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7. Jg., Heft 2, (Januar 2003) |
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Irina Kudryashova Kharkov |
Rationalistische und
romantische Kritik als Ausdruck rationalistischer und romantischer
Kreativitätsmethoden |
Die Kunstkritik unterliegt als eine
Komponente der Weltkultur allgemein gültigen Entwicklungsgesetzen. Svetozar
Zavarikhin stellt fest, dass „die
Widersprüche zwischen dem System der ‚idealen’ und der individuellen
Vorstellungen von der Baukunst (Architekturideale der Epoche, die sich in
individuellen Idealen der Kritik spiegeln) und der Architektur- und Baupraxis
und der architektonischen Wirklichkeit Gegenstand der Architekturkritik sind“
(1, S. 13).
Bei einer Analyse der Kulturevolution
lässt sich eine dialektische Einheit zwischen zwei Haupttypen der Weltanschauung
ausmachen – der rationalistisch-wissenschaftlichen und der
irrational-künstlerischen (romantischen). Diesen Weltanschauungen entsprechen
die romantische und die rationalistische Kreativitätsmethode. Den verschiedenen
Kulturepochen ist die Dominanz einer dieser Methoden eigen. Unter Verwendung
der Terminologie von J.M. Lotman ist die Semiosphäre der Kultur nicht homogen.
Den Kern bilden Erscheinungen, die die sprachliche Norm der Kultur begründen.
In der Zeit der Aufklärung war das der Rationalismus, der sich in der Kunst des
Klassizismus ausdrückte. Randgebiete sind „ganze
Schichten von Kulturerscheinungen, die aus Sicht der jeweiligen Metastruktur
marginal sind“ (2, S. 172). Aber genau dort, in den Randgebieten, haben
auch jene Kulturerscheinungen ihren Ursprung, die sich später als dominierend
erweisen und dann als dominierende Erscheinungen zum Mittelpunkt der
Semiosphäre in der nächsten Phase der kulturellen und historischen Entwicklung
werden. Lotman stellt fest: „An der
Peripherie – je weiter vom Zentrum entfernt, desto auffälliger – gestalten sich
die Beziehungen der semiotischen Praxis und der ihr aufgezwängten Normen immer
konfliktträchtiger. Das ist ein Gebiet mit semiotischer Dynamik.“ (2, S.
179). Und diesem Gebiet kommt eine revolutionäre Rolle in der Kulturevolution
zu, denn hier entstehen neue sozio-kulturelle Paradigmen, setzen sich neue
Sprachen der Kultur durch und behaupten sich. Das ist das Gebiet der
Semiosphäre, in dem die romantische Methode dominiert, und damit auch die romantische
Kritik. Die Rolle der Kunstkritik läuft erstens auf eine Kritik und
„Zerrüttung“ der gewachsenen konservativen Kulturformen hinaus, und zweitens
auf die Suche und Auswahl neuer, aus Sicht der Kritik perspektivischer
Kulturformen im sozio-kulturellen Raum. Dieser Zeitraum zeichnet sich durch
eine ungewöhnlich große Bandbreite von Erscheinungen aus, die in das
Wirkungsfeld der Kritik gelangen, und durch eine ungewöhnliche Freiheit bei der
Wahl der Quellen für eine kritische Analyse. Da die Hauptfunktion der Kritik
als „Erkenntnis und Regelung der
Widersprüche zwischen dem Architekturideal und der Wirklichkeit unter den
Bedingungen der konkreten historischen und kulturellen Situation“ (1, S.
13) gesehen wird, meint die romantische Kritik eine ganz bestimmte Prognose der
künftigen Kultur, und der Architekturprozess wird historisch gedacht. Typische
Vertreter der romantischen Methode waren John Ruskin, William Morris und
Viollet le Duc. Sie übten scharfe Kritik an der bestehenden Situation in der
Architektur und schlugen ihre alternativen Wege zur Entwicklung der Kunst vor.
Zeiten, zu denen die rationalistische Methode in der Kultur dominiert, sind
durch eine rationalistische Kritik gekennzeichnet, die auf eine
„Legalisierung“, Beschreibung und gedankliche Verarbeitung der dominierenden
Kultur orientiert. In dieser Zeit spielt die Kritik an der Entwicklung eines
Begriffsapparates, an der Schaffung stilistischer Prototypen und ästhetischer
Normen eine große Rolle. Kritische Äußerungen dieses Typs bilden das Feld der
vorherrschenden Kulturposition. Sie „unterbinden“ jegliche oppositionelle
Tendenzen, sorgen sich um die „Reinheit“ der Doktrin. Es liegt auf der Hand,
dass diese Art kritischer Urteile, die Anspruch auf Universalität erheben, auf
die Ausbildung eines gewissen kollektiven ästhetischen Bewusstseins abzielen.
Die romantische Kritik hingegen repräsentiert einen höchstentwickelten Bereich
von Ansichten und Meinungen, die das individuelle Bewusstsein bestimmen. Bei
totalitären Regimen dient die Kritik stets der Entwicklung und Propaganda der
im Rahmen des jeweiligen Systems bestehenden ästhetischen Norm; darüber hinaus
nimmt ihre Rolle bei der „Erläuterung“ der inhaltlichen Seite der Kunst zu. So
war in der UdSSR das erste Jahrzehnt nach der Revolution durch die Dominanz der
romantischen Methode geprägt. Schon Jung konstatierte eine Extrovertiertheit
der romantischen Methode (3), sowie deren Empfänglichkeit gegenüber
unterschiedlichsten Erscheinungen des äußeren Lebens, und deren Notwendigkeit,
sich selbst zu propagieren. Das Bestreben nach größtmöglicher Erfassung berührt
in dieser Zeit alle Bereiche der Kreativität. Es kommt zu einem Wirrwarr
einzelner Genres, und es zeichnet sich eine Tendenz zur Annäherung der
einzelnen Kunstarten ab. In dieser Zeit obliegt die Kritik nicht mehr dem
Geschick von Experten, denn die Revolution unterbricht die bestehende
Kulturtradition. In den ersten Jahren nach der Revolution ist der kritische
Prozess spontan und ungestaltet; teilweise übernehmen Künstler oder auch Repräsentanten
des Staates die Funktion der Kritiker. Massenhaft werden ästhetische
Deklarationen, künstlerische Manifeste, Programme für die künftige Entwicklung
der neuen revolutionären Kunst entwickelt. Es entstehen neue Institute der
Kritik; es gibt Dispute, verschiedene Formen der Diskussion von Kunstwerken und
Ergebnissen zahlreicher Wettbewerbe; es wird eine lebhafte Polemik in den
Massenmedien geführt. Im Mittelpunkt des kritischen Interesses steht die
inhaltliche Seite der Kunst, die Suche nach einem neuen historischen Sinn. Die
neue Ideologie erforderte die Herausbildung einer neuen ästhetischen Doktrin.
Die Kritik realisierte die einfachste Auswahl nach dem Prinzip – alles, was mit
dem alten Regime und mit der alten Kunst assoziiert wurde, wurde als negativ
eingestuft und „über Bord“ der Geschichte geworfen. In seinem Vortrag am INKhUK
(Institut für Kunst-Kultur) hat V.F. Krinskij festgestellt: „Die Wiedergeburt der Architektur geht über
die vollständige Überwindung … der Grundlagen, auf denen die alte Architektur
beruht hat, die für uns lediglich zu überflüssigen ‚schönen’ Anhängseln
geworden sind, denn sie geben uns keine Methoden zur Lösung unserer Aufgaben
und werden niemals Methoden sein können, die fertige Lösungen bieten.“ (4,
S. 117). 1924 erscheint das in vieler Hinsicht programmatische Buch „Stil und
Epoche“ von Moisei Ginsburg, in dem nicht nur das gesamte architektonische Erbe
der Architektur der Vergangenheit kritisch betrachtet wird, sondern auch die
charakteristischen Züge des neuen Stils formuliert werden. Ginsburg behauptet,
dass die Kunst nur die „Sprache der Gegenwart“ für die Reflexion des wirklichen
Wesens des heutigen Tages verwenden darf und bewertet den Architekturprozess
Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts als „ziemlich trostloses Bild, das viele Pessimisten auf den traurigen
Gedanken an den Untergang der Architektur an sich bringt“ (4, S. 285). Aber
bereits zu dieser Zeit lässt sich die Erscheinung eines gewissen Prinzips
feststellen, das diesen spontanen kreativen Prozess der ersten Jahre nach der
Revolution organisiert. In Zeiten der Veränderung des kultur-historischen
Paradigmas erschöpft sich das kulturelle Leben nicht in der Erscheinungsform
der romantischen Methode. Die Vielfalt ästhetischer Ansichten bedarf einer
Rationalisierung, Auswahl und Systematisierung, und diese Rolle übernimmt die
rationalistische Kritik, die als Opposition zum romantischen „Vagabundieren und
Herumbummeln“ auftritt. Ginsburg stellt dazu fest: “Hemmungslose kreative Phantasien, Spielereien mit selbst befriedigenden
kreativen Methoden stehen uns derzeit nicht gut zu Gesicht.“ (4, S. 293).
Es beginnt eine Suche nach Architekturprinzipien, die in der Lage sind, die
„Erhabenheit der revolutionären Umgestaltungen“ in den Zügen des neuen Stils
zum Ausdruck zu bringen. Bereits gegen Ende der 20er und zu Beginn der 30er
Jahre kommt es mit der Entwicklung eines neuen Kunstsystems zu einer grundlegenden Änderung der Situation. Es
setzt eine Phase der strengen ideologischen Kontrolle des Staates auf dem
Gebiet der Kunst ein. Während die ersten Jahre nach der Revolution als Jahre
gekennzeichnet waren, in denen sich das architektonische Leben in einer großen
Vielzahl von Richtungen (Funktionalismus, Konstruktivismus, romantischer
Symbolismus) äußert und die Architekturkritik ein mannigfaltiges Spektrum von
Standpunkten widerspiegelt, so verläuft der Kulturprozess in der Folgezeit in
der Richtung der Gestaltung eines einheitlichen stilistischen Systems. Die
kreative Methode des sozialistischen Realismus war dazu verdammt, die Rolle des
mustergültigen Maßstabs zu spielen, an dem sich die Zensur des künstlerischen
Prozesses ausrichtete. Der Begriff des „sozialistischen Realismus“ entstand zu
Beginn der 30er Jahre in der Zeit der Vorbereitung des 1. Schriftstellerkongresses
der Sowjetunion. In der Presse war dieser Begriff erstmals in der
„Literaturnaya Gazeta“ vom 29. Mai 1932 präsent. In den darauf folgenden
vierzig Jahren war der sozialistische Realismus in der UdSSR die allgegenwärtig
dominante Methodologie. Der gesamte Prozess der Kritik wurde der Entwicklung
von Prinzipien zur „Erläuterung der Ziele und Aufgaben“, zur Entlarvung und
Anprangerung „falscher Wege bei der Entwicklung der Kunst“ unterworfen. Die
Kritik diente dem Ziel der formalen Gestaltung der vom Staat gestellten
Aufgaben. Entscheidungen zu einer Änderung des Architekturkurses wurden im
Kontext des globalen „Parteikurses“ getroffen.
Verfolgen wir nun die Evolution der
ästhetischen Anschauungen dieser Zeit am Beispiel von N.A. Trotzkij. In den
Jahren von 1925-1932 kommt in Trotzkijs Werken ein starker Einfluss der
Architektur des Konstruktivismus zum Ausdruck. Aber bereits 1935 erscheint
Trotzkijs Artikel „Über das Verhältnis zur klassischen Architektur und über die
Suche nach dem Stil der sowjetischen Architektur“, und 1940 „Über den
sozialistischen Realismus der sowjetischen Architektur“. Charakteristisch ist,
dass es in dem Artikel von 1935 schon direkte Verweise darauf gibt, dass „die klassische griechische und italienische
Architektur ein Musterbeispiel … für
einen großen Stil ist“ (4, S. 399), während der Artikel von 1940 keinerlei
konstruktive Vorstellungen davon enthält, über welche morphologischen,
räumlichen und kompositorischen Charakteristika die moderne Architektur
verfügen soll. Die Idee von Einwänden gegen den „sozialistischen Realismus“
läuft auf ideologische Deklarationen und Einwände gegen die inhaltliche Seite
der Architektur hinaus: „Noch nie in der
Geschichte, in keiner einzigen historischen Epoche waren der grundlegende
Charakter, die Grundstimmung, die potenzielle Grundtendenz so klar und bestimmt
wie in der von uns zu durchlebenden Zeit. Die Kunst, die diese Epoche
ausdrückt, muss über die entsprechenden Qualitäten verfügen, wenn sie wirklich
eine Kunst ist, die ihres Volkes würdig ist.“ (4, S. 401). Da die Kritik in
dieser Phase vornehmlich mit der Gestaltung und Entwicklung des von Oben
vorgegebenen Paradigmas befasst ist, reicht ihre Rolle nicht weiter als bis zur
Lösung formaler Aufgaben. Sie kann inhaltliche Beschreibungen verwenden, ist
aber weder dazu in der Lage, neue Inhalte hervor zu bringen, noch diese in
einen kulturellen Kontext zu setzen. Und so bleibt sie ihrem Wesen nach eine
rationalistische Kritik.
Literatur:
1.
Svetozar P.
Zavarikhin. Russische Architekturkritik. Leningrad, 1989. 224 Seiten.
2.
Jurij M. Lotman.
Innerhalb denkender Welten. Mensch – Text – Semiosphäre – Geschichte. Moskau,
1999. 448 Seiten.
3.
Carl Gustav Jung.
Psychologische Typen. Moskau, 1996. 416 Seiten.
4.
Meister der
sowjetischen Architektur über die Architektur. In 2 Bänden. Moskau, 1975. 584
Seiten.