Zur Sprache bringen |
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7. Jg., Heft 2 (Januar 2003) |
___Christian Gänshirt Cottbus |
Goldene Axt und intelligentes Gefühl – Kritik als Werkzeug des Entwerfens |
Wozu brauchen wir
Architekturkritik? Wird ein Projekt in der Presse diskutiert, ihm öffentliche
Aufmerksamkeit zuteil, dann sagt diese Tatsache oft mehr über dessen Bedeutung
als das Urteil der Kritiker. Sind die Fotos nur groß genug und in Farbe
gedruckt, dann wird der ihnen beigegebene Text zur kaum noch wahrgenommenen
Bildunterschrift. In der Öffentlichkeit entsteht daraus zuweilen der Eindruck,
Kritik würde im wesentlichen erst nach getaner Arbeit geübt, sie sei demnach
etwas Sekundäres. Ihre Gegner haben daraus den Vorwurf konstruiert, Kritik sei
destruktiv, parasitär und zersetzend.
"...
aber zu sagen was ist, ist der Anfang der
Tat" schreibt Bruno Taut 1922 in einem Brief an Walter Gropius (Isaacs
1983, S. 288). Eine klar formulierte Kritik bildet nicht selten den Ausgangspunkt
für einen neuen Entwurfsansatz, und im Prozess des Entwerfens kommt der Kritik,
sei es in Form von Selbstkritik oder als von anderen geäußerte Kritik, eine
grundlegende Funktion zu. "Eine ernste und gründliche Urteilskraft"
nennt Leon Battista Alberti als wichtigste
Vorrausetzung eines Architekten, "denn in der Baukunst gilt es als
oberstes Lob, genau beurteilen zu können, was Not tut" (Alberti 1485, S. 515). Kritik als "das Hauptinstrument
weiteren Fortschritts" (Popper) und Urteilskraft sind es, welche den Entwerfer zu einer Entscheidung für oder gegen eine
bestimmte Entwurfidee bringen.
Im Folgenden möchte ich
Kritik aus der Perspektive des entwerfenden und Entwerfen lehrenden Architekten
untersuchen. Die diesem Werkzeug zugrunde liegenden Mechanismen sollen
analysiert, und Möglichkeiten ihrer Anwendung aufgezeigt werden, denn "es
gibt niemanden, der es nicht für eine Ehre halten würde, seine Meinung über die
Arbeit anderer abzugeben" (Alberti 1485). Kritik
ist ein wesentlicher, regulativer Bestandteil des Entwurfsprozesses.
"Form konvergiert mit Kritik" schreibt Adorno, und fährt fort:
"Das bestätigt die künstlerische Arbeit des Formens, die immer auch
auswählt, wegschneidet, verzichtet: keine Form ohne Refus."
(Adorno 1970, S. 216 f.) Die Fähigkeit zu Kritik und Urteil, zu Unterscheidung
ist für das Entwerfen grundlegend. Ideen gibt es genug, aber was davon ist gut,
schön und wahr, oder wenigstens richtig?
Kritik scheint
zunächst ätzend, vernichtend, herbe und heftig, sie ist das verneinende,
zerstörerische Prinzip, das durch Zerstörung den Weg für Neues schafft. Kritik
lässt sich beschreiben als "negatives Entwerfen", das substraktiv arbeitet wie ein Bildhauer, der mit seinem
Meisel alles entfernt, was nicht zu seiner Skulptur gehört. Kritik ist das
"Nein" als notwendiger Gegenpol zu den zahllosen "Ja"
unserer Einfälle, das "Nein", das es ermöglicht, aus der Unmenge des
Existierenden das wenige auszuwählen, mit dem ein einzelner Mensch umzugehen
vermag.
Zum Entwerfen
braucht es mehr als die Fähigkeit, Ideen zu erzeugen. Kreativität ist zwar eine
wesentliche Vorraussetzung, doch um Entwurfsideen sinnvoll auszuformulieren,
um verschiedene Ideen zu einem komplexen Entwurf zusammen zu fügen, benötigen
wir eine andere Art von geistiger Leistung: Die Fähigkeit zu unterscheiden, zu
gewichten, auszugleichen, Zusammenhänge herzustellen, das Ganze zu sehen.
Unterscheidungsvermögen und Urteilskraft liegen als Fähigkeiten jeder Kritik
zugrunde. Wenn Immanuel Kant den Titel "Kritik der Urteilskraft"
wählt, weist er damit auf die unterschiedliche Bedeutung der beiden Begriffe
hin. Kritik lässt sich zunächst als den sprachlichen Ausdruck eines Urteils
betrachten, im gleichen Sinne wie eine Skizze oder Zeichnung den Ausdruck einer
Gestaltungsidee darstellt.
Der Begriff Kritik,
vom Griechischen kritike techne abgeleitet, wird wörtlich übersetzt mit
"Kunst der Beurteilung"; er impliziert jedoch mehr als diese erste
Bedeutung. Seit Sokrates ist er verbunden mit der Idee von Aufklärung und
Wissenschaft. Michel Foucault definiert in seinem Vortrag "Critique et Aufklärung" die Kritik als etwas
grundsätzlich politisches, er nennt sie "Die Kunst, nicht dermaßen regiert
zu werden". Foucault zeigt, wie sich die neuzeitliche Kritik aus dem
scholastischen Disput entwickelt hat, im Bestreben, sich gegen
Herrschaftsansprüche zur Wehr zu setzen (Foucault 1978). Kritik ist also nicht
nur "die Prüfung einer Leistung auf ihre Bedeutung und ihren Wert
hin" wie Mies van der Rohe behauptet (Neumeyer S. 371), sondern vielmehr
"das steigernde, befeuernde, emportreibende Prinzip, das Prinzip der
Ungenügsamkeit" so Thomas Mann (Reich-Ranicki 1994, S. 201), und damit
"die Grundlage neuzeitlichen, konkurrierenden Denkens" (Popper).
Aus diesem Grund ist es auch nicht selbstverständlich, dass eine freie, offene
Kritik zugelassen wird. Im Nationalsozialismus war sie schlicht verboten, in
der DDR eigentlich auch. Das Gegenteil von Kritik ist eine staatliche Zensur,
deren Ziel darin besteht, Aufklärung und Entwicklung zu verhindern.
In der Tätigkeit
des Entwerfens erscheint Kritik zunächst als der Gegenpol zur Kreativität:
Kalt, analysierend, zerstörend. Sie kann zum großen Hindernis für Kreativität
werden, die Motivation des Entwerfers untergraben,
Angst und Blockaden verursachen, alles vernichten. Doch beim näheren Hinsehen
entpuppt sich das Kritisieren selbst als ein kreativer Akt: Unterscheidungen
zu treffen, das Wesentliche zu bestimmen, Kriterien zu ordnen und zu gewichten.
Klug und im richtigen Moment eingesetzt wird sie zur "Goldenen Axt",
so eine Formulierung des Landschaftsarchitekt Hermann Pückler-Muskau,
die reinigend den Wildwuchs der Einfälle ordnet. Golden ist diese Axt, weil sie
wichtig ist, golden aber auch, weil sie mit Bedacht eingesetzt werden will, um
nicht alles zu zerstören. Eine Kritik, die alles ihr missliebige als
"häretisch" und "ketzerisch", als "dekadent" oder
"entartet" verfolgt, wird zur Zensur, zu einem Instrument totalitärer
Machtausübung.
Dagegen besteht die
Schwierigkeit der für das Entwerfen so zentralen Selbstkritik darin, in einer
Person Entwerfer und Kritiker zu vereinigen, ohne
sich dabei ständig selbst im Wege zu stehen. Der Psychologe und Denklehrer
Edward DeBono hat auf die
Gefahr hingewiesen, in der Phase der Ideenfindung von Kritik blockiert zu werden.
Neue Ideen sind nur für ungefähr zehn Minuten in unserer Vorstellung präsent,
werden sie in dieser Zeit nicht festgehalten, verschwinden sie wieder, ähnlich
wie die Bilder eines Traumes. Im Moment ihrer Entstehung sind diese Ideen
schutzlos wie neugeborene Kinder. Man darf sie nicht sofort kritisieren,
sondern muss sie erst einmal pflegen und ernähren, freundlich
und verständnisvoll behandeln, bevor man sie der kalten Luft der Kritik
aussetzt. Eine zentrale Regel des Brainstorming lautet daher: Keine Kritik! Sie
führt fast zwangsläufig zu Kreativitätsblockaden, wenn die gestalterischen
Fähigkeiten und das Selbstwertgefühl eines Entwerfers
den von ihm etablierten Kriterien noch nicht gewachsen sind. (vergl. DeBono 1970, S. 131 ff.)
Das Aussetzen, das Suspendieren von Kritik ist eine Möglichkeit, diese
Blockaden zu umgehen.
Welchen Stellenwert
und welche Funktionen hat "Kritik", sei es Selbstkritik oder von
anderen geäußerte, im Entwurfsprozess, und wie kann das "Entwurfswerkzeug
Kritik" eingesetzt werden? Das kreative Moment der Kritik zeigt sich in
der Tatsache, dass neue Entwurfsgedanken oft zuerst in Form von Kritik geäußert
werden. "Neue Ideen kommen zur Sprache, und sie verdanken ihren Ursprung
der offenen Kritik" (Popper 1997, S. 6). Als Beispiel mag der von Ulrich
Conrads herausgegebene Band 1 der Bauwelt-Fundamente dienen: "Programme
und Manifeste zur Architektur des 20. Jahrhunderts" (Conrads 1963). Viele
der in diesem Band veröffentlichten Texte sind harte und unverblümte Kritiken.
Angefangen bei Adolf Loos' "Ornament und Verbrechen" über Gropius'
Klage über "diese grauen, hohlen und geistlosen Attrappen, in denen wir
leben und arbeiten" bis zu Hundertwassers "Verschimmelungsmanifest
gegen den Rationalismus in der Architektur" werden Kritiken und Analysen
formuliert, die dann zum Ausgangspunkt für die Entwicklung neuer Ideen
wurden.
Widerspruch und
Kritik erweisen sich regelmäßig als Motoren der Entwicklung. Ein Beispiel aus
neuerer Zeit ist die Arbeit des Modefotografen Oliviero Toscani.
Aus seiner grundlegenden Kritik der Werbung entwickelt er eine der
erfolgreichsten Werbekampagnen der 90er Jahre. Werbung kritisiert er als
"Verschwendung von Unsummen, Soziale Nutzlosigkeit, Lüge, Verherrlichung
der Dummheit, Ausgrenzung und Rassismus, Verbrechen gegen die Sprache [...] und
hemmungsloses Ausplündern" und entwirft, von dieser Analyse ausgehend,
eine Plakatserie, die, jede triviale Eindeutigkeit vermeidend, die Grenzen der
Werbung zur Kunst wie zur Politik überschreitet, viele Intellektuelle
provoziert und vehemente Debatten auslöst, welche die Marke des italienischen
Strickwarenfabrikanten Benetton zu einer der fünf bekanntesten der Welt
machen. (vergl. Toscani
1995)
Kritik als sprachliches
Werkzeug
Doch was für eine Art von Werkzeug ist
„Kritik“? Wenn wir sie als "Entwurfswerkzeug" betrachten, gehen
wir anders damit um, und nehmen sie anders wahr. Zum Entwerfen stehen uns zwei
große Gruppen von Werkzeugen zur Verfügung: die visuellen und die sprachlichen.
Zu den visuellen Werkzeugen zählen Skizze, Zeichnung und Modell, zu den
sprachlichen Werkzeugen des Entwerfens gehören Beschreibung und Diskussion,
Theorie und Kritik. Architekturkritik als eines der sprachlichen Entwurfswerkzeuge
operiert logisch, argumentativ, rational. Sie basiert vor allem auf den deskriptiven
und argumentativen Funktionen der Sprache, die Karl Popper als deren
höhere Funktionen bezeichnet, neben den expressiven und den Signalfunktionen,
welche auch Tiersprachen besitzen. Über das Werkzeug Sprache schreibt Popper
weiter:
"Ohne die Entwicklung einer äußeren
deskriptiven Sprache – die sich wie ein Werkzeug außerhalb des Körpers
entwickelt - kann es keinen Gegenstand für unsere kritische Diskussion geben." Und er fährt fort:
"Mit der Entwicklung der argumentativen
Funktion der Sprache wird Kritik das Hauptinstrument weiteren Fortschritts." (Popper 1997, S. 54)
"Gegenstand der
Diskussion" können für Entwerfer allerdings auch
Skizze, Zeichnung oder Modell sein, die nach der Terminologie Poppers der
"äußeren deskriptiven Sprache"
zuzurechnen wären. Die sprachliche Argumentation baut auf logische Verknüpfungen
auf, und hier ist es für jene Entwerfer, die eher
bildhaft und intuitiv arbeiten, oft schwer, zwischen logisch-analytischer und
rhetorischer Argumentation zu unterscheiden. Argumente überzeugen uns nicht
immer, wir misstrauen, wittern Hintergedanken, wohl wissend, dass ein geübter
Rhetoriker für alles wohlklingende Begründungen findet.
Das Werkzeug Sprache ist
sozial, intersubjektiv, aber im Gegensatz zu den visuellen Medien immer auf
einen regionalen Sprachkreis beschränkt. Selbst innerhalb eines Kreises werden
unterschiedliche Sprachen benutzt. Soziale Gruppen, Fachleute und Laien
entwickeln, ihren Kenntnissen und Mentalitäten entsprechend, jeweils eigene
Idiome oder Fachsprachen.
Das Werkzeug
Sprache zerlegt die komplexe Simultaneität eines Entwurfs in einzelne, logisch
aufeinander folgende Begriffe. Es abstrahiert und
reduziert Gleichzeitigkeit, um sie mit Hilfe der auf einer Zeitachse linear
aufgereihten Begriffe zu beschreiben; ist also eher geeignet, Komplexität zu
analysieren und aufzulösen, als Komplexität zu schaffen. "... wenn
man etwas sagt, tötet man es zugleich" erklärt der französische Designer
Philippe Starck (Vaske
2001, S. 253). Kritik ist ein sprachliches Werkzeug, aber Sprache allein
scheitert an der Praxis des Entwerfens, die nicht nur der Theorie, sondern auch
des persönlichen Könnens bedarf. Es gibt eine "Schallmauer zwischen
Theorie und Praxis" (Hinrich Sachs), die jeder Entwerfer
nur alleine und nur mit seinen eigenen praktischen Fähigkeiten überwinden kann.
Kritik muss sich
nicht unbedingt sprachlich vermitteln. Verzichtet ein Kritiker auf das
Ausdrucksmittel Sprache und bedient sich stattdessen eines bilderzeugenden,
dann bleibt ihm nur, selbst in den Gestaltungsprozess einzugreifen. Die
Distanz, die seine Position qualifiziert, geht ihm dadurch verloren, und das
kreative Moment von Kritik tritt in den Vordergrund. Was dem publizierenden
Kritiker verwehrt bleibt, ist jedoch dem Lehrenden eine hervorragende
Möglichkeit, die Distanz zu den Studierenden zu überwinden.
Kritik als Werkzeug
der Lehre
Je früher Kritik im
Entwurfsprozess formuliert wird, desto größer kann ihre Wirkung sein. Kritik
sollte so früh wie möglich einsetzen, mein Vorschlag: gleich im ersten
Semester. Allerdings sind an diese Art von Kritik besondere Anforderungen zu
stellen. Das Entwerfen wird in der Regel gelehrt, indem man Aufgaben stellt,
und dann den Studierenden versucht zu erklären, was sie falsch und, viel
seltener, was sie richtig gemacht haben. Ein für beide Seiten frustrierendes Vorgehen.
Studienanfänger spüren oft sehr deutlich die entwurflichen
Probleme, können diese auch klar benennen, verfügen aber noch nicht über die
gestalterischen Mittel, sie zu lösen. Eine Konstellation, in welcher harte
Kritik von außen eher lähmend als motivierend wirkt.
Kritik ist zentral
in der Entwurfslehre, ohne dass sie von der Mehrzahl der Lehrer theoretisch
reflektiert würde. Entwurfskritiken werden oft genug zu kleingeistigen
miesepetrigen Beschimpfungen, die weder erhellend noch inspirierend sind, und
die gelegentlich damit enden, dass Studierende in Tränen ausbrechen, weil sie
den Umgang mit dieser Art von Kritik noch nicht gelernt haben. Eine im Grunde
genommen barbarische Behandlung dieses sensiblen Themas. Die Folgen sind dem
entsprechend: Viele angehende Entwerfer werden in
ihrer Kreativität so tief frustriert, dass eine Tätigkeit, die eigentlich eine
Quelle des Glücks sein sollte, die man in anderen Bereichen sogar zu
therapeutischen Zwecken nutzt, für sie zur Qual wird.
Die Schwierigkeit
im menschlichen wie fachlichen Umgang mit Kritik liegt in der reflexhaft ablehnenden Haltung, die sie beim Kritisierten
erzeugt. Von dieser Ablehnung ist er nur schwer wieder abzubringen, denn ihre
psychische Funktion besteht ja gerade darin, sein Selbst vor Veränderung zu
schützen. Die erste Regel im Umgang mit Menschen lautet daher nach Dale
Carnegie: "Kritisieren sie nicht!" In seinem Bestseller "Wie man
Freunde gewinnt“ schreibt er:
"Kritik ist nutzlos, denn sie drängt den
anderen in die Defensive, und gewöhnlich fängt er dann an sich zu
rechtfertigen. Kritik ist gefährlich, denn sie verletzt den Stolz des anderen,
kränkt sein Selbstgefühl und erweckt seinen Unmut." (Carnegie 1936, S.
31)
Bemerkenswert ist, dass Carnegie
hier die emotionale Reaktion auf Kritik hervorhebt.
Er rät sogar,
Kritik nicht anzunehmen, um sich nicht unnötig mit Sorgen zu belasten. Lehrern
und Vorgesetzten empfiehlt er: "Durch Anerkennung und Aufmunterung kann
man in einem Menschen die besten Kräfte mobilisieren. Nichts tötet hingegen
seinen Ehrgeiz so gründlich wie Kritik." (Carnegie 1936, S. 51) Doch
angesichts der zentralen Bedeutung der Kritik als Entwurfwerkzeug ist es
unmöglich, ganz auf sie zu verzichten. Um mit Theodor Fontane zu reden:
"Schlecht ist schlecht, und es muss gesagt werden. Hinterher können dann
andere mit den Erklärungen und Milderungen kommen." (zit. nach
Reich-Ranicki 1994, S.124) Das Dilemma
lautet: Kritik ist notwendig und zugleich frustrierend. Ein bei
Architekturdiskussionen immer wiederkehrender Topos ist daher das Fehlen, der
Mangel an guter Kritik: „Eine wirkliche Kritik ist so selten wie echte Kunst“
sagt Mies van der Rohe (Neumeyer 1986, S. 371). Der brasilianische Architekt
Paulo Mendes da Rocha konstatiert:
"Es fehlt an einer echten Kritik der
Architektur. Sie ist nicht interessant und spricht nicht von dem, worüber sie
sprechen sollte. Sie verliert sich in Fragen über den Kontext, über die
Bedeutungen, über sehr architekturspezifische Fragen und zwingt damit zu einer
Systematisierung, die in Grunde unsinnig ist. Sie verkennt, dass Architektur
vielmehr ein Diskurs ist, der nicht unabhängig vom Wissen und Gewissen der
Menschen stehen kann." (Spiro 2002, S. 250)
Ist das der tiefere
Grund für die oft beklagte Bedeutungslosigkeit von Architekturkritik in der
Öffentlichkeit? Ist sie bedeutungslos, weil es ihr nicht gelingt, das
Wesentliche zu sagen? Weil sie oft genug gar nicht kritisiert, sondern
verschämt ihre Skandale auf der letzten Seite versteckt? Kein anders Ressort
geht so zurückhaltend mit seinen Schlagzeilen um. Wovon aber sollte die Kritik
sprechen? Was sind die wesentlichen Kriterien der Architektur?
Kriterien 1: Neue
Rätsel
Theodor Fontane,
dessen Brotberuf die Theater- und Literaturkritik war, benennt ein Paradoxon
der Kritik, wenn er sagt "dass es mit Prinzipien und einem
Paragraphen-Codex nicht geht“ (zit. nach Reich-Ranicki 1994, S. 122). Was meint
er damit? Ein ähnlicher Satz findet sich bereits bei Michel de Montaigne, der
sich möglicherweise auf einen antiken Autor bezieht, wenn er über die Dichtung
schreibt: "Auf einer niedrigen Stufe kann man sie nach Machart und
Einhaltung der Maße beurteilen; die unermesslich gute aber, die göttliche
Dichtung steht über aller Richtigkeit und Regel" (Montaigne 1580, S. 122).
Geht es hier, wieder einmal, um eine Tabuisierung des Schöpferischen als
etwas, das nur einem göttlichen Genie zusteht, dessen Erzeugnisse jeder Kritik
entzogen werden sollen?
Doch selbst Kurt
Tucholsky, jeden Geniekults unverdächtig, behauptet: "Immer wird in Kunstwerken
jenes unbekannte X zittern, das sich in kein Schema bringen lässt" (zit.
nach Reich-Ranicki 1994, S. 225). Mit Regeln lassen sich nur die rational
zugänglichen Aspekte eines Entwurfs fassen, und nur das, wovon genug bekannt
ist, um in Regeln gefasst zu werden. Das Neue, das Originelle, das Innovative
an einem Entwurf schafft seine eigenen Regeln. Und gerade dies ist seit Beginn
der Neuzeit wesentliches Kriterium eines Entwurfs: die inventio
über die imitatio, die Erfindung über die
Nachahmung zu stellen.
Das Rätselhafte
schließlich hat großen Anteil an der Faszination, die ein Kunstwerk ausmacht.
Theodor Adorno spricht vom "Rätselcharakter" der Kunst: "Alle
Kunstwerke, und Kunst insgesamt, sind Rätsel" (Adorno 1970, S.182), und
er stellt kategorisch fest: "Als konstitutiv aber ist der Rätselcharakter
dort zu erkennen, wo er fehlt: Kunstwerke, die der Betrachtung und dem
Gedanken ohne Rest aufgehen, sind keine." (Adorno 1970, S.184)
Kriterien 2: Vitruv
Die grundlegenden
Kriterien der Architektur sind "dass es funktioniert, und dass es mir
gefällt" - so die lakonische Formulierung eines Kollegen. Mies von der
Rohe hat zwei Klassen von Kriterien benannt: Er sprach von good reasons, zu denen er die technischen, rational
erklärbaren Aspekte des Bauens zählte, und von real reasons,
worunter er die kulturellen, emotionalen und künstlerischen Aspekte der
Architektur verstand. Seit Vitruv gelten als die drei
klassischen Kriterien der Architektur: firmitas,
utilitas und venustas,
auf Deutsch: Festigkeit, Nützlichkeit und Anmut (Vitruv
I 3,2). Sie sind ebenso allgemein-richtig wie unbrauchbar, wenn es um konkrete
Fragen geht. Die Unmöglichkeit, verbindliche Kriterien zu formulieren,
versuchen Architekten wie Kritiker gerne durch vehement geäußerte Postulate zu
kaschieren. Keiner dieser drei Begriffe lässt sich klar bestimmen, und doch
sind diese Kriterien nicht obsolet. Vielmehr gilt es, die Struktur der
Unmöglichkeit zu beleuchten, sie verbindlich zu definieren. Wenn wir von
diesen drei Kriterien ausgehend über Architektur nachdenken, werden firmitas, utilitas und
venustas
zu Kategorien, die jeweils einen zentralen Themenbereich der
Architektur umfassen.
Firmitas, die "Festigkeit" des
Bauwerks, ist heute kaum noch ein architektonisches Problem, sondern eher eines
der Bautechnik, in der Regel dem Statiker überlassen. Als Kategorie verstanden,
wird firmitas zu einer Frage der Baubarkeit, zur Frage von richtig und falsch: eine
Konstruktion hält oder hält nicht, ist wasserdicht oder nicht. firmitas ist somit ein Problem der Wahrheit,
das sich auf alles, was an einem Bauwerk messbar ist, ausweiten lässt: Statik,
Baukonstruktion und -physik, GFZ, Baukosten etc.: Fragen, auf welche die
Antworten aus dem Bereich der Technik und der Naturwissenschaften kommen.
Die Fragen der firmitas scheinen, weil
objektivierbar, am einfachsten zu entscheiden. Doch die wissenschaftlichen und
technischen Erkenntnisse, auf deren Grundlage sie entschieden werden, sind in
ständigem Fluss. Es handelt sich um "harte Fakten", die nur die halbe
Wahrheit widerspiegeln. Theodor Fontane wie Otl Aicher haben sich dafür ausgesprochen, im Zweifel auf die
Kategorie des "Richtigen" zurückzugehen: (siehe Reich-Ranicki 1994,
S. 122). Sie ist die Grundlage nicht nur der firmitas,
sondern auch der utilitas.
Utilitas, als Kategorie verstanden, fragt nach dem
Funktionalen, nach dem Bezug zum Menschen: Ist das Gebäude gut oder schlecht?
Gut oder schlecht für wen, oder zu was? Ein Gebäude berührt die Interessen
aller an seiner Herstellung und Nutzung beteiligen Parteien: Der Bauherr und
seine Frau, die Nachbarn und deren Kinder, die Architekten, Bauarbeiter,
Sachbearbeiter bei den Genehmigungsbehörden und bei der Bank, Hausverwalter,
Bewohner, Benutzer und Besucher, zu denen gelegentlich auch Feuerwehrleute,
Fotografen und schließlich auch Architekturkritiker zählen. Die Frage
Nützlichkeit ist letzten Endes eine ethische, deren Antworten aus dem Bereich
der Politik kommen. Konkret geht es um die räumliche Organisation eines
Gebäudes, um die Größe und Qualitäten der geschaffenen Räume, deren Bezüge
untereinander und nach außen.
Der Begriff "Gute Architektur" klingt nach political correctness,
meist bezeichnet er eine biedere, konsensfähige Mainstream-Architektur.
Doch "das Gute lässt sich nicht definieren" (Aristoteles: Nikomach.
Ethik), und die Frage nach dem Verhältnis von "Gebrauchswert" und
"Kunstwert" ist immer wieder neu zu beantworten. Im architektonischen
Alltag jedoch steht der Gebrauch oft auf eine dermaßen eindimensionale Weise in
Vordergrund, und wird das Gebrauchen so trivial aufgefasst, dass von Kunst
keine Rede mehr sein kann. Der betriebswirtschaftliche Begriff der Rendite ist
ein Versuch, die Nützlichkeit eines Gebäudes in Zahlen zu fassen, eine
Kalkulation, in die allerdings viele Faktoren einfließen, die mit den
funktionalen Qualitäten eines Gebäudes wenig zu tun haben. Das Ergebnis dieser
Rechnung stellt eine Abstraktion dar, welche über die tatsächliche Nützlichkeit
eines Gebäudes nur wenig sagt – sie definiert diese aus der Perspektive des
Geldes, des Banksachbearbeiters.
Auch ist die
Anforderung, dass ein Gebäude gewissen Funktionen zu dienen hat, letzten Endes
zu trivial, und zu leicht zu erfüllen, als dass diese noch als Kriterium
relevant sein könnte. Die Frage lautet nicht "ob", sondern
"wie": Wie schafft der Entwurf einen Ausgleich der vielen
unterschiedlichen Anforderungen, die an ihn gestellt werden? Wie, mit welchem Witz, mit welchem Charme,
mit welcher Eleganz erfüllt er diese, und was leistet er darüber hinaus?
Venustas schließlich, die Kategorie des Schönen, der
Ästhetik, des subjektiven Empfindens umfasst den gesamten Bereich der Kunst.
Erich Mendelsohn begründet die Unmöglichkeit, sie verbindlich zu definieren wie
folgt:
"Unsere ästhetische Wertung – Wertung auf
Schönheit – steht nur auf Vorurteilen, die durch die hergebrachte und
kategorische Erziehung scheinbar Gesetz geworden sind. Weil solche Begriffe sich je nach dem Stand der
menschlichen Kultur, je nach dem Moment kulturgeschichtlicher Entwicklung der
Menschheit bestimmen, somit variabel sind, lassen sie sich nicht als Wertmesser
aufstellen." (Mendelsohn 1961, S. 22)
Daraus jedoch den
Ruf nach einem "Geschmacksdiktator" abzuleiten, wie die Berliner
Architektin Gesine Weinmiller
es jüngst tat (Der Tagesspiegel, 25.3.2002), ist eine politische Geschmacklosigkeit.
Ästhetik erweist sich vielfach als soziale Konvention, als ein Mittel der
Abgrenzung, und als Tabuisierung von Werturteilen. Etwas als "schön"
zu proklamieren heißt sehr oft, es eigentlich nur "gut" zu finden,
aber keine Diskussion über diese Wertung zulassen zu wollen. Die Frage
"Findest Du das nicht schön?" impliziert oft genug, dass der
Gefragte "keinen guten Geschmack" habe, wenn er dies verneint, und
demzufolge "nicht dazu gehöre". Wie direkt soziale Gruppen eine bestimmte
Ästhetik als Gruppenmerkmal benutzen, ist am Kleidungsstil zu beobachten. Die
enge Verbindung von Ethik und Ästhetik, von Politik und Kunst erklärt das
große, in allen historischen Epochen zu beobachtende Interesse politischer
Gruppen, ihre Anschauungen auch ästhetisch zu manifestieren.
Als Kategorien
begriffen, stehen die drei vitruvianischen Kriterien
nicht beziehungslos nebeneinander, sondern bauen aufeinander auf: Von einem
Architekten wird selbstverständlich erwartet, dass er die "anerkannten
Regeln der Technik" –so der juristische Fachbegriff– kennt und beachtet.
Ist das Kriterium der firmitas nicht ausreichend
erfüllt, brauchen wir von utilitas gar nicht
erst zu reden. Und ein Bauwerk kann noch so schön sein, wenn es nutzlos ist,
interessiert uns seine Schönheit wenig. Diese Rangordnung der Kriterien ist uns
selbst als Redewendung geläufig: "Das ist zwar schön und gut,
aber..." An die Hürden von
Festigkeit und Nützlichkeit gebunden, ist venustas
am schwersten zu erreichen und infolgedessen auch am höchsten geschätzt –
jedoch nur, wenn die beiden ersten Hürden mit Anstand genommen sind.
Kriterien 3:
Ausgewogenheit
Eine Architektur,
welche die Anforderungen von Künstlern, Wissenschaftlern und Politikern
gleichermaßen erfüllt, ist unvorstellbar. Die vitruvianischen
Kriterien sind zwar relevant, aber, absolut gesehen, nicht zu erfüllen. Keiner
dieser drei Bereiche ist in der Lage, konkrete gültige Maßstäbe zu formulieren,
weder Kunst, noch Politik, nicht einmal die Wissenschaft. Letzten Endes geht es
auch nicht um die "Erfüllung" dieser Kriterien, sondern auf einer
höheren Betrachtungsebene um die Ausgewogenheit, mit welcher diese
Anforderungen wahrgenommen werden, um die Stimmigkeit der auf den verschiedenen
Ebenen getroffenen Entscheidungen.
In einem Entwurf
verschmelzen technische, ethische und ästhetische Fragen zu einer Einheit, die,
wenn sie gelungen ist, dem Bereich der Kunst, und nicht dem der Wissenschaft
zugehört. Wissenschaft, wenn sie gut ist, ist "klar und deutlich"
(Descartes), ein guter Entwurf dagegen ist "komplex und
widersprüchlich" (Venturi), er entzieht sich wissenschaftlicher Eindeutigkeit
ebenso wie der Allgemeingültigkeit, die wissenschaftliche Aussagen beanspruchen.
Die Qualitäten eines guten Entwurfes entstehen durch das Ausbalancieren
widersprüchlicher, paradoxer Anforderungen, die sich nicht in Regeln fassen
lassen. Fontanes Satz "dass es mit Prinzipien und einem Paragraphen-Codex
nicht geht“ (a. a. O.), benennt das Dilemma der Architekturkritik. Die
komplexen, widersprüchlichen, paradoxen Anforderungen die an einen Entwurf
gestellt werden, lassen sich zwar auflisten, aber sie helfen wenig bei seiner
Beurteilung. Es gibt unter ihnen viel zu viele gegenseitige Abhängigkeiten,
"Wenn-dann-", "Sowohl-als-auch-" und
"Entweder-oder-" Beziehungen, als dass sich eine Kriterienliste in
einen schlüssigen Algorithmus fassen ließe - dann bräuchte man bei Wettbewerben
nur noch eine Vorprüfung, die ausrechnet, welcher Entwurf der Beste ist.
In der Wahl und
Gewichtung der Kriterien zeigen sich die technischen, ethischen und ästhetische
Werte, die der Arbeit eines Entwerfers zugrunde
liegen. Die Qualität eines Entwurfes lässt sich am ehesten noch im Vergleich
mit einem anderen ermitteln, was nun durchaus eine wissenschaftliche Leistung
sein mag, doch absolut benennbar ist sie nicht. Die Qualität sehr guter
Entwürfe empfinden wir mehr, als wir sie wissen. Unser Gespür für das Ganze,
für eine "stimmige" Balance, "gute" Proportionen, das
Gefühl, dass ein Entwurf eine in ihrer Tiefe nicht mehr ganz fassbare Aussage
macht, sagt uns, dass er gut ist. Wir finden dann Argumente, diese Qualitäten
zu benennen, aber wirklich "beweisbar" oder nach Karl Popper:
"falsifizierbar" sind sie nicht. Die Welt als Ganzes zu denken und
den zu bewertenden Entwurf zu diesem Ganzen in Beziehung zu setzen, ist vom
Kritiker noch mehr verlangt als vom Entwerfer.
Kriterien 4: Der
Kritiker
Vorrausetzung jeder
Kritik ist die Wahrnehmung des zu beurteilenden Gegenstands. Die persönliche
Wahrnehmungsfähigkeit des Kritikers bildet einen durch Instinkt, Intuition,
individuelle und kulturelle Prägung definierten Filter, durch welchen der
Urteilende seinen Gegenstand rezipiert. Er sieht
zunächst das, was er weiß. Was er wahrnimmt ist durch Vorwissen, Vorurteile,
persönliche Vorlieben und Abneigungen bedingt, durch Erinnerung also. Bedeutsam
wird diese Feststellung vor dem Hintergrund, dass Architektur im kulturellen
Sinn, ähnlich wie die Musik, eigentlich nur in unserer Erinnerung existiert.
Hier erst entsteht aus einer Folge einzelner Sinneseindrücke die architektonische
Erfahrung, die dann mit den Erinnerungen an andere Erfahrungen verglichen
wird.
Die Fähigkeit der
Kritik, des Urteilens, des Unterscheidens ist eng verbunden mit der Frage der
Wahrnehmungsfähigkeit, des Bewusstseins, des Erfahrungshorizonts, auf den sich
ein Urteil bezieht. Die architektonische Qualität eines Entwurfs (dies gilt
nicht in gleichem Maß für ein fertiges Gebäude) kann nur beurteilen, wer selbst
"etwas vom" Entwerfen versteht. Anfänger sind sozusagen noch blind,
taub und gefühllos, und grade weil sie das sind, fällt ihnen das Entwerfen so
schwer. Dies gilt nicht nur für Studierende der Architektur, sondern in ähnlicher
Weise auch für die professionellen Kritiker. Sie müssen sozusagen kulturell
auf der Höhe des Entwurfes sein, um ihn verstehen und angemessen kritisieren
zu können. Nicht selten bedeutet ein Verriss lediglich, dass der Kritiker die
Problematik eines Entwurfs einfach nicht verstanden hat. Deshalb ist die
Aussagekraft einer Kritik nur im Bezug auf die kulturelle Position des
Kritikers zu bewerten. Wer sich eine Kritik zu Herzen nimmt, tut gut daran, den
Standpunkt des Kritikers zu bedenken.
Doch viele Kritiker neigen –in der Lehre wie in den Medien– dazu, ihre Meinung
sprachlich absolut zu setzen, und so die Tatsache zu verschleiern, dass
eine Kritik ebenso wie jedes andere Kunstwerk eine subjektive künstlerische
Setzung darstellt. Erst der Vergleich mehrerer Kritiken zum gleichen Thema
relativiert die verschiedenen Standpunkte und macht die Sichtweise der einzelnen
Autoren deutlich. In dieser Relativierung erst kann sich die aufklärerische Funktion von Kritik voll entfalten.
Kriterien 5: Die
Intelligenz der Gefühle
Wenn es nach
Fontanes Worten mit "Prinzipien und einem Paragraphen-Codex" nicht
geht, wie geht es dann? Wie lassen sich in diesem Dilemma widersprüchlicher
Anforderungen Entscheidungen fällen? Was ist "gute" Architektur?
Gibt es, analog zur „gefühlten Temperatur“ der Meteorologen so etwas wie
"gefühlte Qualität“? Fontane gibt uns einen Hinweis, wenn er sagt,
"man muss sich auf seine unmittelbare Empfindung verlassen können"
(zit. nach Reich-Ranicki 1994, S. 122). Statt von hehren Grundsätzen
auszugehen, statt eine Kritik deduktiv von übergeordneten Prinzipien aus zu
entwickeln, können wir auch induktiv, von der konkreten Situation ausgehend
unser Urteil bilden. Wir können uns sozusagen zu Fuß einem Gebäude nähern, um
zu sehen, was es uns sagt, wie es auf uns wirkt, wie es an seinem Ort steht,
welche Räume es bildet, wie es gemacht ist. Wir können es mit allen unseren
Sinnen in uns aufnehmen, und unsere Eindrücke und Empfindungen zur Grundlage
des Urteils machen – wohl wissend, dass unsere persönliche Wahrnehmungsfähigkeit
zugleich die Grenzen dieses Urteils bestimmt, und dass dieses Urteil möglicherweise
mehr darüber aussagt, wie das Gebäude auf uns wirkt als über das Gebäude
selbst.
Aber ist es nicht
gerade die Wirkung eines Gebäudes, die den Unterschied zwischen Architektur und
trivialem Bauen ausmacht? Die Extreme sind, wie immer, leicht zu bestimmen: Auf
etwas wirklich Hässliches reagiert unser vegetatives Nervensystem direkt: Uns
wird übel. Dass etwas nicht wirklich gut ist, spüren wir oft, bevor wir es
wissen und ausdrücken können. Die Erkenntnis jedoch, wie man es besser machen
könnte, lässt manchmal lange auf sich warten. Eine hervorragende Architektur
schließlich kann uns in Hochstimmung versetzen. Den hohen Stellenwert, den
Emotionen – nicht im Sinne von Sentimentalität oder Gefühlsduselei, sondern
als Empfindungsfähigkeit und Sensibilität, als die Intelligenz des Gefühls –
beim Entwerfen haben, lässt sich an der Tatsache erkennen, dass das Entwerfen
emotional außerordentlich belastend oder beglückend sein kann. Vitruv spricht in Zusammenhang mit dem Entwerfen von einem
"Glücksgefühl", das "die Lösung dunkler Probleme" begleitet
(Vitruv, I 2, 2), und berichtet von Archimedes, der „Heureka! Heureka!“ rufend aus der
Badewanne springt.
Der portugiesische
Neurologe António Damásio hat in seinen
Untersuchungen Anzeichen dafür gefunden, dass Emotionen die Grundlage bilden
für alles, was wir denken. Menschen, die ihre Fähigkeit, emotional zu
empfinden, die ihre Gefühle verloren haben, so stellte Damásio
fest, verlieren auch die Fähigkeit zu vorausschauendem planvollem Handeln.
Bei ansonsten vollkommen intakter Intelligenz sind diese Menschen nicht mehr in
der Lage, ihr Tun auf einen weiter gespannten Kontext zu beziehen (vergl. Damásio 2000). Das
Entwerfen braucht somit eine education
sentimentale; die Gefühllosigkeit unserer Architektur zeigt, wie sehr diese
in der Ausbildung fehlt.
Der amtierende
Schachweltmeister Wladimir Kramnik gewinnt Spiele
gegen den Schachcomputer Deep Fritz, der 3,5
Millionen Züge pro Sekunde berechnet und bewertet. Kramnik
spricht von Erfahrung, Positionsgefühl und Intuition, die es ihm erlauben,
diese enorme Rechenleistung zu überwinden, in Spielen, in denen, so Kramnik, "der Computer nie ermüdet, nie unter
Psychoschwächen leidet, während du in fünf Stunden durch ein Meer von Gefühlen
gehst, die die Konzentration beeinträchtigen". Auffällig erscheint mir
hier die enge Verbindung, die Kramnik zwischen seiner
Spielleistung und seinen Gefühlen beschreibt. Die Vermutung liegt nahe,
dass Kramniks
Gefühle nicht nur seine Konzentration beeinträchtigen, sondern sein Spiel
überhaupt erst ermöglichen: Er verliert immer dann, wenn seine Gefühle
"nicht mehr mitspielen". (Runkel 2002)
Kritik als Kunst
Nur die einfachen,
regelhaften Dinge lassen sich rational fassen. Die komplexen, vielschichtigen,
ganzheitlichen Aspekte eines Entwurfs, die, auf welche es letzten Endes
ankommt, erschließen sich nur dem Empfinden, dem Gespür, der Sensibilität des
Einzelnen. Das ist der eigentliche Grund, warum es "mit Prinzipien und
einem Paragraphen-Codex nicht geht". Die Aufgabe der Kritik ist es, diese
Aspekte zu verbalisieren, sie zu vermitteln und dadurch der Rationalität
zugänglich zu machen. Das Kritisieren von Gebäuden und Entwürfen als eine Kunst
zu betrachten ist sicherlich eine Provokation für alle, die glauben (oder
vorgeben) zu wissen, was "gute" Architektur sei. Die Relativität
aller Kriterien und Paradigmen, die Tatsache des anything
goes steht in frappantem Gegensatz zur
Gleichförmigkeit und Ideenlosigkeit des heute Entworfenen und Gebauten.
Offensichtlich ist es gerade diese große Freiheit, die Angst macht, eine Angst,
die dazu führt, dass leider auch heute das Prinzip der imitatio,
der Nachahmung, sich als stärker erweist als das der inventio,
der Erfindung.
In einer offenen
Gesellschaft ist die kontinuierliche Auseinandersetzung um Kriterien und
Werte wichtiger als deren Festlegung. In diesem Punkt entscheidet sich die
Lernfähigkeit des Einzelnen ebenso wie die einer Gesellschaft. In der Lehre ist
die Kritikfähigkeit der Studierenden trainieren, statt diese nur der Kritik zu
unterziehen. Das Entwerfen wird zur Moderation von Interessenkonflikten, die
durch Kritik vermittelt werden. Eine aufgeklärte Entwurfslehre beschränkt sich
nicht darauf, Paradigmen zu postulieren, sondern vermittelt das Vermögen,
Kriterien und ihre Bedeutung zu reflektieren. Es gibt kein Rezept. Was wahr,
gut und schön ist, entzieht sich der Fixierbarkeit, ist von jeder Generation
und von jedem Entwerfer neu zu definieren. Dies
erfordert künstlerische Setzungen, welche die Fragen zu beantworten suchen:
Was können und wollen wir heute? Was heißt es, auf der Höhe der Zeit zu sein?
Welche Faktoren sind für die anstehenden Aufgaben entscheidend?
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