Zur
Sprache bringen |
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7. Jg., Heft 2 (Januar 2003) |
___Kerstin
Dörhöfer Berlin |
Macht und Defizite der Architekturkritik [1] |
Die Architekturkritik ist eine
prägende Kraft für das, was als Baukunst gilt. Sie hat Definitionsmacht.
Kürzlich schrieb der Kritiker Robert
Kaltenbrunner in einem Beitrag über „nachhaltige Architektur“ in der
„Frankfurter Rundschau“: Die Medien „kanalisieren die öffentliche Debatte, über
die Qualität zugeteilt wird. Zur Architektur zählt, was einer Besprechung in
den Medien wert ist.“ (Frankfurter Rundschau vom 1. Oktober 2002)
Das klingt sachlich, nüchtern, einleuchtend. Robert Kaltenbrunner benennt damit
die Macht der Medien und der Architekturkritik, die sich zumeist über Medien
offenbart. Demnach ist nicht, was entworfen und gebaut wird, Architektur,
sondern was für wert befunden wird, in den Medien besprochen zu werden. Damit
verschwindet allerdings ein Großteil der Ergebnisse architektonischer
Kreativität. Die Kritik formuliert die Kriterien der Beurteilung, die das Sieb
dafür bilden, was von all dem Entworfenen und Gebauten öffentlich präsentiert
und damit hervorgehoben wird – in Ausstellungen, Zeitschriften, Radiosendungen
oder Fernsehfeatures. Sie erklärt, was auf der Höhe der Zeit oder
avantgardistisch ist, was sich zum Erlesenen zählen darf. Es geht um Werke,
aber auch um Personen, um die, die diese Werke schaffen.
Es erscheint mir wichtig, dass nicht nur was
Architektur ist und wie sie zu sein
habe, durch die Kritik definiert wird, sondern auch, wer sich letztendlich zur gestaltenden Elite zählen darf. Ebenso
wenig sind die Medien nur eine sächliche Instanz, sondern personifizierbar wie
die Architekturkritik übrigens auch. Alle drei Bereiche – die Architektur, die
Architekturkritik und die Medien – erscheinen in dieser Sprache als sächlich
und abstrakt und sind doch sozial gebunden und durch Personen geprägt, die
einen bestimmten Hintergrund und eine subjektive Sicht haben. Sozialisation,
Bildung, Ausbildung und kulturelle Traditionen sind der Hintergrund für ästhetische
Urteile, aber auch persönliche und individuelle Erfahrungen und
Prioritätensetzungen. Das ist der Grund dafür, warum über Architektur – wie
über jegliche Kunst – gestritten wird, sich aber in der Fachwelt letztendlich
doch ein Konsens herstellt, was zur Baukunst zählen darf und Bedeutung über den
Augenblick hinaus erlangt.
Die Architekturkritik ist damit Wegbereiterin der Baugeschichtsschreibung. Mehr
noch als in der Auswahl von Bauwerken und baulichen Ensembles für eine
Präsentation oder kritische Würdigung in den Medien, mehr noch als in der
Aufstellung von Kriterien sehe ich darin das, was ich als „Macht der
Architekturkritik“ bezeichnen möchte: die Schaffung der Grundlagen für die
Darstellung der Baugeschichte. Sie hält fest, welche Werke und Meister es
verdient haben, über die jeweilige Zeit und flüchtige Gegenwart hinaus
Bedeutung zu erringen. Sie verleiht auf einer noch höheren Stufe einen gewissen
„Ewigkeitswert“. Die Baugeschichte geht ein in die Lehre der Architektur und
vermittelt damit den zukünftig Bauenden Urteile nicht nur über die ästhetische
Gestaltung, sondern auch über Zweck und Nutzen der Gebäude. Sie lehrt, was
kulturelle Tradition ist und über Epochen hinweg als „großes Werk der Baukunst“
zu achten ist. Der einfache Hausbau zählt selten dazu; das Kleine und
Flüchtige, das Alltägliche und Vergängliche sind keine Themen in der
Baugeschichte.
So gesehen, ist auch die Baugeschichtsschreibung eine Architekturkritik, die
auswählt, wertet und festlegt, was Einzug in die „Sphäre der Memorabilia“
halten darf. Die Filter der Auslese liegen also zwischen mehreren Ebenen. So
kommt es vor, dass Zeitschriften Themen aufgreifen, Werke vorstellen und ihre
Verfasser würdigen, dass Arbeiten in der Fachöffentlichkeit und darüber hinaus
Aufmerksamkeit erringen, aber nach kurzer Zeit in Vergessenheit geraten. Alle
Kreativität, die diese Aufmerksamkeit erregte, verschwindet ins Nichts, bleibt
ohne Spuren in der geschriebenen Baugeschichte. Hat sich in diesem Fall die
Architekturkritik geirrt? Hat sie emporgehoben, was keine Beachtung verdient
hätte? Hat sie Kriterien angelegt, die der Zeit und dem Anspruch der Baukunst
nicht standhielten? Oder lässt die Geschichtsschreibung Spuren versanden, die
wichtig waren, doch nicht ihren
Kriterien entsprachen?
Ich bin einer solchen Spur gefolgt und möchte diese Fragen am Beispiel des
Werkes der Architektin Stefanie Zwirn diskutieren. Sie hat sich mit kleinen
Häusern, sehr kleinen Häusern, genau gesagt mit Wohnlauben befasst. Dieses
Beispiel erlaubt es in besonderer Weise, die Definitionsmacht der
Architekturkritik als Wegbereiterin der Baugeschichte zu überprüfen.
Geboren 1896 in Berlin-Wilmersdorf,
studierte Stefanie Zwirn seit dem Sommersemester 1917 Architektur an der TH
Charlottenburg und verließ die Hochschule 1919 nach nur fünf Semestern als
Diplom-Ingenieurin. Sie gehörte damit noch zu den Pionierinnen, die die
Profession eroberten. Vor ihr waren seit Beginn des Zugangs von Frauen zum
Studium 1909 erst insgesamt 28 an der TH Charlottenburg immatrikuliert worden,
also drei bis vier pro Jahr. Nicht alle übten später auch den Beruf aus. Die
Architektin war also eine noch seltene Erscheinung in der
Stefanie Zwirn machte sich einen Namen durch ihre Teilnahme an der großen
Berliner Sommerschau „Sonne, Luft und Haus für alle“, die 1932 auf dem
Messegelände am Funkturm stattfand. Diese Sommerschau war eine Fortsetzung der
berühmten Deutschen Bauausstellung von 1931, die zuerst als Dauerbauausstellung
gedacht war. Doch diese Idee wurde auf Grund wirtschaftlicher Schwierigkeiten
aufgegeben, und die Ausstellung „Sonne, Luft und Haus für alle“ bildete die
bescheidenere Version des ambitionierten Vorhabens.
Schon 1927 war in den Berliner
Ausstellungshallen und auf dem Freigelände am Funkturm die große Ausstellung
„Das Wochenende“ präsentiert worden. Namhafte Architekten jener Zeit
beteiligten sich mit Entwürfen und Interimsbauten, unter ihnen Hans Poelzig,
Richard Riemerschmid, Jobst Siedler und Max Taut. Auch Margarete Lihotzky nahm
mit ihrem späteren Mann Wilhelm Schütte an dieser Ausstellung teil. In der
damaligen Fachpresse fanden die Vorschläge für die Wohnform des kleinen,
preiswerten und einfach zu errichtenden Hauses große Beachtung.
Das war das Wichtige bei diesen Entwürfen, die zwar als „Wochenendhäuser“
deklariert wurden, aber letztendlich dem dauerhaften Wohnen dienen sollten, um
das dringende Wohnungsproblem zu lindern.
„Ein großer Teil der ausgestellten
Wochenendhäuser kann mit Fug und Recht nicht nur für den Aufenthalt von 1-2
Tagen in der Woche, sondern als richtige Sommer- und Ferienhäuser angesprochen
werden, ja, bei den größeren Typen zumal in den Fällen, wo die Fragen der
Isolierung gegen Kälte, Feuchtigkeit usw. eine sorgfältige Behandlung erfahren
haben, stehen wir vor der Lösung des Dauerhauses, das nur den Bruchteil eines
nach alter Methode gebauten Einfamilienhauses kostet und doch genügend Raum für
eine Familie bietet....Wie hygienisch ist das kleine nur wenige Quadratmeter
umfassende Schlafzimmer eines Wochenendhauses, dessen Fenster die reine Luft
von Wald und Wiese herein lässt, gegenüber dem großen Schlafraum der
Stadtwohnung, das den Lungen nur die schlechte Luft von Straße oder Hof bieten
kann.“ (Deutsche Bauzeitung Nr. 39 1927, S. 329 f)
Obwohl der wirtschaftliche Niedergang und die hohe Erwerbslosigkeit hinter
dieser Entwicklung standen, wurde der Trend von der kleinen Wohnung im
Mietshaus in vorstädtischen, aber immerhin städtischen Lagen hin zum
Siedlerhaus auf preisgünstigem Grund und Boden am Stadtrand zunächst als
wiedererweckte Liebe zur Natur verbrämt. So hieß es in einem Artikel zu
„Wochenend – Sommerferien. Neues Wohnen, neues Leben“:
„Mehr und mehr zieht heute der Mensch
wieder auf das Land. Die ersten Anregungen hierzu gab der Sport, der die
Wohltat des Aufenthalts und lebendiger Bewegung in der freien Natur entdeckte.
Neuerdings haben die negativen Einwirkungen des modernen Großstadt- und
Bürolebens auf die Gesundheit und zuletzt auch die finanzielle Notlage der
Menschen zur Erkenntnis geführt, daß die wirkliche Erholung und wahre
Lebensfreude am billigsten und bekömmlichsten in der Landschaft zu finden
sind.“ (Frau und Gegenwart, 10. Heft 1932/33, S. 273)
Vorstellungen und Anregungen für
diese Lebens- und Wohnform zu präsentieren, war das Anliegen der Sommerschau
„Sonne, Luft und Haus für alle“. Sie war in vier Abteilungen untergliedert.
Besondere Aufmerksamkeit gewannen die Abteilungen „Das wachsende Haus“ und „Der
Kleingarten“. Die Abteilung „Das wachsende Haus“, die unter der Leitung des
Stadtbaurates Martin Wagner stand, wurde durch die Teilnahme vieler namhafter
Architekten des Neuen Bauens bekannt, zu denen u. a. Otto Bartning, Egon
Eiermann mit Fritz Jänicke, Walter Gropius, Hugo Häring, Ludwig Hilberseimer,
Paul Mebes, Erich Mendelsohn, Hans Poelzig, Bruno und Max Taut sowie der
Gartenarchitekt Leberecht Migge gehörten. Auch Hans Scharoun kam hinzu, und
relativ viele Architektinnen beteiligten sich an den Entwürfen für die kleinen,
preiswerten Häuser, deren Grundfläche und Baukosten vorgeschrieben waren. Die
Abteilung „Das wachsende Haus“ ist in die Baugeschichte eingegangen, nicht so
die Abteilung „Der Kleingarten“, obwohl sie damals mehr Aufmerksamkeit errang.
In dieser Abteilung wurden Wochenend- und Wohnlauben in einem eigens angelegten
ovalen Terrassengarten präsentiert. Sie stand unter der Leitung von Fritz
Spannagel, Professor und Leiter der Berliner Tischlerschule. An der Ausführung
war neben Stefanie Zwirn der Architekt Bernhard Wittwer beteiligt. In 22 Gärten
von je 300 Quadratmetern Fläche wurden Wohnlauben gezeigt, darunter fünf von
Stefanie Zwirn entworfene. In Größe, Konstruktion und Ausstattung unterschieden
sie sich kaum von denen ihrer beiden Kollegen Spannagel und Wittwer. So könnte
man meinen, Laube ist Laube, was kann daran schon groß entworfen werden, zumal
auf so geringer Grundfläche kaum Spielraum ist. Tatsächlich handelt es sich
nicht um große Entwürfe, sondern um Variationen eines kleinen Themas, doch es
ist erstaunlich, wie die fünf Beispiele von Stefanie Zwirn jeweils auf einen
eigenen Inhalt zugeschnitten sind. Sie spielte mit Nutzungsvariationen, die
sich in der Namensgebung spiegelten.
So entwarf sie auf der geringen Grundfläche von 21 Quadratmetern die „Wohnlaube
eines geistigen Arbeiters“ mit abgetrennter Schlafkammer und Kochstube. Neben
der Kochstube lagen am kleinen Eingangsflur außerdem noch Klosett und
Abstellraum. Ein Schreibtisch am Fenster zeigte die Nutzung an. Zur Terrasse
öffnete sich eine große zweiflügelige Glastür zwischen Schreibtisch und
Sitzecke. Das quadratische Häuschen sollte, wenn es schon zum Elfenbeinturm
nicht reichte, einen elfenbeinfarben Anstrich erhalten, der durch rosa Töne und
eine grau-weiße Markise über der Terrasse aufgelockert wurde. Einschließlich
Anfuhr, Montage und Anstrich betrugen die Kosten nicht mehr als 1440
Reichsmark. Der „geistige Arbeiter“, dessen Beruf nicht viel Geld einbrachte,
sollte also wenigstens über viel Ruhe verfügen und erhielt sogar einen kleinen,
abgeteilten Rückzugsbereich zum Schlafen.
Das schien der Architektin für die Eigner der beiden folgenden Lauben nicht
erforderlich zu sein. Die „Laube mit Hühners“ und die „Laube des
Vogelfreundes“. waren beide Einraumlauben mit vorgelagerter Veranda bzw.
überdachter Terrasse. Sie erhielten ihren eigenen Charakter durch die seitlich
angebauten Hühner- und Taubenställe. Dabei konnte der Taubenfreund von seinem
Freisitz Einblick nehmen in die überdeckten Ausläufe seiner Lieblinge zu beiden
Seiten dieses Freisitzes. Die Anstriche der Lauben sollten Frische ausstrahlen,
grün und weiß sein, aufgelockert durch ein kräftiges Rot der Fenster- und
Türrahmen. Die Fertigkosten beider Lauben, die eine etwas größere Grundfläche
hatten als die für den „geistigen Arbeiter“, nämlich 23 und 25 Quadratmeter, betrugen
um die 2000 Reichsmark.
Stefanie Zwirn entwarf außerdem zwei etwas größere Lauben mit jeweils knapp 31
und 37 Quadratmetern Grundfläche.
Die kleinere plante sie für ein Ehepaar mit ein bis zwei Kindern. Darin
nächtigten die Eltern in zwei Klappbetten in der gemeinsamen Stube, Kinder und
Küche waren in eigenen kleinen Räumen untergebracht. Das klare Rechteck dieser
Laube fasste außerdem Klosett und Geräteraum, die in anderen Entwürfen häufig
als Anbauten oder extra Schuppen erschienen. Die einfache Form dieses Häuschens
erhielt ihre Gliederung durch eine Fensterreihe über Eck, die dem Sitzbereich
in der Stube die Atmosphäre einer luftigen Veranda verlieh.
Die größere Laube für Eltern mit
mehreren Kindern – sie war die größte aller auf der Ausstellung präsentierten
Gartenhäuser – hatte einen länglichen Mittelteil, dem an Vor- und Rückseite
jeweils Gebäudeversprünge angegliedert waren.
Im Mittelteil lagen links die Wohnstube und rechts eine Schlafkammer für die
Eltern, dazwischen befand sich eine Kochnische, durch die man in den hinteren
Anbau mit Stall, Geräteraum und Klosett gelangte. Im Hauptraum befand sich
außerdem eine Bodenklappe, die zu einem kleinen Vorratskeller führte. Im
vorderen Anbau lag das Zimmer für die Kinder von etwa gleichem Ausmaß wie die
elterliche Schlafkammer. Je nach Bedürfnis ließ sich die Raumnutzung also
tauschen. Die Architektin bemühte sich durch die Maßgebung außerdem darum, die
Proportionen einem Rhythmus zu unterwerfen, um durch die Vor- und Rücksprünge
dem Häuschen eine eigene Gestalt zu geben.
Für diese Lauben sah die Architektin ockergelbe bzw. elfenbeinweiße
Farbanstriche vor, die unterbrochen werden sollten durch weiße, rote und
kobaltblaue Gesimse, Rahmen und Eckpfosten. Sie bediente sich also auch hier
kräftiger Farben, um die einfache Gestaltung der kleinen Häuser mit Abwechslung
zu versehen, Individualität zu markieren und Identifikation zu ermöglichen.
Der Preis dieser beiden Lauben wurde mit 2400 und 3000 Reichsmark berechnet,
wobei sich die Kostendifferenz nicht aus der unterschiedlichen Größe, sondern
aus der wahlweise einwandigen oder doppelwandigen, also winterfesten
Herstellung, ergab. Daraus ist erkennbar, dass die mehrräumigen Lauben für
Eltern mit Kindern als Dauerbehausungen ausgeführt werden konnten. Sie waren
damit eine Variante des sparsamen Eigenhauses als eine Form der „Wohnung für
das Existenzminimum“. Ihre Baukosten bewegten sich im Rahmen der Vorgaben für
„Das wachsende Haus“.
Alle Wohnlauben waren als Holzfachwerkhäuser mit waagerechter Holzverschalung
und Dämmplatten konzipiert. Sie wurden von der Holzbaufirma mit einer
Montageskizze geliefert, so dass sie vom Käufer leicht zusammengesetzt werden
konnten.
Die Farbvorschläge sollten im Ensemble der Lauben das Einerlei auflockern und
ihnen ein heiter-freundliches Aussehen verleihen. Eine Zeitschrift urteilte:
„Nicht das Technisch-Konstruktive ist bei der
Ausarbeitung maßgebend gewesen, das ist selbstverständliche Voraussetzung. Der
Mensch soll sich wohl fühlen, soll den Dingen seines Hauses nicht nüchtern und
verstandesmäßig gegenüberstehen, sondern alles in seine innersten seelischen
Beziehungen einordnen.“ (Das schöne Heim Nr. 1 1932, S. 30)
Die Fachpresse widmete dieser Abteilung der Ausstellung „Sonne, Luft und Haus
für alle“ nicht minder große Aufmerksamkeit als der Abteilung „Das wachsende
Haus“. Das „Zentralblatt der Bauverwaltung“ bezeichnete sie sogar als die
wertvollste und interessanteste aller vier Abteilungen, die sich mehr oder
weniger um das gleiche Thema drehten, weil ihre Exponate so einfach, schlicht
und praktikabel erschienen und weniger industriell als die „wachsenden Häuser“
wirkten. (Zentralblatt der Bauverwaltung Heft 32 1932, S. 380). Vielleicht war
das auch der Grund, warum sie bei den Ausstellungsbesuchern großen Anklang
fand.
Stefanie Zwirn gab gemeinsam mit Fritz Spannagel ein „
Sie präsentierte darin an eigenen Entwürfen außer den oben vorgestellten fünf
Wohnlauben ein Kleinsthaus in Plattenbauweise zum Preis von knapp 4500
Reichsmark.
Es war eine weitere Variante des sparsamen Hauses, beruhte auf dem gleichen
konstruktiven System und bestand aus dem gleichen Material. Auch dieses Haus
hatte eine Grundfläche von nur 37 Quadratmetern, aber es hatte – anders als die
Lauben mit ihren flachen Dächern – ein Satteldach und war voll unterkellert.
Dadurch erhielt es einen vergleichsweise soliden, aber auch konservativeren
Charakter. Es bot Platz für vier Personen. Im Erdgeschoss lag ein Wohnraum mit
überdachtem Freisitz, zu dem auch die Küche einen direkten Zugang hatte. Hinter
der Treppe in das ausgebaute Dachgeschoss befand sich ein Geräteraum, an die
Küche grenzte eine Waschküche mit Sitzbadewanne. Die beiden Schlafzimmer der
Eltern und der zwei Kinder lagen im Obergeschoss.
Stefanie Zwirn variierte also ein
Thema immer wieder: die möglichst zweckdienliche Organisation aller für das
Alltagsleben eines Haushaltes mit geringem Einkommen notwendigen Funktionen auf
kleinster Fläche. Das Ziel größtmöglicher Sparsamkeit erfüllte sie durch
einfache Fachwerkkonstruktion und Plattenbauweise. Unverkennbar bemühte sie
sich darum, möglichst viel Licht einzufangen, denn häufig sah sie Fensterreihen
über Eck vor. Farb- und Namensgebungen ihrer Laubenentwürfe verrieten ebenso
wie die Raumanordnungen und Innenausstattungen einen spielerischen und
liebevollen Umgang mit der Aufgabe.
1931 hatte sie – in diesem Fall als Architekturkritikerin – in der
Fachzeitschrift „
Außer den fünf Interimsbauten der Lauben und dem Entwurf für ein Kleinsthaus
wurden in späteren „
Dabei unterschied sich das kleinere von den Lauben in seinem Aussehen kaum,
denn auch dieses Haus in Fichtenau bei Berlin für eine Familie mit drei Kindern
variierte das Thema der kosten- und flächensparenden Bauweise. Auf einer
bebauten Fläche von 69 Quadratmetern erhob sich der voll unterkellerte Flachbau
aus verputztem Ziegelmauerwerk, dessen Baukosten 6800 Reichsmark betrugen. Die
innere Aufteilung war denkbar einfach. Die Architektin schrieb dazu:
„Zu Gunsten des Wohnraumes, der in erster
Linie als Kinderspielzimmer dient, ist auf den Eingangsflur verzichtet; wie
eine Wohndiele sind von ihm die Schlafzimmer, Küche und Bad zugänglich; durch
das vierflügelige Fenster mit nur 60 cm hoher Brüstung wirkt er wie eine
Gartenhalle.“ (
Wie bei den Lauben wurde also auch hier der Lichteinfall besonders wichtig
genommen, doch der Grundriss war trotz der größeren Wohnfläche schlichter,
weniger ausgetüftelt und bis ins
Dass Stefanie Zwirn sich nicht nur mit Lauben und Kleinsthäusern befasste,
sondern – wenn sich die Gelegenheit bot – auch ein größeres, gutbürgerliches
Wohnhaus entwarf, zeigt das letzte Beispiel.
In Berlin-Zehlendorf errichtete sie
ein Wohnhaus mit acht Zimmern. Es war ebenfalls ein verputzter Massivbau, hatte
ein Satteldach und das Aussehen vieler in Zehlendorf in jener Zeit errichteter
Häuser. Es hob sich äußerlich nicht hervor und hätte ohne weiteres in die Reihe
der Wohngebäude gepasst, die 1928 in der Siedlung „Am Fischtalgrund“
entstanden. Sein Grundriss zeigte eine großzügige Raumfolge von Herrenzimmer,
Damenzimmer und Speisezimmer mit vorgelagerter Veranda und Terrasse im
Erdgeschoss. Alle Zimmer waren miteinander verbunden, so dass sich ein
räumliches Kontinuum ergab. Auch hier betonte die Architektin die Öffnung der
vierflügeligen Glastür nach außen, um die verglaste Veranda völlig in das Wohn-
und Speisezimmer einzubeziehen. (
Obwohl ein größeres und für die Dauer gebautes Wohnhaus in einer
Architektenkarriere mehr Bedeutung hat als Interimsbauten, so zeugen diese doch
von einer intensiveren Nachdenklichkeit und größeren Kreativität, entwurflichen
Geschicklichkeit und Einfühlsamkeit in das Leben derer, für die sie entworfen
wurden. Die Sensibilität gegenüber dem Kleinen und Einfachen ist es, was das
Werk dieser Architektin bemerkenswert macht.
Was also bleibt?
Die Architektin ist verschollen, vergessen; die Gebäude waren zumeist nur
Provisorien, wurden auf Ausstellungen präsentiert und wieder abgerissen. Sie
waren klein, sparsam, zweckmäßig, bescheiden. Die beiden realisierten Häuser
konnten nicht identifiziert werden, ihre Adressen sind unbekannt, falls sie
überhaupt noch stehen. Stefanie Zwirn und ihr Werk sind somit eine flüchtige
Erscheinung in der Baugeschichte, die stattgefunden hat; in der, die
geschrieben wurde, werden sie gar nicht erwähnt. Es ist, als hätte es ihr
Engagement und ihre Bemühungen um einen Bautyp nicht gegeben, der Ende der
Zwanziger, Anfang der Dreißiger Jahre eine wichtige Aufgabe für Architekten
war. Wären da nicht die „
Was unterscheidet ihre kleinen Häuser, die sie für andere in verschiedenen
Variationen entwarf, von Le Corbusiers „Cabanon“ an der Cote d’Azur, das er
zwanzig Jahre später für sich selbst, nach seinem Maß und „Modulor“ errichtete
und das noch immer in der Architekturkritik und in den Büchern der
Baugeschichte besprochen wird? Material und Konstruktion sind es nicht (auch
„Le Cabanon“ ist ein einfaches Holzhaus), die Farbgebung ist es nicht, die
Dimensionen und Proportionen sind es nicht, die Genauigkeit der
Selbstverständlich basiert Le Corbusiers Ruhm nicht auf seinem kleinen Haus,
dem „Cabanon“, sondern auf seinen großen Projekten, auf seinen Prinzipien für
eine neue Architektur wie auf seinen städtebaulichen Visionen. Er ist deshalb
noch immer die Leitfigur für viele gegenwärtig tätige Architekten und manche
der gegenwärtig tätigen Architektinnen, er ist ein von Studenten und
Studentinnen bewunderter Meister. Wie kann man es wagen, ihm Stefanie Zwirn
gegenüberzustellen?
Die Begründungen sind einfach:
·
um ein Defizit der Architekturkritik zu beheben, die
das Kleine, Sparsame, Flüchtige vergisst - wenn es nicht ein Nebenprodukt
großer Meister ist -, das dennoch so viel Kreativität enthält und ein hohes Maß
an sozialem Engagement offenbart;
·
um eine Architektur zu loben, die nicht um das Ego des
Meisters kreist, sondern alltäglichen Bedürfnissen gerecht werden will;
·
um die Hierarchie zwischen dem, was als
architektonisches Paradigma hervorgehoben wird, und dem, was als marginal gilt,
in Frage zu stellen;
·
um Aufmerksamkeit auf die Werte des als marginal
Definierten zu lenken;
·
um an das Lebenswerk einer verschollenen Architektin
zu erinnern, nicht weil sie Jüdin war und vermutlich dem Holocaust zum Opfer
fiel, sondern weil sie sich unter den damals noch sehr einschränkenden Bedingungen
für Frauen im Bauwesen der Architektur mit großem Engagement gewidmet hat, und
zwar einem Bereich der Architektur, der eben nicht das Große und
Prestigeträchtige umfasste. Gerade darin sehe ich Können und Kreativität: in
der Variation des Themas, auch wenn die Dimensionen klein sind. Hier übrigens
liegt der Unterschied zwischen Stefanie Zwirns Lauben und Le Corbusiers Hütte:
Er hat ein Konzept entwickelt, das er in hunderttausendfacher Wiederholung
dachte, sie hat für jeden ein eigenes und besonderes entworfen.
Wenn ich die Beachtung dessen als Defizit der Architekturkritik bezeichne, so
möchte ich doch nicht einer Beliebigkeit der Architekturpräsentation in den
Medien das Wort reden. Es geht mir nicht in erster Linie darum, dass neben den
großen Projekten auch die kleinen und bescheidenen beachtet werden. Das
geschieht ja zuweilen. Es geht mir darum, dass die Architekturkritik vor allem
in ihrer Funktion als Wegbereiterin der Baugeschichtsschreibung die Ereignisse
und Bestrebungen in Augenschein nimmt, die mehr zu erkennen geben als
spektakuläre Formen und Ästhetik. Kreativität in kleinen Dingen und
Ernsthaftigkeit eines architektonischen Anliegens verändern oft mehr als große,
spektakuläre Projekte der hochgehobenen Meister.
[1] Dieser
Beitrag basiert auf einem Forschungsprojekt an der Universität der Künste über
„Werke von Architektinnen – ein Beitrag zur Baugeschichte des 20.
Jahrhunderts“.