8. Jg., Heft 2 (März  2004)    

 

___Ursula Baus
Stuttgart
  Zwei Aspekte des Umgangs mit Geschichte:
Kommerzialisierung und ideologische Ausbeutung

 

   

Ging es dem Abgeordneten Hohmann mit dem Wort »Tätervolk der Juden«, das er in seiner Ansprache im hessischen Ortsverein gebraucht hat, wohl um »historische Tatsachen«? Oder ging es ihm um ein politisches Argument? Diese Fragen stellte Ulrich Raulff, Feuilletonist der Süddeutschen Zeitung, Anfang November und deutete anschließend das Verhalten des Abgeordneten Hohmann als »Lust am bösen Wort«, mit der so mancher auf der rechten Seite unserer Gesellschaft immer wieder in die Falle tappe, die der Antisemitismus hierzulande auf nicht absehbare Zeit stelle.
»Historische Tatsachen« gibt es durchaus,
aber wie man mit ihnen umgeht – darin zeigt sich die kulturelle Dimension der Geschichte, das macht sie auch unentbehrlich für jene, die  sich fragen, warum einer mit Geschichte so und nicht anders umgeht. Willy Brandt fiel in Warschau auf die Knie – bis heute ist nicht klar, ob aus Kalkül oder im Affekt – jedenfalls schrieb er damit Geschichte. Helmut Kohl sprach, überrascht vom Fall der Mauer, ergriffen von einem »historischen Moment« – aber er war nur dabei, schrieb kaum selber Geschichte. Im symptomatischen Fall Hohmann sieht Ulrich Raulff übrigens ein Indiz mehr dafür, dass die konservative Rechte sich immer wieder auf Wählerstimmenfang wer weiß wohin begibt. Wählerstimmen in der Urne sind wie Geldscheine in der Lohntüte – Kommerzialisierung und ideologische Ausbeutung gehen meistens Hand in Hand. Noch und ein letztes Mal Raulff: »Heute ist der Antisemitismus eine Game Show für umtriebige Politiker, die sich für mutig halten und Dumme, ob Politiker oder General, finden, die ihnen Mut bescheinigen.«

Also Game Show. Mut wird in manchen Kreisen offenbar höher bewertet als Wissen. Dass Geschichte kommerzialisiert und ideologisch ausgebeutet wird, ist nun absolut nichts Neues, und Vertretern aller wirtschaftlichen, politischen – und publizistischen – Kreise gelingt es immer wieder, auf diese Weise Pfründe zu verteidigen und Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Aufmerksamkeit ist ein Schlüsselbegriff für den Erfolg im Medienzeitalter, den herbei zu führen viele Mittel recht sind.. Das wiederum ist in der Architektur nicht anders als in der Politik oder in der Wirtschaft. Diskretion hat kaum noch Konjunktur, es sei denn, sie dient der Verheimlichung handfester Straftaten.

Wie nun funktioniert der Umgang mit Geschichte in jener Sparte Baukultur, die sich explizit auf Geschichte beruft?  Als halbwegs konkreter Ansatzpunkt diene ein aktuelles Beispiel, das Sie alle kennen – weswegen wir keine Bilder brauchen. Es steht nicht pars pro toto, denn kein Fall gleicht dem anderen, die Frauenkirche nicht dem Cosel-Palais, die Bauakademie nicht dem Adlon. Aber das aktuelle Beispiel verdeutlicht doch hinreichend eine Problematik, die uns beschäftigen muss.

Auf die »Lager« in der deutschen  Presse können wir uns im allgemeinen,
aber hier im besonderen verlassen: Als »Kulissenzauber« kanzelte die taz den Bau ab, »hübsch verlogen« fand die Berliner Zeitung, »Es geht doch« titelte süffisant die »Welt«. Schon wissen Sie, worum es geht: Gemeint ist das erste in Berlins prominenter, noch zu glanzloser Mitte (teil)rekonstruierte Haus preußischen Zuschnitts: die Berliner Kommandantur, die sich der große Bertelsmann-Konzern als funktional bereits jetzt zu  kleines Jäckchen für seine öffentlichkeitswirksamen Anlässe schneidern ließ. In handwerklicher Tradition gemauerte Fassaden mit rustizierendem Putz und kleinteiligen Fenstern wählte Bertelsmann nicht aus freiem Willen, sondern nahm sie im wahrsten Sinne des Wortes in Kauf: Einem Senatsbeschluss folgend war die Rekonstruktion von drei Fassaden – zur Seite Unter den Linden und rechts und links davon – im Grundstückskaufvertrag festgeschrieben. Leider fanden sich keine Pläne der 1653 gebauten, 1873/74 im Neorenaissance-Stil veränderten Kommandantur mehr, die »originalgetreue Rekonstruktion« beruft sich einzig und allein auf Fotografien eines Gebäudes, das auch die Verehrer alter Baustile als »wenig nobel« (Siedler) und ausgesprochen medioker ansehen. Einen Grundriss, der über das räumliche Gefüge, das eigentlich Architektonische Auskunft geben könnte, gibt es nicht mehr, das macht aber nichts, denn um die architektonische Qualität geht es gar nicht. In älteren Architekturführern ist die Kommandantur nicht vertreten.
Tatsächlich ist der Bau sehr breit und sehr flach; zu breit, zu flach. Die Steinadler auf dem flachen Dach flattern wie voll gefutterte Geier nach allen Seiten – rückwärtig übrigens ohne Gefieder gemeißelt, was bei den jetzigen Dachpartys für einige Heiterkeit sorgt.
Die Fassade artikuliert – und das gilt es anzuerkennen –
aber durchaus, was sie einstmals beherbergte: Amtsstuben im militärisch  dominierten Preußen, in dem auch der Grundstein für die legendäre deutsche Bürokratie gelegt wurde. Die Berliner Architekten Stuhlemmer und Stuhlemmer rekonstruierten die Fassaden, hinter denen der Architekt Thomas van den Valentyn – ein Rheinländer – nach einem Wettbewerbsverfahren ein krasses Kontrastprogramm schuf: Aber nur an der Rückseite durfte er stadträumlich zu erkennen geben, dass das Raumprogramm einer Medienkonzernrepräsentanz heute anderer Räume bedarf als der einstigen Amtsstuben des Militärs. Hier auf der Rückseite liegt die Bühne Bertelsmanns hinter einer Glasfassade, hier darf man zeigen, dass Öffentlichkeit Sinn und Zweck des Hauses überhaupt ist – welches, so Vorstandschef Gunther Thielen, »Ort des Dialogs (werden möge), an dem aktuelle Themen und Zukunftsfragen der Gesellschaft« diskutiert werden sollen.

Warum, so drängt sich die Frage auf, nahm man jedoch an allen andern Seiten das wilhelminische, nicht einmal ansehnliche Zwangsjäckchen in Kauf? Es gab ja nichts umzubauen, zu planen war ein Neubau an der Stelle des ehemaligen Außenministeriums der DDR. Es geht im folgenden nicht um die ästhetische Qualität des Hauses, sondern um das Geschichtsverständnis seiner Bauherrschaften, die es offenbart.

Wenn man dieses Geschichtsverständnis erklären möchte, muss man daran denken, dass die Kommandantur nicht als Solitär rekonstruiert wurde, sondern als Vorhut der Rekonstruktion des ganzen Kerns der preußischen Hauptstadtmitte. In der Bertelsmann-Sprache heißt das, man »wolle ein Stück Geschichte in die Stadt« zurückbringen. Und man kann, ohne ein Schelm zu sein und Böses dabei zu denken, ergänzen: Um den Weg für Bauakademie und Schloss frei zu machen. Gelegentlich wird begründet, es ginge ja um die »deutsche Identität«. In einer solchen Begründung werden Geschichtskategorien genau so heillos durcheinander geschmissen wie in den Äußerungen des Abgeordneten Hohmann oder in den Opferbildbänden Jörg Friedrichs oder im geplanten deutschen Zentrum gegen Vertreibungen in Polen, über das sich jüngst Dieter Bartetzko in der FAZ (30.9.03) erheblich echauffierte.
Ebenso erstaunlich sind Hinweise darauf, dass ja in China viel lockerer mit der Geschichte umgegangen werde als hier; stimmt schon,  Chinesen reisen durch Paris, London, Rom und offenbar auch durch deutsche Städte, um ganze Quartiere eins zu eins in China nachzubauen. In Moskau lautet die Maxime, Vorwärts, wir müssen zurück, was in der Praxis dann »Rekonstruktion durch Abriss« heißt, und den Stil der Stalinzeit zur Silikonblüte treibt; Michail Rossochin ist legendär für seine diesbezügliche Radikalität.
Aber, und darin liegt die Problematik der Instrumentalisierung der Geschichte hierzulande: Wir sind weder in China, noch in Moskau.

Es lohnt sich, die Genese unseres
abendländischen Geschichtsbegriffs in ein offenbar löchrig gewordenes, öffentliches Gedächtnis zu rufen – auch auf die Gefahr hin, Sie zu langweilen. Er hat zwei Wurzeln: Die aristotelische beginnt in der historie als Erkundung, als Darstellung des Einzelnen und Besonderen – und grenzt sie klar gegen die poesie als Darstellung des Allgemeinen ab. In dieser Begrifflichkeit ist Geschichte (historie) eine Tatsachendarstellung und keine Tatsachenbegründung. Additiv folgt eine Geschichte der anderen, während im lateinischen historia bereits die Zusammenhänge, die zeitbezogenen Deutungen der Geschichten deutlich erkennbar werden. Im Mittelalter rückt in den Vordergrund, wie die göttliche Vorsehung sich in geschichtlichen Zusammenhängen  manifestiert – und schon hier lenkt der Glaube an die Vorsehung den Blick auf die ereigneten »Tatsachen« – wird Geschichte also im weitesten Sinne für Glaubenszwecke ausgebeutet. Geschichten werden als Teile eines Heilsweges erzählt, »narratio« ist eine moral- und ethikgetränkte Gattung, die man in Einzelfällen literarisch geglückt nennen kann.

Das neuzeitliche Geschichtsverständnis knüpft an das aristotelische an und unterscheidet immerhin christlichen Dogmatismus von einer historischen Wahrheit.
Moderne Geschichtsschreibung, deren Beginn am geistig so fruchtbaren Ende des achtzehnten Jahrhunderts gesehen wird, zeichnet sich durch zwei wesentliche Schritte aus:

  1. Durch die Bildung des Kollektivsingulars, in dem aus Geschichten dank abstrakter Zusammenhänge die Geschichte wird und die Geschichten eine eigene geschichtliche Zeit zugewiesen bekommen.
  2. Zum zweiten wird Geschichte, also der Kollektivsingular in Sachverhalt, Darstellung und wissenschaftliche Deutung gegliedert.

Eine Wissenschaft im engeren Sinne, die sich mit Fragen der Methoden, Institutionen, Forschung und Lehre auseinander setzt, wird Geschichte erst im 19. Jahrhundert. Leopold von Ranke ist die Erkenntnis zu verdanken, dass nach einer Einfühlung in die interessierende Vergangenheit gesucht werden muss und der einschränkende Blickwinkel der betrachtenden Gegenwart erkannt sein will. Max Webers Weg, empirische Kulturwissenschaften – dazu zählt auch die Geschichtswissenschaft – wertungsfrei zu betreiben und die weltanschauliche Bewertung außerwissenschaftlichen Bereichen zu überlassen, setzt neue Maßstäbe in der gesamten Wissenschaftstheorie – bis heute.

Parallel zum neuzeitlichen Geschichtsverständnis entwickelt sich die jederzeit erinnernswerte Geschichtsphilosophie. Kant glaubte noch einen Fortschritt im Dasein auf dem Weg von der Barbarei zur Zivilisation zu erkennen. Herder beobachtete moderater, wie sich Humanität organisch entfaltet und Traditionsbewahrung einen Beitrag dazu leistet – und nicht mehr.
Geschichtlichkeit als Begriff für zeitbedingtes Denken und Handeln erscheint erstmals bei Hegel, und in dem Moment, in dem philosophisches Gedankengut als geschichtlich bedingt anerkannt wird – etwa auch bei Dilthey und Yorck von Wartenburg – avanciert sie, die Geschichtlichkeit, zu einem philosophischen Zentralbegriff.
Fichte, Hegel und schließlich auch Karl Marx sehen in der Geschichte ein Fortschrittsmoment, welches Hegel noch auf dem dialektischen Weg der Selbstverwirklichung des Geistes zu vollkommener Freiheit glaubte, während Karl Marx die  wirklichen Individuen den Klassenkampf austragen sah.

Erst Ende des 19. Jahrhunderts Jahrhundert wird das Fortschrittsprinzip in der Geschichtsphilosophie preisgegeben, setzt sich die Erkenntnis durch, dass das Ende der Geschichte nicht eine Folge ihres Anfangs ist und von einer Handlungsrationalität in der Menschheitsgeschichte weit und breit keine Spur mehr ist. Nietzsche zertrümmert den Kollektivsingular Geschichte.

Geschichtlichkeit wird als philosophisches Problem nun von Jaspers und Heidegger als lebensbedingt definiert, das heißt, existenzial aus der zeitliche Erfahrung zwischen Leben und Tod heraus erklärt. Das Denkprinzip der Geschichte wird damit umgekehrt: Vergangenheit ist stets Konstruktion, ja; doch statt Menschen einer Vergangenheit zuzuschreiben, wird fürder die Vergangenheit einem Menschen zugeschrieben.

Der Zusammenhang von Zeit und Sinn bleibt bis in die Gegenwart ein zentrales Thema der Geschichtsphilosophie. Gesucht werden Methoden, die weder auf einfühlsamen Einfällen, noch auf metaphysischen Spekulationen basieren.
Die Architekturgeschichtsschreibung weiß um diese Schwierigkeiten: Das Max-Planck-Institut für Kunstgeschichte in Rom und das Institut für Wissenschaftsgeschichte Berlin haben sich eine »Wissensgeschichte der Architektur« vorgenommen, die allerdings erst einmal die konkreten Lücken in dieser Disziplin zu schließen sucht.

Historiker der Gegenwart haben vor allem mit zwei Problemen zu kämpfen:
 

  1. Im Anschluss an Heidegger und auch als Reaktion auf die veränderten Gesellschaftsstrukturen muss akzeptiert werden, dass die Erinnerung als Zeiterfahrung immer mehr individualisiert ist. Reinhart Koselleck erkannte außerdem, dass die reale Beschleunigung des Weltgeschehens von den meisten Menschen als eine akute Bedrohung ihrer Identität empfunden wird. Für eine entsolidarisierte Gesellschaft müssen mit Hilfe der Geschichte neue kollektive  Gedächtnismodelle entwickelt werden – wie schwer das ist, zeigen Mahnmaldiskussionen nur zu gut. Es muss uns klar sein, dass die als Geschichtswissen erlernte Vergangenheit keineswegs als die eigene erlebt wird.
    Historiker stecken nun in dem Dilemma, dass sie sich auf die Individualisierung der Erinnerung einlassen müssen – sonst erreichen sie mit ihrem Wissen niemanden mehr. Denken wir an Walsers Roman »Der Springende Brunnen«: Er erzählt im Roman seine Geschichte als Knabe am Bodensee zur Zeit des Nationalsozialismus – sie ist eine literarische Angelegenheit, wurde aber – verquickt mit Walsers Rede in Frankfurt – sofort ob ihres Bestands vor der Geschichtswissenschaft hin thematisiert. Oder denken wir an die Degussa-Streitigkeiten der letzten Tage: Als Gemeinschaft will man nach 50 Jahren dem jetzigen Unternehmen weniger seine damalige Schuld anlasten als vielmehr seine merkwürdigen Methoden im Umgang mit der Konkurrenz; leidvoll betroffene Individuen sehen das ganz anders.
    Auch ein hoch angesehener Historiker wie Ulrich Wehler ändert seine Methode und wendet sich in Band 4 seiner  deutschen Sozialgeschichte – 1914-49 – von der theoriegeleiteten Strukturanalyse hin zur individual orientierten Kulturgeschichte.
    Individualisierte Geschichte beschert uns zudem unsägliche Biografien – Bohlen, Boris und wie sie alle heißen schreiben in jungen Jahren ihre Memoiren – und verkaufen sie in unglaublichen Auflagen. Analog überschwemmt den Architekturbuchmarkt eine Welle von Monografien –
    aber Bücher, die größere Zusammenhänge thematisieren, werden rar.
    Trotz allem: Der Wunsch, sich des gemeinschaftlich Erlebten, im weitesten Sinne also der Geschichte, als Teil menschlicher Identität zu versichern, schwindet nicht. Auf solche Wünsche und Sehnsüchte reagieren die Medien selbstverständlich und gern.


Doch damit tritt gleich das nächste Problem neben der Individualisierung auf:

  1. Alle Kommunikationsmittel haben sich in den letzten Jahren rasant verändert – ob Bild, Fernsehen oder Internet . Guido Knopp avancierte zum Dieter Thomas Heck der Volksgeschichte, Willy Brandt zum Fernsehfilmheld, Martin Luther zum Kinohit. Angesehene Historiker wie Jörg Friedrich erreichen mit Bildbänden die Schlagzeilen, wobei die Bildstrecken in der Aussage unscharf und damit höchst umstritten sind. Es ist ja so: Zwei Bilder, zwei Leichen: das sind zwei Opfer. Den Zusammenhang, den Hintergrund - also das Wissen darum, welches Opfer auch Täter war, erklärt das Bild nicht.
    Die Popularisierung von Geschichte in den Medien ist zweischneidig: Sie bedient eine massenorientierte Kultur und bietet damit die besten Voraussetzungen für die Kommerzialisierung der Geschichte – via Einschaltquote oder Auflagenhöhe. Interesse an Geschichte liegt als Trend im Zeitgeist – und der fragt nicht nach Erlaubnis (wie es Benedikt Loderer formulierte).

Nun kommen wir auf die Frage zurück, wie Architektur von diesem Zeitgeist umweht wird. Architektur war eine originär darstellende Kunst, war, wie Bandmann und Warnke es nannten, »Bedeutungsträger«, wobei unsicher ist, welche Bevölkerungsgruppen die jeweiligen Botschaften auch erreicht haben.
Sicher ist allerdings, dass jede Rekonstruktion Architektur als bereits positiv besetzten Ausdrucksträger benutzt, als partielles Abbild die Geschichte jedoch eher verschweigt als kommuniziert. Rekonstruktionen beziehen sich in der Regel auf Fassaden, die sich bildhaft geben, im Fall der Kommandantur und anderer Berliner Projekte auf jeden Fall. Rekonstruktionsbefürworter arbeiten zusätzlich gern mit einem anderen Bildtypus, das einer populistischen Kommunikationsstrategie entstammt: dem Feindbild. Im Fall der Berliner Mitte heißen die Feindbild DDR und wie auch immer geartete »Moderne«. Zur populistischen Strategie, mit der die Unbedarften überzeugt werden und die gesamte Gesellschaft aufmerksam gemacht wird, gehört es, Fakten zu schaffen: Nach der Schlossattrappe soll nun die Bauakademie als fliegender Bau gezeigt werden – seht doch, es geht. Bitte nicht nachfragen, nur schauen.  So gesehen könnte man die Kommandantur als Attrappe sehen, die sich der Senat von einem potenten Unternehmen in besonders solider Weise hat bauen lassen – nein, das führt womöglich zu weit...

In sich verlogen sind die gebauten Rekonstruktionsbilder nicht – nahezu alle Rekonstruktionen geben zu erkennen, dass sie solche sind. Außerdem künden sie, und das sehr ehrlich, vom Geschichtsverständnis des Bauherrn. Im Fall Bertelsmann darf man vermuten, dass das Repräsentationsbedürfnis stärker war  als der Wunsch, einen zeitgemäßen Ausdruck für einen Debattenort für Zukunftsfragen zu suchen. Auch ist Bertelsmann als Konzern so schnell gewachsen, dass eine geschichtsverwurzelte eigene Identität schlichtweg auf der Strecke geblieben sein mag. Wie also stellt man sich dar? Man greift auf ein senatsverordnetes Versatzstück zurück, das »alt«, suggeriert, das »traditionell« suggeriert und damit populäre Bedürfnisse bedient.

Nochmals: Rekonstruktion sind nicht Kulisse, sind nicht verlogen. Im Berliner Beispiel stellen sich Senat und Bertelsmann in Tateinheit so dar, wie sie gesehen werden wollen. Um Schönheit geht es hier nicht, auch wenn in unsäglich dummer Diktion in den populären Medien – leider auch in Kulturberichten – vom »neuen Glanz« die Rede ist. Preußisch hohenzollernsche Baukunst suggeriert als Bild Ordnung und Sicherheit – ideale Attribute einer Gesellschaftsordnung, nach der allerorten gerufen wird. Die so manifestierte Identität ist einem Teil unserer Gesellschaft offenbar lieb und wichtig – doch klar ist: Hier wird Geschichte ideologisch aufs einfachste ausgebeutet. Das Prinzip ist zudem bewährt: Steht irgendwo an der Bundesstraße ein Schild »historische Altstadt«, wird dies als gutes Zeichen gewertet, zumindest darf man ein ansprechend sortiertes gastronomisches Angebot vermuten und muss nicht fürchten, mit etwas Neuem konfrontiert zu werden.

In Teilen der Gesellschaft erleben wir durchaus restaurative Tendenzen, Versuche, – verzeihen Sie den Ausdruck: zur spießigen Bürgerlichkeit jener Jahre zurückzukehren, als der Muff von tausend Jahren noch unter den Talaren zu finden war. Aber zum einen trifft die restaurative Ausrichtung wirklich nur auf einen Teil der Gesellschaft zu, von dem wir hoffen, er möge klein sein. Zum andern kann eine exportabhängige Gesellschaft sich Restauration in einer kritischen Globalisierungsphase gar nicht leisten. Auch Historiker, die ihre Wissenschaft als Beitrag zur Identitätsbildung begreifen und leisten, kommen um ein globales Denken nicht herum. Das Schlimmste wäre, wenn sie sich auf die nationale Geschichtsschreibung zurückzögen – das tun sie nicht.

Und Architekten?
In welchem Sinn gehören Geschichtlichkeit, Geschichtsphilosophie und Geschichte noch zu unserer Kultur? Und welche Rolle können sie in einer Baukultur spielen, in der man nicht vergesslich ist, sich
aber in erster Linie um das Besondere der Gegenwart kümmern muss? Eigentlich finde ich, dass man keine einzige Chance, für die Gegenwart einen gesellschaftsverständlichen Ausdruck zu suchen und zu finden, ungenutzt lassen sollte; auf diese Suche begibt sich ja niemand aus Jux und Tollerei – sondern man möchte schließlich die eigene Gegenwart begreifen und mitgestalten; dass darin immer ein Stück des Ichs und geschichtlicher Identität steckt, wollen wir hoffen.
Denken wir zurück an das narrative Moment der sich der Geschichtlichkeit noch nicht bewussten Geschichtsvermittlung: Wo heute das entwicklungsorientierte Geschichtsverständnis Hegels, das klassenkämpferische von Marx und auch das lebenszeitbezogene Heideggers – bei allem Richtigen, was beobachtet wurde, aufgegeben sind, ist Geschichte eine offene, eine endlos und nur im Diskurs zu fassende  Angelegenheit. Diese Wissenschaft muss und wird sich immer wieder die Frage nach dem Zusammenhang von Zeit und Sinn stellen – mehr als jede andere, weil sie existenziell für sich selbst ist. Das Narrative erübrigt sich als Geschwätz ohne die Relation zu dieser Frage.
Architekturgeschichte ist ein eminent materieller Teil einer sinngebundenen Geschichte – geschwätzige, anödende, banale Beispiele hat sie wahrlich genug.
Nun weiß aber jedes Kind: Geschichten dürfen nur in einer bestimmten Kindheitsphase mehrfach erzählt werden – dann müssen sie es sogar; wer allerdings an Geschichten ein Leben lang interessiert ist, will immer wieder neue, besser gesagt: andere lesen wollen, um mehr über die Zeit, die Gesellschaft und nicht zuletzt: sich selbst zu erfahren.
Eine erkleckliche Menge junger Architekten, die wir gerade sich neu und anders organisieren sehen – jene also, die weder auf BDA, BDB, Kammer noch sonstige Lobbyisten vertrauen, gehen hurtig neue Wege, die weit über Architektur als Bauaufgabenerfüllung und Formfindung hinausgehen. Doch das ist – wieder eine andere Geschichte ...
 


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