Zur Sprache bringen
Eine Kritik der Architekturkritik

7. Jg., Heft 2, (Januar 2003)    

 

___Manfred
Sack

Hamburg
  Komplimente und Verrisse oder:
Der neugierige Beobachter




Ich werde Ihnen also aus meiner Werkstatt berichten, aus der Werkstatt eines Architekturkritikers. Dieser "Werkbericht" unterscheidet sich von denen der Architekten vor allem dadurch, dass ich auch nicht ein Diapositiv an die Wand werfen werde. Nun müssen Sie nicht fürchten, dass ich Ihnen statt dessen aus meinen Artikeln vorlese. Insofern stimmt die Bezeichnung auch gar nicht: Sie werden nicht mit einem wie auch gearteten Werk bekannt gemacht, sondern mit der Werkstatt eines Journalisten, der in einer für ein allgemeines Publikum gemachten Zeitung über Themen schreibt bzw. geschrieben hat, meistens (und das nicht ungern) über Architektur und dergleichen.

Ich bin - vermutlich im Gegensatz zu den meisten von Ihnen, die es sind oder dabei sind, es zu werden - kein Fachmann, keiner der das Fach, über das er schreibt, von der Pike auf gelernt hat. Um die wahrscheinliche Frage von Ihnen gleich zu beantworten: In meinem Reifezeugnis steht zwar: "Manfred Sack will Architekt werden"; das kam, weil ich in Zeichnen eine Eins hatte und mein Kunstlehrer zu meinem Zweifel an ausreichendem Talent bemerkte: Wenn schon nicht Maler, sollte ich wenigstens Architekt werden. Doch damals hatte sich bei mir zugleich eine Neugier auf Musik bemerkbar gemacht, so dass ich mich nicht entscheiden konnte - und dem Zufall gehorchte: Ich studierte das Fach, für das ich endlich einen Studienplatz bekam, an der gerade gegründeten Freien Universität Berlin, und zwar Musikwissenschaft.

Ich will nun nicht weiter mit dem Nicht-Fachmann kokettieren. Denn natürlich wird jedermann, der sich eine Zeitlang und mit hinreichender Intensität mit etwas beschäftigt, zu einer Art von Fachmann. Aber was bin ich nun also? Ein Kritiker? Ein Journalist? Ein Redakteur? Ein Beobachter? Ich bin bzw. ich war alles dies. Ich habe allerdings Skrupel, mich bloß einen Architektur-Kritiker zu nennen, nicht nur, weil ich zugleich über Hunderte ganz anderer Themen unserer Daseinswelt geschrieben habe, sondern weil es mir zugleich zu viel und zu wenig wäre. Am ehesten sehe ich mich als einen kritischen, prinzipiell neugierigen Beobachter, der darum bemüht ist, das, was er sieht, bemerkt, was ihm imponiert oder missfällt, anderen Leuten mitzuteilen. Also: ein Vermittler.

Ich denke, dass es nicht unnütz für Sie ist, davon zu hören, wie der das tut.

Eine Zeitung wird gemacht, um jedermann über interessante Begebenheiten zu unterrichten. Ich hatte keine Ahnung, wer meine Leser sind, und ich war auch ziemlich froh darüber.
Ich kann, denke ich, immerhin annehmen, dass meine Leser auch mit Dingen bekannt gemacht werden wollen, von denen sie wenig wissen. Also muss ich versuchen, diesem allgemeinen, hinreichend intelligenten Publikum etwas so zu vermitteln, dass es sich animiert fühlt, dass es begreift, worum es geht, und dass es ihm aber auch ein Vergnügen macht, das zu lesen; dass es sich also auf interessante Weise unterrichtet fühlen kann. Das heißt, natürlich, einfach zu schreiben und möglichst so sinnlich, dass jemand ein Ereignis, oder sagen wir ein Gebäude vor Augen zu haben glaubt, während er darüber liest, dass er sich, wie man sagt, "ein Bild davon machen" kann. Der Versuch dabei ist stets, die Kenntnislosen zu erreichen und die Kenner, die Fachleute, nicht zu langweilen.

Das ist keine Schwierigkeit, die allein das Gebiet der Architektur betrifft. Wenn der Theaterkritiker über eine Aufführung in München schreibt, soll es so sein, dass auch alle diejenigen Leser, die diese Aufführung in München nicht erlebt haben und auch niemals werden sehen können, etwas von der Lektüre haben - und das ist nicht nur das Urteil, das der Kritiker gibt, sondern auch das Ereignis selber. Das heißt, ein solcher Artikel sollte alles das zugleich sein: Schilderung, Einordnung, Beurteilung.

Manchmal wünsche ich mir, ich könnte einfach drauflos schreiben - aber das verbietet schon der eigene Anspruch. Je länger man diesen Beruf ausübt, desto schwerer fällt es, und desto mehr machen Skrupel einem zu schaffen. Ich nehme an, dass in "normalen" Berufen mit jedem Jahr die Routine zunimmt, so dass man vieles später "wie im Schlaf" erledigen zu können glaubt - in meinem Beruf kenne ich nur wenige, denen das gelingt; die meisten tun sich in Wahrheit immer schwerer. Das macht schon der Umgang mit der Sprache, deren Tücken sich einem immer genauer eröffnen, deren Abnutzung durch dauernden Gebrauch man spürt und fürchtet. Man hat zum Beispiel einen Horror davor, sich zu wiederholen oder dem aktuell sich bildenden und von Journalisten kopflos übernommenen und verbreiteten Jargon, den hauptsächlich Politiker und Wirtschaftsmenschen erfinden - so wie nunmehr das Ehegatten-Splitting nicht mehr aufgehoben oder variiert, sondern in täglicher Wiederholung in allen Medien und an allen Pulten nur noch "abgeschmolzen" wird - oder dass man nicht mehr "ein bisschen" weiter denken sollte, sondern "ein Stück" weit, zu schweigen von den oft hanebüchenen Fehlern, die zur Zeit den Präpositionen zugefügt werden. Und da der Ehrgeiz dazu nötigt, dem zu Schreibenden auch eine möglichst schlüssige, womöglich anmutige Form zu geben, spielen sich in den Zimmern einer Zeitung - sagen wir: einer Zeitung, die etwas auf sich hält - lauter kleine dramatische Begebenheiten ab.

Zur Form: Auch Artikel, wenn sie wirken wollen, müssen eine Form haben, müssen "gebaut" sein. Sie brauchen einen Anfang, den alle Schreiber sich so erträumen, dass er die Leser hoffentlich hinein zwingt - und ein Ende, das in den geglückten Fällen zum Anfang zurück findet, also den Artikel umschließt. Im Übrigen gelten die üblichen dramaturgischen Notwendigkeiten des Aufbaus - bleibt, nicht zuletzt, ein reichhaltiges Vokabular, die Sprache und ihr nach Kräften kluger Gebrauch. Daran scheiden sich die Talente.

Aber jenseits von allem stilistischen Glanz, jenseits von jedweden ästhetischen Bemühungen, denen sich der beflissene Journalist hingibt, bleibt das Problem: nämlich etwas zu übermitteln, das den meisten Lesern fremd ist. Architektur, Stadt- und Landschaftsplanung, erst recht so schwierig zu begreifende Aktivitäten wie die Raumplanung, sind den meisten Zeitgenossen, gleich welchen Bildungsgrades, fremd. Das heißt, der Architekturkritiker sieht sich genötigt, bestimmte Dinge immer wieder zu erläutern.

Wie erklärt sich aber diese allgemeine Fremdheit der Architektur gegenüber, obwohl doch jedermann damit tagtäglich zu existieren gezwungen ist? Warum z. B. finden Bauherren und Käufer ihre scheußlichen Gebäude schön, und natürlich die von den Fachleuten für schön und interessant ausgegebenen Bauwerke alt und hässlich, grauenhaft? Es liegt, glaube ich, daran, dass es - ganz anders als im Theater, in der Literatur - keinen Konsens mehr gibt, keinen Maßstab der Beurteilung von Qualität, und vor allem daran, dass niemand mit ihm bekannt gemacht wird, ihn erst recht nicht erlernt, geschweige denn erfahren oder von Vorbildern übernommen oder durch Lehre und Praxis ererbt hat. In Wahrheit existiert die Architektur im gegenwärtigen Fundus eines allgemein gebildeten Bürgers von heute gar nicht. Deshalb beginnt das Elend auch nicht erst bei den Architekten, sondern bei ihrem Publikum, mehr noch bei ihren Klienten, ihren Bauherren, die, je größer ein Projekt ist, desto öfter längst im Plural auftreten, in Gruppen und in Gremien - nur sind sie in der Baukunst ahnungslos, sie haben nur gelernt, aufs Geld zu sehen und die Rendite zu berechnen, aber sie haben kein Gespür für Architektur.

Bei Erörterungen dieser Art landet man seltsamerweise immer wieder in der Schule. Architektur, darin gibt es nach wie vor nichts zu deuteln, findet man nicht im geistigen Haushalt eines Normalbürgers, zum Beispiel im Kopf eines Abiturienten. Ein Feuilletonchef darf in der Redaktionskonferenz seiner Zeitung den Artikel eines Kollegen über einen Architekten "Böhm, Böhme oder so ähnlich" ankündigen, die anderen wissen es auch nicht besser - undenkbar jedoch, dass er von, sagen wir, einem Artikel über "Grass, Grasse oder so ähnlich" gesprochen hätte, nein: hätte sprechen dürfen. Man hätte an seinem Verstand gezweifelt und mit Recht gefragt, ob er denn auf seinem Posten der Richtige sei.

Und das Fernsehen? Ein Trauerspiel, eine allabendlich verpasste Chance. Und woran - so folgt die Frage - liegt das? Einfache Antwort: Es fehlt an Journalisten, die für das Thema Feuer fangen. Es fehlt an Chefredakteuren und an Chefs in den Lokalteilen, die den Mangel empfinden und das Thema für wichtig, vor allem für interessant halten. Sie halten es für uninteressant, für angeblich zu speziell; es taucht nur auf, wenn ein Skandal es als unumgänglich erscheinen lässt. Sie kennen das von den Lokalseiten: Baukosten überschritten; irgendwer hat irgendjemanden bestochen; Fertigstellung um Monate verzögert; überall Asbest; Politiker in Machenschaften verstrickt; Investor Pleite gegangen; es regnet durch; Mietpreise unbezahlbar; und überall Beton; alles grau, grau, grau, grauenhaft. Es ist manchmal schwer begreiflich, wie viel dummes Zeug darüber in den Zeitungen steht, haarsträubend dummes Zeug!

Natürlich, jedes Debakel ist wichtig und wahrscheinlich mitteilenswert. Aber das Eigentliche, die Architektur, sagen wir ruhig, das Baukünstlerische eines Gebäudes und seiner Umgebung, das - in Anführungsstrichen gesprochen - "Ästhetische" fällt fast immer aus, und wer findet sich schon in solchen Abstrakta zurecht, wie sie Grundrisse und Lagepläne darstellen. Also: Jede Zeitung, die etwas auf sich hält, hat mindestens einen, meist mehrere Kunstkritiker, mehrere Film-, Musik- und Theaterkritiker, viele Literaturkritiker, selbst Tanzkritiker leisten sich die größeren Blätter - Architekturkritiker hingegen sind eine seltene Spezies, obwohl das, worüber sie handeln, die Menschheit existenziell betrifft, ihr unmittelbares Wohlergehen. Es gibt ihrer bei uns zu Lande, gutmütig gerechnet, etwa ein bis anderthalb Dutzend in der allgemeinen Presse. Auch wenn ich zu meiner Überraschung bemerkt habe, dass der Chefredakteur der Deutschen Bauzeitung für seine Kritiken-Sammlung "Mit spitzem Stift" dreißig Namen zusammen bekommen hat. Nur: Eine Kunstausstellung ist nach vier, sechs Wochen zu Ende, ein Theaterstück selten zwei Spielzeiten im Programm; ein Buch ist nach der nächsten Buchmesse vergessen. Aber Häuser stehen und stehen, bedrängen uns tagtäglich, entzücken uns manchmal. Wir erleben, erdulden unaufhörlich die Stadt, die Straßen, die Plätze, die Parks - aber als Zeitungsthema kommen sie, gemessen an den anderen Ereignissen auf angemessene Weise kaum vor. Ich gehöre mithin zu einer verschwindenden Minderheit. Das ist bisweilen ganz schön - für die Gesellschaft aber ziemlich traurig.

Es muss wohl etwas damit zu tun haben, dass das Bauen mehr als eine praktische, viel Geld kostende, denn als eine geistige, geschweige künstlerische Arbeit verstanden wird. Ich erinnere mich an die Empfehlung eines meiner Feuilletonchefs vor vielen Jahren, bei einem wichtigen neuen Gebäude möglichst nur den künstlerischen Aspekt hervorzukehren, um die Platzierung des Artikels im Kulturteil der Zeitung zu rechtfertigen - und die Leser nicht mit politischen, gesellschaftlichen, womöglich mit wirtschaftlichen Erörterungen zu verwirren.

Dies alles erklärt, warum die Beschränkung meiner Rolle auf den Architekturkritiker zwar möglich wäre, warum ich sie aber nicht tunlich finde. Mitunter ist die eindrückliche, die kritische Beschreibung eines Bauwerkes wichtiger als die Ausführlichkeit des Urteils: schon um überhaupt den Sinn für das Gebaute zu wecken und zu schärfen, Aufmerksamkeit herauszufordern, Leuten die Augen zu öffnen für das, was um sie herum aufgetürmt ist.

Thema unter dem Rubrum Architektur kann vieles sein. Es sind Gebäude, die öffentliches Interesse verdienen, entweder, weil sie groß sind, weil sie von vielen Leuten bemerkt oder benutzt werden, weil über sie geredet wird, und weil sie offenbar etwas an sich haben, das die Aufmerksamkeit reizt; es sind auch Gebäude, die unscheinbar, aber so gut gemacht sind, dass sie bekannt zu werden verdienen; andere, die etwas Neuartiges, Ungewohntes, dem Auge Unbequemes erkennen lassen - oder eine Schande für die gebaute Umwelt sind. So war es auch ganz erklärlich, dass über den Düsseldorfer Neubau von Frank Gehry rauf und runter berichtet worden ist, weil er so schräg, so schillernd, so putzig, für viele sehr komisch aussieht, nicht eigentlich wie ein Haus - und der ganze journalistische Aufwand? Für ein im Inneren ziemlich gewöhnliches, wenn nicht sogar unpraktisches Gebäude, dessen Witz nur die ziemlich willkürliche Verpackung ist, die so, aber auch ganz anders hätte aussehen können.

Manchmal gibt es Bauwerke, die die Aufmerksamkeit nicht ihrer Architektur, sondern der Philosophie ihres Architekten verdanken. Thema kann eine Straße sein, die die Struktur eines Dorfes bedroht, eine Großstadtstraße, die schmaler gemacht wurde und an Gestalt gewonnen hat, oder die wie die grandiose Mönckebergstraße in Hamburg jahrzehntelang unsäglich verludert war, oder eine Siedlung, die von einer neuen Idee geprägt ist; die Baukosten eines Holzhauses, die unglaublich niedrig sind und trotzdem keine schlechte Architektur bewirkt haben - oder: Plätze, Gärten, Teiche, Ufer, Arenen.

Wichtig sind auch Fragen nach dem Verhältnis von Preis und Ware, von Qualität und Baukosten; nach dem Aufwand an Energie, den Kosten der Unterhaltung. Wichtig kann der Grad von Individualität, von Einzigartigkeit, Originalität oder Anonymität sein, von Dutzendhaftigkeit und Beliebigkeit. Man fragt sich nach der Möglichkeit, die etwa ein Wohnhaus, ein Mietshaus, ein Wohnblock, ein Wohnhochhaus seinen Mietern gibt, sich damit zu "identifizieren", sich also zurechtzufinden, mehr: das Haus, in dem sie hausen, zu lieben. Es ist wichtig zu wissen, welche S-, U- oder Straßenbahnen in der Nähe sind, ob man sich in einer Einflugschneise befindet, an einer lärmenden Verkehrsstraßenkreuzung, welche Geräusche - Teppichklopfen, Kinderspiel, Sprechen und Streiten - wie stark reflektiert, also verstärkt oder geschluckt werden.

Bisweilen kann es die Neugierde reizen, ein Bauwerk erst tatsächlich Jahre nach der Fertigstellung zu beobachten, um zu sehen, ob und wie es funktioniert - in sich selbst, in seiner Umgebung, für seine Benutzer. Es kommt auch vor, dass Grundrisse viel aufregender sind als das architektonische Gehäuse, das sie enthält; Grundrisse von Kinderzimmern, die meistens so klein bleiben, wie sie meist sind, in den kleinsten wie in den größten Wohnungen, weil üblicherweise nur die Wohnzimmer mehr Platz bekommen.

Wenn Sie glauben, ich sei gewiss der einen oder anderen Spielart der Architektur, irgendeiner "Richtung" verpflichtet und ließe anderes ungern gelten, irren Sie sich sehr. Nicht, weil eine Zeitung ein diffuses, ein "pluralistisches" Publikum hat, sondern weil ich die Vielfalt liebe (sofern sie erstklassig ist), und weil die Vielfalt das Leben erträglich macht. Manchmal träume ich davon, in einem Farnsworth-Haus zu leben, in einem riesigen Park, mit Überschwemmungen dann und wann - und davon, in einem Holzhaus in Vorarlberg zu nisten. Ich könnte es mir reizvoll vorstellen, mich in einer ausgedienten kleinen Kirche einzurichten, wenn sie gut liegt und nicht zu kalt ist, oder im obersten Stockwerk eines Wolkenkratzers, etwa des Lake Point Towers in Chicago, Blick auf die Stadt und den Michigan-See. Ich wäre neugierig zu wissen, wie es sich im vorsichtig gelichteten Hof des berühmt gewordenen Berliner Blocks 118 unweit des Schlosses Charlottenburg lebt oder in dem Hinterhofbau, den Hinrich und Inken Baller in Berlin-Kreuzberg entworfen haben und den die Leute ein "Wohnschloss" nennen. Bedingung wäre nur: dass es wirklich erstklassig gemacht ist. Was aber ist gut?

Damit bin ich nun bei einer entscheidenden Frage: nach den Kriterien, nach dem Maßstab, den ich anlege, und bei der anderen Frage, woher ich den denn habe.

Als meine alte Zeitung mir endlich zugestand, über Architektur zu schreiben (obwohl ich sie, wie man mir damals entgegenhielt, nicht gelernt hatte) - da hielt ich sogleich Ausschau, wie man das macht. Das Geld, das ich für Fachzeitschriften ausgab, war - jedenfalls für diese Suche - vergebens, denn dort stellte man Bauten vor, aber kritisierte sie nicht. Meine vagen Vorbilder wurden Eberhard Schulz, der dann und wann in der Frankfurter Allgemeinen Architekturkritiken schrieb, und Peter M. Bode, den ich um seine monatliche Seite in der Süddeutschen Zeitung beneidete, ohne aber ihrer Art direkt zu folgen. So blieb mir gar nichts anderes, als es nach meiner Vorstellung zu probieren.

Natürlich habe ich mich in der einschlägigen Literatur umgetan und Erkundigungen bei den Theoretikern angestellt, angefangen beim alten Vitruv, den zu lesen sogar lustig ist - weil es uns zeigt, wie wenig sich essenziell geändert hat; es ging weiter mit Alberti, mit Palladio natürlich, mit Viollet-le-Duc und Gottfried Semper, mit Bruno Taut (der eine wunderbare Architekturlehre geschrieben hat), mit Fritz Schumacher und nicht zuletzt mit Christian Norberg-Schulz und seiner "Logik der Baukunst", von der ich viel gelernt habe. Und wer sich auf dem Architekturbuchmarkt auskennt, kennt auch die unendlichen Bemühungen gescheiter Architekten, ihr Fach theoretisch zu durchdringen, also gleichsam seiner mit Regeln habhaft zu werden.

Das zu lesen ist anregend - und manchmal sehr lehrreich. Am Ende hilft es dem Kritiker nur ein bisschen. Ihm bleibt nur, sich auf sich selbst zu verlassen, auf sein Urteil, auf seinen Geschmack. Es geht ihm dabei nicht anders als den Musik-, Literatur-, Theater- oder Filmkritikern: es gibt gewisse Gesetzmäßigkeiten, gewisse Regularien - aber nicht die eine und einzige Regel und nicht das eine und einzige ästhetische Gesetz. Und mit der Ästhetik allein kommt man der Architektur, selbst wenn man sie partout als Baukunst zu begreifen versucht, sowieso nicht bei. Architektur ist, was sie vielen Zeitgenossen so schwer begreiflich macht, keine reine, sondern eine Gebrauchskunst. Ein Gebäude, das zu nichts nütze ist, kann vielleicht ein Denkmal, also eine schöne, meinetwegen begehbare Skulptur sein, aber kein Haus. Ein Haus, das sich schlecht gebrauchen lässt, wäre - bei aller verführerischen Schönheit - ein misslungenes Haus. Das hat uns doch schon der Wiener Otto Wagner plausibel gemacht, der in seinem übrigens spannend zu lesenden Buch über "Die Baukunst unserer Zeit" der beginnenden Moderne schrieb: "Etwas Unpraktisches kann nicht schön sein." Und deshalb sind mir Architekturkritiken unbegreiflich, die sich mit nichts anderem als der Fassade beschäftigen oder dem abenteuerlichen Getürm eines Gebäudes, die aber nicht einmal verraten, wie der Bau hinten aussieht. Und nichts über das Entree, darüber also, wie das Haus seine Benutzer, Bewohner, Besucher empfängt, über die innere Erschließung, über Anlage, Länge, Figur und Wirkung der Wege, nichts über die Zimmer, die Konferenzsäle, die Grundrisse der Wohnungen, kein Wort über Qualität der Räume, ihre Akustik, das Licht, über die Blicke, die die Fenster eröffnen (oder auch nicht). Autoren dieser Kategorie haben den Bau beschrieben und beurteilt wie ein Gemälde, das sie betrachten. Das ist bedauerlicherweise keine Ausnahme; mir - als Leser - ist das in den letzten Monaten ein paar Mal vorgekommen. Es waren gut zu lesende Artikel - nur waren es keine Architekturkritiken.

Vielleicht erzähle ich Ihnen einfach, wie ich mit einem Neubau, der mein Interesse geweckt hat, umgehe.- Zuerst interessiert mich die Stadt oder die Landschaft, in die er hoffentlich gebettet ist, sagen wir der Einfachheit halber: Eichstätt. Wenn ich dort ankomme, habe ich schon darüber gelesen, ahne etwas von der Lage, von der Landschaft, weiß also, dass es im 17. Jahrhundert abgebrannt war und von drei italienischen Baumeistern im barocken Stil, aber auf dem mittelalterlichen Grundriss wieder errichtet worden ist. Das Barocke ist unübersehbar und von sehr prägender Kraft, die auch die Gegenwart spürt und die kein guter Architekt von heute ignorieren könnte. Dort also wurde zum Beispiel in den sechziger Jahren die katholische Universität gebaut. Mich interessierte also zuerst: Wo liegt sie? In welcher Umgebung? Zur unmittelbaren Umgebung gehört nebenan die barocke Sommerresidenz des Bischofs, gehört der Park dahinter, gehören die Auenlandschaften der Altmühl und - des Hochwassers wegen - die Mauern, gehören also unübersehbar visuelle Beziehungen - die der Architekt auf irgendeine Weise aufzunehmen hatte (sofern er sie nicht in aufwallendem Selbstbewusstsein ignorieren wollte).

Das heißt, dass die Beurteilung anfängt mit der weiteren, dann der unmittelbaren Umgebung. Das Eichstätter Bauwerk selber übrigens lässt das ferne Vorbild Mies van der Rohe erkennen - trotzdem hat die Architektur, ohne den internationalen Anspruch vorschnell aufzugeben, einen regionalen Zug; denn klugerweise ist das strenge rechtwinklige Stahlbetonskelett nicht mit Ziegeln, sondern mit Jura-Haustein aus der Umgebung ausgefacht: das gibt eine schöne, eigenwillige Symbiose. Und weiter: Der Lageplan der Universitätsgebäude korrespondiert mit der barocken Anlage nebenan; Höfe, Gärten sind artifiziell gestaltet.

Schließlich gilt es auszuprobieren: wie erreiche ich den Komplex, wo ist der Eingang, wie empfängt er mich, wie finde ich meinen Weg im Inneren; sind die Wege, die Flure langweilig, abwechslungsreich, überraschend, hell oder düster; sind die Räume nützlich geschnitten, akustisch erträglich; fühlt man sich wohl, gibt es Ablenkungen, wird es bei Sonne zu heiß? Wie funktioniert der gesamte Organismus der Räume untereinander, wie ist das Verhältnis geschlossener zu offenen Räumen, riecht man die Küche. Und endlich: hat sich der Architekt Mühe mit den Details gegeben, den Türen, den Beschlägen, den Ecken, den Stürzen, mit den Geländern und - seit je mein erster Griff - mit den Handläufen. Handläufe sind - so wie die Toiletten - immer ein Erkennungszeichen dafür, ob ein Architekt es mit uns gut meint, oder ob er bloß in seine gebrauchsunwillige Ästhetik vernarrt ist.

Mich interessiert die Idee - aber ich bin auch neugierig, wie meine Sinne reagieren; es ist wichtig zu bemerken, wie Häuser aussehen, wie sie riechen, wie sie sich anfassen, wie sie klingen. Wieder anders gesagt: Architektur beschäftigt den Verstand - aber auch das Gefühl - und am Ende den nicht objektivierbaren, also nicht übertragbaren, den ganz persönlichen Geschmack. Am Ende also darf ich mir erlauben zu sagen, ob mir ein Bauwerk gefällt oder nicht - aber aus meiner Kritik sollte hervorgehen, warum das eine und warum das andere nicht. Es ist selbstverständlich, die Logik der Materialien, die Plausibilität der Konstruktion zu beurteilen, ihre Verwirklichung, die Wirtschaftlichkeit.

Aber Gebäude sind ja, wie gesagt, nur das eine Thema, über das sich ein Architekturjournalist hermacht, und die klassische Form der Kritik auch nur eine journalistische Gattung, derer er sich bedient. Von Fall zu Fall wählt er, je nach Sujet, auch die Reportage, also die erzählende Form, oder die Glosse, das ist die pointierte, sich manchmal auch der Ironie bedienende, sehr meinungsfreudige, manchmal lustvoll polemische, meistens kurze Form, die - wenn sie betont sachlich sein will - auch Kommentar genannt wird und dann oft langweilig ist. Manchmal wird aus einer architektonischen oder städtebaulichen Angelegenheit auch ein Leitartikel - mit politischem Vorsatz.

Es gibt auch den Fall, dass aus einem Architekturthema etwas ganz anderes wird. So zog ich vor Jahren einmal aus, um über eine Hamburger Müllverbrennungsanlage zu schreiben, um die Neubauten an des berühmten Fritz Schumachers Altbauten zu messen. Es wurde eine Reportage über den Müll, seine Herstellung und seine mühevolle Vernichtung. Und es gibt einen anderen Fall, wo aus einem Bericht über den Münchner Olympiapark einer über seine schönen Nebensachen wurde, denen die meisten Beobachter keine Aufmerksamkeit geschenkt hatten, über den Olympiaberg, das Pflaster, über Straßenlaternen, die wie Königskerzen aussehen und eine rein funktionale Erfindung von Tiefbauingenieuren waren, über das Hockeystadion, das ein temporärer Bau aus Mero-Elementen war und nach den Spielen in ganz anderen Bauwerken aufgegangen ist: eine Metamorphose, die zu philosophischen Pirouetten anregen könnte; ferner über Parkbänke und über den Schalensitz - zusammen: Partikel eines erstaunlichen Gesamtkunstwerkes.

Manchmal ist es wichtiger, über den Entstehungsprozess zum Beispiel einer Konstruktion zu schreiben als über das Ergebnis - manchmal ist die Verwandlung einer Stadt das Thema, oder das Verschwinden einer so städtischen Institution wie des Cafés, (etwa weil, wie ein Cafétier klagte, man mit Kaffee und Kuchen nicht mehr die abenteuerlichen Mietforderungen heutiger anonymer Grundstücksfirmen bezahlen kann, die sich für ihre Rendite, aber überhaupt nicht für die Lebendigkeit der Stadt interessieren) - oder, auch das wäre ein Thema: über die Kostbarkeit von Grund und Boden zu streiten und die Frage, ob es nicht an der Zeit wäre, den Boden in Allgemeineigentum zu überführen, also dem privaten Grundstücksmarkt zu entziehen, damit zum Beispiel das Recht auf Wohnung für jedermann zu erschwinglichen Mieten besser erstritten werden könnte.

Viele Themen, wie Sie sehen - und es sind noch viel mehr: die Stadt, die Straße, der Platz, Park und Landschaft, das Wasser, der Verkehr, der Müll, der Lärm - natürlich: die Lärmschutzwand als eine architektonische Affäre, welch ein Thema!

Eine Zeitung ist eine Art von Marktplatz; darauf wird berichtet, gepredigt, gezetert, gespottet und verrissen, palavert, klug geredet und gepriesen. Jeder, der ihr angehört, ist er selbst, nicht "die Zeitung", und es ist immer der Kritiker, der geschrieben hat, es sind nicht "die Kritiker". Es sind immer Frau und Herr Sowieso. Jeder ist dabei seiner Mentalität, seiner Art unterworfen, seiner eigenen Bildung, der eigenen Wertvorstellung, er sucht sich seinen ganz persönlichen Maßstab und denkt, wie nur er denken kann. Er ist - für wie prominent er auch gehalten werden mag - niemals ein Papst, selbst wenn er Reich-Ranicki oder Joachim Kaiser heißt - das ist eine offenbar beliebte, aber ziemlich dumme Metapher. So gibt es auch nicht "das Urteil" über etwas, sondern nur das subjektive, mehr oder weniger fundierte Urteil des Kritikers, das die Leser nicht bevormunden, sondern sie ganz im Gegenteil dazu anstiften soll, ihr eigenes Urteil daran zu messen, wenn nicht überhaupt erst ernstlich zu bilden - und meinetwegen über den Kritiker herzufallen. Und es ist überhaupt nicht komisch, dass zwei kritische Beobachter zwei gänzlich gegensätzliche Meinungen von ein und demselben Gebäude oder vom selben Wettbewerbsentwurf haben. Und auch nicht, dass manchmal die Frage offen bleibt: Ist es wirklich so miserabel, das Haus? Ist es wirklich so gut, wie es zu sein scheint?

So wie beim Wissenschaftszentrum in Berlin, nicht weit weg von Mies van der Rohes Neuer Nationalgalerie und der Philharmonie, einem der ganz wenigen Fälle, wo ich in eine Jury für ein Bauprojekt gebeten worden war - und: unter drei Konkurrenten für den Entwurf von James Stirling gestimmt habe. Und wo ich den Bau, als er vollendet war, in meiner alten Zeitung nach Strich und Faden verrissen - und, (natürlich), mein Fiasko bekannt habe.

Und nun ende ich mit den Zitaten zweier Kollegen, von denen ich sehr viel halte. Der erste ist Benedikt Loderer, Gründer der wunderbaren schweizerischen "Illustrierten für Architektur und Gestaltung" mit Namen "Hochparterre". Er verlangt von sich: "Nichts beschreiben, was ich nicht mit meinen Füßen sah. Dem Architekten zuhören und mich fragen, was sagt er nicht. Die Sorgfalt des Machens mit der des Sprechens vergleichen ..." Und über das Schreiben sagt er: "Ein Text besteht aus Wörtern, nicht aus Urteilen. Einfälle nicht notwendig. Sprachbilder suchen, die das Kino im Kopf des Lesers in Betrieb setzen. Was nie erreicht wird, aber richtig wäre: so wirkungsvolle Sprachbilder, dass das Kopfkino innen mit den Bauten außen übereinstimmt, ohne dass der Leser den Bau je sah."

Und von Wolfgang Kil, einem studierten Architekten, der sich in der DDR wacker behauptet und sich nicht zum Büttel hat machen lassen, habe ich mir notiert: "Ich schreibe grundsätzlich nachts - und am besten ist ´s, wenn ich so richtig wütend bin." - Darin kann ich ihm beipflichten: wenn man sauer ist, läuft es einem manchmal fast von allein aus der Feder - wenn man lobt, braucht man viel Zeit, leere Wörter wie zum Beispiel "interessant" oder "hinreißend" für ein aufregendes Bauwerk zu umgehen.

Damit sei ´s genug. Jedenfalls werden Sie bemerkt haben, dass ich ein interessantes Geschäft betreibe.


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