Form, ist lediglich defensive
Konfektionierung historistischer Architekturelemente in den oberen Segmenten des
städtischen Marktraumes, mit den entsprechenden sozialen Schichten von Nutzern
des "europäischen Lebensstils".
Architektur als
marktgerechtes Design-Produkt ist die ausgesprochene und damit offensive Antwort
der populistischen Entwurfs-Variante "Las Vegas" (amerikanisches Mall-Modell,
Jon Jerde u. a.) auf die Frage nach dem Verhältnis von Konsum und Massenkultur
einer globalisierten Stadt-Gesellschaft. Das Entwerfen bezieht sich hier auf die
Stadt als Erlebnisraum von populären Massenkulturen mit der unhinterfragten
Basis von Konsumfunktionen. Privat, also mit entsprechenden sozialen
Ausschließungseffekten hergestellt, jedoch öffentlich angeeignet, tendieren
neuere Modelle der EventCities (Malls und Themenparks kombiniert mit Wohn- und
Arbeitsfunktionen, komplexere Urban Entertainment Quartiere) zur Überlagerung
und Mischung von städtischen Funktionen, die das traditionelle Einkaufszentrum
zu postfordistischen Prototypen von zunehmend komplexeren Quartieren, also
"Stadt" verwandeln. Es geht hier also nicht um „Geschichte“, sondern das
Erzählen von Geschichten in wirklicher Produktion von Stadt: Sie erscheint hier
als Marktplatz der Wünsche an Konsum und Kultur, mit entsprechenden
Branding-Elementen.
Die Architektur erweitert sich hier zur Szenographie von öffentlichen
Raum-Bühnen, auf denen Themen, Erzählungen und Bildgeschichten in Szene gesetzt
werden. „Geschichte“ erscheint hier nicht als bedeutungsschwangere Retrofassade
eines leergelaufenen „gesellschaftlichen Ausdrucks“, sondern in der Form
erzählter Geschichten, die auf populäre Lebensweisen verweisen („popular culture“).
Atmosphäre ist der Grundbegriff des Entwerfens dieser postmodernen
Gesamtkunstwerke, in denen Architektur mit anderen räumlichen
Gestaltungsdisziplinen vom Bühnenbild bis zur virtuellen Medienkunst verbunden
wird: Architektur als "barocke" Raumästhetik, die über das bloße
Marketing-Design von Konsumpraktiken hinausweist. Damit öffnet sich solche
medial gestützte Aufladung von architektonischen Atmosphären für differenzierte
Bedeutungen und Aneignungen von Seiten des Publikums. Denn das Angebot der
kulturellen Inszenierungen ist weder identisch mit den notwendig damit
verbundenen Konsumanreizen noch mit den eigensinnigen Rezeptionsweisen der
Individuen. Vielmehr stößt das Entwerfen von EventCities mit diesem kulturellen
Überschuss auf das nachmoderne Verhältnis von individueller Identitätsbildung
und kollektiver Bedeutungspraxis in temporären sozialen Erlebnisgemeinschaften:
In der Differenz von subjektiver, auch "abweichender" Aneignung von objektiven,
auch "vorgegebenen" Kulturangeboten werden die Individuen selbst zu
interaktiven Mitproduzenten ihrer Kulturen und Identitäten - das Publikum als
Produzent von Kultur.
Das gilt auch für den Raum. Atmosphären konstituieren sich im Zwischenraum von
architektonischer Objektwelt (hier strahlt Atmosphäre aus dem Arrangement der
Dinge) und subjektivem Raumerlebnis (hier ist Atmosphäre Wirkung subjektiver
Stimmungen und Affekte): Der Entwurf von Atmosphären erkennt die Individuen
prinzipiell als soziale Mitproduzenten von Raum und Architektur an – das ist der
Point of no Return in der postmodernen Raumproduktion und der Kritik an der
veralteten Moderne, die den Individuen alltägliche Lebensweisen durch objektive
Raumordnungen vorzuschreiben suchte.
Während die elitäre Retrodesign-Variante der Postmoderne dieses fortsetzt und
den Individuen Identitäten durch bürgerliche Objektmuster im gebauten Raum
autoritär festzuschreiben sucht (und damit Teil von Gentrification wird), spielt
die populistische Variante ein schillerndes Spiel zwischen ökonomisch
kalkuliertem Objektmarketing und offener Bedeutungspraxis von subjektiven
Raumerlebnissen in atmosphärischer Architektur. Liegt darin ihre soziale
Zeitgenossenschaft, so jedoch auch die Gefahr, die Architektur der Stadt auf die
Szenographie eines totalen Designs von Konsumpraktiken zu reduzieren.
Reflexive Moderne
Der Schweizer Minimalismus
(Herzog & de Meuron, Diener & Diener u. a.) will dieser Bildfülle entgehen, indem
er die Form (gleich den Modernen) extrem reduziert und sie dem Betrachter als
ästhetische Inszenierung ausschließlich des Materials anbietet. Von allen
symbolischen Bild- und damit gesellschaftlichen Bedeutungsgehalten gereinigt
soll Form hier ausschließlich im eingesetzten Material erscheinen: Architektur
als bedeutungsloses, von funktionalen und städtischen Beziehungen gelöstes und
damit "formlos" inszeniertes Objekt ohne Kontext. Es wird daher umweht von einer
Aura der Materialreinheit, insoweit hier die Bildqualität des Materials zur
einzigartigen Instanz von Formgebung fetischisiert wird. Grundfigur ist die
veredelte Standard-Kiste, die jedoch flexible Nutzungen aufnimmt. Im Gegensatz
zur festgeschriebenen Funktion des modernen Behälters wird hier das offenere
Raumprogramm von den Nutzern im Gebrauch selbst mitbestimmt.
In ähnlich radikaler Weise reflektieren die niederländischen De-Programmierer
(Rem Koolhaas, MVRDV, Ben van Berkel u. a.) die postmoderne Trennung von Form und
Funktion und können schließlich zurecht „reflexive“ Moderne genannt werden, da
sie das minimalistische Architekturobjekt in Beziehungen setzen zu Raum und
Stadt: In diesen Beziehungen transformieren sie die moderne Architektur durch
kreative Zerstörung ihrer Formen.
Auf dem Weg vom Objekt zum Raum ist erster Einsatzpunkt das vorgegebene
funktionale Programm, das hinterfragt, auf seine elementaren Parameter reduziert
und damit zugleich räumlich reformuliert wird: von hierarchischen
Größenverhältnissen zu ungerichteten Volumen, von determinierenden
Aktivitätsmustern zu heterogenen Nutzungseinheiten, von linearen Grenzen zu
diskontinuierlichen Schwellen, von strukturellen Vernetzungen zu informellen
Infrastrukturen... Werden damit die alltäglichen Gewohnheiten des modernen
Gebrauchs von Raum entprogrammiert, so findet das solchermaßen transformierte
"Programm" Gestalt durch den Form-Bruch mit der modernen geometrischen Hülle,
deren Abschirmungsfunktionen (Diagramme von Akustik, Klima, Licht,
Sichtbeziehungen) isoliert und als selbständige, volumenkonstituierende Faktoren
des Entwerfens eingesetzt werden. Die Konstruktion folgt drittens den
Wegebeziehungen zwischen den Nutzungseinheiten, die als "Ereignisse" in der
nichtgeometrischen Durchdringung des Raumes definiert werden. Gegen ihre moderne
Verschaltung in programmierten Räumen setzen die programmatisch freigesetzten
Aktivitätsmuster der Nutzung nun den Raum subjektlos in Bewegung ("automatisches
Entwerfen"), kommunizieren miteinander als Medien polymorph geformter Gebäude.
An der niederländischen Botschaft in Berlin von Koolhaas wird man diese drei
Schritte ablesen können: Eine Architektur aus der Atmosphäre der Verfremdung.
Denn mit dieser entprogrammierenden Raum-Formulierung findet das
architektonische Entwerfen einen neuen Zugang zum Städtebau. Innen und Außen,
das Eigene und das Fremde, private und öffentlich genutzte Räume überlagern sich
in diesem Ansatz im Gebäude selbst und werden im städtischen Raum nicht mehr als
statisch geformte Objekte verdinglicht. Solche Überlagerung zieht die
städtebaulichen Konsequenzen aus der „Mediatisierung“ von "privaten" und
"öffentlichen" Handlungsmustern und ihren virtuellen Schnittstellen: Stadt
erscheint hier als Collage-Prinzip, in der auch sozialräumliche Konflikte in der
offeneren Form einer Kultur der Differenz präsentiert werden können. Die
Informalisierung der Infrastruktur (Bewegung als Kommunikation), die hier oft
zur tragenden und damit determinierenden Struktur hochstilisiert wird,
ermöglicht einen komplexeren Zugang zur urbanen Realität - sei es als empirisch
einzufangender Kontext von Datenumgebungen oder Imaginationen regionaler
Entwicklung ("Data-Town") oder als entwurfsrelevanter institutioneller Kontext
der Architekturproduktion selbst, der aufgedeckt und als politsch-ökonomischer
Hintergrund von Markt-Macht und bürokratischer Normenregulierung pragmatisch
anerkannt wird. Und schließlich erlaubt solcher Pragmatismus den kreativen
Zugang zu den peripheren Räumen von Stadtentwicklung ("Dirty Realism"), die aus
dem ordnungsfixierten Blick der Berliner Rekonstrukteure und amerikanischen
Eventisten der europäischen Stadt ausgeblendet werden: Der Schritt zum sozialen
Rand und damit auch zu den Themen der "sozialen Stadt" ist für diese
Entwurfshaltung nicht weit.
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