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Ging es dem Abgeordneten
Hohmann mit dem Wort »Tätervolk der Juden«, das er in seiner Ansprache im
hessischen Ortsverein gebraucht hat, wohl um »historische Tatsachen«? Oder
ging es ihm um ein politisches Argument? Diese Fragen stellte Ulrich Raulff,
Feuilletonist der Süddeutschen Zeitung, Anfang November und deutete
anschließend das Verhalten des Abgeordneten Hohmann als »Lust am bösen
Wort«, mit der so mancher auf der rechten Seite unserer Gesellschaft immer
wieder in die Falle tappe, die der Antisemitismus hierzulande auf nicht
absehbare Zeit stelle.
»Historische Tatsachen«
gibt es durchaus,
aber wie man mit ihnen umgeht – darin zeigt sich die kulturelle Dimension
der Geschichte, das macht sie auch unentbehrlich für jene, die sich fragen,
warum einer mit Geschichte so und nicht anders umgeht. Willy Brandt fiel in
Warschau auf die Knie – bis heute ist nicht klar, ob aus Kalkül oder im
Affekt – jedenfalls schrieb er damit Geschichte. Helmut Kohl sprach,
überrascht vom Fall der Mauer, ergriffen von einem »historischen Moment« –
aber er war nur dabei,
schrieb kaum selber Geschichte. Im symptomatischen Fall Hohmann sieht Ulrich
Raulff übrigens ein Indiz mehr dafür, dass die konservative Rechte sich
immer wieder auf Wählerstimmenfang wer weiß wohin begibt. Wählerstimmen in
der Urne sind wie Geldscheine in der Lohntüte – Kommerzialisierung und
ideologische Ausbeutung gehen meistens Hand in Hand. Noch und ein letztes
Mal Raulff: »Heute ist der Antisemitismus eine
Game Show für umtriebige Politiker, die sich für mutig halten und Dumme, ob
Politiker oder General, finden, die ihnen Mut bescheinigen.«
Also Game Show. Mut wird in
manchen Kreisen offenbar höher bewertet als Wissen. Dass Geschichte
kommerzialisiert und ideologisch ausgebeutet wird, ist nun absolut nichts
Neues, und Vertretern aller wirtschaftlichen, politischen – und
publizistischen – Kreise gelingt es immer wieder, auf diese Weise Pfründe zu
verteidigen und Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Aufmerksamkeit ist ein
Schlüsselbegriff für den Erfolg im Medienzeitalter, den herbei zu führen
viele Mittel recht sind.. Das wiederum ist in der Architektur nicht anders
als in der Politik oder in der Wirtschaft. Diskretion hat kaum noch
Konjunktur, es sei denn, sie dient der Verheimlichung handfester Straftaten.
Wie nun funktioniert der
Umgang mit Geschichte in jener Sparte Baukultur, die sich explizit auf
Geschichte beruft? Als halbwegs konkreter Ansatzpunkt diene ein aktuelles
Beispiel, das Sie alle kennen – weswegen wir keine Bilder brauchen. Es steht
nicht pars pro toto, denn kein Fall gleicht dem anderen, die
Frauenkirche nicht dem Cosel-Palais, die Bauakademie nicht dem Adlon. Aber
das aktuelle Beispiel verdeutlicht doch hinreichend eine Problematik, die
uns beschäftigen muss.
Auf die »Lager« in der
deutschen Presse können wir uns im allgemeinen,
aber hier im besonderen verlassen: Als »Kulissenzauber« kanzelte die taz
den Bau ab, »hübsch
verlogen« fand die Berliner Zeitung, »Es geht doch« titelte süffisant die
»Welt«. Schon wissen Sie, worum es geht: Gemeint ist das erste in
Berlins prominenter, noch zu glanzloser Mitte (teil)rekonstruierte Haus
preußischen Zuschnitts: die Berliner Kommandantur, die sich der große
Bertelsmann-Konzern als funktional bereits jetzt zu kleines Jäckchen für
seine öffentlichkeitswirksamen Anlässe schneidern ließ. In handwerklicher
Tradition gemauerte Fassaden mit rustizierendem Putz und kleinteiligen
Fenstern wählte Bertelsmann nicht aus freiem Willen, sondern nahm sie im
wahrsten Sinne des Wortes in Kauf: Einem Senatsbeschluss folgend war die
Rekonstruktion von drei Fassaden – zur Seite Unter den Linden und rechts und
links davon – im Grundstückskaufvertrag festgeschrieben. Leider fanden sich
keine Pläne der 1653 gebauten, 1873/74 im Neorenaissance-Stil veränderten
Kommandantur mehr, die »originalgetreue Rekonstruktion« beruft sich einzig
und allein auf Fotografien eines Gebäudes, das auch die Verehrer alter
Baustile als »wenig nobel« (Siedler) und ausgesprochen medioker ansehen.
Einen Grundriss, der über das räumliche Gefüge, das eigentlich
Architektonische Auskunft geben könnte, gibt es nicht mehr, das macht
aber nichts, denn um die architektonische Qualität geht es gar
nicht. In älteren Architekturführern ist die Kommandantur nicht vertreten.
Tatsächlich ist der Bau
sehr breit und sehr flach; zu breit, zu flach. Die Steinadler auf dem
flachen Dach flattern wie voll gefutterte Geier nach allen Seiten –
rückwärtig übrigens ohne Gefieder gemeißelt, was bei den jetzigen Dachpartys
für einige Heiterkeit sorgt.
Die Fassade artikuliert –
und das gilt es anzuerkennen –
aber durchaus, was sie einstmals beherbergte: Amtsstuben im
militärisch dominierten Preußen, in dem auch der Grundstein für die
legendäre deutsche Bürokratie gelegt wurde. Die Berliner Architekten
Stuhlemmer und Stuhlemmer rekonstruierten die Fassaden, hinter denen der
Architekt Thomas van den Valentyn – ein Rheinländer – nach einem
Wettbewerbsverfahren ein krasses Kontrastprogramm schuf: Aber nur an der
Rückseite durfte er stadträumlich zu erkennen geben, dass das Raumprogramm
einer Medienkonzernrepräsentanz heute anderer Räume bedarf als der einstigen
Amtsstuben des Militärs. Hier auf der Rückseite liegt die Bühne Bertelsmanns
hinter einer Glasfassade, hier darf man zeigen, dass Öffentlichkeit Sinn und
Zweck des Hauses überhaupt ist – welches, so Vorstandschef Gunther Thielen,
»Ort des Dialogs (werden möge), an dem aktuelle Themen und Zukunftsfragen
der Gesellschaft« diskutiert werden sollen.
Warum, so drängt sich die
Frage auf, nahm man jedoch an allen andern Seiten das wilhelminische, nicht
einmal ansehnliche Zwangsjäckchen in Kauf? Es gab ja nichts umzubauen, zu
planen war ein Neubau an der Stelle des ehemaligen Außenministeriums
der DDR. Es geht im folgenden nicht um die ästhetische Qualität des Hauses,
sondern um das Geschichtsverständnis seiner Bauherrschaften, die es
offenbart.
Wenn man dieses
Geschichtsverständnis erklären möchte, muss man daran denken, dass die
Kommandantur nicht als Solitär rekonstruiert wurde, sondern als Vorhut der
Rekonstruktion des ganzen Kerns der preußischen Hauptstadtmitte. In der
Bertelsmann-Sprache heißt das, man »wolle ein Stück Geschichte in die Stadt«
zurückbringen. Und man kann, ohne ein Schelm zu sein und Böses dabei zu
denken, ergänzen: Um den Weg für Bauakademie und Schloss frei zu machen.
Gelegentlich wird begründet, es ginge ja um die »deutsche Identität«. In
einer solchen Begründung werden Geschichtskategorien genau so heillos
durcheinander geschmissen wie in den Äußerungen des Abgeordneten Hohmann
oder in den Opferbildbänden Jörg Friedrichs oder im geplanten deutschen
Zentrum gegen Vertreibungen in Polen, über das sich jüngst Dieter Bartetzko
in der FAZ (30.9.03) erheblich echauffierte.
Ebenso erstaunlich sind
Hinweise darauf, dass ja in China viel lockerer mit der Geschichte
umgegangen werde als hier; stimmt schon, Chinesen reisen durch Paris,
London, Rom und offenbar auch durch deutsche Städte, um ganze Quartiere eins
zu eins in China nachzubauen. In Moskau lautet die Maxime, Vorwärts, wir
müssen zurück, was in der Praxis dann »Rekonstruktion durch Abriss«
heißt, und den Stil der Stalinzeit zur Silikonblüte treibt; Michail
Rossochin ist legendär für seine diesbezügliche Radikalität.
Aber, und darin liegt die
Problematik der Instrumentalisierung der Geschichte hierzulande: Wir sind
weder in China, noch in Moskau.
Es lohnt sich, die
Genese unseres
abendländischen
Geschichtsbegriffs
in ein offenbar löchrig gewordenes, öffentliches Gedächtnis zu rufen – auch
auf die Gefahr hin, Sie zu langweilen. Er hat zwei Wurzeln: Die
aristotelische beginnt in der historie als Erkundung, als Darstellung des
Einzelnen und Besonderen – und grenzt sie klar gegen die poesie als
Darstellung des Allgemeinen ab. In dieser Begrifflichkeit ist Geschichte (historie)
eine Tatsachendarstellung und keine Tatsachenbegründung.
Additiv folgt eine Geschichte der anderen, während im lateinischen
historia bereits die Zusammenhänge, die zeitbezogenen Deutungen der
Geschichten deutlich erkennbar werden. Im Mittelalter rückt in den
Vordergrund, wie die göttliche Vorsehung sich in geschichtlichen
Zusammenhängen manifestiert – und schon hier lenkt der Glaube an die
Vorsehung den Blick auf die ereigneten »Tatsachen« – wird Geschichte also im
weitesten Sinne für Glaubenszwecke ausgebeutet. Geschichten werden als Teile
eines Heilsweges erzählt, »narratio« ist eine moral- und ethikgetränkte
Gattung, die man in Einzelfällen literarisch geglückt nennen kann.
Das neuzeitliche
Geschichtsverständnis knüpft an das aristotelische an und unterscheidet
immerhin christlichen Dogmatismus von einer historischen Wahrheit.
Moderne
Geschichtsschreibung, deren Beginn am geistig so fruchtbaren Ende des
achtzehnten Jahrhunderts gesehen wird, zeichnet sich durch zwei wesentliche
Schritte aus:
-
Durch die Bildung des Kollektivsingulars, in dem
aus Geschichten dank
abstrakter Zusammenhänge die Geschichte wird und die
Geschichten eine eigene geschichtliche Zeit zugewiesen bekommen.
-
Zum zweiten wird Geschichte, also der Kollektivsingular
in Sachverhalt, Darstellung und wissenschaftliche Deutung gegliedert.
Eine Wissenschaft im
engeren Sinne, die sich mit Fragen der Methoden, Institutionen, Forschung
und Lehre auseinander setzt, wird Geschichte erst im 19. Jahrhundert.
Leopold von Ranke ist die Erkenntnis zu verdanken, dass nach einer
Einfühlung in die interessierende Vergangenheit gesucht werden muss und der
einschränkende Blickwinkel der betrachtenden Gegenwart erkannt sein will.
Max Webers Weg, empirische Kulturwissenschaften – dazu zählt auch die
Geschichtswissenschaft – wertungsfrei zu betreiben und die weltanschauliche
Bewertung außerwissenschaftlichen Bereichen zu überlassen, setzt neue
Maßstäbe in der gesamten Wissenschaftstheorie – bis heute.
Parallel zum neuzeitlichen
Geschichtsverständnis entwickelt sich die jederzeit erinnernswerte
Geschichtsphilosophie. Kant glaubte noch einen Fortschritt im Dasein auf dem
Weg von der Barbarei zur Zivilisation zu erkennen. Herder beobachtete
moderater, wie sich Humanität organisch entfaltet und Traditionsbewahrung
einen Beitrag dazu leistet – und nicht mehr.
Geschichtlichkeit als
Begriff für zeitbedingtes Denken und Handeln erscheint erstmals bei Hegel,
und in dem Moment, in dem philosophisches Gedankengut als geschichtlich
bedingt anerkannt wird – etwa auch bei Dilthey und Yorck von Wartenburg –
avanciert sie, die Geschichtlichkeit, zu einem philosophischen
Zentralbegriff.
Fichte, Hegel und
schließlich auch Karl Marx sehen in der Geschichte ein Fortschrittsmoment,
welches Hegel noch auf dem dialektischen Weg der Selbstverwirklichung des
Geistes zu vollkommener Freiheit glaubte, während Karl Marx die wirklichen
Individuen den Klassenkampf austragen sah.
Erst Ende des 19.
Jahrhunderts Jahrhundert wird das Fortschrittsprinzip in der
Geschichtsphilosophie preisgegeben, setzt sich die Erkenntnis durch, dass
das Ende der Geschichte nicht eine Folge ihres Anfangs ist und von einer
Handlungsrationalität in der Menschheitsgeschichte weit und breit keine Spur
mehr ist. Nietzsche zertrümmert den Kollektivsingular Geschichte.
Geschichtlichkeit wird als
philosophisches Problem nun von Jaspers und Heidegger als lebensbedingt
definiert, das heißt, existenzial aus der zeitliche Erfahrung zwischen Leben
und Tod heraus erklärt. Das Denkprinzip der Geschichte wird damit umgekehrt:
Vergangenheit ist stets Konstruktion, ja; doch statt Menschen einer
Vergangenheit zuzuschreiben, wird fürder die Vergangenheit einem Menschen
zugeschrieben.
Der Zusammenhang von Zeit
und Sinn bleibt bis in die Gegenwart ein zentrales Thema der
Geschichtsphilosophie. Gesucht werden Methoden, die weder auf einfühlsamen
Einfällen, noch auf metaphysischen Spekulationen basieren.
Die
Architekturgeschichtsschreibung weiß um diese Schwierigkeiten: Das
Max-Planck-Institut für Kunstgeschichte in Rom und das Institut für
Wissenschaftsgeschichte Berlin haben sich eine »Wissensgeschichte der
Architektur« vorgenommen, die allerdings erst einmal die konkreten Lücken in
dieser Disziplin zu schließen sucht.
Historiker der Gegenwart
haben vor allem mit zwei Problemen zu kämpfen:
-
Im Anschluss an Heidegger und auch als Reaktion auf die
veränderten Gesellschaftsstrukturen muss akzeptiert werden, dass die
Erinnerung als Zeiterfahrung immer mehr individualisiert ist. Reinhart
Koselleck erkannte außerdem, dass die reale Beschleunigung des
Weltgeschehens von den meisten Menschen als eine akute Bedrohung ihrer
Identität empfunden wird. Für eine entsolidarisierte Gesellschaft müssen
mit Hilfe der Geschichte neue kollektive Gedächtnismodelle entwickelt
werden – wie schwer das ist, zeigen Mahnmaldiskussionen nur zu gut. Es
muss uns klar sein, dass die als Geschichtswissen erlernte Vergangenheit
keineswegs als die eigene erlebt wird.
Historiker stecken nun in
dem Dilemma, dass sie sich auf die Individualisierung der Erinnerung
einlassen müssen – sonst erreichen sie mit ihrem Wissen niemanden mehr.
Denken wir an Walsers Roman »Der Springende Brunnen«: Er erzählt im Roman
seine Geschichte als Knabe am Bodensee zur Zeit des Nationalsozialismus
– sie ist eine literarische Angelegenheit, wurde aber – verquickt mit
Walsers Rede in Frankfurt – sofort ob ihres Bestands vor der
Geschichtswissenschaft hin thematisiert. Oder denken wir an die
Degussa-Streitigkeiten der letzten Tage: Als Gemeinschaft will man nach 50
Jahren dem jetzigen Unternehmen weniger seine damalige Schuld anlasten als
vielmehr seine merkwürdigen Methoden im Umgang mit der Konkurrenz; leidvoll
betroffene Individuen sehen das ganz anders.
Auch ein hoch angesehener
Historiker wie Ulrich Wehler ändert seine Methode und wendet sich in Band 4
seiner deutschen Sozialgeschichte – 1914-49 – von der theoriegeleiteten
Strukturanalyse hin zur individual orientierten Kulturgeschichte.
Individualisierte
Geschichte beschert uns zudem unsägliche Biografien – Bohlen, Boris und wie
sie alle heißen schreiben in jungen Jahren ihre Memoiren – und verkaufen sie
in unglaublichen Auflagen. Analog überschwemmt den Architekturbuchmarkt eine
Welle von Monografien –
aber Bücher, die größere Zusammenhänge thematisieren, werden
rar.
Trotz allem: Der Wunsch,
sich des gemeinschaftlich Erlebten, im weitesten Sinne also der Geschichte,
als Teil menschlicher Identität zu versichern, schwindet nicht. Auf solche
Wünsche und Sehnsüchte reagieren die Medien selbstverständlich und gern.
Doch damit tritt gleich das
nächste Problem neben der Individualisierung auf:
-
Alle Kommunikationsmittel
haben sich in den letzten Jahren rasant verändert – ob Bild, Fernsehen oder
Internet . Guido Knopp avancierte zum Dieter Thomas Heck der
Volksgeschichte, Willy Brandt zum Fernsehfilmheld, Martin Luther zum
Kinohit. Angesehene Historiker wie Jörg Friedrich erreichen mit Bildbänden
die Schlagzeilen, wobei die Bildstrecken in der Aussage unscharf und damit
höchst umstritten sind. Es ist ja so: Zwei Bilder, zwei Leichen: das sind
zwei Opfer. Den Zusammenhang, den Hintergrund - also das Wissen darum,
welches Opfer auch Täter war, erklärt das Bild nicht.
Die Popularisierung von
Geschichte in den Medien ist zweischneidig: Sie bedient eine
massenorientierte Kultur und bietet damit die besten Voraussetzungen für die
Kommerzialisierung der Geschichte – via Einschaltquote oder Auflagenhöhe.
Interesse an Geschichte liegt als Trend im Zeitgeist – und der fragt nicht
nach Erlaubnis (wie es Benedikt Loderer formulierte).
Nun kommen wir auf die
Frage zurück, wie Architektur von diesem Zeitgeist umweht wird. Architektur
war eine originär darstellende Kunst, war, wie Bandmann und Warnke es
nannten, »Bedeutungsträger«, wobei unsicher ist, welche Bevölkerungsgruppen
die jeweiligen Botschaften auch erreicht haben.
Sicher ist allerdings, dass
jede Rekonstruktion Architektur als bereits positiv besetzten
Ausdrucksträger benutzt, als partielles Abbild die Geschichte jedoch eher
verschweigt als kommuniziert. Rekonstruktionen beziehen sich in der Regel
auf Fassaden, die sich bildhaft geben, im Fall der Kommandantur und anderer
Berliner Projekte auf jeden Fall. Rekonstruktionsbefürworter arbeiten
zusätzlich gern mit einem anderen Bildtypus, das einer populistischen
Kommunikationsstrategie entstammt: dem Feindbild. Im Fall der Berliner Mitte
heißen die Feindbild DDR und wie auch immer geartete »Moderne«. Zur
populistischen Strategie, mit der die Unbedarften überzeugt werden und die
gesamte Gesellschaft aufmerksam gemacht wird, gehört es, Fakten zu schaffen:
Nach der Schlossattrappe soll nun die Bauakademie als fliegender Bau gezeigt
werden – seht doch, es geht. Bitte nicht nachfragen, nur schauen. So
gesehen könnte man die Kommandantur als Attrappe sehen, die sich der Senat
von einem potenten Unternehmen in besonders solider Weise hat bauen lassen –
nein, das führt womöglich zu weit...
In sich verlogen sind die
gebauten Rekonstruktionsbilder nicht – nahezu alle Rekonstruktionen geben zu
erkennen, dass sie solche sind. Außerdem künden sie, und das sehr ehrlich,
vom Geschichtsverständnis des Bauherrn. Im Fall Bertelsmann darf man
vermuten, dass das Repräsentationsbedürfnis stärker war als der Wunsch,
einen zeitgemäßen Ausdruck für einen Debattenort für Zukunftsfragen zu
suchen. Auch ist Bertelsmann als Konzern so schnell gewachsen, dass eine
geschichtsverwurzelte eigene Identität schlichtweg auf der Strecke geblieben
sein mag. Wie also stellt man sich dar? Man greift auf ein senatsverordnetes
Versatzstück zurück, das »alt«, suggeriert, das »traditionell« suggeriert
und damit populäre Bedürfnisse bedient.
Nochmals: Rekonstruktion
sind nicht Kulisse, sind nicht verlogen. Im Berliner Beispiel stellen sich
Senat und Bertelsmann in Tateinheit so dar, wie sie gesehen werden wollen.
Um Schönheit geht es hier nicht, auch wenn in unsäglich dummer Diktion in
den populären Medien – leider auch in Kulturberichten – vom »neuen Glanz«
die Rede ist. Preußisch hohenzollernsche Baukunst suggeriert als Bild
Ordnung und Sicherheit – ideale Attribute einer
Gesellschaftsordnung, nach der allerorten gerufen wird. Die so manifestierte
Identität ist einem Teil unserer Gesellschaft offenbar lieb und wichtig –
doch klar ist: Hier wird Geschichte ideologisch aufs einfachste ausgebeutet.
Das Prinzip ist zudem bewährt: Steht irgendwo an der Bundesstraße ein Schild
»historische Altstadt«, wird dies als gutes Zeichen gewertet, zumindest darf
man ein ansprechend sortiertes gastronomisches Angebot vermuten und muss
nicht fürchten, mit etwas Neuem konfrontiert zu werden.
In Teilen der Gesellschaft
erleben wir durchaus restaurative Tendenzen, Versuche, – verzeihen Sie den
Ausdruck: zur spießigen Bürgerlichkeit jener Jahre zurückzukehren,
als der Muff von tausend Jahren noch unter den Talaren zu finden war. Aber
zum einen trifft die restaurative Ausrichtung wirklich nur auf einen Teil
der Gesellschaft zu, von dem wir hoffen, er möge klein sein. Zum andern kann
eine exportabhängige Gesellschaft sich Restauration in einer kritischen
Globalisierungsphase gar nicht leisten. Auch Historiker, die ihre
Wissenschaft als Beitrag zur Identitätsbildung begreifen und leisten, kommen
um ein globales Denken nicht herum. Das Schlimmste wäre, wenn sie sich auf
die nationale Geschichtsschreibung zurückzögen – das tun sie nicht.
Und Architekten?
In welchem Sinn gehören
Geschichtlichkeit, Geschichtsphilosophie und Geschichte noch zu unserer
Kultur? Und welche Rolle können sie in einer Baukultur spielen, in der man
nicht vergesslich ist, sich
aber in erster Linie um das Besondere der Gegenwart kümmern
muss? Eigentlich finde ich, dass man keine einzige Chance, für die Gegenwart
einen gesellschaftsverständlichen Ausdruck zu suchen und zu finden,
ungenutzt lassen sollte; auf diese Suche begibt sich ja niemand aus Jux und
Tollerei – sondern man möchte schließlich die eigene Gegenwart begreifen und
mitgestalten; dass darin immer ein Stück des Ichs und geschichtlicher
Identität steckt, wollen wir hoffen.
Denken wir zurück an das
narrative Moment der sich der Geschichtlichkeit noch nicht bewussten
Geschichtsvermittlung: Wo heute das entwicklungsorientierte
Geschichtsverständnis Hegels, das klassenkämpferische von Marx und auch das
lebenszeitbezogene Heideggers – bei allem Richtigen, was beobachtet wurde,
aufgegeben sind, ist Geschichte eine offene, eine endlos und nur im Diskurs
zu fassende Angelegenheit. Diese Wissenschaft muss und wird sich immer
wieder die Frage nach dem Zusammenhang von Zeit und Sinn stellen – mehr als
jede andere, weil sie existenziell für sich selbst ist. Das Narrative
erübrigt sich als Geschwätz ohne die Relation zu dieser Frage.
Architekturgeschichte ist
ein eminent materieller Teil einer sinngebundenen Geschichte – geschwätzige,
anödende, banale Beispiele hat sie wahrlich genug.
Nun weiß aber jedes Kind:
Geschichten dürfen nur in einer bestimmten Kindheitsphase mehrfach erzählt
werden – dann müssen sie es sogar; wer allerdings an Geschichten ein Leben
lang interessiert ist, will immer wieder neue, besser gesagt: andere lesen
wollen, um mehr über die Zeit, die Gesellschaft und nicht zuletzt: sich
selbst zu erfahren.
Eine erkleckliche Menge
junger Architekten, die wir gerade sich neu und anders organisieren sehen –
jene also, die weder auf BDA, BDB, Kammer noch sonstige Lobbyisten
vertrauen, gehen hurtig neue Wege, die weit über Architektur als
Bauaufgabenerfüllung und Formfindung hinausgehen. Doch das ist – wieder eine
andere Geschichte ...
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