Der öffentliche Raum
in Zeiten der Schrumpfung

8. Jg., Heft 1 (September 2003)    

 

___Gereon Sievernich
Berlin
  Von Straßen und Plätzen

 

Sie mich mit einem Zitat beginnen: "Leider ändert sich die Form einer Stadt schneller als das Herz eines Sterblichen", so Baudelaire. Ob dies angesichts der gravierenden und drängenden gegenwärtigen Probleme des Stadtumbaus Trost spendet, sei dahin gestellt. Nicht als Stadtplaner, sondern als Kulturhistoriker will ich auf einige jener Elemente städtischen Lebens aufmerksam machen, die eher den immateriellen Eigenschaften einer Stadt zuzuschreiben sind. Denn Geist und Seele einer jeden Stadt tragen zur deren Identitätsstiftung bei.

Über Paris gerät Montaigne ins Schwärmen: "Es besaß mein Herz, seit ich ein Kind war, und gleichwie bei anderen guten Dingen war es hier: je mehr schöne Sachen ich sah, umso mehr wusste ich seine Schönheit zu schätzen [...] ich liebe es zärtlich, seine Auswüchse und alles. Ich bin nur Franzose dank dieser großen Stadt: groß in ihrer Bevölkerung, groß in der Schönheit ihrer Lage, vor allem aber unvergleichlich groß, weil so viele Freuden des Lebens hier zu finden sind".

Es ist eine der seltsamen Erscheinung auf dem aktuellen deutschen Buchmarkt, dass es kaum eine Publikation gibt, die sich mit Plätzen und Straßen befasst. Befragt man das chaotisch-universelle google, so finden sich unter dem Begriff "Platz" nur wenige relevante Treffer. Befragt man das Verzeichnis lieferbarer Bücher, so befassen sich von den wenigen aufzufindenden Titeln wiederum die meisten mit Berlin. Zu Potsdamer Platz, Pariser Platz oder Gendarmenmarkt finden sich Titel, ganz so, als gebe es außerhalb Berlins keine beschreibenswerten Plätze. Titel aber zum politisch hoch aufgeladenen Alexanderplatz (im Osten) und zur verkehrstechnischen Dominante Ernst-Reuter-Platz (im Westen) finden sich erst gar nicht. Und der Lehniner Platz findet - mit Recht - nur Erwähnung, weil sich dort ein Theater befindet.

Eine Ausnahme bildet der Band "Plätze der Gegenwart" von Paolo Favole, der sowohl einige der interessantesten neueren wie auch der kuriosesten Platzgestaltungen der Gegenwart wiedergibt. Etwa Arata Isozakis Platz in Mito, nördlich von Tokyo gelegen, der mit einer "Villa Rotonda" und einem der Pflasterung des römischen Campidoglio des Michelangelo entsprechenden Bodenbelag ausgestattet ist. Das Beispiel des Vorplatzes von Notre Dame de la Paix in Yamasoukro in Westafrika möchte ich nur vorsichtig erwähnen.

Erlauben Sie in diesem Zusammenhang eine kämpferische, also polemische Zwischenbemerkung: das Theater ist eine der bedeutendsten städtischen Erfindungen. Ich erwähne es, weil es eben diesem Inbegriff städtischen Lebens - oft an schönen Plätzen gelegen - überall in Deutschland an den Kragen gehen soll und Sie hier in Cottbus ein besonders schönes Theater haben, das zudem, erbaut zu Beginn des 19. Jahrhunderts, stadtbürgerlichem Mäzenatentum zu verdanken ist. Die Kommunen - Sie können dazu zahlreiche Dokumente des Deutschen Städtetages konsultieren - sehen Kultur nicht als Pflichtaufgabe. Das hört sich harmlos an, aber diese Auffassung hat gravierende Folgen: Die Kommunen wollen sich in Zukunft eben nur noch mit Pflichtaufgaben befassen. Die jetzige Diskussion um die Zukunft der Stadttheater ist erst der Anfang: wenn die schale Gedankenwelt der Unternehmensberater weiter Einfluss gewinnt, dann werden die immateriellen Güter der Kommunen, wie sie schon immer auf den Bühnen oder auch in den Konzertsälen von den Bürgern der Stadt erfahren werden konnten, den kommenden Generationen nicht einmal mehr dem Namen nach bekannt sein. Muss da nicht ein Aufschrei durch jede Stadt gehen ob solch törichter Entwicklungen. Wie will man die Bewohner einer Stadt an eben dieselbe binden, wenn man ihnen wesentliche Elemente städtischer Identität nimmt. Ist die Ursache für das Schrumpfen einer Stadt nur im Ökonomischen zu suchen? Muss der Katalog der Gegenmaßnahmen nicht auch deutlicher als bisher ein kulturelles Feld umfassen?

"Es sind die Männer, die die Stadt ausmachen", heißt es bei Thukydides - ich bitte zu entschuldigen, dass der antike Autor dies so einseitig sieht. "Eine Stadt ist nicht nur aus Steinen gebaut", so paraphrasiert Daniel Libeskind Augustinus. Und Le Corbusier definiert als eine der vier Funktionen der Stadt die "Kultivierung von Geist und Körper". Insofern gilt: Alles, was im historischen und kulturellen Bereich an Ansatzpunkten gefunden werden kann, um die Identifizierung der Bewohner mit ihrer Stadt zu stärken, könnte und sollte Gegenstand intensiver Beratung sein.

Zurück zum Thema des Vortrages: Camillo Sitte meinte bereits 1889: "Beim modernen Stadtbau kehrt sich das Verhältnis gerade um. Früher war der leere Raum (Straßen und Plätze) ein geschlossenes Ganzes von auf Wirkung berechneter Form; heute werden die Bauparcellen als regelmäßig geschlossene Figuren ausgetheilt, was dazwischen übrig bleibt, ist Straße oder Platz". Vielleicht ist es deshalb nicht verwunderlich, wenn Bernard Rudofsky, der Schelm unter den Architekturhistorikern, 80 Jahre später in seinem immer noch höchst lesenswerten "Streets for people" - es erschien erst 1995 in einer deutschen Übersetzung im Residenz Verlag und ist seit langem vergriffen - klagt, er habe unter den damals 15 Millionen Titeln der Library of Congress nicht eines über Straßen und Plätze gefunden.

Wie ist das zu erklären, ist doch der Platz in der Stadtgeschichte der Menschheit höchster Ausdruck des öffentlichen Lebens? Gewinnen jene virtuellen Plätze immer mehr Einfluss, wie sie durch talkshows für Millionen gleichzeitig erzeugt werden? Kann der reale öffentliche Raum, wie er sich in der Form von Straßen und Plätzen und öffentlichen Gebäuden manifestiert, mit der Macht des virtuellen Raumes Fernsehen noch Schritt halten?

Stehen wir nicht vor einem gravierenden Bedeutungsrückgang all jener Orte, an denen sich Bürgersinn und städtisches Denken in steinerner und szenischer Form ausdrücken? Vielleicht ist zu sehr in Vergessenheit geraten, dass eine Straße, ein Platz nicht nur eine Fläche, eine Verkehrsfläche ist, sondern ein Raum. "Die perfekte Straße ist ein harmonischer Raum", so Bernard Rudofsky, für den die alten Straßen und Plätze Italiens wie in einem Brennglas das Denken über jene von Menschen erfundene Kommunikationsform aufzeigen.

Es hat den Anschein, als sei die Antike kaum mehr von Einfluss auf unser aktuelles städtische Leben: Jedoch, es sind in Ausformung und Philosophie der Stadt noch heute Elemente antiker Gedankenwelten zu finden. Ich spreche hier weniger von der bekannten Tatsache, dass man unter dem heutigen Köln oder Mainz oder Rom die jeweils antiken Reste der römischen Stadt findet. Auch muss man nicht weiter vertiefen, dass viele neue Plätze oder Einkaufspassagen jetzt Forum genannt werden. Aber es dient der Selbstvergewisserung, wenn wir uns damit befassen, wie sehr unser heutiger demokratischer Staat sich am städtischen Modell der Antike und dann des Mittelalters orientierte. Der Philologe Kurt von Fritz meinte 1976 in seinen "Schriften zur griechischen und römischen Verfassungstheorie": "Die politischen Institutionen in der Welt der Antike zwischen dem 6. Jahrhundert vor und dem 3. Jahrhundert nach Christus haben mit den heutigen viel größere Ähnlichkeit als die Verhältnisse in allen anderen historischen Epochen vom frühen Mittelalter bis zum dritten Viertel des 18. Jahrhunderts". In unseren Begriffen Zivilisation, civil society oder citoyen und im englisch-amerikanischen citizenry ist die Herleitung vom römischen civitas (griechisch polis) noch immer nachvollziehbar.

Nun darf man nicht verschweigen, das es eine Gleichheit aller Menschen in der antiken Polis nicht gegeben hat, nur eine Gleichheit der Stimmbürger. Immerhin hat Aristoteles sich in seiner Schrift "Politik" dafür eingesetzt, dass auch Handwerker und Tagelöhner zu den Stimmberechtigten zählten. Und das Prinzip "im Wechsel regieren und sich regieren lassen" ist seine Erfindung. Regiert wurde wiederum mit Hilfe eines Rates und einer Volksversammlung (ekklesia im Griechischen). Für den Rat benötigte man ein Rathaus - auf dem römischen Forum kann man heute noch die Curie sehen, mit ihrer Pforte dem Forum zugewandt, damit es kein Geheimnis sei, wer sich dort versammelt -, für die Versammlung aller Stimmbürger einen Platz.

Aber erst das "all men are created equal" der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung von 1776 schreibt das Drehbuch für die folgenden Epochen, die von der Durchsetzung dieses Ideals bestimmt sind. Auch in den Vereinigten Staaten von Amerika dauerte es jedoch lange, bis die Regel "one man, one vote" durchgesetzt war. Und mit Blick auf die Welt von heute kann man sagen, dieser Weg ist noch nicht zu Ende.

Dolf Sternberger sagte 1973 in einer Rede, die er aus Anlaß des 150. Geburtstages des dortigen Bremer Kunstvereins hielt - der übrigens noch heute Träger der dortigen Kunsthalle ist und den Bürgersinn der Stadt beweist -, der heutige demokratische Staat sei hervorgegangen aus  der  demokratischen Stadt der Antike und des Mittelalters. Ein besonders schönes Beispiel für diese Erinnerungen an antike Gedankenwelten biete noch heute die Stadt Bremen, in deren Verfassung es heiße, der bremische Staat führe den Namen "Freie Hansestadt Bremen" und an den Eingangstüren zum Rathaus finde sich die Inschrift "SPQB - Senatus Populus que Bremensis".

Zwischen Aristoteles und der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung vergingen einige Jahrhunderte. Es fasziniert, wie dann im 13. Jahrhundert die Schriften des Aristoteles erneut rezipiert werden - in Italien, in Europa, übersetzt aus dem Arabischen.

Versammlungsplatz, Rathaus, Gericht sollten die Elemente sein, die das Streben zum Beispiel der italienischen Städte - und nicht nur dort - nach Freiheit ab dem 11. Jahrhundert bestimmten.

"Stadtluft macht frei", so hieß es im Mittelalter, weil der Leibeigene städtische Freiheiten gewann, sobald er in die Stadt zog und Bürgerrechte erhielt. Bürger: das Wort ist abgeleitet von der Burg, die ein umwallter Bezirk war. Auch "Bourgeoisie" ist davon abgeleitet. In unseren Worten borgen und sich bergen ist diese Herkunft ebenfalls erkennbar. Die Stadt war also eine Bürger-Iniative.

Eine der ältesten mittelalterlichen Urkunden städtischer Freiheit ist uns aus Lucca 1081 überliefert: Heinrich IV. musste zusagen, in der Stadt keinen Palast zu errichten und im Umkreis von 10 Kilometern keine Festung. "Stadt heisst Freiheit der Bürger", meinte schon 1240 der Bürgermeister von Florenz Johannes von Viterbo. "Déclaration de Droits de l´Homme et du Citoyen – Erklärung der Rechte der Menschen und der Bürger", heißt es 1789 in Paris. Und für den Aufklärer Kant war eindeutig: "Derjenige, welcher das Stimmrecht in der Gesetzgebung hat, heißt Bürger, Citoyen, Staatsbürger, nicht Stadtbürger, Bourgeois". Dolf Sternberger, der den "Verfassungspatriotismus" als Form deutscher Identität empfahl, vermutet hier die Quelle für den Begriff Staatsbürger.

Wohl schon im 11. Jahrhundert gab es Städte in Italien, die von zwei Konsuln und einer Vollversammlung der Bürger regiert wurden. Und der öffentliche Platz war der Ort dieser Vollversammlung. Wir kennen die Vollversammlung der Bürger noch heute - in der Schweiz. Investitionen zum Beispiel der Stadt Zürich, die den Betrag von 2 Mio. Schweizer Franken übersteigen, müssen der Vollversammlung des Stadt-Volkes zur Entscheidung vorgelegt werden.

Mit dem Wachstum der Städte entwickelte man neue Formen der Repräsentation, den Großen Rat. Der Rat traf sich in Kirchen oder mietete Paläste. Mit der Zeit wuchs das Bedürfnis, einen repräsentativen Sitz für den Rat zu errichten. Ende des 12. Jahrhunderts entstehen die ersten Rathäuser. Mal entsteht der Hauptplatz auf dem antiken Forum der Stadt, mal wird der Platz vor der Kathedrale erweitert, mal kreiert der Bürgersinn durch Ankauf einen neuen Platz - nur für Rathaus und Gericht, entfernt jedenfalls von der Kathedrale. Ähnliches lässt sich von Berlin für das 19. Jahrhundert sagen: das heutige Rote Rathaus, errichtet von den 1848ern, hat zwar Blickachsenkontakt zu Schloss und Dom, wurde jedoch weit entfernt von denselben errichtet - als Ausdruck eines nach Unabhängigkeit drängenden Bürgergeistes.

Am Beispiel eines weltberühmten Platzes möchte ich erläutern, welche Bedeutung Platz und Rathaus in der italienischen Stadt der Renaissance habe sollten. Wie Mailand, Florenz und Padua wollte auch Siena ein zweites Rom sein. Siena leitet sich von Senius, dem Namen eines der beiden Söhne des Remus ab. Die beiden seien vor Romulus, der ihren Vater getötet habe, in die Toskana geflohen. So ist die Wölfin auch Wahrzeichen Sienas. Diese Legende fand insbesondere in jener Zeit des 13. Jahrhunderts Verbreitung, in der Siena erstarkte und einflussreich wurde. Sie finden hier den Topos "Invention of traditions" im Sinne von Eric Hobsbawm.

Bereits um 1150 begann die Arbeit am Piazza del Campo, indem man zwei Plätze zusammenlegte. Es handelt sich also keineswegs um einen quasi natürlich vorhandenen Platz, vielmehr um ein intensives Streben der Sieneser, sich durch Zukäufe und Abrisse einen ihnen angemessen erscheinenden Versammlungsplatz zu schaffen. Etwa hundert Jahre baute man daran. Es gibt verschiedene Interpretationen der heute noch erkennbaren Erscheinungsform des Platzes. Einige sagen, er sei einem antiken Theater nachempfunden, der Besucher Montaigne sah einen Kreis. Das Muschelförmige des Platzes, das auch durch die 1343 fertiggestellte Pflasterung noch unterstrichen wurde, lässt einige Autoren schließen, es sei eine Annäherung an jenen Mantel intendiert, der auf Gemälden mit dem Motiv der Schutzmantelmadonna zu finden ist. Unter deren Schutzmantel fanden in der Malerei jener Zeit symbolisch ganze Städte Zuflucht. Nun ist die Muschel auch Symbol für Maria - sie trägt die Perle Christus - wie auch für die Menschwerdung des göttlichen Logos. Und Maria war auch die Schutzpatronin Sienas. Die strahlenförmigen Oberflächenriefen münden in einen Wasserabfluss, über dem sich zudem eine aus Travertin gebildete Muschel erhebt.

Eine wichtige Facette ist auch der Theatercharakter des Platzes. Der Palazzo Publico wird somit zur Bühne des politischen Geschehens. Die Beteiligten einer Versammlung des Volkes konnten von jedem Punkt des Platzes aus den Vortragenden gut sehen, der dann nach Errichtung des Palazzo Publico ähnlich wie auf der Rhetorenbühne des antiken Forum in Rom seine Redekünste entfalten konnte.

Wolfgang Rauda schreibt: "Dadurch entsteht ein großartiger Hohlraum, ein architektonisches Gefäß für eine sich zusammenschließende Gemeinschaft, die sich bewusst als römische Nachfahren, als Cives, und ihren Stadtstaat mit seinem Stadtforum als Sinnbild einer in Schönheit gefassten Ordnung ansehen". Damals war noch eine Blickachse zum Dom freigehalten, die heute verbaut ist.

Aber erst 1288 begann die neue Regierung der Neun den Bau des Palazzo Publico. 1325 begann man mit dem Glockenturm, dem Torre del Mangia, der mit einhundertzwei Metern für jene Zeit eine technische Meisterleistung darstellte. 1337 bis 1339 entstehen jene weltberühmten Fresken von Ambrogio Lorenzetti: "Gute und schlechte Regierung und ihre Auswirkungen auf Stadt und Land" im Palazzo Publico. Über kaum andere Fresken ist soviel geschrieben worden. Ein Autor, Nicolai Rubinstein, leitet die politische Allegorie aus der mittelalterlichen Auslegung des Aristoteles ab, die eine Unterordnung des Privaten unter das Gemeinwohl forderte. Eine Wasserleitung zu einer 14 Kilometer entfernten Quelle speiste etwa ab 1343 einen Brunnen, an dessen Brunnenrand die Sieneser eine antike Venusstatue setzten. Die Venus galt als Ahnherrin der Julier und somit auch des Augustus, in dessen Regentschaft Siena Militärkolonie wurde. Die "Regierung der Neun Guten Kaufleute" regierte Siena von 1287 bis 1355. Alle wesentlichen Bauten, die uns heute noch beeindrucken, entstanden in jener Zeit. Trotzdem: Die Regierung der Neun scheiterte in einem Volksaufstand und wurde durch die Regierung der Zwölf abgelöst.

Für viele der italienischen Städte jener Zeit lässt sich Ähnliches darlegen, was die Beziehung zwischen Politik und Platz betrifft. Wie ein Muster zieht sich diese Beziehung als Plan- und Bauidee durch die Geschichte des Platzes in Europa und dann auch Amerika.

Franco Mancuso sieht in der Entwicklung der Piazza folgende Entwicklung: Im Mittelalter gab es eher den Gedanken des organischen Platzes, gewachsen aus der Mitte der Stadt. In der Renaissance und mit der Wiederentdeckung des Euklid und der Kunst der Perspektive seit Brunelleschis famosen Versuch vor dem Dom zu Florenz im Jahre 1425 sucht sich die Macht eine Entsprechung in der Geometrie des Arrangements. Brunelleschi, Erbauer der wunderbaren Kuppel des Domes zu Florenz, zeigt in diesem epochalen Versuch, wie es gelingen kann, das reale Bild in einer maßstabgerechten Verkleinerung wieder zu geben. Der Humanist Alberti widmet dieser Kunst des Malens zehn Jahre später sein berühmtes Traktat. Es ist eine Entdeckung, die mit einer ungeheuren Kraft unsere Sehweisen so sehr verändern und beeinflussen sollte, dass  wir heute kaum noch bemerken, wie sehr wir uns an diese Art der Darstellung gewöhnt haben.

So stark ist die Wirkung, dass auch die Kubisten es nicht schafften, das Denken vom perspektivischen Raum endgültig zu verändern, wiewohl sie eben dies beabsichtigten. Die Beherrschung der Regeln der Perspektive, die man damals auch als sichtbares Wirken des von Gott ausgehenden Lichtes interpretierte, unterstreicht fortan auch die Fähigkeiten einer guten Regierung. Straßenplanung wendet die Regeln der Linearperspektive an. In Pienza etwa ensteht im Auftrag des Humanisten Enea Piccolomini eine Idealstadt, bei deren Bau die Kunst der Perspektive Anwendung findet.

Im Barock ist es der aristokratische  Platz, der mit seinen großen Sichtachsen und in die Städte geschlagenen Schneisen ein grandioser Exporterfolg italienischer Platz- und Straßenarchitekten werden sollte. Der Platz wird im Barock zur Bühne des Grandiosen. Bis dann im 19. Jahrhundert jene Plätze, Sterne, gebaut werden, die nur entstehen, um ein dutzend Straßen zusammenführen - der Place Charles de Gaulle/Place d´Etoile in Paris und in dessen Nachfolge der Große Stern und der Ernst-Reuter-Platz in Berlin sind Beispiele für Plätze, die als fast einzige Funktion die Lenkung des Verkehrs haben.

Erlauben Sie mir zum Schluss noch einen Blick auf die Enstehungsgeschichte des neuzeitlichen Theaters, auch wenn dies auf den ersten Blick wenig mit "Straßen und Plätzen" zu tun zu haben scheint.

1555 wird in Vicenza die Accademia Olimpica gegründet, von einer "Vereinigung ausgesuchter und in den Künsten dilettierender Edelleute". Sie haben sich der Wiederbelebung des antiken Theaters verschrieben. 1580 errichtet Andrea Palladio für den Verein ein Theater, das erste in Europa, das "Teatro Olimpico". Vincenzo Scamozzi, Sie kennen seine Arbeiten an der Piazza San Marco in Venedig, stellte das Theater fertig. Nachdem man entschieden hatte, das Stück "König Ödipus" von Sophokles zu Eröffnung aufzuführen, wurde Scamozzi gebeten das Bühnenbild zu bauen. Er baute ein nach den Regeln der Zentralperspektive ausgerichtetes Bühnenbild mit sieben imaginären Straßen des antiken Theben. Den Regeln des antiken Architekten Vitruv folgend, dessen Schriften nur wenige Jahrzehnte zuvor wieder entdeckt worden waren, errichtete Scamozzi "würdige Gebäude" an den Straßen des Theater-Theben, die dann bis ins 19. Jahrhundert für keinen anderen Zweck als den der Aufführung des "Edipo Re" Verwendung finden sollten. Man sieht, Straßen und Plätze haben eben viel mit Theater zu tun - manchmal ist das Stück, das gegeben wird, gut, manchmal mäßig. "Die kostbarste kollektive Erfindung ist die Stadt, einzig der Sprache selbst steht sie nach in ihrer Fähigkeit", heißt es bei Lewis Mumford. Braucht es nicht ein Revival der Städte: statt einer Pendlerpauschale eine Stadtpauschale?


 

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