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Im Rahmen des Gründungsprozesses zur
Nationalen Stiftung Baukultur wird auf den verschiedensten Ebenen um die
inhaltliche Auskleidung des Begriffes „Baukultur“ gerungen. Neben der
Schwierigkeit, sich auf eine Sprachregelung zu einigen und verbindliche
baukulturelle Qualitätskriterien festzuschreiben, scheint vor allem die
Frage nach einer angemessenen Diskursführung, an der sich Fachleute wie
interessierte Laien gleichermaßen in produktiver Weise beteiligen können,
offen. Denn der Anspruch einer breiten gesellschaftlichen Debatte über
Instrumente und Ziele der Stiftung ist nicht nur ein aufwändiges
Unterfangen, sondern rührt auch empfindlich an kulturelle
Hoheitsverhältnisse und damit herrschende gesellschaftliche Machtgefüge, die
unabhängig von sozialen, technischen, ökonomischen und ökologischen
Implikationen wesensbestimmend für die Gestalt unserer gebauten Umwelt ist.
Folgender Beitrag untersucht die These, dass Baukultur im Kern Ergebnis
einer Auseinandersetzung unterschiedlicher „Kulturen“ um die Durchsetzung
ihrer jeweiligen Sichtweisen und Interessen ist.
Dabei ist es vor dem Hintergrund der aktuellen Debatte und zum allgemeinen
Verständnis notwendig, das in folgendem Kontext verwendete Verständnis von
Baukultur zu klären.
Zurückgegriffen wird hier auf die Basisdefinition, die sich während der
Diskussionen der vergangenen zwei, drei Jahre herausgebildet hat, (siehe:
Statusbericht Baukultur 1 Berichte BBR, Band 11), und die Baukultur als „die
Produktion von und den Umgang mit der gebauten Umwelt“ bezeichnet. Dieses
Verständnis von Baukultur bezieht sich auf unseren gesamten Lebensraum, auf
den nicht bebauten Raum ebenso wie die trivialen, als „Unorte“ geschmähten
Zonen jenseits der medial bedingt als „herausragend“ wahrgenommenen
architektonischen Spitzenleistungen. Und es impliziert, dass Ausgestaltung
dieses Begriffes eine Angelegenheit der gesamten Bevölkerung sein muss, und
nicht allein dem exklusiven Kreis einzelner Machtgruppen vorbehalten bleiben
darf.
Es liegt im Wesen von Machtstrukturen, nicht eindimensional und in linearer
Nachvollziehbarkeit zu verlaufen, sondern sich als komplexes,
vielschichtiges und mehrfach miteinander rückkoppelndes System über
menschliche Beziehungen zu legen. Die jeweilige Spielart von Machtgeflechten
ist milieu- und kontextspezifisch, zudem von einer nicht zu unterschätzenden
Instabilität. Der Klarheit halber sollen daher im Folgenden die Territorien
kultureller Einflussnahme voneinander losgelöst und die unterschiedlichen
Aspekte der Macht aus ihrer wechselseitigen Verquickung herausgenommen
betrachtet werden.
1. Macht des Besitzes
Besitz von Raum
Die sicherlich einfachste Art, Einfluss auf die Gestaltung unseres
Lebensraumes auszuüben, ist der Besitz desselben. Unter diesem Blickwinkel
ist die Frage nach Machtverhältnissen also deckungsgleich mit der Frage nach
den Besitzverhältnissen von Grund und Boden, respektive von flüssigem
Kapital als Möglichkeit, diese Verhältnisse in Frage zu stellen.
In unserer Hemisphäre ist jedes Stückchen Raum vermessen, kartiert, in
Nutzungsplänen definiert und in Grundbüchern einem Besitzer zugeordnet; die
strukturelle Ordnung des Lebensraumes ist Abdruck historischer
Verteilungsprozesse. Der Besitz von Land ist für die Gewinner dieser
Verteilungsprozesse nicht nur ein Ausdruck ihrer Macht, sondern auch
Machtinstrument: der Besitz sichert ihnen die weit gehende Kontrolle über
Nutzung und Gestaltung dieses Raumes. (Einschränkungen bieten allein das
Baugesetzbuch, die Bauordnungen der Länder sowie die kommunalen
Flächenplanungen mit ihren Rahmenvorgaben). Ihr Vermögen, die räumlichen
Strukturen und Oberflächen festzulegen, ihre Definitionsgewalt über Bilder
und Vorstellungswelten prägen unsere Rezeptionsmechanismen von „Baukultur“
oder „Stadtkultur“ entscheidend. Der seit Jahren bestehende Trend zur
Privatisierung öffentlicher Räume lässt uns unter dieser Perspektive weniger
den Schwund von Bürgern in der Öffentlichkeit beklagen (oder deren
Verwandlung in „Konsumenten“), als vielmehr die Kontrolle über Programm
dieser Räume durch einige wenige Machtinhaber. Statt einer demokratischen
Vielfalt bestimmen zunehmend die Partikularinteressen mächtiger Unternehmen
über Gestalt und Qualität unserer gebauten Umwelt.
Als direkte Folge dieses Phänomens wartet ein weiterer Trend auf, dessen
stadträumliche Auswirkungen Gegenstand der Kritik sind: die ungebrochene
Sehnsucht der Bürger nach ihrer „Scholle“, dem Reich innerhalb der eigenen
vier Wände. Sind die viel beklagten, Flächen fressenden Eigenheimsiedlungen
denn anderes als ein Sichtbarwerden dieser Sehnsucht des Einzelnen nach
Sicherung eines wenn auch noch so kleinen Anteils an der Macht über den
eigenen Lebensraum?
Besitz von Kapital
Wenn – abgesehen von einer Revolution – allein Besitz von Kapital eine
Veränderung der bestehenden Raumzuteilung ermöglichen kann, liegt ein
neugieriger Blick auf Höhe und Verteilung von Kapitalvermögen und Einkommen
hierzulande nahe. Zwei Entwicklungstendenzen erscheinen dabei von besonderem
Interesse: zum einen das steigende Ungleichgewicht der Vermögen und
Einkommen zwischen Ost- und Westdeutschland, zwischen Stadt und Land und
zwischen Kernen und Rändern, das zur Folge hat, dass sich Kommunen, Städte
und Regionen trotz massiver staatlicher Umverteilungsmaßnahmen stark
unterschiedlich entwickeln. Die unvermeidlich wachsende soziale Segregation
wird am deutlichsten ablesbar an Quartieren, die zu „sozialen Brennpunkten“
werden. Verwahrlosung des öffentlichen Raumes, Substanzverlust der Bau- und
Infrastruktur und die Sichtbarkeit der Armut im Stadtbild sind ein Aspekt
unseres ökonomischen Systems und damit auch eine Hervorbringung unserer
Lebens- und Baukultur. Bemerkenswert ist dabei unsere selektive Wahrnehmung:
sozialräumliche Segregation nehmen wir nur im Falle von Armut als
„problematisch“ wahr, das gutbürgerliche, gesellschaftlich homogene
Wohnviertel am Stadtrand, bewohnt vom „erwünschten Milieu“, bleibt auch von
Fachleuten weitestgehend unkritisiert.
Der zweite interessante Trend ist die „Popularisierung“ des Kapitals und
deren Auswirkung auf die Qualität von Baukultur: während früher Kapital
ebenso wie Grund im Besitz weniger mächtiger Familien war, ist es heute in
den Händen vieler als Anlagemasse. Vermögende Familien bauten einst mit dem
langfristigen Anspruch, ihren Besitz über viele Generationen hin zu erhalten
und ihr Ansehen durch besondere Bauwerke zu verewigen. Heute ist das Kapital
trotz ungleicher Vermögensverhältnisse verteilt auf eine große, anonyme
Menge. Es wird gebündelt durch institutionelle Kapitalanlagegesellschaften,
deren Auftrag vornehmlich die Vermehrung des Kapitals ist und die
entsprechend als Bauherr der Anonymität ihrer Auftraggeber Rechnung tragen.
Es ist also nur folgerichtig, wenn die moderne Investorenarchitektur
gesichtslos, charakterlos und unspezifisch ist. Die Masse als Bauherr bringt
Massenware hervor – Baukultur auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner, für die
niemand persönlich Verantwortung trägt.
Macht der Besitzlosen
Kulturelle Hoheitsräume sind stark, aber nicht ausschließlich durch
grundbuchamtlich bestätigten Besitz von Raum bedingt. Auch und trotz der
Privatisierung von Räumen gibt es immer Nischen in den fest gefügten
Strukturen, und in diesen Zwischenräumen finden auch die vordergründig
Machtlosen die Möglichkeit, sich Raum anzueignen. Die Subkultur verhält sich
als Gegenstück zur so genannten Hochkultur und stellt sie in Frage durch
alternative Lebensweisen, experimentelle künstlerische Ausdrucksformen, oder
aber – gewissermaßen als Ausdruck der eigenen Ohnmacht – durch die
Manipulation und Zerstörung des Besitzes des Etablissements.
Nicht selten ist das Treiben der Nischenexistenzen der Nährboden für die
kulturelle Erneuerung der Mächtigen; die vielfältigen Beispiele von
Projektentwicklungen
in den ehemaligen Jagdgründen des „kreativen Untergrunds“ zeugen davon
ebenso wie die Entdeckung des wirtschaftlichen Potentials der
„Zwischennutzer“. Sogar der marodierende Überlebenskämpfer schrumpfender
Städte
hat jüngst seine Adelung auf dem deutschen Sprechtheater erfahren.
2. Macht der Geschichte
Ob es sich in bewusster Ablehnung von oder Hinwendung zur Vergangenheit
äußert: das historische Erbe einer Gesellschaft bestimmt das Wesen seiner
Gegenwart. „Geschichte“ ist hierbei auf zwei Ebenen zu betrachten:
Machtkampf in der Geschichte
Die uns umgebenden
räumlichen Strukturen sind Folgen jahrhundertelanger Auseinandersetzungen um
Herrschaft über Besitzanteile an diesem Raum, sei es in Form von Krieg,
Revolution, Migration oder ganz einfach Handel. Dabei ging es – und geht es
noch – in aller Regel weniger um Ansehen und Prestige als um den elementaren
und evolutionsbedingt notwendigen Überlebenskampf, also um die Sicherung von
Raum für die eigene Art als die natürliche Form ihrer Erhaltung. Der „Kampf
um Lebensraum" ist heute eine historisch vorbelastete Phrase, sieht man
jedoch einmal von nationalsozialistischer Konnotation ab, beschreibt sie
einen Vorgang, mit dem wir in unserem Alltag permanent konfrontiert sind.
In ihrer gewaltsamen Erscheinung heißt die Auseinandersetzung um Boden und
die darin enthaltenen Ressourcen Krieg, Besetzung, Vertreibung, Umsiedlung.
Die Durchsetzung der eigenen Interessen wird mit den krudesten zur Verfügung
stehenden Mittel erlangt, nämlich mit Gewalt. Die Folgen für die Baukultur
sind Zerstörung, Verstümmelung, Demontage, Plünderung.
Der Wellenschlag von Machtkonflikten in anderen Teilen der Welt pflanzt sich
bis in unser scheinbar in Frieden lebendes Land fort, z. B. durch die
Aktivitäten des internationalen Terrorismus. Bei Angriffen auf viel
frequentierte und baukulturell bedeutsame Gebäude geht es den Aggressoren in
der Regel nicht um den konkret angegriffenen Raum und um die tatsächlich
zerstörten Gebäude, als vielmehr um den Gewinn von ideellem, moralischen und
in Folge davon ökonomischen Raum. Die Zerstörung des WTC in New York hat
nicht nur weit reichende Folgen für den Stadtgrundriss New Yorks, sondern
auch für unsere Stadt- und Lebenskultur: seit 9/11 sehen wir uns mit neuen
Formen von Angsträumen konfrontiert, der eigentliche Landgewinn fremder
Mächte hat sich in unserem Bewusstsein vollzogen. Betonpoller versperren den
Durchgang vor „gefährdeten Objekten“, Gitterzäune, Videokameras und schwer
bewaffnete Grenzschutzbeamte sind im Stadtraum präsent. In einer Reihe von
Gesetzesänderungen sind unsere persönlichen Freiräume – der Lebensraum, über
den wir ganz individuell bestimmen – schrittweise beschnitten worden.
Es wird jedoch auch mit weniger drastischen Mitteln täglich um Raumansprüche
gerungen, sei es im Stadtraum als Hausbesetzung, Demonstration oder
temporäre, offensive Inbesitznahme von fremdem Grund, sei es in den subtilen
Revierkämpfen im Büro und im Wohnzimmer, die sich durch Platzierung des
Ficus Benjaminii, der Bürotasse oder des Lieblingssessels äußert.
Machtkampf um die Geschichte
Geschichte ist nicht nur eine zeitliche Abfolge von Ereignissen, deren
Spuren in unserer Wahrnehmung mehr oder weniger präsent bleiben, sondern
auch eine kulturelle Ressource, ein Reservoir an Bildern, über deren
Verwendung sich trefflich streiten lässt.
Im Wettbewerb der Städte um Standortqualitäten gewinnt die Kulisse der
Geschichte bei der Konstruktion ihrer eigenen städtischen Identität eine
wachsende Bedeutung. Dabei ist die Versuchung immer schon sehr groß gewesen,
selektiv zu unterscheiden zwischen genehmer, den eigenen
Darstellungsbedürfnissen und Selbstverständnis entgegenkommender
Vergangenheit, und ungeliebter Vergangenheit. Die Definitionshoheit von
Geschichte obliegt klassischerweise den jeweiligen Inhabern der politischen
und wirtschaftlichen Macht. Ihre den eigenen Machtanspruch rechtfertigende
Geschichtsversion wird dabei, wenn auch nicht wissenschaftlich salonfähig,
doch letztendlich mehrheitlich hingenommen. Wert bzw. Wertlosigkeit von
Gebäuden sind in diesem Zusammenhang also keine objektivierbaren Größen,
sondern unterliegen den jeweiligen gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen
einer Epoche. Deren Wertmaßstäbe bestimmen über Gedeih und Verderb, über
Erhalt und Abriss von Baukultur, denn naturgemäß müssen zur Festigung des
eigenen Machtanspruches die Spuren und Zeichen der anderen Macht ausgelöscht
oder doch mindestens desavouiert werden.
Wie schnell sich die Wahrnehmung von raumgebenden Strukturen verändern kann,
belegt als sehr plakatives Beispiel die Berliner Mauer, die vor 14 Jahren in
einem dramatischen Akt der Befreiung von staatlicher Macht und als
Demonstration der Macht einer friedlichen Menge in Besitz genommen wurde und
in ihrer Substanz alsbald und bis auf wenige Überreste weggeräumt wurde.
Heute sind die kaum noch lesbaren Reste Objekt wissenschaftlicher
Rekonstruktion, ihre Aufnahme in das UNESCO-Weltkulturerbe wird angestrebt.
Der Fall macht deutlich, dass die aus machtstruktureller Motivation heraus
betriebene Abrisstradition aus Sicht der Denkmalpfleger ein großer Verlust
ist. In Fachkreisen, aber auch als allgemeiner gesellschaftlicher Konsens
wird heute generell gefordert, Geschichte nicht nur als touristische
Dienstleistung zu pflegen, sondern als Leitsystem im kollektiven Gedächtnis
einer Stadt, als „Geschichtslandschaft“ mit all ihren Brüchen und
Disparitäten zu bewahren. Doch obwohl der Streit um die Erhaltung
historischer Bausubstanz heute mehr als in anderen Epochen Teil einer
produktiven und „gereiften“ gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit der
Geschichte geworden ist, begründen im ideologischen Wettstreit auch heute
noch die einflussreicheren Mächte den selektiven Erhalt von Baukultur, oft
wider die bessere Einsicht. Von Zeitgeist oder Markt bestimmte „Korrekturen“
am Grundriss vieler Städte haben den Verlust historischer Denkmale zur
Folge, geschichtlich aufgeladene Bausubstanz wird, so ihr auf dem
Immobilienmarkt keine Chance mehr eingeräumt wird, durch das bessere
ökonomische Modell ausgetauscht oder aber dem Verfall anheim gegeben. Dass
eine Neubespielung von Flächen in der Politik als „höheres öffentliches
Interesse“ betrachtet wird und diese Abriss und Neubebauung von
geschichtsträchtiger Bausubstanz duldend hinnimmt, ist in Zeiten schwieriger
wirtschaftlicher Verhältnisse nicht weiter verwunderlich, die Dehnbarkeit
des Denkmalschutzes wird in der Hoffnung auf einen finanziellen Mehrwert
gerne ausgetestet. Im Kräftespiel des Marktes unterliegen die Anwälte der
Denkmalpflege dem Diktat des ökonomisch Möglichen, in vielen Fällen ist die
Rettung eines Bauwerkes allein durch eine Bündelung der Kräfte von
Konservatoren, Finanzexperten, und Immobilienmanagern, also der
Verschwisterung der geschichtlichen Macht mit den Mächten des Marktes
möglich. Die Überlagerung geschichtlicher Wahrheit und ihre zeitgeistgenehme
Neuinterpretation, eine zunehmende Verquickung öffentlicher und
kommerzieller Botschaften im Stadtraum sind die Folge.
3. Macht des Marktes
Der Markt – in seiner derzeitigen Erscheinungsform als „neoliberaler
Turbokapitalismus“ – ist in der heutigen Zeit ganz offensichtlich in den
meisten Fällen das schlagendste Argument für ein Bauprojekt. Tatsächlich ist
die Rentabilität von Gebäuden fast immer entscheidend für Größe und Gestalt,
Flächen werden – oft zu Lasten der architektonischen Qualitäten –
hinsichtlich ihrer Vermietbarkeit optimiert, die gemeinhin erwünschte
„Nachhaltigkeit“ einer Immobilie misst sich an ihrem
Amortisationszeitrahmen. Dass dieser den Marktrandbedingungen der
Globalisierung unterliegt und ergo immer kürzer wird, wird stillschweigend
hingenommen. Doch nicht nur strukturell-tektonische Qualitäten unterliegen
dem Diktat des Marktes, auch die Nachfrage nach bestimmten Baustilen und
Oberflächen prägt unsere Umwelt.
Neben den Akteuren des Immobilienmarktes sind es vor allem die Mächtigen des
Handelsmarktes, deren Aktivitäten unseren Lebensraum und unsere Baukultur
beeinflussen.
Über ihre gewaltige Vermarktungsmaschinerie prägen sie die Bilder und
generieren die Emotionen, derer wir uns im Stadtraum kaum noch entziehen
können, ihre immer ausgefeilteren Attacken auf unser Wahrnehmungssystem
(unter dem Schlagwort „Neuromarketing“ derzeit im Fokus der Forscher) machen
einen unvoreingenommenen Blick auf die dahinter liegende Architektur immer
unmöglicher. Die großen Marken und Ketten besitzen durch ihre mediale
Präsenz eine massive visuelle Macht über unseren Raum, auch wenn sie keinen
konkreten Grund und Boden ihr Eigen nennen. Ebenfalls Ergebnis von
marktwirtschaftlichem Wettbewerb (und zwar nicht nur der Einzelhändler um
Kunden, sondern auch der Kommunen um Einzelhändler) ist die viel beklagte
Zunahme der suburbanen Einkaufscenter. In ihr spiegelt sich die Macht der
Nachfrager nach Discount- und Billigangeboten im Konsum, die Maxime „Geiz
ist Geil“ bedingt die entsprechend banale, anspruchslose Architektur, kein
Extra-Cent wird veranschlagt für andere Qualitäten als die, den Wetterschutz
für das billige Produkt abzugeben. Discount-Mentalität herrscht auch bei dem
Erwerb des ersehnten Eigenheims vor, und keine Sehnsucht, die nicht ihre
Befriedigung auf dem Markt fände.
4. Macht der Menge
Der Exkurs über die Macht der Menge der Anleger, die Menge der
Eigenheimbesitzer, die Menge der Konsumenten, der Autofahrer etc. zeigt,
welchen Druck der Einzelne, gefasst in der Menge, organisiert in
gesellschaftlichen Interessensverbänden, auf den Markt, auf die Politik und
damit auch auf unsere Raumstrukturen ausüben kann. Dass diese Mengen in
ihren Entscheidungen nicht frei von Manipulationen durch andere, unter
Umständen mächtigere Mengen bleiben, und dass sie ihre Ziele oft wider
bessere Einsicht durchzusetzen versuchen, ist dabei keine neue Erkenntnis.
Deutliches Beispiel gibt in diesem Zusammenhang die Macht der großen
Auto-Lobbys, die trotz der wissenschaftlich fundierten Einsicht, dass gegen
den Verkehrskollaps nicht mehr, sondern nur weniger Straßen helfen, weiteren
Straßenbau fordern. Die Inhaber der institutionellen Macht, also die
Politiker, kommen aus Angst vor Verlust derselbigen (denn im Autobauerland
No. 1 dieser Welt hätte eine Beschränkung des Verkehrsaufkommens geradezu
umstürzlerische Anmutung!) dieser Forderung nach, mit dem Ergebnis, dass die
Neuversiegelung von Freifläche in Deutschland nach wie vor bei über 100
Hektar pro Tag liegt, und der „Lebensraum Autobahn“ unser Land prägt wie nie
zuvor, jedoch von Gestaltern als Betätigungsfeld immer noch nur sehr
zögerlich entdeckt wird.
Es lassen sich aber nicht nur milieubedingte Interessensgemeinschaften als
Akteure ausmachen, sondern auch herkunftsbedingte oder altersstrukturelle.
Hierbei stellen die gesellschaftlichen Transformationsprozesse die Frage
nach den Mehrheitsverhältnissen von morgen, prognostizierte Trends lassen
uns über die Auswirkungen auf unsere Baukultur spekulieren: wie wird die
Masse der älteren Menschen unser Lebensumfeld verändern? Der Katalog für
Gestaltungselemente für körperlich benachteiligte Mitbürger – oder ein Blick
nach Florida – geben erste Hinweise auf zu erwartende „Anpassungen“. Und
sollte sich Deutschland tatsächlich jemals einer Zuwanderungsgesellschaft
öffnen, so ist damit zu rechnen, dass unser kulturelles Hoheitsgebiet mit
Zeichen „fremder Kulturen“ überlagert wird.
Das Mehrheitsvotum als Mittel zur Entscheidungsfindung über Sein oder
Nichtsein von Gebäuden wird derzeit in einem ganz unmittelbaren Sinn in
England praktiziert, wo in einer TV-Show nach der Art „England-sucht-das-Superhaus“
per Anruf über das Schicksal historischer Bauten, die keinesfalls sämtlich
erhalten werden können, abgestimmt wird.
5. Macht von Status
Der Einfluss statusbedingter Macht auf unsere Baukultur wird am
nachvollziehbarsten deutlich an der Tätigkeit jener Mächte, die durch
demokratische Wahl (also durch die Macht der Menge) legitimiert worden sind.
Die Legislativmacht definiert Gesetzesrahmen, Steuerinstrumente und
Fördermaßnahmen, die Exekutivmacht kümmert sich um deren Anwendung und
Umsetzung, betätigt sich darüber hinaus als Bauherr, dem Wohle der gesamten
Gesellschaft verpflichtet. Soweit die Theorie. In der Praxis unterliegen
Politiker naturgemäß einer Vielzahl fremder Mächte, die im Streit der
Partikularinteressen sich durchzusetzen suchen. Der Einfluss der bereits
beschriebenen Lobbys und Verbände, aber auch von Banken, Medien, sowie
einflussreichen Einzelpersönlichkeiten (man denke an die aktuelle „Berater“-Debatte)
auf die Politik ist groß und keineswegs kongruent mit dem Wählerwillen.
6. Macht des Zeitgeistes
Die Macht eines mehrheitlichen, gesellschaftlichen Wollens, das man
gemeinhin mit Zeitgeist umschreibt, ist womöglich die am schwierigsten
dingfest zu machende Macht. Definiert man den Geist einer Epoche mit Bazon
Brock
als die Zukunftserwartungen einer Zeitgenossenschaft, die unsichtbare und
doch eigentliche Kraft der Gestaltung einer Gesellschaft, lässt einen die
aktuelle Visionslosigkeit nachdenklich werden: unsere Zeitgenossenschaft
zeichnet sich mehrheitlich durch eine große Skepsis gegenüber dem Neuen aus,
die richtige Richtung des Blickes ist rückwärts gewandt, und „Zukunft“
besteht vornehmlich aus beängstigenden statistischen Rechenexempeln. Dass
sich diese Stimmung im ästhetischen Repertoire zeitgenössischer Gestaltung
abbildet, und eine Retrowelle die nächste ablöst, mag nicht weiter
überraschen, bemerkenswert ist vielmehr die Beliebigkeit der Nachfrage nach
Aufladung der vielfach zuvor als seelenlose Funktionsbauten wahrgenommen
Architekturen mit „Atmosphäre“. Die Werbung als Seismograph kommunikativer
und ästhetischer Inhalte macht es uns vor: im Wettbewerb um Auffälligkeit
schwankt auch der Dress-Code unserer Baukultur zwischen Trash („Geiz ist
geil“) und dem großen Gefühl, der emotionalen Inszenierung.
7. Höhere Macht
Angesichts der zunehmend in die Bedeutungslosigkeit versinkenden „Stilfrage“
und angesichts der Eitelkeit menschlicher Machtanstrengungen drängt sich die
Frage auf, ob nicht die so genannte „Höhere Macht“ das endgültige Wort
spricht im Wechselspiel der Kräfte auf dem Schachbrett unserer Beziehungen.
Produktion und Benutzung unserer gebauten Umwelt ist aus klimatischen,
geologischen und geographischen Bedingungen heraus entstanden. Die Zunahme
von Folgen globaler Klimaveränderungen wie z. B. die Flutkatastrophe in
Sachsen 2002 zeigen, wie diese Bedingungen (neben dem Faktor Zeit) die
Dynamik aus Werden und Vergehen auch von Architektur determinieren und
unsere Wahrnehmung diesbezüglich verändern.
Fazit
Die Baukulturdebatte zeigt, dass eigentlich ein nur sehr allgemeiner Konsens
rund um die Frage, wie zu bauen sei, herrscht. Die Fachwelt ist sich
problemlos darin einig geworden, dass Bauprojekte doch bitte schön
ökologisch korrekt, nachhaltig und innovativ sein sollten, die Identität von
Orten stärken und darüber hinaus sich förderlich auf den sozialen
Zusammenhalt auswirken sollten.
Dieses Leitbild ist außerordentlich diffus und frei interpretierbar, so dass
es nicht schwer fällt, sich als Mehrheit dahinter zu stellen, jedoch bietet
es keinesfalls eine klare Orientierung für die Baupraxis. Für eine
erfolgreiche Formulierung von Richtlinien ist es notwendig, diesen
allgemeinen Rahmen zu spezifizieren. Das Prinzip der Nachhaltigkeit ist eine
denkbar offene Formel; angewandt auf Ökologie, Ökonomie, Sozialstruktur oder
den Denkmalschutz bringt sie die unterschiedlichsten Lösungen hervor. Die
Sehnsucht nach Identität, also die Sehnsucht nach dem Außergewöhnlichen,
Charakteristischen, aber verlangt nach mehr Mut zur herausragenden Leistung,
also auch mehr Mut zum Risiko, Mut, auch zum Scheitern. Allerdings ist das
Bedürfnis nach Behaust-Sein ein zutiefst konventionelles. Futuristische
Raumvisionen, Blobs und Blubbs sind heute weder besonders mutig noch
besonders innovativ zu nennen. Dennoch gibt es einen erheblichen
Innovationsbedarf für unsere Baukultur im Hinblick auf intelligente,
ressourcenschonende Material- und Energieverwendung. Unser Gebäudebestand
ist nach wie vor sowohl Energieverbraucher Nr. 1, als auch Abfallproduzent
Nr. 1, eine Tatsache, die sich angesichts der damit einhergehenden Probleme
nur als unmissverständliche Herausforderung an Politik und Wissenschaft
interpretieren lässt.
Für ein deutliches Engagement der Bevölkerung für die Baukultur, für eine
weitergehende „Sozialverträglichkeit“ von Gebautem als nur die immer wieder
zum Scheitern verurteilte Beglückungsarchitektur ist es jedoch notwendig,
die gesellschaftliche Debatte auf breiterer Basis als bisher zu führen, eine
intensivere und faire Streitkultur um die Frage „Wie Wollen Wir Bauen?“
jenseits machtpolitischer Erwägungen zu etablieren. Ansprüche an unsere
gebaute Umwelt hat jeder Bürger von der Wiege bis zum Sterbebett, warum
sollte man ihm die Fähigkeit absprechen, diese auch zu artikulieren?
Bundesländer wie Bayern mit seinem BDA-Publikumspreis (der
bedauerlicherweise aufgrund eines Angriffes von Hackern ergebnislos blieb)
und Nordrhein-Westfalen mit seinem architektonischen Bildungsprogramm für
Schüler machen uns vor, wie auch die Nicht-Fachwelt in die Diskussion
einbezogen werden kann. Ideen dazu gibt es zuhauf. Die Gründung einer
Nationalen Stiftung Baukultur böte eine gute Gelegenheit, einige davon
umzusetzen. Bislang jedoch bleibt der Gesprächskreis beschränkt auf den
exklusiven Zirkel derjenigen, die an ohnehin an der Macht sind.
Anmerkungen
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