Zur Sprache bringen
Eine Kritik der Architekturkritik

7. Jg., Heft 2 (Januar 2003)    

 

___Heidede
Becker

Berlin
  Architektur und Städtebau publik machen –
die Kultivierung des öffentlichen Dialogs


 

In einer Zeit, in der die Städte unanschaulicher geworden sind und das Leben in ihnen komplizierter, gewinnt die Stadt als kulturelles Projekt länger schon an Bedeutung [1]. Als Kompensation zur Unanschaulichkeit wächst der Wunsch nach Erkennbarkeit, authentischer Örtlichkeit und Orientierung. Vor diesem Hintergrund wird verstärkt für eine Politik „der Integration durch Identität und Identifikation“ [2] plädiert.

 

Architektur und Städtebau fungieren in diesem Zusammenhang nicht nur als identitätsstiftende und imageaufwertende Faktoren sondern auch als wirtschaftsfördernde Marketingelemente und Impulse für die Stadt(teil)entwicklung. Nicht zuletzt in diesem Zusammenhang wurde im Herbst 2000 vom Bundesministerium für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen die Initiative „Architektur und Städtebau“ gestartet, mit der eine Standortbestimmung vorgenommen werden sollte, „um zu einem neuen Verständnis von Architektur und Städtebau zu kommen“.

 

 

 

Architektur- und städtebaupolitische Herausforderungen

 

Trotz der Herausforderungen durch den gesellschaftlichen Wandel und seine Folgen wie Krise der öffentlichen Haushalte, Dominanz von kommerziellen Kalkülen, begrenzte Plan- und Steuerbarkeit von Entwicklungsprozessen, struktureller Wandel im Bau- und Planungswesen und sich verschärfende sozialräumliche Segregation gibt es eine gesellschaftliche Übereinstimmung dazu, dass sich auch in der Gestaltqualität der Stadt, der Schönheit ihrer baulichen Anlagen und öffentlichen Räume Gemeinwohl und öffentliches Interesse manifestieren. Auch auf der Weltstädtekonferenz URBAN 21 im Juli 2000 wurde in der „Berliner Erklärung zur Zukunft der Städte“ unter anderem gefordert: „Städte sollten ihr historisches Erbe bewahren und sich bemühen, Orte der Schönheit zu werden, wo Kunst, Kultur, Architektur und Landschaft den Bürgern Freude und Inspiration bringen.“

 

In Zeiten kontroverser Zukunftsentwürfe für die Stadt kommt es besonders darauf an, die Gestaltung von städtischen Lebensräumen (im Rahmen von Stadterneuerung, Stadtumbau und Reaktivierung) offensiv und öffentlich zu verhandeln, sich über Qualitätsstandards für Planungsinhalte, Verfahren und Umsetzungsmodalitäten zu verständigen und dabei auch die kulturellen Aspekte des Planens und Bauens massiv zu verfechten. Für diesen Handlungskomplex kann der Begriff „Stadtbaukultur“ – gewissermaßen als Zielchiffre – gesetzt werden. „Stadtbau“ umfasst die Gestaltungsprozesse der räumlichen Dimension von Stadt in der unerlässlichen Zusammenschau von Architektur und Städtebau. „Kultur“ impliziert – sehr vereinfacht formuliert – gesellschaftlich positiv beurteilte Handlungsmuster einschließlich der daraus resultierenden, als hochwertig erachteten (Planungs- und Bau-)Ergebnisse. „Kultivierung heißt“ nach Manfred Sack [3] „etwas pflegen, etwas miteinander regeln, etwas verfeinern... Kultur verlangt ein Übereinkommen in der Gesellschaft“. „Stadtbaukultur“ bemisst sich – so verstanden – am Niveau der gesellschaftlichen Verständigung über Prozedere, Aufgaben und Qualität in den Bereichen Architektur und Städtebau, über Verantwortung, Kompetenz und Zuständigkeiten, über die Produktion und Nutzung von Bauten und Stadträumen.

 

Mit der Bundesinitiative „Architektur und Baukultur“ erhielt die öffentliche Debatte über Architektur und Stadtgestaltung, über Planen und Bauen deutlichen Auftrieb. Auch auf Landesebene zeigt sich architekturpolitisch Bewegung. Die Initiative des Landes Nordrhein-Westfalen „StadtBauKultur NRW“ mit dem „50-Plätze-Programm“, einem im Rhythmus von zwei Jahren zu vergebenen „Preis für StadtBauKultur“ und der Einrichtung des „Europäischen Hauses der Stadtkultur“ in Gelsenkirchen ist auf eine Laufzeit von zehn Jahren angelegt. Auch andere Bundesländer haben inzwischen baukulturelles Engagement entfaltet: Bayern (mit Modellprogrammen und Modellprojekten), Brandenburg (mit der Gesprächsreihe „Politikfeld Baukultur – über Stadtumbaufragen und den Zusammenhang von Lebensqualität und Stadtgestalt“ im Winter 2002/2003), Mecklenburg-Vorpommern (mit einem Grundlagenpapier), Rheinland-Pfalz (mit dem „Runden Tisch Baukultur“) und Sachsen-Anhalt (mit dem Start einer Landesinitiative).

 

Die nationale Standortbestimmung, die im Dezember 2001 mit der Präsentation des „Statusberichts Baukultur in Deutschland“ [4] erstmals öffentlich zur Diskussion gestellt wurde, hat vor allem Folgendes deutlich gemacht: Deutschland hat im Vergleich mit anderen europäischen Ländern hinsichtlich architektur- und städtebaupolitischer Strategien noch deutlichen Nachholbedarf. Dies betrifft nicht nur eine klare gesellschaftspolitische Positionierung zu der Frage, welche Bedeutung Architektur und Städtebau beigemessen wird – und dies nicht nur als Lippenbekenntnis, sondern verknüpft mit handfesten Aktivitäten –, sondern es mangelt auch an programmatischer, organisatorischer und physischer Infrastruktur (das heißt an Institutionen und Orten für Veranstaltungen, Ausstellungen, Sammlungen usw.), mit der ein breiteres Interesse für Architektur- und Städtebaufragen geweckt und der öffentliche Dialog aktiviert werden könnten.

 

Ganz anders verhält es sich in den Vorreiternationen Niederlande, Finnland, Frankreich und Großbritannien:

 

·    In den Niederlanden wurden bereits 1991 Grundzüge einer offensiven Architekturpolitik in der Denkschrift „Raum für Architektur“ niedergelegt und 1996 in dem Programm „Die Architektur des Raums“ aktualisiert. Verbunden war dies mit zahlreichen architekturfördernden Aktionen. 1991 verpflichteten die Niederlande ihre Gemeinden via Wohnungsbaugesetz auch zum Einsatz von Gestaltungsbeiräten (welstandscommissies). Mit dem 1993 gegründeten Niederländischen Architekturinstitut – NAi (Nederlands Architectuurinstituut) in Rotterdam wurde eine Einrichtung mit inzwischen hoher Reputation etabliert. Außerdem berufen die Niederlande alle fünf Jahre einen Reichsbaumeister (rijksbouwmeester) quasi als staatlichen Anwalt für Qualität (gegenwärtig hat Joe Coenen dieses Amt inne). Auf kommunaler Ebene gibt es inzwischen 35 Architekturzentren (Architectuur Lokaal), die als öffentliche Diskussionsplattformen dienen. Darüber hinaus wurde 2001 das Programm „Entwerfen für die Niederlande“ mit Schlüsselprojekten aufgelegt; diesen Projekten wird Vorbildcharakter für die Entwurfs- und Baupraxis in den Niederlanden zugeschrieben.

 

·    In Finnland wurde 1998 anlässlich des 100. Geburtstags von Alvar Aalto auf Initiative des Erziehungsministeriums verfassungsmäßig das Recht auf eine „gesunde und lebenswerte Umwelt“ festgeschrieben und ebenfalls ein umfassendes architekturpolitisches Programm aufgestellt. Für die Schulen wurden neue Lehrpläne entwickelt, in denen Architektur eine bedeutende Rolle spielt.

 

·    Frankreich verfügt bereits seit 1981 über die „Mission interministérielle pour la qualité des constructions publiques“ zur Förderung des Dialogs zwischen öffentlichen Bauherren und der Architektenschaft. Im kommenden Jahr soll ein neues umfassendes Forum für die Architekturdebatte eröffnet werden, die „Cité d’architecture et du patrimoine“ in Paris, die – so eine Aussage des Leiters Jean-Louis Cohen – als eine Art „Umspannwerk“ zwischen „den unterschiedlichen Kulturen der Profession und der Öffentlichkeit und ihren Erwartungshaltungen" vermitteln soll. 1998 begann eine nationale Kampagne mehrerer Ministerien [5] mit dem Ziel, "den künftigen Bürger auf seine Verantwortung gegenüber seiner gebauten Umwelt vorzubereiten", 2000 gefolgt von einem Fünfjahresplan des Bildungs- und des Erziehungsministeriums, mit dem eine Vielzahl von Kursen (pro Jahr zwischen 10 000 und 20 000) in Kindergärten und Schulen zu Architektur und Stadtplanung angeboten werden.

 

·    Großbritannien verfügt seit 1999 über ein Gremium zur Förderung hoher architektonischer und städtebaulicher Qualität, die „Commission for Architecture and the Built Environment (CABE)“. Sie verfolgt das Ziel, „guter Architektur einen Platz im Zentrum des nationalen Selbstbilds zu verschaffen“.

 

In Deutschland wird gegenwärtig über die Einrichtung der "Stiftung Baukultur" diskutiert; sie soll in mehrfacher Hinsicht dazu beitragen, Kommunikation zu organisieren [6]: mit der Fortschreibung des "Berichts zur Lage der Baukultur", der regelmäßigen Veröffentlichung eines "Schwarz-Weiß-Buches zu den Glücksfällen und den Todsünden der Baukultur“, dem im Turnus von zwei Jahren zu vergebenden Titel einer „Hauptstadt der Baukultur“ (vergleichbar der „Europäischen Kulturhauptstadt“) und der Etablierung des „Bundesexperiments für Baukultur“ zur Hervorhebung von besonderen Experimenten des „neuen Bauens“. Es besteht ein breiter Konsens darüber, dass der öffentliche Dialog über Qualitätsstandards für die Gestaltung und Entwicklung der Stadt forciert und kultiviert werden muss, um so die Basis für eine gesellschaftliche Verständigung über Stadtbaukultur zu schaffen.
 

 

Das Dilemma des ästhetischen Urteils

 

Je intensiver die Auseinandersetzung über Architektur und Städtebau öffentlich geführt wird, desto massiver und direkter stoßen Fachvotum und Publikumsgeschmack aufeinander: "Bedenken wir, dass uns neben der künstlerischen Schulung und Erziehung des Volkes vorläufig auch noch eine bessere Schulung der Baukünstler Noth thut, dass dieselben, um ihrer Aufgabe genügen zu können, einer ganz anderen Einsicht in die Bedingungen, einer ganz anderen Herrschaft über die Mittel ihrer Kunst bedürfen, als ihnen im Durchschnitt bisher zu eigen war", so lautete 1976 ein Plädoyer des Schriftleiters der "Deutschen Bauzeitung" [7], dem auch heute noch Aktualität zukommt. Die Skepsis gegenüber dem Urteilsvermögen sowohl von Laien als auch von Fachleuten ist deutlich herauszulesen.

Tatsächlich hat das Dilemma des ästhetischen Urteils mehrere Facetten: Zum ersten kontrastieren Experten- und Laienurteil. Die Kluft resultiert zum einen aus einem Mangel an Vorwissen beim Publikum, zum anderen aber auch aus der Sprachverweigerung und Abschottung von Professionellen gegenüber Laien. Architekten und Planer gehören Berufsständen an, die bisher nur ausnahmsweise ihre Entwürfe in der breiteren Öffentlichkeit präsentieren. Auch haben Untersuchungen gezeigt, dass bei den Fachleuten eine ganz eigene, aber wenig realitätsnahe Vorstellung von dem besteht, was Laien über Architektur wissen [8]. Wenn aber in Zukunft Fachleute und Laien zu Koalitionspartnern im Durchsetzen von  Qualität der Stadtgestalt werden sollen, müssen hier Verständigungsprozesse in Gang gesetzt, in der Architektur- und Stadtplanungsausbildung Dialogfähigkeit und kommunikative Kompetenzen trainiert sowie Architektur und Städtebau im Schulunterricht stärker verankert werden.

Neben den Differenzen zwischen Fachvotum und Publikumsgeschmack klaffen auch die Meinungen von Experten auseinander – erfahrbar bei Diskussionen in Preisgerichten zu Wettbewerben, beim publizistisch ausgeschlachteten Berliner Architekturstreit, im Rahmen der Auseinandersetzungen zum Für und Wider einer „Rekonstruktion“ des Berliner Stadtschlosses usw. Drittens unterliegen Qualitätsvorstellungen stetigen kulturellen Umwertungen – sichtbar unter anderem am schnellen Wandel architektonischer und städtebaulicher Moden, wobei die Hinwendung zum Neuen häufig gekoppelt ist mit Ablehnung und Entwertung des Alten.

 

Insgesamt wundert es nicht, dass Konflikte die Anwendungspraxis von gestaltungssteuernden Instrumenten von Anfang an begleitet haben. Zum einen resultieren sie aus der Interpretationsbedürftigkeit von unbestimmten Rechtsbegriffen wie „grobe Verunstaltung“ oder „anständige Baugesinnung“. Zum anderen ergeben sich Meinungsverschiedenheiten aus Zweifeln darüber, wer denn befähigt und berechtigt ist, im gesellschaftlichen Auftrag über Qualität zu entscheiden. Die delikate Frage nach dem legitimen Kronzeugen für architektonische und städtebauliche Qualität beschäftigt deshalb die Gemüter seit eh und je. Die Rechtsprechung hat sich auf den „durchschnittlich gebildeten Bürger“ zurückgezogen – als Kompromiss zwischen dem „ästhetisch besonders empfindsamen oder geschulten Betrachter“ (Experte) und dem „ästhetischen Eindrücken gleichgültigen und unempfindlichen Menschen“ (Ignorant). Fakt aber bleibt, dass es keine unumstrittene ästhetische Kontrollinstanz gibt.

 

 

Bausteine für eine Kultivierung der öffentlichen Debatte

 

Als zentrale Bausteine für eine Kultivierung der öffentlichen Debatte können Information und Anschaulichkeit, Bildung, Forschung und Wissenstransfer sowie Meinungsbildung durch Auszeichnung und Kritik gelten. Die Dimension Anschaulichkeit darf im öffentlichen Dialog über Planung nicht vernachlässigt werden. Insbesondere fällt auf, dass das Feld des publikumswirksamen Sichtbarmachens und des Erfahrungsaustauschs viel zu häufig Investoren und Vermarktern überlassen bleibt. Als unerlässlich erscheint es deshalb, Entwürfe und Projekte auch für den öffentlichen Diskurs mit in der Sache adäquaten Bildstrategien zu visualisieren. Zur Verständigung sollte auf das gesamte Spektrum von Darstellungsformen und Medien zurückgegriffen werden: auf Pläne und Planwerke, Modelle von umfassenden Stadträumen und von Einzelbauten bis hin zu Modellen im Maßstab 1:1, auf Simulation und Animation.

 

Insbesondere über umstrittene Schlüsselprojekte der Stadtentwicklungspolitik muss anschaulich informiert werden, um Transparenz zu schaffen und so die öffentliche Diskussion zu ermöglichen. Als ein positives Beispiel in diesem Zusammenhang gilt die Berliner Infobox am Potsdamer Platz (1995 bis 2000), allerdings ein Präsentationsforum vor allem der Investoren. Sie stand unter dem Motto „Heute die Stadt von morgen sehen“ und offenbarte den immensen Informationsbedarf und die große Schaulust bei Einheimischen und Touristen. Auch die durchaus umstrittene und dennoch höchst öffentlichkeitswirksame Schlossattrappe mit dem unverzichtbaren Bestandteil der Ausstellung „Das Schloss“ (mit Informationen über Entstehungsgeschichte, Rekonstruktionsmöglichkeiten, aktuelle Entwurfsvorschläge zum zeitgenössischen Umgang mit dem Schlossareal und der Gelegenheit, die eigene Meinung in ausgelegten Positionsbüchern kundzutun) ist hier zu nennen. Der wohl wichtigste Beitrag dieser Inszenierung bestand darin, frischen Wind in die öffentliche Debatte gebracht und viele Menschen zum Sich-Einmischen motiviert zu haben.

 

Voraussetzungen für Sehen und Verstehen sind Wissen, Erfahrung und Urteilsvermögen. Architektur und Städtebau sind im Bildungsgut der Bevölkerung bisher allerdings nur schwach verankert. Vor diesem Hintergrund gewinnen Schulung der Wahrnehmung und die Entwicklung von Deutungskompetenz sowie Förderung der Forschungs-, Dokumentations- und Öffentlichkeitsarbeit besonderes Gewicht. Es ist besonders erfreulich, dass die Forderung, Architektur- und Städtebaufragen und damit das Thema Qualität der räumlichen Umwelt stärker in den Schulunterricht einzubinden, inzwischen nicht nur auf breite Zustimmung stößt, sondern auch viele Modellprojekte in Schulen initiiert worden sind – vor allem von den Architektenkammern (z. B. in Bayern, Berlin, Hessen, Nordrhein-Westfalen, Sachsen). Zwar sind in den Lehrplänen der Sekundärstufe II fast bundesweit die Themen Architektur und Städtebau enthalten, bisher werden sie aber von den Lehrern noch zu selten ohne Unterstützung von Fachleuten aufgegriffen, da eine Behandlung dieser Fragen im Sozialkunde-, Kunst-, Geographie- oder Geschichtsunterricht eine entsprechende Aus- oder Weiterbildung voraussetzen würde.

 

Architekturmuseen und -zentren übernehmen auch hierzulande immer stärker eine wichtige Rolle als Instanzen zur Vermittlung und Klärung zeitgenössischer Positionen sowie von (ideen-)geschichtlichen Zusammenhängen. Ihre Aufgaben oszillieren zwischen theoretischer Reflexion und Praxisbezug sowie traditionell musealem Vermittlungsanspruch und Einmischung in architektur- und städtebaupolitische Strategiedebatten. Architekturmuseen und -zentren gehören zu den unverzichtbaren Elementen stadtbaukultureller Infrastruktur. Inzwischen sind sie vielfach als „offene Häuser“ konzipiert und bieten für Kinder und Jugendliche eigene Architekturprogramme an, so beispielsweise das Deutsche Architekturmuseum in Frankfurt am Main und das NAi in Rotterdam.

 

Im Bereich Forschung und Wissenstransfer ginge es darum, Forschungsfelder zum Qualitätsverständnis, zum Wandel der Akteursrollen, zur Veränderung der technischen, ökonomischen und sozio-kulturellen Einflussgrößen sowie zur Leistungsfähigkeit von Verfahren zu etablieren und so zur Erarbeitung von praxistauglichem Orientierungswissen und theoriebildenden Erkenntnissen beizutragen.

 

Die Vergabe von Preisen und Auszeichnungen für gelungene Bauten und/oder städtebauliche Planungen erfüllt sicher zum Teil die Aufgabe, durch Vorbild- und Beispielwirkung zu demonstrieren, was jeweils als qualitativ hochwertig beurteilt wird und trägt so sicherlich zur Entwicklung von Qualitätsbewusstsein bei. Doch die Vielfalt der Auslober und die Flut der Preise ermöglichen ohne eine systematische Auswertung keine Schlussfolgerungen zu den eingesetzten Beurteilungs- und Qualitätskriterien. Darüber hinaus bleiben die Preisvergaben weitgehend Sache der engen fachlichen Zirkel.

 

Um mehr Transparenz in der Qualitätsfrage zu erreichen, erscheint es geboten, dass sich die Fachverbände stärker kritisch-produktiv zu Wort melden. Wenn sich „selbst Berufsverbände nicht an die Qualitätsfrage heranwagen, wie soll man es von den Bauherren erwarten?“ lautete die berechtigte Frage eines Architekturkritikers mit Bezug auf die "Tage der Architektur" [9], mit denen die Architektenkammer jedes Jahr Werbung für Architektur veranstalten. Inwieweit hier ein Beitrag zur Aufklärung über Qualität geleistet werden kann, hängt beispielsweise davon ab, dass eine unabhängige Jury (wie bei der Hessischen Architektenkammer üblich) über die zu präsentierenden Bauten entscheidet.
 

  

Zum Beitrag der Architekturkritik

 

Zwar nehmen seit einigen Jahren Beiträge über Architektur und Städtebau in den Medien weit mehr Platz ein als früher, dennoch lässt die Berichterstattung zu wünschen übrig. Nur wenige Presseorgane setzen sich systematisch kritisch mit Architektur- und Städtebaufragen auseinander; die Beiträge sind überwiegend im Feuilleton positioniert, und der Bezug zur Lokalpolitik wird nur in Einzelfällen hergestellt. Vor allem aber fehlt es an Breitenwirkung. Und die Kritiker selbst stellen – wie beispielsweise auf dem 8. Wiener Architekturkongress "Architektur und Publizistik. Architecture publishing" [10] 2000 – ihre Einflussmöglichkeiten und den Wirkungsgrad ihrer Äußerungen stark infrage; sie empfinden sich eher als „Rufer im Wald“.

Beiträge in den Fachzeitschriften beziehen sich in der Regel auf Gebäude, die ohnehin zu den Glanzlichtern gehören. Der architektonische und städtebauliche Alltag findet in den Fachblättern wenn überhaupt, dann als Glosse statt; in der Tagespresse geht es allenfalls um das Negativ-Spektakuläre wie eingestürzte oder unter Wasser stehende Bauten. An eine breitere Öffentlichkeit sind die abstrakten Qualitätskriterien für Architektur und Städtebau schriftlich kaum zu vermitteln. Aber auch für den professionellen Bereich wird eine zu geringe Lesebereitschaft beklagt.

 

Architekturkritik unterliegt Abhängigkeiten, zum einen von der Architektenschaft als Lieferanten des Informations- und Abbildungsmaterials. „Der Architekturkritiker ist der publizistische Herold des Praktikers." [11] Zum anderen schafft der Umgang mit den "Zynismen des Marktes" [12] für die Fachzeitschriften eine wachsende Abhängigkeit von erfolgreichen „Kommunikationskonzepten“, die offenbar mehr mit Anzeigenwerbung als mit Qualität der Berichterstattung zu tun haben.
 

Resümierend lassen sich die folgenden kritischen Punkte festhalten:

 

·    Architekturkritik widmet sich in den Fachzeitschriften und im Feuilleton fast ausschließlich den Produkten eher ambitionierter und prominenter Architektur.

 

·    Der Adressatenkreis ist zu sehr auf die Fachwelt und die schriftliche Vermittlung beschränkt.

 

·    In der architekturkritischen Betrachtung dominiert die ästhetische Dimension, im Mittelpunkt stehen Einzelgebäude. Fragen der städtebaulichen Einbindung werden vernachlässigt.

 

·    Architekturkritik setzt in der Regel ex-post an und beurteilt das fertige Bauwerk oder Planungsergebnis.

 

Im Umkehrschluss lässt sich daraus folgern: Soll mit Architekturkritik ein wirksamerer Beitrag zum öffentlichen Diskurs geleistet werden, dann müssen stärker noch folgende Aspekte berücksichtigt werden:

 

·    Auch an Beispielen der alltäglichen Bauproduktion mit teils belanglosen und teils schlechten Bauwerken sind Beurteilungskriterien aufzuzeigen; außerdem sollte in den Massenmedien der Bezug zur Lokalpolitik stärker zum Thema gemacht werden.

 

·    Architekturkritik sollte ihre Argumentation häufiger in Live-Debatten über die räumliche Umwelt zur Diskussion stellen, das heißt verstärkt populär, aber nicht populistisch agieren. Hier setzt z. B. die Veranstaltungsreihe der Bundesarchitektenkammer „Architektur-Quartett“ an; sie fand erstmals im Mai 2001 statt und hat im Ludwigsburger Architekturquartett (seit 1998) einen Vorläufer.

 

·    Neben der ästhetischen Dimension sind auch Kriterien der Nutzbarkeit, der städtebaulichen Einbindung und urbanen Programmatik sowie insgesamt ökologischer, ökonomischer, sozialer und kultureller Verträglichkeit zu berücksichtigen.

 

·    Architekturkritik kann als Seismograph für Fehlentwicklungen agieren; sie sollte sich in spezifischen Fällen politisieren und ex-ante in die Debatte einmischen, wie dies beispielsweise Ulrich Conrads mit Kritik am Projekt von Hans Hollein für das Berliner Kulturforum 1986 ("Untauglich"!) [13] und Manfred Sack zum Prozedere im planerischen Umgang mit dem Potsdamer/Leipziger Platz ("Jahrhundertfehler"!) [14] getan haben. 



[1] Der Beitrag gründet sich in Teilen auf Heidede Becker, Stadtbaukultur – Modelle, Workshops, Wettbewerbe. Verfahren zur Verständigung über die Gestaltung der Stadt, Stuttgart 2002.

[2] Albrecht Göschel, Stadtkultur zwischen Individualismus und Identität, in: Freiburger Gespräche (Veröffentlichung in Vorbereitung).

[3] Manfred Sack anlässlich der Vergabe des Hamburger Baukulturpreises 1994, Baukulturpreis des BDA Hamburg, in: Der Architekt, H. 6 (1994), S. 308.

[4] Inzwischen wurde auch die vollständige Fassung veröffentlicht: Gerd Kähler, Baukultur in Deutschland, Bd. 1 und Bd. 2, Statusbericht Langfassung, Bonn 2002.

[5] Hierzu und zum Folgenden Claudia Schwalfenberg, Architektur als Bürgerkunde. Internationales Kolloquium „Architektur macht Schule“, in: Deutsches Architektenblatt, H. 9 (2002), S. 34.

[6] Hierzu und zum Folgenden Karl Ganser, Von der Initiative Baukultur zur Bundesstiftung, in: Deutsches Architektenblatt, H. 5 (2002), S. 7.

[7] K(arl) E(mil) O(tto) Fritsch, Wie kann die Baukunst wieder volksthümlich werden, in: Deutsche Bauzeitung, H. 77 (1876), S. 385.

[8] Riklef Rambow, So nun auch wieder nicht. Verständnisschwierigkeiten zwischen Experten und Laien, in: deutsche bauzeitung, H. 11 (2000), S. 56-59.

[9] Hanno Rauterberg, zitiert bei Kritiker zum Tag der Architektur, in: deutsche bauzeitung, H. 7 (1999), S. 20.

[10] Dokumentiert in: hintergrund, H. 10 (2001).

[11] Martin Pawley, Architekturjournalismus: Die sich vom Lobe nähren, in: hintergrund, H. 10 (2001), S. 14.

[12] Wolfgang Bachmann, Architekturkritik (Leserbrief), in: Der Architekt, H. 7 (1995), S. 382.

[13] U(lrich) C(onrads), Untauglich, in: Bauwelt, H. 47 (1986), S. 1778-1780.

[14] Manfred Sack, Der Jahrhundertfehler. Weil Daimler-Benz auf ein empfindliches Grundstück drängt, läßt der Berliner Senat den Potsdamer und Leipziger Platz im Galopp neu planen, in „Die Zeit“ vom 20. April 1990.
 


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