Zur Sprache bringen
Eine Kritik der Architekturkritik

7. Jg., Heft 2 (Januar 2003)    

 

___Kerstin Dörhöfer
Berlin
  Macht und Defizite der Architekturkritik [1]

 

 

Die Architekturkritik ist eine prägende Kraft für das, was als Baukunst gilt. Sie hat Definitionsmacht.

Kürzlich schrieb der Kritiker Robert Kaltenbrunner in einem Beitrag über „nachhaltige Architektur“ in der „Frankfurter Rundschau“: Die Medien „kanalisieren die öffentliche Debatte, über die Qualität zugeteilt wird. Zur Architektur zählt, was einer Besprechung in den Medien wert ist.“ (Frankfurter Rundschau vom 1. Oktober 2002)


Das klingt sachlich, nüchtern, einleuchtend. Robert Kaltenbrunner benennt damit die Macht der Medien und der Architekturkritik, die sich zumeist über Medien offenbart. Demnach ist nicht, was entworfen und gebaut wird, Architektur, sondern was für wert befunden wird, in den Medien besprochen zu werden. Damit verschwindet allerdings ein Großteil der Ergebnisse architektonischer Kreativität. Die Kritik formuliert die Kriterien der Beurteilung, die das Sieb dafür bilden, was von all dem Entworfenen und Gebauten öffentlich präsentiert und damit hervorgehoben wird – in Ausstellungen, Zeitschriften, Radiosendungen oder Fernsehfeatures. Sie erklärt, was auf der Höhe der Zeit oder avantgardistisch ist, was sich zum Erlesenen zählen darf. Es geht um Werke, aber auch um Personen, um die, die diese Werke schaffen.


Es erscheint mir wichtig, dass nicht nur was Architektur ist und wie sie zu sein habe, durch die Kritik definiert wird, sondern auch, wer sich letztendlich zur gestaltenden Elite zählen darf. Ebenso wenig sind die Medien nur eine sächliche Instanz, sondern personifizierbar wie die Architekturkritik übrigens auch. Alle drei Bereiche – die Architektur, die Architekturkritik und die Medien – erscheinen in dieser Sprache als sächlich und abstrakt und sind doch sozial gebunden und durch Personen geprägt, die einen bestimmten Hintergrund und eine subjektive Sicht haben. Sozialisation, Bildung, Ausbildung und kulturelle Traditionen sind der Hintergrund für ästhetische Urteile, aber auch persönliche und individuelle Erfahrungen und Prioritätensetzungen. Das ist der Grund dafür, warum über Architektur – wie über jegliche Kunst – gestritten wird, sich aber in der Fachwelt letztendlich doch ein Konsens herstellt, was zur Baukunst zählen darf und Bedeutung über den Augenblick hinaus erlangt.


Die Architekturkritik ist damit Wegbereiterin der Baugeschichtsschreibung. Mehr noch als in der Auswahl von Bauwerken und baulichen Ensembles für eine Präsentation oder kritische Würdigung in den Medien, mehr noch als in der Aufstellung von Kriterien sehe ich darin das, was ich als „Macht der Architekturkritik“ bezeichnen möchte: die Schaffung der Grundlagen für die Darstellung der Baugeschichte. Sie hält fest, welche Werke und Meister es verdient haben, über die jeweilige Zeit und flüchtige Gegenwart hinaus Bedeutung zu erringen. Sie verleiht auf einer noch höheren Stufe einen gewissen „Ewigkeitswert“. Die Baugeschichte geht ein in die Lehre der Architektur und vermittelt damit den zukünftig Bauenden Urteile nicht nur über die ästhetische Gestaltung, sondern auch über Zweck und Nutzen der Gebäude. Sie lehrt, was kulturelle Tradition ist und über Epochen hinweg als „großes Werk der Baukunst“ zu achten ist. Der einfache Hausbau zählt selten dazu; das Kleine und Flüchtige, das Alltägliche und Vergängliche sind keine Themen in der Baugeschichte.


So gesehen, ist auch die Baugeschichtsschreibung eine Architekturkritik, die auswählt, wertet und festlegt, was Einzug in die „Sphäre der Memorabilia“ halten darf. Die Filter der Auslese liegen also zwischen mehreren Ebenen. So kommt es vor, dass Zeitschriften Themen aufgreifen, Werke vorstellen und ihre Verfasser würdigen, dass Arbeiten in der Fachöffentlichkeit und darüber hinaus Aufmerksamkeit erringen, aber nach kurzer Zeit in Vergessenheit geraten. Alle Kreativität, die diese Aufmerksamkeit erregte, verschwindet ins Nichts, bleibt ohne Spuren in der geschriebenen Baugeschichte. Hat sich in diesem Fall die Architekturkritik geirrt? Hat sie emporgehoben, was keine Beachtung verdient hätte? Hat sie Kriterien angelegt, die der Zeit und dem Anspruch der Baukunst nicht standhielten? Oder lässt die Geschichtsschreibung Spuren versanden, die wichtig waren, doch nicht ihren Kriterien entsprachen?


Ich bin einer solchen Spur gefolgt und möchte diese Fragen am Beispiel des Werkes der Architektin Stefanie Zwirn diskutieren. Sie hat sich mit kleinen Häusern, sehr kleinen Häusern, genau gesagt mit Wohnlauben befasst. Dieses Beispiel erlaubt es in besonderer Weise, die Definitionsmacht der Architekturkritik als Wegbereiterin der Baugeschichte zu überprüfen.

 

Geboren 1896 in Berlin-Wilmersdorf, studierte Stefanie Zwirn seit dem Sommersemester 1917 Architektur an der TH Charlottenburg und verließ die Hochschule 1919 nach nur fünf Semestern als Diplom-Ingenieurin. Sie gehörte damit noch zu den Pionierinnen, die die Profession eroberten. Vor ihr waren seit Beginn des Zugangs von Frauen zum Studium 1909 erst insgesamt 28 an der TH Charlottenburg immatrikuliert worden, also drei bis vier pro Jahr. Nicht alle übten später auch den Beruf aus. Die Architektin war also eine noch seltene Erscheinung in der Bauwelt.


Stefanie Zwirn machte sich einen Namen durch ihre Teilnahme an der großen Berliner Sommerschau „Sonne, Luft und Haus für alle“, die 1932 auf dem Messegelände am Funkturm stattfand. Diese Sommerschau war eine Fortsetzung der berühmten Deutschen Bauausstellung von 1931, die zuerst als Dauerbauausstellung gedacht war. Doch diese Idee wurde auf Grund wirtschaftlicher Schwierigkeiten aufgegeben, und die Ausstellung „Sonne, Luft und Haus für alle“ bildete die bescheidenere Version des ambitionierten Vorhabens.


Durch die Weltwirtschaftskrise, die 1929 begann, wurden die Wohnungsprogramme der Weimarer Republik einem Sparzwang unterworfen. Im Vordergrund stand jetzt die Ideensammlung für die „Wohnung für das Existenzminimum“. Um 1930 fanden deshalb eine Menge Wettbewerbe und Ausstellungen statt, die sich um „Das Eigenheim“ (1930), „Das wachsende Haus“ (1931), „Häuser zu festen Preisen“ (1932) und „Sonne, Luft und Haus für alle“ (1932) drehten. Die Wettbewerbe dienten dazu, möglichst gute Einfälle für kleine, billige, in Selbstbauweise herstellbare Häuschen im Grünen zusammenzutragen; die Ausstellungen sollten die Ideen publik machen und die Bevölkerung zum Nachbauen anregen. Das kleine, sparsame Haus war ein wichtiges Thema zu jener Zeit.

Schon 1927 war in den Berliner Ausstellungshallen und auf dem Freigelände am Funkturm die große Ausstellung „Das Wochenende“ präsentiert worden. Namhafte Architekten jener Zeit beteiligten sich mit Entwürfen und Interimsbauten, unter ihnen Hans Poelzig, Richard Riemerschmid, Jobst Siedler und Max Taut. Auch Margarete Lihotzky nahm mit ihrem späteren Mann Wilhelm Schütte an dieser Ausstellung teil. In der damaligen Fachpresse fanden die Vorschläge für die Wohnform des kleinen, preiswerten und einfach zu errichtenden Hauses große Beachtung.


Das war das Wichtige bei diesen Entwürfen, die zwar als „Wochenendhäuser“ deklariert wurden, aber letztendlich dem dauerhaften Wohnen dienen sollten, um das dringende Wohnungsproblem zu lindern.
Durch typisierte Grundrisse und industrielle Vorfertigung genormter Bauelemente sowie niedrige Kosten sollte das Interesse Wohnungssuchender geweckt werden, sich ein solches Häuschen in Eigenarbeit  zu errichten. Der räumlichen Enge wurden die Vorteile der natürlichen Umgebung entgegengestellt. Die „Deutsche Bauzeitung“ schrieb dazu:

 

„Ein großer Teil der ausgestellten Wochenendhäuser kann mit Fug und Recht nicht nur für den Aufenthalt von 1-2 Tagen in der Woche, sondern als richtige Sommer- und Ferienhäuser angesprochen werden, ja, bei den größeren Typen zumal in den Fällen, wo die Fragen der Isolierung gegen Kälte, Feuchtigkeit usw. eine sorgfältige Behandlung erfahren haben, stehen wir vor der Lösung des Dauerhauses, das nur den Bruchteil eines nach alter Methode gebauten Einfamilienhauses kostet und doch genügend Raum für eine Familie bietet....Wie hygienisch ist das kleine nur wenige Quadratmeter umfassende Schlafzimmer eines Wochenendhauses, dessen Fenster die reine Luft von Wald und Wiese herein lässt, gegenüber dem großen Schlafraum der Stadtwohnung, das den Lungen nur die schlechte Luft von Straße oder Hof bieten kann.“ (Deutsche Bauzeitung Nr. 39 1927, S. 329 f)


Obwohl der wirtschaftliche Niedergang und die hohe Erwerbslosigkeit hinter dieser Entwicklung standen, wurde der Trend von der kleinen Wohnung im Mietshaus in vorstädtischen, aber immerhin städtischen Lagen hin zum Siedlerhaus auf preisgünstigem Grund und Boden am Stadtrand zunächst als wiedererweckte Liebe zur Natur verbrämt. So hieß es in einem Artikel zu „Wochenend – Sommerferien. Neues Wohnen, neues Leben“:


„Mehr und mehr zieht heute der Mensch wieder auf das Land. Die ersten Anregungen hierzu gab der Sport, der die Wohltat des Aufenthalts und lebendiger Bewegung in der freien Natur entdeckte. Neuerdings haben die negativen Einwirkungen des modernen Großstadt- und Bürolebens auf die Gesundheit und zuletzt auch die finanzielle Notlage der Menschen zur Erkenntnis geführt, daß die wirkliche Erholung und wahre Lebensfreude am billigsten und bekömmlichsten in der Landschaft zu finden sind.“ (Frau und Gegenwart, 10. Heft 1932/33, S. 273)

Vorstellungen und Anregungen für diese Lebens- und Wohnform zu präsentieren, war das Anliegen der Sommerschau „Sonne, Luft und Haus für alle“. Sie war in vier Abteilungen untergliedert. Besondere Aufmerksamkeit gewannen die Abteilungen „Das wachsende Haus“ und „Der Kleingarten“. Die Abteilung „Das wachsende Haus“, die unter der Leitung des Stadtbaurates Martin Wagner stand, wurde durch die Teilnahme vieler namhafter Architekten des Neuen Bauens bekannt, zu denen u. a. Otto Bartning, Egon Eiermann mit Fritz Jänicke, Walter Gropius, Hugo Häring, Ludwig Hilberseimer, Paul Mebes, Erich Mendelsohn, Hans Poelzig, Bruno und Max Taut sowie der Gartenarchitekt Leberecht Migge gehörten. Auch Hans Scharoun kam hinzu, und relativ viele Architektinnen beteiligten sich an den Entwürfen für die kleinen, preiswerten Häuser, deren Grundfläche und Baukosten vorgeschrieben waren. Die Abteilung „Das wachsende Haus“ ist in die Baugeschichte eingegangen, nicht so die Abteilung „Der Kleingarten“, obwohl sie damals mehr Aufmerksamkeit errang.


In dieser Abteilung wurden Wochenend- und Wohnlauben in einem eigens angelegten ovalen Terrassengarten präsentiert. Sie stand unter der Leitung von Fritz Spannagel, Professor und Leiter der Berliner Tischlerschule. An der Ausführung war neben Stefanie Zwirn der Architekt Bernhard Wittwer beteiligt. In 22 Gärten von je 300 Quadratmetern Fläche wurden Wohnlauben gezeigt, darunter fünf von Stefanie Zwirn entworfene. In Größe, Konstruktion und Ausstattung unterschieden sie sich kaum von denen ihrer beiden Kollegen Spannagel und Wittwer. So könnte man meinen, Laube ist Laube, was kann daran schon groß entworfen werden, zumal auf so geringer Grundfläche kaum Spielraum ist. Tatsächlich handelt es sich nicht um große Entwürfe, sondern um Variationen eines kleinen Themas, doch es ist erstaunlich, wie die fünf Beispiele von Stefanie Zwirn jeweils auf einen eigenen Inhalt zugeschnitten sind. Sie spielte mit Nutzungsvariationen, die sich in der Namensgebung spiegelten.


So entwarf sie auf der geringen Grundfläche von 21 Quadratmetern die „Wohnlaube eines geistigen Arbeiters“ mit abgetrennter Schlafkammer und Kochstube. Neben der Kochstube lagen am kleinen Eingangsflur außerdem noch Klosett und Abstellraum. Ein Schreibtisch am Fenster zeigte die Nutzung an. Zur Terrasse öffnete sich eine große zweiflügelige Glastür zwischen Schreibtisch und Sitzecke. Das quadratische Häuschen sollte, wenn es schon zum Elfenbeinturm nicht reichte, einen elfenbeinfarben Anstrich erhalten, der durch rosa Töne und eine grau-weiße Markise über der Terrasse aufgelockert wurde. Einschließlich Anfuhr, Montage und Anstrich betrugen die Kosten nicht mehr als 1440 Reichsmark. Der „geistige Arbeiter“, dessen Beruf nicht viel Geld einbrachte, sollte also wenigstens über viel Ruhe verfügen und erhielt sogar einen kleinen, abgeteilten Rückzugsbereich zum Schlafen.


Das schien der Architektin für die Eigner der beiden folgenden Lauben nicht erforderlich zu sein. Die „Laube mit Hühners“ und die „Laube des Vogelfreundes“. waren beide Einraumlauben mit vorgelagerter Veranda bzw. überdachter Terrasse. Sie erhielten ihren eigenen Charakter durch die seitlich angebauten Hühner- und Taubenställe. Dabei konnte der Taubenfreund von seinem Freisitz Einblick nehmen in die überdeckten Ausläufe seiner Lieblinge zu beiden Seiten dieses Freisitzes. Die Anstriche der Lauben sollten Frische ausstrahlen, grün und weiß sein, aufgelockert durch ein kräftiges Rot der Fenster- und Türrahmen. Die Fertigkosten beider Lauben, die eine etwas größere Grundfläche hatten als die für den „geistigen Arbeiter“, nämlich 23 und 25 Quadratmeter, betrugen um die 2000 Reichsmark.


Stefanie Zwirn entwarf außerdem zwei etwas größere Lauben mit jeweils knapp 31 und 37 Quadratmetern Grundfläche.


Die kleinere plante sie für ein Ehepaar mit ein bis zwei Kindern. Darin nächtigten die Eltern in zwei Klappbetten in der gemeinsamen Stube, Kinder und Küche waren in eigenen kleinen Räumen untergebracht. Das klare Rechteck dieser Laube fasste außerdem Klosett und Geräteraum, die in anderen Entwürfen häufig als Anbauten oder extra Schuppen erschienen. Die einfache Form dieses Häuschens erhielt ihre Gliederung durch eine Fensterreihe über Eck, die dem Sitzbereich in der Stube die Atmosphäre einer luftigen Veranda verlieh.

Die größere Laube für Eltern mit mehreren Kindern – sie war die größte aller auf der Ausstellung präsentierten Gartenhäuser – hatte einen länglichen Mittelteil, dem an Vor- und Rückseite jeweils Gebäudeversprünge angegliedert waren.
 



Im Mittelteil lagen links die Wohnstube und rechts eine Schlafkammer für die Eltern, dazwischen befand sich eine Kochnische, durch die man in den hinteren Anbau mit Stall, Geräteraum und Klosett gelangte. Im Hauptraum befand sich außerdem eine Bodenklappe, die zu einem kleinen Vorratskeller führte. Im vorderen Anbau lag das Zimmer für die Kinder von etwa gleichem Ausmaß wie die elterliche Schlafkammer. Je nach Bedürfnis ließ sich die Raumnutzung also tauschen. Die Architektin bemühte sich durch die Maßgebung außerdem darum, die Proportionen einem Rhythmus zu unterwerfen, um durch die Vor- und Rücksprünge dem Häuschen eine eigene Gestalt zu geben.
Durch den Versprung an der Hausfront ergab sich ein überdachter Vorplatz, der zu einer Veranda – und damit zur Vergrößerung des Wohnraums – ausgebaut werden konnte, die Konstruktion dafür war bereits vorgegeben.


Für diese Lauben sah die Architektin ockergelbe bzw. elfenbeinweiße Farbanstriche vor, die unterbrochen werden sollten durch weiße, rote und kobaltblaue Gesimse, Rahmen und Eckpfosten. Sie bediente sich also auch hier kräftiger Farben, um die einfache Gestaltung der kleinen Häuser mit Abwechslung zu versehen, Individualität zu markieren und Identifikation zu ermöglichen.


Der Preis dieser beiden Lauben wurde mit 2400 und 3000 Reichsmark berechnet, wobei sich die Kostendifferenz nicht aus der unterschiedlichen Größe, sondern aus der wahlweise einwandigen oder doppelwandigen, also winterfesten Herstellung, ergab. Daraus ist erkennbar, dass die mehrräumigen Lauben für Eltern mit Kindern als Dauerbehausungen ausgeführt werden konnten. Sie waren damit eine Variante des sparsamen Eigenhauses als eine Form der „Wohnung für das Existenzminimum“. Ihre Baukosten bewegten sich im Rahmen der Vorgaben für „Das wachsende Haus“.


Alle Wohnlauben waren als Holzfachwerkhäuser mit waagerechter Holzverschalung und Dämmplatten konzipiert. Sie wurden von der Holzbaufirma mit einer Montageskizze geliefert, so dass sie vom Käufer leicht zusammengesetzt werden konnten.


Die Farbvorschläge sollten im Ensemble der Lauben das Einerlei auflockern und ihnen ein heiter-freundliches Aussehen verleihen. Eine Zeitschrift urteilte:

„Nicht das Technisch-Konstruktive ist bei der Ausarbeitung maßgebend gewesen, das ist selbstverständliche Voraussetzung. Der Mensch soll sich wohl fühlen, soll den Dingen seines Hauses nicht nüchtern und verstandesmäßig gegenüberstehen, sondern alles in seine innersten seelischen Beziehungen einordnen.“ (Das schöne Heim Nr. 1 1932, S. 30)


Die Fachpresse widmete dieser Abteilung der Ausstellung „Sonne, Luft und Haus für alle“ nicht minder große Aufmerksamkeit als der Abteilung „Das wachsende Haus“. Das „Zentralblatt der Bauverwaltung“ bezeichnete sie sogar als die wertvollste und interessanteste aller vier Abteilungen, die sich mehr oder weniger um das gleiche Thema drehten, weil ihre Exponate so einfach, schlicht und praktikabel erschienen und weniger industriell als die „wachsenden Häuser“ wirkten. (Zentralblatt der Bauverwaltung Heft 32 1932, S. 380). Vielleicht war das auch der Grund, warum sie bei den Ausstellungsbesuchern großen Anklang fand.


Stefanie Zwirn gab gemeinsam mit Fritz Spannagel ein „
Bauwelt-Sonderheft“ heraus, in dem 25 Sommerlauben und Wohnlauben zum Preise von 100 bis 3000 Mark vorgestellt wurden. Es war so gefragt, dass es 1934 schon die 5. Auflage erhielt.


Sie präsentierte darin an eigenen Entwürfen außer den oben vorgestellten fünf Wohnlauben ein Kleinsthaus in Plattenbauweise zum Preis von knapp 4500 Reichsmark.



Es war eine weitere Variante des sparsamen Hauses, beruhte auf dem gleichen konstruktiven System und bestand aus dem gleichen Material. Auch dieses Haus hatte eine Grundfläche von nur 37 Quadratmetern, aber es hatte – anders als die Lauben mit ihren flachen Dächern – ein Satteldach und war voll unterkellert. Dadurch erhielt es einen vergleichsweise soliden, aber auch konservativeren Charakter. Es bot Platz für vier Personen. Im Erdgeschoss lag ein Wohnraum mit überdachtem Freisitz, zu dem auch die Küche einen direkten Zugang hatte. Hinter der Treppe in das ausgebaute Dachgeschoss befand sich ein Geräteraum, an die Küche grenzte eine Waschküche mit Sitzbadewanne. Die beiden Schlafzimmer der Eltern und der zwei Kinder lagen im Obergeschoss.

Stefanie Zwirn variierte also ein Thema immer wieder: die möglichst zweckdienliche Organisation aller für das Alltagsleben eines Haushaltes mit geringem Einkommen notwendigen Funktionen auf kleinster Fläche. Das Ziel größtmöglicher Sparsamkeit erfüllte sie durch einfache Fachwerkkonstruktion und Plattenbauweise. Unverkennbar bemühte sie sich darum, möglichst viel Licht einzufangen, denn häufig sah sie Fensterreihen über Eck vor. Farb- und Namensgebungen ihrer Laubenentwürfe verrieten ebenso wie die Raumanordnungen und Innenausstattungen einen spielerischen und liebevollen Umgang mit der Aufgabe.


1931 hatte sie – in diesem Fall als Architekturkritikerin – in der Fachzeitschrift „
Bauwelt“ einen Artikel über Bauten der Architekten Paul Mebes und Paul Emmerich geschrieben und dabei einen Satz des Stadtbaurates Martin Wagner zitiert: „Der neuen Sachlichkeit muss sich die neue Herzlichkeit hinzugesellen.“ (Bauwelt Heft 34 1931, S. 33-42, hier zit. S. 33) Es scheint, als habe sich Stefanie Zwirn in ihren Entwürfen genau darum bemüht.


Außer den fünf Interimsbauten der Lauben und dem Entwurf für ein Kleinsthaus wurden in späteren „
Bauwelt-Sonderheften“ zwei von Stefanie Zwirn realisierte Häuser publiziert, deren Baujahre leider nicht bekannt sind. Ich möchte sie abschließend kurz vorstellen, nicht nur um den Überblick über ihre Entwurfstätigkeit zu komplettieren, sondern um zu zeigen, wie ihre Häuser aussahen, die wirklich gebaut wurden.


Dabei unterschied sich das kleinere von den Lauben in seinem Aussehen kaum, denn auch dieses Haus in Fichtenau bei Berlin für eine Familie mit drei Kindern variierte das Thema der kosten- und flächensparenden Bauweise. Auf einer bebauten Fläche von 69 Quadratmetern erhob sich der voll unterkellerte Flachbau aus verputztem Ziegelmauerwerk, dessen Baukosten 6800 Reichsmark betrugen. Die innere Aufteilung war denkbar einfach. Die Architektin schrieb dazu:

„Zu Gunsten des Wohnraumes, der in erster Linie als Kinderspielzimmer dient, ist auf den Eingangsflur verzichtet; wie eine Wohndiele sind von ihm die Schlafzimmer, Küche und Bad zugänglich; durch das vierflügelige Fenster mit nur 60 cm hoher Brüstung wirkt er wie eine Gartenhalle.“ (
Bauwelt-Sonderheft 4, o. J., S. 18)

Wie bei den Lauben wurde also auch hier der Lichteinfall besonders wichtig genommen, doch der Grundriss war trotz der größeren Wohnfläche schlichter, weniger ausgetüftelt und bis ins
Detail überlegt.


Dass Stefanie Zwirn sich nicht nur mit Lauben und Kleinsthäusern befasste, sondern – wenn sich die Gelegenheit bot – auch ein größeres, gutbürgerliches Wohnhaus entwarf, zeigt das letzte Beispiel.

In Berlin-Zehlendorf errichtete sie ein Wohnhaus mit acht Zimmern. Es war ebenfalls ein verputzter Massivbau, hatte ein Satteldach und das Aussehen vieler in Zehlendorf in jener Zeit errichteter Häuser. Es hob sich äußerlich nicht hervor und hätte ohne weiteres in die Reihe der Wohngebäude gepasst, die 1928 in der Siedlung „Am Fischtalgrund“ entstanden. Sein Grundriss zeigte eine großzügige Raumfolge von Herrenzimmer, Damenzimmer und Speisezimmer mit vorgelagerter Veranda und Terrasse im Erdgeschoss. Alle Zimmer waren miteinander verbunden, so dass sich ein räumliches Kontinuum ergab. Auch hier betonte die Architektin die Öffnung der vierflügeligen Glastür nach außen, um die verglaste Veranda völlig in das Wohn- und Speisezimmer einzubeziehen. (Bauwelt-Sonderheft 9, o. J., S. 21) Im Erdgeschoss lag neben dem Speisezimmer außerdem eine geräumige Küche mit eigenem Zugang zum Vorgarten. Den Eingang zum Haus erreichte man über ein paar Stufen am linken Ende des Hauses und gelangte durch die Garderobe mit Besucher-WC in eine zentrale Diele. Eine zweimal viertelgewendelte Treppe führte in das Obergeschoss mit einer Raumfolge von Zimmern: einem zentral gelegenen Schlafzimmer für die Eltern, einem Zimmer mit eigenem Balkon über der Veranda für die Tochter und je einem Zimmer für Gast und Hausmädchen. Außer dem Badezimmer und WC-Raum gab es im Obergeschoss noch Hauswirtschaftsräume, von denen sich weitere im Dachgeschoss befanden wie zum Beispiel eine mit Zink ausgeschlagene Mottenkammer. Der Keller erhielt neben den üblichen Vorrats-, Wasch- und Heizungsräumen eine vom Garten aus zugängliche Bastelstube. Die Architektin bedachte also, wie es damals explizit gefordert wurde, die praktische Haushaltsführung und sah dafür erstaunlich viele Nebenräume vor. Wenn auch unprätentiös in seinem Äußeren, bot dieses Haus in seiner inneren Organisation ein hohes Maß an Zweckmäßigkeit und Wohnkomfort. Bei einer bebauten Fläche von 159 Quadratmetern betrugen die Baukosten 42.600 Mark – ein stolzer Preis im Vergleich zu den Wohnlauben und Kleinsthäusern.


Obwohl ein größeres und für die Dauer gebautes Wohnhaus in einer Architektenkarriere mehr Bedeutung hat als Interimsbauten, so zeugen diese doch von einer intensiveren Nachdenklichkeit und größeren Kreativität, entwurflichen Geschicklichkeit und Einfühlsamkeit in das Leben derer, für die sie entworfen wurden. Die Sensibilität gegenüber dem Kleinen und Einfachen ist es, was das Werk dieser Architektin bemerkenswert macht.


Durch ihre Publikationen war Stefanie Zwirn Anfang der Dreißiger Jahre in Fachkreisen bekannt geworden, aber nach dem Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft in Deutschland gab es keine Veröffentlichungen mehr von ihr oder über ihr Werk. In der Reichskammer der bildenden Künste wurde sie als „Volljüdin“ geführt; seit August 1945 galt sie als verschollen. Weitere Spuren konnten nicht gefunden werden.

Was also bleibt?


Die Architektin ist verschollen, vergessen; die Gebäude waren zumeist nur Provisorien, wurden auf Ausstellungen präsentiert und wieder abgerissen. Sie waren klein, sparsam, zweckmäßig, bescheiden. Die beiden realisierten Häuser konnten nicht identifiziert werden, ihre Adressen sind unbekannt, falls sie überhaupt noch stehen. Stefanie Zwirn und ihr Werk sind somit eine flüchtige Erscheinung in der Baugeschichte, die stattgefunden hat; in der, die geschrieben wurde, werden sie gar nicht erwähnt. Es ist, als hätte es ihr Engagement und ihre Bemühungen um einen Bautyp nicht gegeben, der Ende der Zwanziger, Anfang der Dreißiger Jahre eine wichtige Aufgabe für Architekten war. Wären da nicht die „
Bauwelt-Sonderhefte“, in denen sie ihre Spuren hinterließ, weil sie sie zum Teil selber zusammenstellte, wäre von ihr als Architektin nichts geblieben. War es ihr Werk nicht wert? Galt es nicht als Architektur?


Was unterscheidet ihre kleinen Häuser, die sie für andere in verschiedenen Variationen entwarf, von Le Corbusiers „Cabanon“ an der Cote d’Azur, das er zwanzig Jahre später für sich selbst, nach seinem Maß und „Modulor“ errichtete und das noch immer in der Architekturkritik und in den Büchern der Baugeschichte besprochen wird? Material und Konstruktion sind es nicht (auch „Le Cabanon“ ist ein einfaches Holzhaus), die Farbgebung ist es nicht, die Dimensionen und Proportionen sind es nicht, die Genauigkeit der
Details ist es nicht, die beider Häuser unterscheiden, die ihre Lauben belanglos, seine Hütte zur „architektonischen Grundsatzerklärung“ (zeitmagazin 38/1990, S. 81) haben werden lassen. Erkennbar wird an diesem Vergleich die Macht der Definition des Maßgeblichen für die Architektur. Die „ZEIT“ schrieb dazu: „Le Corbusier gelingt es, aus seiner Hütte einen Mythos zu machen.“ (ebd.) Heute werden Führungen zu dieser Hütte veranstaltet, und es soll ein Museum entstehen.


Selbstverständlich basiert Le Corbusiers Ruhm nicht auf seinem kleinen Haus, dem „Cabanon“, sondern auf seinen großen Projekten, auf seinen Prinzipien für eine neue Architektur wie auf seinen städtebaulichen Visionen. Er ist deshalb noch immer die Leitfigur für viele gegenwärtig tätige Architekten und manche der gegenwärtig tätigen Architektinnen, er ist ein von Studenten und Studentinnen bewunderter Meister. Wie kann man es wagen, ihm Stefanie Zwirn gegenüberzustellen?


Die Begründungen sind einfach:

·        um ein Defizit der Architekturkritik zu beheben, die das Kleine, Sparsame, Flüchtige vergisst - wenn es nicht ein Nebenprodukt großer Meister ist -, das dennoch so viel Kreativität enthält und ein hohes Maß an sozialem Engagement offenbart;

·        um eine Architektur zu loben, die nicht um das Ego des Meisters kreist, sondern alltäglichen Bedürfnissen gerecht werden will;

·        um die Hierarchie zwischen dem, was als architektonisches Paradigma hervorgehoben wird, und dem, was als marginal gilt, in Frage zu stellen;

·        um Aufmerksamkeit auf die Werte des als marginal Definierten zu lenken;

·        um an das Lebenswerk einer verschollenen Architektin zu erinnern, nicht weil sie Jüdin war und vermutlich dem Holocaust zum Opfer fiel, sondern weil sie sich unter den damals noch sehr einschränkenden Bedingungen für Frauen im Bauwesen der Architektur mit großem Engagement gewidmet hat, und zwar einem Bereich der Architektur, der eben nicht das Große und Prestigeträchtige umfasste. Gerade darin sehe ich Können und Kreativität: in der Variation des Themas, auch wenn die Dimensionen klein sind. Hier übrigens liegt der Unterschied zwischen Stefanie Zwirns Lauben und Le Corbusiers Hütte: Er hat ein Konzept entwickelt, das er in hunderttausendfacher Wiederholung dachte, sie hat für jeden ein eigenes und besonderes entworfen.


Wenn ich die Beachtung dessen als Defizit der Architekturkritik bezeichne, so möchte ich doch nicht einer Beliebigkeit der Architekturpräsentation in den Medien das Wort reden. Es geht mir nicht in erster Linie darum, dass neben den großen Projekten auch die kleinen und bescheidenen beachtet werden. Das geschieht ja zuweilen. Es geht mir darum, dass die Architekturkritik vor allem in ihrer Funktion als Wegbereiterin der Baugeschichtsschreibung die Ereignisse und Bestrebungen in Augenschein nimmt, die mehr zu erkennen geben als spektakuläre Formen und Ästhetik. Kreativität in kleinen Dingen und Ernsthaftigkeit eines architektonischen Anliegens verändern oft mehr als große, spektakuläre Projekte der hochgehobenen Meister. 


[1] Dieser Beitrag basiert auf einem Forschungsprojekt an der Universität der Künste über „Werke von Architektinnen – ein Beitrag zur Baugeschichte des 20. Jahrhunderts“.
 


 

feedback