Urban Bodies
7. Jg. , Heft 1, (September 2002 )    

 

___Angelika
Jäkel

Karlsruhe
   Stoffe, Schnitte und Nähte.
 Zur Beziehung zwischen Kleidung und Architektur

 

 

 

Kleidung als die erste Hülle menschlicher Leiblichkeit evoziert durch Material, Schnitt, Machart, Details und durch die Art und Weise des Tragverhaltens eine bestimmte Aura, eine präzise Atmosphäre und Befindlichkeit: Die Garderobe lässt den Anlass bereits erahnen, für den sie gemacht wurde, und die Geschmeidigkeit, der Faltenwurf, das eng Anliegende, das leicht Flatternde, das schwer Hängende oder das Pludrige gar einer bestimmten Kombination aus Stoff und Schnitt tragen zum Eindruck bei, den das Gekleidetsein einer Person für einen konkreten Anlass hinterlässt: overdressed oder lumpig, herumstolzierend oder schlürfend, steif oder zusammengesackt, zugeknöpft oder weitschweifig. (Bild 1)

 

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Bild 1

 

In-Sein

Kleidung ist – zugespitzt – die eigentlich erste Option, den eigenen Körper zu spüren, nämlich indem wir ihn von einem anderen Gegenstand berührt fühlen. Dies geschieht durch die Erkenntnis, dass dieser Gegenstand auf eine besondere Weise zu unserem Körper gehört, sich auf ihn bezieht, geradezu für ihn gemacht ist. In dieser Tatsache liegt bereits eine entscheidende Parallele zwischen dem Verhältnis des Körpers zur Kleidung und dem Verhältnis des Körpers zur Architektur. Beide – der Raum der Kleidung und der Raum der Architektur, berühren unseren Leib – im Falle der Kleidung sehr konkret, im Falle der Architektur über den Vorgang des Nachempfindens. Dieses Berührtwerden – man könnte auch sagen: Betroffensein, Affiziertsein – ereignet sich im Falle der Kleidung in unterschiedlicher Weise: Einige Körperstellen sind stets vom Stoff bedeckt, andere spüren ihn nur manchmal, bei bestimmten Bewegungen. Je nach Stoff fällt die Berührung kühl, weich, samtig, elektrisierend aus.

 

Kann man von der Weise des Berührtseins durch Kleidung auf ein Berührtsein durch Architektur schließen? Um diese Frage werden meine Ausführungen im Folgenden kreisen. Zu zeigen wäre, dass der Erfahrung und Beschreibung von Raum als gebauter Hülle des Menschen die Erfahrung des In-Seins, des Begrenztseins durch Kleidung vorausgeht. Ich meine damit nicht das von Semper konstatierte kulturgeschichtliche Vorausgehen der textilen Künste vor der Baukunst. Vielmehr geht es hierbei um die Erfahrung des In-Seins als der räumlichen Urerfahrung schlechthin, die sich im Hinblick auf die Kategorien der Atmosphäre, der Gestik, der Form und Bewegung sowie der Gemachtheit von der Erfahrung des Bekleidetseins unterscheiden.

 

Das Konstatieren von Parallelen zwischen Architektur und Kleidung ist gerade in jüngster Zeit selber zur Mode geworden: Aus der Fülle der Thematisierungen lassen sich drei Tendenzen hervorheben, die im Folgenden kurz skizziert werden sollen.

 

 

Diskurs Bekleidung

Im architekturtheoretischen Diskurs der Moderne ist das Verhältnis von „Stilhülse und Kern“[1], zurückgehend auf Semper[2], vielfach thematisiert worden. Seine Bekleidungs­theorie geht von den textilen Künsten als Vorläufer und Vorbild für die steinernen Bauformen aus. Stilbildende Merkmale wie Form, Ästhetik, Ornament und Symbolik haben nach Semper dort ihre ersten Ausprägungen gefunden. Während Semper noch die gleichberechtigte Rolle der Bekleidung gegenüber der Struktur für die eigentliche Wirkung der Architektur nachzuweisen bemüht ist, wird die Ablehnung der Applikation von Elementen, die nicht der funktionalen oder konstruktiven Bestimmung  eines Gebäudes dienen, zum Grundprinzip der Moderne postuliert. „White Walls“[3] heißt statt dessen das Credo der Moderne, das sich als roter Faden der Negation der Materialität durch die Architektur des letzten Jahrhunderts zieht, und dem wir spätestens in den heimischen, weiß gestrichenen Raufasertapeten­wänden am Abend wieder gegenüber sitzen. Verkürzt dargestellt, haben wir es hier zu tun mit der kategorischen Trennung zwischen tragenden und bekleidenden Bauteilen, zwischen tektonischer Notwendigkeit und formalem Ausdruckswillen, schließlich zwischen der raumbildenden Funktion von Fläche auf der einen und dem Ornament auf der anderen Seite. Diese Trennung reduziert allerdings das Bekleidetsein auf die Objekt-Objekt-Beziehung  zwischen Baukörper/Struktur und Hülle/Oberfläche; die eingangs konstatierte Beziehung zwischen dem Leib – als Einheit von Körper und Geist – und seiner Rezeption des ihn umgebenden Raumes bleibt in dieser Betrachtungsweise weitgehend unberücksichtigt.

 

Aktuelle Trends: Fashioning & Branding (Bild 2)

 

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Bild 2

 

Die Kulturgeschichte kennt diverse Beispiele der zugespitzten Nähe zwischen Mode und Architektur einer Epoche, dabei scheint die Konvergenz zwischen textiler und gebauter Hülle immer dann am augenscheinlichsten, wenn der Abgrenzungs- und Erneuerungswille einer Epoche in der ideologischen Forderung nach dem Gesamtkunstwerk kulminiert. Die Wiener Werkstätten produzierten am Beginn des 20. Jahrhunderts unter der Leitung von Josef Hoffmann nicht nur Interieurs, sondern entwarfen Kleider aus jugendstiltypischen floral-abstrahierenden Stoffen, mit Schnitten, die das weich Fließende der Körperform betonten und erstmals auf das bis dahin noch übliche Korsett verzichteten. Ähnliche Parallelen lassen sich für das Bauhaus nachweisen, wo Textilgestalter wie Architekten dem von ihren Meistern propagierten Diktat der Abstraktion der einfachen Linie folgten. Die exaltierte Expression der 50er Jahre als Merkmal eines wieder erstarkenden formalen Ausdruckswillens zeigt sich in der Formensprache des Haut-Couture-Mantels ebenso wie in Le Corbusiers Phillips-Pavillon für die Brüsseler Expo 1958 (Bild 3). Mit der Hinwendung zur bunten Oberfläche des Alltagsdesigns durch die Pop Art im Amerika der 60er Jahre werden auch Mode und deren Posen legitimierend für Form und Botschaft eines Designs eingesetzt (Bild 4): Olivier Mourgue's "Gesellig in der Grube" von 1968 zeigt im Schwingen der Rückenlehne seiner in den Boden versenkten Sitzgruppe die Wiederholung des weich-weißen Glockenrocks des Models, das im Polster posiert. Synoptische Retrospektiven von Kunst, Design, Mode und Architektur der einzelnen Dekaden des letzten Jahrhunderts suchen solche Gemeinsamkeiten. So kommen die verschiedenen kulturellen Disziplinen zu einer gemeinsamen Grundaussage - diffus greifbar als ­“lifestyle“ einer Epoche.
 

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Bild 3 Bild 4

 

Die gleichnamige Zeitung ist es auch, in der das holländische Büro UN-Studio mit den Architekten Ben van Berkel und Caroline Bos eine Fotoserie ihres Möbius-Hauses platziert (Bild 5): Prada-Models werden dabei im Haus so in Szene gesetzt, dass Architektur und Mode zu einem durchaus beiläufigen atmosphärischen Image verschmelzen – die Auflösung des architektonischen Objekts zu Gunsten der atmosphärischen Inszenierung belegend.  Architektur muss in zunehmendem Maße spezifische (Werbe)Botschaften transportieren. Nahe liegend, dass hier die Verkäufer von Mode als erste auf den anfahrenden Zug der Vermarktung eines Produkts durch sein Ambiente aufsprangen. Esprit etwa gehörte zu Beginn der 80er Jahre zu den ersten, die mit Ettore Sottsass einen Designer mit der Gestaltung ihrer Shops beauftragten (Bild 6).

 

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Bild 5 Bild 6

 

Dass Branding sich längst auch in der Architektur durchgesetzt hat, zeigt die Anwendung von Mechanismen des Merchandising und der Corporate Identity auf Architektur-Produkte mit immer kürzerer Lebensdauer - auch hier trifft zuerst Koolhaas den Nerv des Zeitgeist, wenn er dem Architektenvolk mit Bruce Mau, dem Designer, seine "Bibel" mit dem der Modebranche entlehnten Titel "S,M,L,XL" an die Hand gibt. Die kürzer werdenden Halbwertzeiten der Modestile als Mittel, Aufmerksamkeit zu erregen, sind ein Phänomen, an dem sich Architektur heute zunehmend zu orientieren scheint. Die langsame, aber sichere Annäherung der Architektur an Laufstegmechanismen macht den Verfechter von Architekturen, der um längerfristige räumliche Qualitäten bemüht ist, trübsinnig, weil die Vision des Hauses, das – obwohl erst vier Mal getragen – im Schrank hängt, weil es eben nicht mehr modern ist, gar zu schwierig aushaltbar ist. Natürlich birgt aber dieses nachbarschaftliche Zuneigen ungleich viel mehr Chancen, die es zu nutzen gilt: Viele Aufgabenbereiche von Architekten heute – Messebau, Event-Architekturen, szenographische Architekturen, Ausstellungswelten – haben ohnehin nicht mehr den Anspruch auf Dauer, müssen vielmehr gerade wegen ihres temporären, häufig werbenden Charakters mit neuen und ungewohnten Erfahrungen locken. Für dergleichen Aufgabenbereiche kann sich die Architektur bei der Mode Entscheidendes abschauen.

 

Shaping

Die jüngste Tendenz hin zur "maßgeschneiderten" Architektur ist aber vor allem bedingt durch die technischen Möglichkeiten immer ausgereifterer CAD-Werkzeuge, ohne die uns kaum die Flut der Blobs und Scapes der vergangenen Dekade beschert worden wären (Bild 7).

 

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Bild 7

 

Die assoziierten Begriffe – Geschmeidigkeit, soft architecture, Falte, fließend usw. - stammen zuerst vielleicht aus einem biologischen Kontext, in der gebauten Umsetzung begegnen uns aber die textilen Analogien auf Schritt und Tritt. Das Wegfallen gewohnter architektonischer Elemente wie die Trennung in Decke, Wand und Boden machen diese Architekturen zu fremdartigen Raumerlebnissen, die uns dennoch in ihrer organischen Formensprache sehr vertraut vorkommen. Wir kennen sie als Formen biologisch gewachsener Körper, wir kennen sie aber auch als maßstäblich vergrößerte Hülle des menschlichen Leibes – sie erscheinen uns als kleidhafte Gebilde. Architektur als erweiterte Körperhülle, als verlängere Prothese der natürlichen Eigenschaften des Körpers zu begreifen, schlägt sich spätestens seit den in den 60ern und 70ern entstandenen Arbeiten von Archigram, Haus Rucker & Co oder der Wiener Gruppe um den Medienkünstler Peter Weibel in den Zukunftsdebatten nieder. Doch nicht die Entwicklung der technischen Machbarkeit von intelligenten Kühlschränken, Klimaanlagen und Waschbecken wird den Körper zurückbringen in das Zentrum  der architektonischen Debatte: Die vielschichtigen Beziehungen zwischen Körper und Kleid als Anlass für eine Präzision der Beziehungen zwischen Körper und Architektur zu benutzen, birgt sicher vielfältige Möglichkeiten sinnlich-körperlicher Erfahrung, die längst noch nicht erkundet sind, und die möglicherweise die häufig unspezifisch und beliebig erscheinenden Blobs und Scapes mit einer reichhaltigeren architektonischen Erfahrung befruchten könnten.

 

Entwerfen mit Kleidung

Dass man solcherlei Gestimmtheiten nicht ausschließlich in der denkenden Distanz nachgehen kann, liegt auf der Hand, es gilt, sich eigenleiblich dieser Erfahrung auszusetzen.

 

Wir haben deshalb mit Architekturstudenten im Fach Grundlagen der Architektur im 3. Semester und in der Oberstufe ein kleines Experiment unternommen; sie sollten "ein Kleid für Zwei" entwerfen, herstellen und schließlich vortragen. Wichtig waren hier die verschiedenen Aspekte des Zwischenraums von Körper und Hülle einerseits (Beziehung Körper-Raum) sowie von Körper und Körper andererseits (Beziehung Objekt-Raum).

 

Ein und dasselbe  Ausgangsmaterial – ein blauer Baumwollrundstrick – wird für Kleid und Anzug auf unterschiedliche Weise im ersten Beispiel zugeschnitten: Das Kleid erhält symmetrische horizontale Einschnitte – je seitlich im Oberkörper- und Rumpfbereich, sowie vorn und hinten im Bereich der Beine. Die dehnbare Stoffröhre wird also dort mit Öffnungen versehen, wo die oberen und unteren Extremitäten vom Körper ausgreifen – die Gerichtetheit des Vorn-Hinten betonend. Die stehen gebliebenen Ringe halten im Schulter- und Brustbereich das Kleid; ihre Ausdehnung und Form variiert von oben nach unten entsprechend der Körperform. Das ringhafte Offen- und Geschlossensein des Kleids fordert das spielerische Anheben von Armen und Beinen gegen Ringe und Löcher geradezu heraus – und im so bewegten Gehen schwingen die Stoffringe zusätzlich mit – was zu einem wippend-spritzigen Gesamteindruck führte. Am gegensätzlichen Eindruck waren die Studierenden beim Entwurf des Anzugs interessiert: Hier wird der Körper in seiner Silhouette comicartig überzeichnet, indem ausschließlich vertikale Schnitte an der Stoffröhre durchgeführt werden. Vom Ausgangskörper werden Arme und Beine durch diese Schnitte isoliert – die Schlitze werden mit dunklem Stoff wieder geschlossen. Die gedrungene Kompaktheit des Körpers wird mit der gewählten Schnittform geradezu persifliert – bis hin zur Hand, die auf ewig in der Hosentasche stecken bleibt und so den Arm zum Henkel macht.

Eine einzige Grundregel – der horizontale und der vertikale Schnitt – führt hier zu gegensätz­lichen Beziehungen zwischen Körper und Kleidungsstück – bewegt-flexibel im einen, kompakt-flächig im anderen Fall.

 

Identisch sind die Schnitte der beiden Kleider im  zweiten Beispiel (Bild 8): Ein trichterähnlicher Grundschnitt wird von den Schultern bis zu den Füßen mit sukzessive größer werdenden Reifen ausgesteift. Die Kleider werden von ihren Trägerinnen gegensätzlich angezogen: Während die Eine die typisch weibliche Variante des eng anliegenden, schulter- und rückenfreien Einteilers trägt, der allmählich in den weit schwingenden Rock übergeht, wird die Lesbarkeit der weiblichen Figur bei der umgekehrten Tragart auf irritierende Weise verunklärt: Hier erhält der Körper den ausgreifenden Akzent auf Schulterhöhe, während Arme und Beine nur noch durch ihr Anstoßen an die Innenseiten der Reifen zu ahnen sind. In der unmittelbaren Nähe scheinen beide Kleid-Körper aufeinander zu reagieren – in Umkehrung und Entsprechung der Eigenschaften des Weiten und Engen, des Oben und des Unten.

 

Weniger ein Kleidungsstück als eine gemeinsame Bahn entwirft ein männliches Bearbeiterpaar (Bild 9): Symbiotisch in je die Hälfte einer körperhohen, zweiseitigen Stoffbahn gewickelt, funktioniert das Aus- und Einkleiden hier nur mit der Kooperation des Partners. Dieser muss mit der disziplinierten Aufgerichtetheit seines Körpers die Stoffbahn in der rotierenden Drehbewegung stets straff halten – andernfalls gelänge das Wickeln nicht. Die um sich selbst kreisenden Körper wickeln sich entlang der Bahn in festgeschriebener Figur in das rote Innen, während das schwarze Außen als Negation jeglichen individuellen Ausdrucks schichtweise anwächst.

 

Die Analyse eines Kleidungsstücks an den Beginn eines Entwurfsprozesses zu stellen, bot weitere Spielarten für homologe Übertragungen: Eine Residenz sollte entworfen werden, ein Wohnhaus der gehobenen Klasse, dabei sollten die vielschichtigen Eigenschaften eines Kleidungsstücks den roten Faden liefern für einen Prozess, in dem besonderes Augenmerk auf dem gezielten Erzeugen von Stimmungen liegen würde.

 

Jürgen Schnörringer beschrieb seinen Lieblings-Winterpelz erwartungsgemäß als weich, warm, schützend – die Attribute "fleischlich-körperlich", "das Schwingen und Nachschwingen" und schließlich das fassende Unterstützen der menschlichen Figur im Grundzustand des aufrechten Stehens waren subjektive Beobachtungen; sie lagen – ohne eigenes Anprobieren – nicht ohne weiteres auf der Hand (Bild 10).

 

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Bild 8 Bild 9 Bild 10

 

Neben den gegensätzlichen Eigenschaften des Pelzes auf der Innen- und Außenseite war es das Schwingen – die Wirkung, die das relative Gewicht des Mantels, sich zum Boden hin ausbreitend wie eine Schleppe, auf die Bewegung seines Trägers hat – welches in die architektonische Übertragung gebracht werden wollte (Bild 11-18).

 

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Eine genaue Betrachtung des Zuschnitts des Mantels ergab die Beobachtung, dass hier lauter Kreissegmente aneinander gefügt worden waren, welche die ausgestellte Form des Mantels bedingten. Der Student unternahm das Experiment, diese Schnittsegmente als Grundrissmodul auf sein Haus anzuwenden. Im Folgenden geriet der Entwurf zu einer Etüde über das Schwingen: Der Begriff kennzeichnete einerseits die kontinuierliche Bewegung durch den Raum, welche der Form der inneren Wandverläufe sowie dem Wechsel von niederen und hohen Räumen im Gebäude folgte. Allgemeiner jedoch birgt das "Schwingen" die Konnotationen des Oszillierens, des wiederholenden Wechsels zwischen zwei Wahrnehmungszuständen, andere Assoziationen wären das Leichte des "Beschwingtseins" oder das Unbewusste und Verborgene des "Mitschwingens" – begriffliche Erweiterungen, die sich im Verlauf des Entwerfens präzisierten.

 

Den verschiedenen Erfahrungsdimensionen des Matten und Glatten widmete sich die Interpretation der Residenz als "Tanzbar", ein winziger Club in Einfamilienhausgröße, entworfen von Tilman Schmidt (Bild 19-28).
 

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Voraus ging die eingehende Beschäftigung mit einer Lederjacke, die der Verfasser von seinem Vater geerbt hatte. Ein relativ ordinäres Kleidungsstück, war unser Eindruck, eben dies schien jedoch die Qualität zu sein, die das Eigentümliche des sackartigen Gebildes ausmachte: Aus hellem Wildleder und ohne Raffinesse des Schnitts in geraden Bahnen gefertigt, fielen an der Jacke die Schulterbeulen als markante Stellen auf, die das Vielgetragene der Jacke nachdrücklich betonten. Sie schienen die einzigen Berührungsflächen des Kleidungsstücks mit dem Körper zu sein – das gute Stück hing buchstäblich an seinem Träger. Offenbar war es dieses Nicht-Passende, die unspezifische Distanz zwischen Jacke und Körper, die das Tragegefühl des "Super-Bequemen" und "Gemütlichen" auslöste. Wichtig war – wie im vorangegangenen Beispiel – der Unterschied zwischen der raueren, gröberen Außenseite und dem taktilen Innen-Gefühl. Die Jacke war mit einem Fellimitat ausgekleidet, das am Übergang zwischen Schulter und Ärmel von einem deutlich als kühler empfundenen Futterstoff abgelöst wurde. Der Vorgang des Hineinschlüpfens während des Anziehens spielte also eine besondere Rolle im Gesamtgefühl für die Jacke, und diese Gleichzeitigkeit von Glatt und Rau, von Kühl und Warm war – angezogen – immer wieder spürbar, wenn man die Ärmel an ihrem Ausgang "in die Hand nahm" - eine Wintergeste, mit welcher der Körper sich noch tiefer in seine Schutzhülle verkriecht. Im Entwurfsprozess wurden nun Variationen der Nähe und Distanz von Matt und Glatt den einzelnen Raumsituationen zugewiesen (Bild 29-32).
 

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Eingestellte Kernräume erhielten je eine zugespitzte Qualität: Glatt-glänzend und dennoch porös die Besazza-Oberfläche der Toilettenräume, weich-braune Stoffbespannung für die Séparées neben der Tanzfläche bzw. im Obergeschoss. Die Oberflächen des Großraums changieren dagegen in kühler Mattigkeit: Beton bzw. matt gestrahlte, transluzente Doppelstegplatten bilden hier Boden, Wand und Decke. Die ‚atmosphärische Wolke‘ der Begriffe warm-kühl-weich-rau-glatt erweist sich der Dunkelheit der Clubnutzung auf besondere Weise angemessen: taktile Reize, die sich im Anlehnen und Berühren, schließlich im Wechselspiel mit der Kleidung der Benutzer entfalten.

 

 

Das eben Ausgeführte legt drei kategorielle Parallelen zwischen Kleidung und dem architektonischen Raum nahe, die Ausgangspunkte für einen weiterführenden Diskurs sein können: Es sind dies
1. die Wirkung der Stoffe bzw. Materialien im Hinblick auf die durch sie ausgelösten Atmosphären,
2. die (Zu)-Schnitte dieser Materialien, die zu der jeweiligen Geste der Form und der Geste der Bewegung beitragen, und schließlich
3. die Nähte bzw. Fügestellen der Einzelelemente im Hinblick auf die Wirkungen der Gemachtheit des Objekts.

 

1. Stoffe – Atmosphären. Offenkundig ist natürlich die stofflich-materielle Analogie zwischen Kleid-Stoff und Bau-Stoff. Hier wie dort "tingieren"[4] die jeweiligen Wirkungsmächte der Materialien den Raum. Ob für den großen Empfang das Gold-Glänzende des Brokatstoffs die festlich-repräsentative Sonderstellung einräumt, oder die ungeschriebene Cocktailparty-Kleiderordnung nach dem sich dezent im Hintergrund haltenden "kleinen Schwarzen" verlangt – stets sind es die kulturellen Synästhesien des textilen Ausgangsmaterials, welche die Wirkung unterstreichen, die in einem bestimmten Kontext gewünscht wird. Gleiches gilt für die Wahl des Materials in der Architektur, mit dem Zusatz, dass hier dem Grad der "Veredelung" eines Ausgangsmaterials eine entscheidende Bedeutung zukommt. Ein Bau-Stoff kommt eben gerade nicht als Seide oder Jeans vom Ballen, sondern wird – je nach Wirkungsabsicht – verschiedenen Bearbeitungsvorgängen unterzogen. Die Oberfläche ist – als während und im Bauen neu zu erfindendes Material – erster Stimmungsträger für den Raum. Es liegt auf der Hand, dass es dieser Veredelungsprozess ist, dem nachgespürt werden muss, will man das begriffliche wie entwerferische Vokabular der Materialwirkungen weiter erkunden.

 

2. Schnitte – Formen. Das Zuschneiden des Ausgangsmaterials ist ein erster Schritt im Herstellungsprozess des Kleidungsstücks. Hier beginnt die dreidimensional-räumliche Vermittlung zwischen dem Körper – seinen Maßen, Linien, seinen Gesten in der Form – und der vermittelnden, herausstellenden, betonenden oder verbergenden Wirkung der Garderobe. Welche Wirkung mit einem Schnitt erzielt werden soll, ist – wie beim Material auch – abhängig von Anlass und Zweck der Garderobe. Dem so gekleideten Körper bleibt gar nichts anderes übrig, als sich dem Kleid quasi einzufühlen – was heißt: sich dort auszudehnen, wo Falten kräuseln, an jener Stelle auf Haltung zu achten, wo Enge herrscht, und da den Spitzenärmel verspielt tänzeln zu lassen, wo die Lust an der Geste zur Bewegung verführt. Die Kombination aus den zeitgleich am ganzen Körper empfundenen taktilen Qualitäten des Stoffs und der Ausbildung des Raums zwischen Körper und Kleid durch den Schnitt ist es schließlich, die zur Komplexität des Empfindungs- und Erfahrungsreichtums in Bezug auf das Tragen von Kleidung beiträgt. Der Schnitt ist es auch, der die Bewegung des Gekleideten im Raum sowie seine Beweglichkeit in der Kleidung entscheidend bestimmt. Hier begegnen uns die weiter oben erwähnten Variationen der Empfindung des In-Seins, nämlich als sinnlich-körperliche Synästhesien in der Doppelung des Eindrucks beim Träger und des Ausdrucks im Anblick der gekleideten Person: eng–weit, rau–glatt, hart–weich, matt–glänzend, starr–bewegt, begrenzt–ausgedehnt, kalt–warm usw. Insofern Kleidung beim Gekleideten eine konkrete Empfindung auslöst, hat sie – jenseits ihrer direkten atmosphärischen Ausstrahlung – auf diesem Wege einen unmittelbaren Einfluss auf die Gestimmtheit des Raumes. Dies macht deutlich: Bei der Erkundung der Gesten der Form und der Gesten der Bewegung ist anzusetzen, hier muss das leibliche Empfinden eines bestimmten Ausdrucks unter die Lupe genommen werden, um den Konventionen in der Wirkung auf die Spur zu kommen.

 

3. Nähte – Gefügtheit. Die Technik des Fügens bringt die vorkonfektionierten Einzelteile zusammen. Ob mit der verdeckten Naht die Fläche in ihrer Wirkung unterstützt, ob mit dem gestickten Lochsaum das Ornament den Charakter des Wertvollen stilisiert, oder ob die eigentlich überflüssige Niete das Strapaziervermögen der Jeans nachdrücklich betont – immer ist es das Muster des Fügens, welches uns – gewissermaßen als Spur der Herstellungsart, der "Gemachtheit", die Absicht eines Ausdruckswillens zu erkennen gibt. In weitaus differenzierterer Weise gilt dies für die Architektur, Bruno Reichlin und Martin Steinmann haben dies in ihrem Text zum „Problem der innerarchitektonischen Wirklichkeit“ ausführlich diskutiert[5] (Bild 33).

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Bild 33
Den Betrachtungsvorgang der Ricola-Lagerhalle in Laufen von Herzog/de Meuron an anderer Stelle[6] analysierend, sagt Bruno Reichlin, dass die „Vieldeutigkeit (dieses) Objekts“ an dem Punkt zu wirken beginne, wo sich die Wahrnehmung von Leichtheit, Auflösung, Schichtung und Strukturiertheit einstelle. Der Frage nachgehend, wodurch dieser Eindruck entstehe, führte „der Anblick des Ganzen – sozusagen als Totale – nicht weiter (…) und der Betrachter (sehe) sich gezwungen, die Wahrnehmungsdistanz anzupassen“: „Der Betrachter beginnt, das Objekt wie eine riesige Skulptur zu umkreisen, erforscht all seine Teile, ihre Verbindungen, Überlagerungen und ihren Materialgehalt – der Betrachter versucht, sich Klarheit durch die Details zu verschaffen“. Interessant an Reichlins Ausführungen ist die Beziehung zwischen der Wahrnehmung des Betrachters und deren Reflexivität auf den Vorgang des Betrachtens als Annäherung und Umkreisen. Die originär aus der Technik des Fügens entstandene formale Wirkung wird hier sehr konkret leiblich gespürt und nachempfunden, ein Beleg für die Bedeutung des Details für die Wirkung von Architektur.

 

Zusammenfassung: In–Sein

Mit der Thematisierung der Funktionen des Schmückens, des Hüllens/Bergens/Schützens, schließlich den Parallelen der gesellschaftlichen Semantik von Kleidung und Architektur bleibt ein entscheidender Aspekt weitestgehend unberücksichtigt: Ein Kleidungsstück wirkt nicht nur bekleidend – mit Augenmerk auf der eindimensional tingierenden Wirkung für seinen Träger. Die Machart eines Kleidungsstücks mit den Dimensionen von Stoff, Schnitt und Fügung tritt in direkten Dialog mit dem Leib und wirkt auf seine Befindlichkeit. Will man also das konkrete Empfinden in Räumen schärfen, um den architektonischen Raum als einen zu behandeln, in dem leibliche Erfahrung stattfindet, dann muss eben dieses konkrete Empfinden befragt werden: Es geht darum, Gestimmtheiten herzustellen, deren Entschlüsselung nicht einer Sonderausbildung in Sachen Geschmack bedarf. Gehen wir lieber wieder aus von dem, was wir der Erscheinung und Gemachtheit unserer Alltagsumgebung entlocken können.
 


[1] Oechslin 1994

[2] Semper 1860

[3] Wigley 1995

[4] Böhme 1995

[5] Reichlin, Steinmann 1976

[6] Reichlin 1988

 

 



Literatur
:

 

Böhme, Gernot: Der Glanz des Materials. In: Atmosphäre, S. 49 ff. Essays zur neuen Ästhetik. Frankfurt/Main 1995

Harather, Karin: Haus-Kleider. Zum Phänomen der Bekleidung in der Architektur. Wien, Köln, Weimar 1995

Loos, Adolf: Das Prinzip der Bekleidung (1898). In: Glück, Franz (Hrsg.): Adolf Loos. Sämtliche Schriften, Bd. 1, Wien, München 1962, S. 105 - 120

Oechslin, Werner: Stilhülse und Kern. Otto Wagner, Adolf Loos und der evolutionäre Weg zur modernen Architektur. Berlin 1994

Petraschek-Heim, Ingeborg: Die Sprache der Kleidung. Wesen und Wandel von Tracht, Mode, Kostüm und Uniform. Baltmannsweiler 19882

Reichlin, Bruno: Objekthaft. In: Architektur Denkform. Basel 1988, S. 20 ff.

Reichlin, Bruno; Steinmann, Martin: Zum Problem der innerarchitektonischen Wirklichkeit. In: Archithese 19, 1976, S. 3-11

Semper, Gottfried: Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten oder Praktische Ästhetik. Ein Handbuch für Techniker, Künstler und Kunstfreunde. Frankfurt a.M. 1860

Simmel, Georg: Philosophie der Mode (1905). In: Rammstedt, Otthein (Hrsg.): Georg Simmel. Gesamtausgabe, Bd. 10. Frankfurt am Main 1995, S. 9 – 37

Wigley, Marc: White Walls, Designer Dresses. The Fashioning of Modern Architecture. Cambridge, London 1995

 


 
Abbildungen:

 

1

Fellini’s Faces. Zürich 1981, Nr. 276, 277, 41, 42

2

Modellzeichnung für einen Mantel aus den Wiener Werkstätten, 1912. Aus: Petraschek-Heim, Bild  72

3

Mantel von Lanvin-Castillo, 1956; Phillips-Pavillon, Le Corbusier, Expo Brüssel 1958. Beide Abbildungen aus: Maenz, Paul: Die 50er Jahre. Formen eines Jahrzehnts. Stuttgart 1978, S. 63, S. 72

4

Olivier Mourgue: Gesellig in der Grube. In: Schöner Wohnen 8/68. Aus: Schepers, Wolfgang: ’68. Design und Alltagskultur zwischen Konsum und Konflikt. Köln, Düsseldorf 1998, S. 27

5

Magazin lifestyle, 2000

6

Ettore Sottsass: Carlton, 1981. In: www.io.tudelft.nl/public/vdm/fda/sottsass/sott81.htm 

7

Gregg Lynn: h2Pavillon, Modell, 1998. In: Daidalos 69/70, Dez. 1998/Jan. 1999, S. 128 f.

8-10

Kleid für Zwei. Entwurfsprojekt Lehrstuhl für Grundlagen der Architektur, Karlsruhe, 1999

11-18

Jürgen Schnörringer: Diplomaten-Villa. Entwurfsprojekt „Residenzen. Peau et Farce. Lehrstuhl für Grundlagen der Architektur, Karlsruhe 2001/2002

19-32

Tilman Schmidt: Tanz-Bar. Entwurfsprojekt „Residenzen. Peau et Farce. Lehrstuhl für Grundlagen der Architektur, Karlsruhe 2001/2002

33

Herzog, de Meuron: Lagerhalle Ricola in Laufen, 1994

 



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