Urban Bodies
7. Jg. , Heft 1, (September 2002 )    

 

___Jörg
Gleiter

Berlin
 

Vom speechact zum sketchact

Architektur als Technik des Körpers

 

 

Die Live-Übertragungen der Ereignisse um den 11. September haben für die postindustrielle Gesellschaft eines überdeutlich vor Augen geführt: Kultur heute ist bestimmt durch die Gleichzeitigkeit und gegenseitige Verschränkung der geglätteten, libidinösen Oberflächlichkeit der postmodernen Mediengesellschaft mit der traumatisch-somatischen Tiefenstruktur der Moderne. Jean Baudrillard sprach vom "Realitätsexzess"[1] der Ereignisse. Dieses kann allerdings nur in seiner Doppelung gelten: einerseits in der traumatischen Verschränkung der Objekthaftigkeit der Stadt mit der Leiblichkeit ihrer Bewohner am realen Ort der Geschehnisse, andererseits in der weltweit übertragenen und nicht weniger traumatischen Endloswiederholung der Filmsequenzen der einstürzenden Türme in den Massenmedien.

Doch es war weniger die Antizipation der Ereignisse in den allseits bekannten Katastrophenfilmen amerikanischer Machart als vielmehr die Wiedererinnerung von Bildern verdrängter, kollektiv-apokalyptischer Erfahrungen der westlichen Kultur, die die Architektur in einem neuen Licht erscheinen ließ. So kehrten in der gotischen Ikonographie der brennenden Türme[2] die verdrängten Bilder der brennenden, kriegszerstörten Kathedrale von Reims wieder und mit ihr die kollektiven, traumatischen Erfahrungen des ersten Weltkriegs. Mit ihrer Erinnerung an Caspar David Friedrichs Gemälde Burgruine Eldena oder Eismeer drangen die Ruinen von ground zero dagegen noch tiefer ins kollektive Bildgedächtnis der westlichen Kultur ein. Mit ihnen traten die in der Ikonographie der Moderne lange verdrängten Vanitas-Motive der europäischen Malerei neu und in aktuellem Zeitbezug ins Bewusstsein zurück. Andy Warhols in New York entstandene Death-and-Disaster-Serie, allem voran der Siebdruck mit dem Titel Suicide von 1963, wurde ebenso ins Gedächtnis zurückgerufen wie Bernhard Tschumis weithin bekannte Collage mit dem Titel Violence in Architecture. Neben ihrer im Alltag im Vordergrund stehenden ökonomisch-funktionalen Präsenz wird die Architektur und die Stadt, mit einer Formulierung Aleida Assmanns, in einer bisher weitgehend vernachlässigten Funktion als eine Art "»Krypta« des Bewußtseins"[3] sichtbar. In der verstärkenden Wirkung durch die digitalen Bildmedien erscheint die Architektur heute, selbst in ihrer konzeptualisiertesten und reduziertesten Formensprache wie in den Twin Towers, als geheimes Bildarchiv der abendländischen Kultur.

In der Wiederkehr der im kollektiven Gedächtnis verdrängten Bilder, aber nicht weniger in ihrem Exzesscharakter direkt vor Ort, so ließe sich konstatieren, scheint mit seltener Schärfe eines evident: zwischen der historischen Kontinuität und der situationshaften Kontiguität der Stadt wird die Architektur sichtbar als eine Praxis der Transgression von der reinen Sichtbarkeit der Zeichen zur Innerlichkeit menschlicher Bewusstseinskonstruktion, mit der gegen das Postulat einer neuen "Form der Gegenstandslosigkeit" die mediale Bildvermitteltheit heutiger Kultur direkt ins Physiologisch-Körperliche umschlägt. Die Digitalisierung der Kultur lässt sich heute kaum mehr auf die einfache Formel von der "Aufzehrung [der Realität] durch Virtualität"[4] bringen. Wo nach Konrad Paul Liessmann, im Unterschied zur symbolischen Repräsentation im Klassizismus, in den neuen Medien das Sein mit dem Schein zusammenfällt, wird man, besonders in jener katastrophischen Extremsituation in New York, mit Assmann von einem Prozess der "Einfleischung" der technischen, gesellschaftlichen und sozialen Apparate in den individuellen Körper sprechen müssen. Will man eine geheime, "tiefgreifende Komplizenschaft"[5] um die Ereignisse des 11. Septembers konstatieren, wie Baudrillard darauf bestand, so zwischen der Objekthaftigkeit der Stadt und der Leiblichkeit ihrer Bewohner, wo die Bild- und Zeichenhaftigkeit von Architektur direkt ins Physiologische umschlägt. Im Zeitalter ihrer digitalen Doppelung, zwischen Sein und Bewusstsein, zwischen medialer Oberflächen- und traumatisch-somatischer Tiefenstruktur, nicht weniger auch zwischen ihrer materiellen Realität und digitalen Virtualität wurde die Architektur, um mit dem Philosophen Maurice Merleau-Ponty zu sprechen, sichtbar als eines der "Scharniere des Seins"[6].

 

 

Die Metropole und das menschliche Seelenleben

Betrachtet man die traumatische Seite der Ereignisse, so wäre hier einem Missverständnis vorzubeugen. Die Ereignisse um das World Trade Center stellen keinesfalls einen Paradigmenwechsel für die Architektur dar, allenfalls eine Sensibilisierung für die von Zygmunt Bauman als "Ambivalenzen " bezeichnete Grundkonstellation heutiger Kultur, was dann nicht minder für eine ihrer präeminenten Artikulationsformen, also für die Architektur der Stadt gilt. Zum Vorschein trat in der Tat, was zum Grundbestand der abendländischen Kultur, der Moderne und der Stadt gehört. Wie der Literaturwissenschaftler Kojin Karatani schreibt, ist es wohl die "Entdeckung der Landschaft"[7], die Entwicklung der Landschaftsmalerei im 17. Jahrhundert und des englischen Gartens und seiner Bildtechniken im 18. Jahrhundert, an denen die Idee eines aufgeklärten, neuzeitlichen Subjektes sich konstituiert; es ist aber im weiteren Verlauf der Geschichte die Entstehung der modernen Metropole im 19. Jahrhundert, die geradewegs ins Gegenteil führt, in das, was Theodor W. Adorno als die "Entzauberung des modernen Subjektes"[8] bezeichnete.

Vor dem Hintergrund der europäischen Geistesgeschichte, von Humanismus und Aufklärung, zeigen sich die neu entstandenen Metropolen des 19. Jahrhunderts in ambivalenter Verfassung. Einerseits ist es in der Tat die berühmte Besteigung des Mont Ventoux, die für den Dichter Petrarca im 14. Jahrhundert zum Anlass nicht nur der Scheidung von Fernsicht und Innenschau[9] wird, wie dies Werner Hofmann beschrieben hat, sondern zum Auslöser eines Ich-Erlebnisses. Vis-à-vis der Landschaft vollzieht sich die Trennung der inneren Erfahrung von einer äußeren Welt und findet die Emanzipierung des modernen Subjekts aus dem mittelalterlichen Mystizismus und Gnostizismus statt. Wie Jacob Burckhardt festgestellt hatte, geht die wissenschaftliche Entdeckung der diesseitigen Welt einher mit der Entdeckung des Menschen als autonomes Subjekt der Geschichte. Die Wechselseitigkeit von Landschaft und Subjekt betont Gernot Böhme, wenn er feststellt, dass das Individuum konstitutiver Faktor der Landschaft sei, dass es als reflektierendes Subjekt “überhaupt erst die daliegende Natur zur Landschaft organisiere.”[10]

Als künstliche Landschaft könnte auch die Stadt zweifellos als ein vorläufiger Kulminationspunkt der menschlichen Selbstfindungsprozesse verstanden werden, sie ist aber, wie Hans-Joachim Aminde und Eckhart Ribbeck erst vor kurzem wieder bestätigt hatten, für die meisten ihrer Bewohner weniger von aufklärerischer als von katastrophischer Natur[11]. Daher auch die Labyrinthmetapher, die bis in die dreißiger Jahre des letzten Jahrhunderts hinein zur gängigen Charakterisierung der Metropolen diente. Gegen die "wahre[n] Knoten von Verstopfung"[12], gegen die Metropole des 19. Jahrhunderts richtete sich auch Le Corbusiers plan voisin und sein Erlösungsmanifest "Städtebau". Seine tief sitzende Abneigung gegen die dunkeln Straßenschluchten der Gründerzeitstadt als denkbar elendste Form menschlicher Existenz brachte Le Corbusier auf die knappe Formel von "Il faut tuer la rue corridore".

Für Sigmund Freud dagegen war die Problematik der Stadt von weit komplexerer, wenn auch nicht weniger problematischer Art. Le Corbusiers Aggression gegen sie wäre ihm durchaus als Ausdruck der wechselseitigen Verstrickung von Stadt und Mensch symptomatisch erschienen. Für Freud war eines unabweisbar: dass die moderne Metropole nicht als Leistung eines autonomen, schöpferischen Geistes zu idealisieren ist; sondern dass es gilt, sie als Produkt der überlebensnotwendigen Anstrengung zu verstehen, der Anarchie des Unterbewusstseins – in Freuds Worten des "sexuellen Infantilismus" – zu widerstehen. Dahinter verbirgt sich Freuds Vorstellung von der modernen Metropole als Produkt der zunehmenden Höherentwicklung der Kultur und ihrer Verrationalisierungsprozesse, die jedoch nach Freud nur auf Kosten der Verdrängung der menschlichen Triebhaftigkeit ins Unterbewusstsein zu haben ist. Die Stadt muss man nach Freud als vorläufigen Endpunkt einer Entwicklung betrachten, die als die drei Desillusionierungen oder drei schweren Kränkungen, die der menschliche Narzißmus im Laufe der Neuzeit hat hinnehmen müssen, in die Kulturgeschichte eingegangen ist. Die erste Desillusionierung ist die kopernikanische, die die bevorzugte kosmologische Stellung des Menschen im Zentrum des Weltalls als Fiktion entlarvte; die zweite ist die darwinsche, die die Idee des Menschen als biologisches Sonderwesen zerschmetterte, während als die vorläufig letzte Desillusionierung die freudianisch-psychologische Kränkung zu benennen ist, die durch die Enthüllung der psychischen Automatismen und Triebmechanismen die Idee vom Menschen als einem nach freier Gewissensentscheidung handelnden Subjekt unterminierte. Freud hatte als erster in aller Deutlichkeit die den autonomen Intellekt kompromittierende, subversive Gewalt der unterbewussten Triebregungen hervorgehoben. Dabei ist die dritte der Desillusionierungen – wie Freud zeigte – nicht zu trennen von der Entwicklung der modernen Metropole und ihrem spezifischen Verhältnis zum menschlichen Seelenleben. Denn die Stadt ist nicht minder Produkt der objektivierenden Kulturalisierungsprozesse, der Triebsublimierung und im Sinne von Michel Foucault Instanz der Disziplinierung des Körpers, als sie Ort der Regression, d.h. der Rückkehr des im Kulturalisierungsprozess Verdrängten ist. Sie wird zum Ausdruck der Ambivalenzen der Moderne, insofern sie einerseits Ort der Triebverdrängung zugunsten eines vernünftigen Handelns in der Gesellschaft ist, wie auch andererseits Ort der Rückkehr des Verdrängten, das, wie Freud anschaulich dargelegt hatte, nie als dasselbe sondern als ein Unheimliches und Dunkles der verdrängten Triebe, als Neurose, Psychose oder Aggressionstrieb wiederkehrt; so wie die "Götter nach dem Sturz ihrer Religion zu Dämonen werden"[13] und der gestürzte Gott – entthront und seiner kulturbindenden Funktion entkleidet – in einem ”härteren Götzen”[14] wiederkehrt.

 

 

Architektur als "leibhaft erfüllte Gegenwart"

Es ist die Agoraphobie, bekannt auch als Platzangst oder Topophobie, anhand der es Freud gelang, über Simmels Paradigma der Blasémentalität des modernen Großstädters hinaus das spezifische Wechselverhältnis zwischen der Objekthaftigkeit der Stadt und dem menschlichen Subjekt als leib-geistiges Wesen aufzuzeigen. Die Platzangst ist eine jener für die Moderne des späten 19. Jahrhunderts typische Krankheit, die – zuvor unbekannt – parallel zur Entwicklung der großen Metropolen entstand. Sie wurde 1871 erstmals von dem Wiener Psychiater Karl Friedrich Otto Westphal diagnostiziert und als psychoneurotische Krankheit beschrieben. Wie Freud jedoch feststellte, ist es nicht die Leere der neu entstandenen, übergroßen Plätze und die endlosen Boulevards der gründerzeitlichen Stadt, wie zum Beispiel die Ringstraße in Wien, die zum Auslöser einer Neurose wie der Platzangst wird; sie ist es nicht, die die an Agoraphobie Erkrankten daran hindert, das Haus zu verlassen oder einfach die Straße zu überqueren. Wie Freud in der "Analyse der Phobie eines fünfjährigen Knaben"[15], besser bekannt als der Fall des kleinen Hans, verdeutlichen konnte, ist es die bildhaft-metonymische Projektion des als Angstneurose wiederkehrenden Verdrängten auf die Fassaden, mit der die Stadt zum auslösenden Moment der Platzangst wird. Ein psychisches Ereignis wird dabei zur physischen Hemmung. In der metonymischen Besetzung der Fassaden mit der als Verdrängtes wiederkehrenden, jetzt angstbesetzten Bilderwelt wird im Extremfall der Agoraphobie das architektonische Objekt, unabhängig von seiner stilistischen Determinierung und Intention des Architekten, zu einem von außen bestimmten Artefakt; in der Projektion des wiederkehrenden Verdrängten auf die Architektur wird diese zum Ort der doppelten Existenz des Betrachters; dieser ist mit einer Art Doppelung seiner selbst oder Spiegelsituation konfrontiert und gezwungen, den eigenen Ängsten und damit in einer Art Spaltung des eigenen Subjektes sich selbst ins Angesicht zu schauen. In dieser extremen Form der Erfahrung erscheint die Metropole als jene Instanz der Moderne, die in einer Art psychologisch-physiologischen Verschränkung das Individuum mit sich selbst und seinem Unterbewusstsein in einen Dialog versetzt.

Dass es dazu nicht nur einer krankhaften Disposition bedarf, wird sich an dem berühmten Michaeler Haus in Wien zeigen lassen, das 1910 nach Plänen von Adolf Loos entstand und sofort einen lang anhaltenden Streit entfesselte. Berühmt wird es aufgrund seiner weißen, für die damalige Zeit ungewöhnlich ornamentlosen Fassade in den oberen Wohngeschossen, während das Erdgeschoss- und Mezzaningeschoss mit Marmor reich ausgestaltet ist. Wie vielleicht zu erwarten, weckten auf dem Höhepunkt der bürgerlichen Epoche die glatten, ornamentlosen Fassaden in den Betrachtern Bilder von Kahlheit und Nacktheit; in der Presse war jedoch auch die Rede vom "nackten Oberbau"[16], einer "ungeschlachten drallen Dirne" oder dem "Haus ohne Unterleib". Am Punkte ihrer größten Rationalität weckte die Architektur Bilder aus jenem Teil der menschlichen Psyche, die nach Freud im Sinne der Triebsublimierung im Kulturalisierungsprozess verdrängt werden müssen, und die als schlecht Verdrängtes bei Gelegenheit wieder metonymisch, d.h. im Sinne einer Bildübertragung an die Oberfläche treten. Paradoxerweise, so könnte man jetzt sagen, deckten mit der Technik der Ornamentlosigkeit, also mit der Technik der ästhetischen Bereinigung, die Loos'schen Fassaden eine psychische Unreinheit auf; Architektur, gerade in ihrer rationalsten Form, wird zum Ort der Anamnese dessen, was auf dem Weg der Kultur unterdrückt und verdrängt worden war.

Architektur ist jetzt mehr rezeptiv durch den Betrachter bestimmt als produktiv durch den Architekten, sie ist weniger von der Normativität der jeweiligen Stile bestimmt; sie ist weniger ort- als vielmehr betrachterabhängig. Und in der sich hier andeutenden Auflösung der strengen Dichotomie von Subjekt und Objekt ist sie mehr als nur eine Form der Objektivierung. Kein Platz ist jetzt für eine Ästhetik in der Dichotomie von Einfühlung und Abstraktion, wie sie etwa zur gleichen Zeit Wilhelm Worringer entwarf und nach der ästhetischer Genuß sich noch ganz kantianisch als "objektivierter Selbstgenuss"[17] definierte. Analog zu Charles Baudelaires modernem Künstler müsste man eher vom Stadtbewohner der modernen Metropole als vom ”ewig rekonvaleszenten bürgerlichen Individuum”[18] und von der Stadt als Ort ewig kontingenter Begegnung ihrer Bewohner mit sich selbst sprechen. Das macht ihren von Baudelaire beschriebenen, so ”eigentümlichen Gegenwartscharakter”[19] aus, oder das, was man mit Adorno als ihre ”leibhaft erfüllte Gegenwart”[20] bezeichnen müsste.

Ist die Landschaft der Ort der Geistigkeit und Vergeistigung – man denke an das preußische Arkadien, die Potsdamer Kulturlandschaft oder auch an Goethes Verwandlung des Weimarer Ilmtales in einen Landschaftspark nach englischem Vorbild – so ist die moderne Metropole, wie hier deutlich zum Vorschein trat, Ort der Entzauberung des Subjektes in der Verschränkung von Leib und Geist. Die moderne Metropole steht damit im denkbar größten Gegensatz zum befriedeten Naturschönen als der zentralen Idee des Idealismus. Dass im idealisch Schönen unterschwellig immer auch das im Kulturalisierungsprozess Verdrängte noch präsent ist und aus dessen Tiefenstruktur hervorscheint, ja gelegentlich auch gewaltsam, quasi eruptiv, bis an die Oberfläche durchbricht, ist eine Erkenntnis, die Friedrich Nietzsche noch vor Freud und seinem Text Das Unbehagen in der Kultur[21] formuliert hatte. Überhaupt ist von Freud überliefert, dass er, um nicht ständig die eigenen Erkenntnisse vorformuliert zu finden, sich eines Tages die Lektüre von Nietzsche gänzlich verbot. "Schönheit kam nur nebenbei in das System hinein", heißt es bei Nietzsche in Menschliches, Allzumenschliches, "ohne die Grundempfindung des Unheimlich-Erhabenen, des durch Götternähe und Magie Geweihten, wesentlich zu beeinträchtigen; Schönheit milderte höchstens das Grauen, – aber dieses Grauen war überall die Voraussetzung […]”[22] Wohl war in die "firmitas" und "venustas", in die Standfestigkeit und Schönheit, des griechischen Tempels das Urgrauen vor den Irrationalitäten der unverstandenen Natur programmatisch gebannt, es scheint jedoch, wie Nietzsche feststellte, in der zum Teil fast schon pathologischen Besessenheit mit Ordnung durch die rationale Schönheit in den Kunstwerken hindurch; jenseits der Vergeistigung im klassischen Schönheitsideal ist es gerade jene in der Regel im Dunkeln bleibende Ebene der Kunstwerke, die uns erschüttern lässt, durch die die Kunstwerke physiologisch erfahrbar werden.

Die schleierhafte Schönheit der griechischen Klassik ist nach Nietzsche – hier nimmt er Freuds Theorie der Triebverdrängung vorweg – Resultat eines Sublimierungsprozesses der menschlichen Urängste vor den unverstandenen und bedrohlichen Phänomenen der Natur. Haben wir heute eine Kultur der Gleichzeitigkeit der medialen Oberflächlichkeit mit der traumatisch-somatischen Tiefenstruktur der Moderne zu konstatieren, so wird mit dem oben Gesagten unmittelbar deutlich, dass wir es nicht mit einem neuen Phänomen zu tun haben, sondern mit einer anthropologischen Konstante, wenn auch vor dem Hintergrund des heutigen Technologisierungsstandards in aktualisierter Form. Wir verstehen, dass die Anschläge von New York unmittelbar an jene Urängste rühren, nur dass die Ängste vor der unverstandenen Natur längst durch unsere Ängste vor der von uns selbst geschaffenen zweiten Natur, der globalen Zivilisation, der Technologie und der Maschine ersetzt sind.

Es lässt sich festhalten, dass mit der Etablierung der Metropole als omnipotentes Medium der Moderne die Architektur um die Wende zum 20. Jahrhundert zum Inbegriff der Moderne und ihrer Ambivalenzen[23] wurde. In der Architektur der Stadt drängen einerseits die Prozesse der Kulturalisierung und Verrationalisierung zur Sichtbarkeit; sie ist aber nicht minder Kristallisationspunkt für die Entzauberung des modernen Subjektes. Mit ihren digitalen Doppelungen gehört es zum Paradox der Kultur in ihrer aktuellen Form, dass es mehr denn je die Architektur als "geheimes" Bildarchiv, d.h. ihre Bildvermitteltheit ist, mit der die Architektur zur körperlichen Erfahrung wird. Im Kontext der allgemeinen "Semiotisierung der Lebenswelt"[24] stellt sich heute die Frage nach der Architektur als einer "Technik des Körpers"[25] neu. Ist die Leiberfahrung in der Architektur heute – wenn überhaupt jemals – weniger taktil als bild- und damit zeichenvermittelt, so wäre die Frage nach der Architektur als einer "Technik des Körpers" als die Frage nach ihrer kritischen Resemiologisierung, d.h. der Reformulierung ihres Zeichen- und Bildcharakters im Zeitalter ihrer Medialisierung zu verstehen.

 

Architektur und die "Dialektik des Lebendigen"

In seinem monumentalen Werk Philosophie in der veränderten Welt[26] zählt der Philosoph Walter Schulz neben der "Verwissenschaftlichung" und der "Verantwortung" – Jürgen Habermas spricht hier von der Absage der Moderne an eine normative Rechtfertigung aus der Tradition – die Tendenz zur "Verleiblichung" zu einem der Grundzüge der Moderne. Sie steht mit ihrer anthropologischen Komponente im unmittelbaren Kontext der drei großen Desillusionierungen der Menschheit, so wie sie, in Freuds Psychoanalyse kulminierend, zur Erkenntnis führten, dass, wie Hegel formulierte, die Mitte, in die sich der Mensch selbst setzte, eine "sich selbst zersetzende Mitte" ist, leer und unbestimmbar. Der Philosoph Helmuth Plessner brachte daher den Begriff der konstitutiven "Unbestimmbarkeitsrelation" der menschlichen Natur auf, während der Philosoph Gerhard Gamm von der "radikale[n] Ortlosigkeit der menschlichen Existenz"[27] oder der "Exterritorialität" des menschlichen Subjekts spricht. Die "Verleiblichung" besitzt dagegen nicht nur eine anthropologische, sondern auch eine technologische Seite. Demnach steht die “Verleiblichung”, was im ersten Moment paradox erscheint, in enger Vernetzung mit den neuen Technologien und ihren Eingriffen in den menschlichen Körper, die heute selbst bis in dessen molekulare Tiefenstrukturen gehen. Nicht nur das Body-Engineering oder die Nanotechnologien, sondern ebenso die mediale Ästhetik machen heute den menschlichen Körper zunehmend zu einem Objekt technischer, ökonomischer und ästhetischer Begierden. Im allgemeinen Optimierungsbegehren wird der Körper zur Körpermaschine. Dabei dient die postindustrielle Instrumentalisierung des Körpers nicht mehr, wie noch weit ins 20. Jahrhundert hinein, dessen Unterordnung unter den Rhythmus der Maschine und ihre Produktionsmethoden; dieses findet heute in sublimierter Form unter dem Diktat der Semantiken und Marktlogiken der Kulturindustrie statt. Unterschiedslos betreiben sie die Veräußerung des menschlichen Körpers und die Dezentrierung des Menschen in der maschinenhaften Objektivierung seines Körpers.

Tatsache bleibt aber die Reziprozität zwischen der Dezentrierung des menschlichen Subjektes und den Tendenzen zur "Verleiblichung". Längst hat das Interesse nach der "Verleiblichung" der Kultur in der Architektur der 90er Jahre – man kann auch von einem "phenomenological turn" sprechen – die älteren Verfahren der Semiotisierung in den 60er und 70er Jahre abgelöst. Unter dem "linguistic turn" der 60er Jahre war es, dass man die Architektur ausschließlich als Zeichensystem innerhalb eines sozialen und politischen Kontinuum zu bestimmen versuchte. Beispiele für das, was man in der Architektur das Äquivalent zur "Verleiblichung" der Kultur zu bezeichnen hätte, sind der kometenhafte Aufstieg Peter Zumthors, besonders seine Terme in Vals oder sein Pavillon auf der Expo in Hannover, aber auch Kas Osterhuis, Ilona Lénard und Menno Rubbens Salt Water Pavillon, UN Studios Quick Times Pavillon oder Lars Spuybroek. Zwischen der, einer strengen Materiallogik folgenden, aber auf das Atmosphärische zielenden Architektur Zumthors und den eher formalistischen Ansätzen bei Ben van Berkel ist damit auch schon die ganze Bandbreite und Varianz der Ansätze einer "Verleiblichung" in der Architektur angezeigt. Trotzdem scheint der folgende Kommentar Spuybroeks mehr als nur für eine persönliche Überzeugung, sondern paradigmatisch für das Interesse an der Architektur heute zu stehen. Interessanterweise bekannte sich Spuybroek erst kürzlich zur Idee der Exzentrizität des menschlichen Subjektes und Intersubjektivität als Voraussetzung für die Erfahrung von Raum, ja die Existenz von Raum schlechthin. "Bodies try to transgress themselves in time" schreibt Spuybroek, "connected to other bodies, other rhythms, other actions. In this sense you can really only talk about space as a result of an experiential body timing its actions. Space is never a given."[28] Wo der Raum nie ein Gegebenes ist, muss bei der Erfahrung von Architektur nicht nur der Benutzer, wie man mit Paul Valéry sagen könnte, seinen Körper einbringen, sondern im besonderen Maße auch der Architekt. Spuybroek bezeichnet hier den Punkt der Auflösung des reinen Objektcharakters der Architektur; es löst sich die Dichotomie von Benutzer bzw. Betrachter und Werk, nicht weniger als die zwischen Werk und Produzent d.h. Architekten.

Auch wenn es nicht unmittelbar im Zentrum der Fragestellung hier steht, so wäre hier in diesem Kontext doch auf die Rolle der architektonischen Postmoderne und des Dekonstruktivismus in den 80er Jahre kurz zu verweisen. Beide Tendenzen spielten, vielleicht gerade weil sie im Vergleich zu den noch anhaltenden Debatten in anderen Kulturbereichen kaum zehn Jahre andauerten, kulturhistorisch eine entscheidende Rolle: nämlich als notwendige Phase des Übergangs von den Verfahren der Semantisierung der Architektur in den 70er Jahre hin zur "Verleiblichung" der Architektur im Kontext ihrer Digitalisierung zu Beginn der 90er Jahre. Im vordigitalen Jahrzehnt formulieren Peter Eisenman, Frank Gehry, Daniel Libeskind und Zaha Hadid, um nur einige der allzu bekannten Namen zu nennen, alle jene Themen und erarbeiten die methodischen Verfahren – ohne Computer noch –, die die heutigen Diskurse der Architektur im Zeitalter ihrer Digitalisierung maßgeblich bestimmen. Gerade Eisenmans Entwürfe und Architekturprojekte der 80er Jahre nehmen eine ausgesprochene Zwischenstellung ein zwischen der Textualisierung von Architektur in den 70er Jahren einerseits und der auf die leib-körperliche Wirkungsästhetik ausgerichteten räumlich-materiellen Verfahren der 90er Jahre. Interessant ist, dass die Terminologie und Technik der Superposition, der diagrammatischen Entwurfsverfahren, der selbstbezüglichen Prozessualität, der Interiorität, Singularität und Selbstreferenzialität, die heute im Kontext der IT-Revolution in der Architektur eine wichtige Rolle spielen, im vordigitalen Jahrzehnt schon ihre konzeptuelle Ausformulierung erfahren haben.

Umgekehrt ist es kein Zufall, dass die Diskurse der "Verleiblichung" in der Architektur heute mit der extensiven Visualisierung der Kultur und ihrer neuen digitalen Bildlogik zusammenfallen. Denn im Zentrum der Überbrückung der Kluft zwischen dem externalisierten Subjekt und seinem Körper steht, wie Merleau-Ponty schon in der Mitte des 20. Jahrhunderts festgestellt hatte, die optische Wahrnehmung, das Sehen. "Sehen ist kein bestimmter Modus des Denkens oder eine Selbstgegenwart", heißt es in Das Auge und der Geist, sondern das Sehen "ist mein Mittel, von mir selbst abwesend zu sein, von innen her der Spaltung des Seins beizuwohnen, durch die allein ich meiner selbst innewerde."[29] Es ist die Sichtbarkeit und der Leib, die für Merleau-Ponty, in den Worten von Lambert Wiesing, die Schlüssel zur Überwindung des "Dualismus von Bewußtsein und Sein"[30] sind. Wahrnehmbarkeit selbst gehört nach Böhme zum “Grundcharakter der Natur”[31]. Sie ist jedoch nicht nur beschränkt auf die Dingwelt, sondern hätte daneben auch Phänomene wie “Laserskulpturen, Computergraphiken und anderes Immaterielles” zu umfassen.

Wenn Merleau-Ponty weiter schreibt: "Die Maler haben das immer gewußt", denn sie sehen nicht "das Äußere der Bewegung, sondern ihre verborgenen Chiffren"[32], so gilt dies keinesfalls alleine für die Maler, sondern ebenso für die Architekten. Denn wie es im extremsten Fall, in der Katastrophe von New York überdeutlich hervortrat, ist es, nicht weniger als die Malerei, gerade die Architektur der Stadt, die nicht nur Ort der Auflösung, wie Freud gezeigt hat, jener Idee der Selbstmächtigkeit des Subjektes ist, sondern in dialektischer Wendung, gerade in ihrer Materialität und Räumlichkeit, gleichzeitig auch Instanz der Vermittlung zwischen der dezentrierten Subjektivität und ihrer Leiblichkeit. Die Architektur ist es, die auch im positiven Sinne beide Extreme berührt. Im Vollzug des Sehens wird bei Merleau-Ponty die Verschränkung des Subjektes mit dem architektonischen Objekt in der beiderseitigen Offenheit oder Dezentrierung evident. Nicht nur als Nebeneffekt, lösen sich mit der auf den Betrachter selbst gewendeten Sichtbarkeit die Parallelwelten von Körper und Objekt auf, wenn Merleau-Ponty weiter feststellt: "Was das Sehen uns lehrt, muß wörtlich genommen werden […] es lehrt uns die Gleichzeitigkeit"[33]. Die "Intersubjektivität'" der Alltagswelt , wo "mein Körper selbst mit der sichtbaren Welt verschränkt"[34] ist, führt damit in einem zweiten Schritt in die Rücknahme rein imaginativer zugunsten performativer Impulse und führt direkt zur Frage nach dem Handlungsbezug zwischen der Architektur und ihrem Benutzer, nicht weniger als dem zwischen der Architektur und dem Architekten.

Die kritische Resemiologisierung der Architektur wäre demnach auf zwei Ebenen zu entwickeln: in Bezug auf die "Dialektik des Lebendigen" wäre die Basis dafür Merleau-Pontys Phänomenologie der Wahrnehmung und ihr Grundgedanke eines einfühlenden "engagierten Bewusstseins", was den Handlungscharakter der Architektur betrifft, ist als ihr anderer Referenzpunkt, wie im Folgenden dargestellt werden soll, die Sprechakttheorie John L. Austins und ihr zentrales Element der Performativität auszumachen.

 

 

Vom speechact zum sketchact[35]

Im Zentrum des klassischen Architekturbegriffs steht die "Logik der Repräsentation". Wie jedoch mit Freud, Loos, Le Corbusier und Spuybroek hier festgestellt wurde, ist die moderne Metropole und damit die Architektur keinesfalls nur Einschreibefläche für anderweitig vorformulierte, gesellschaftliche Werte und Normen in Form eines ikonographischen Zeichen- und Formenrepertoires, dessen bekanntestes Medium wohl das Ornament ist. In der Moderne ist die Architektur, wie gezeigt wurde, immer dort nur auf der Höhe ihrer Zeit, wo sie im jeweils aktuellen kulturellen Kontext eine Transformation vollzieht von einem passiven Träger von Bedeutung hin zum Akteur und Produzenten kultureller Praxis. Das impliziert ein Verständnis der Moderne als Strukturbegriff und den längst überfälligen Schritt, die architektonische Moderne als Stilbegriff entgültig aufzugeben. Im Sinne der "Verleiblichung" und "Einfleischung" technischer, ökonomischer und sozialer Gegebenheiten in die Körper wird die Architektur selbst zum Medium der Einschreibung. Auf eine Formel gebracht: Architektur ist nicht nur konstativ, sondern auch performativ. Der performative Grundcharakter aktiviert dabei die beiden Seiten der architektonischen Praxis, das ist einmal die Beziehung zwischen der Architektur und dem Benutzer oder Betrachter, wie auch die zwischen dem Architekten und seinem Werk.

Um zu klären, was eine Theorie der Performativität für die Architektur konkret zu bedeuten hätte, soll hier ein kurzer Rückgriff auf die Theorie der Performativität in der Sprechakttheorie J.L. Austins gemacht werden. Sprache vollzieht Handlung, so lässt sich knapp die zentrale These der Sprechakttheorie und Theorie der Performativität von Austin beschreiben. Das "Ja" als eine Äußerung vor dem Standesbeamten zum Beispiel beschreibt keine Tatsache, sondern vollzieht diese. Austins Sprechakttheorie basiert auf der Beobachtung, dass das Äußern von Worten gewöhnlicherweise schon das entscheidende Ereignis im Sinne einer Handlung ist, auch wenn dieser gewisse "körperliche" oder "geistige" Handlungen von seiten des Sprechers oder anderer beteiligter Personen noch folgen. Die Theorie der Performativität hat demnach die sprachlichen Äußerungen zum Inhalt, "in denen etwas sagen etwas tun heißt; in denen wir etwas tun, dadurch daß wir etwas sagen oder indem wir etwas sagen,"[36] wie dies Elisabeth Strowick formulierte. Sie stellt dazu fest, dass performative Äußerungen solche sind, "die die grammatikalische Form von Tatsachenfeststellungen haben, jedoch keine Tatsachen beschreiben, sondern diese schaffen"[37]. Damit wird sehr deutlich, dass Austins Spechakttheorie durch zwei wesentliche Aspekte charakterisiert ist: einmal als Akt der Kommunikation auf der rein abstrakten Zeichenebene, gleichzeitig aber auch als Handlungsakt performativer Art. Entscheidend ist dabei für die Praxis der Architektur, dass, insofern der performative Akt immer durch die betroffenen Personen zur Ausführung kommen muss, es immer auch die Möglichkeit eines Misserfolges geben kann. Denn was zur Ausführung kommt, bleibt bis zu seiner Ausführung unbestimmt. Und selbst dann, muss dieses nicht der Intention des Sprechers entsprechen; das heißt aber, dass die ausgeführte Handlung nicht einfach falsch ist, man müsste sie eher als verunglückt bezeichnen, schreibt Austin. Entscheidend für die Frage nach der Performativität in der Architektur, oder weiter gefasst, der Frage nach der Übertragung der Theorie der Performativität in das Feld der Ästhetik, wird dann sein, dass mit der "Lehre von den Unglücksfällen" Austin die Kategorien von wahr und falsch suspendiert und durch die von glücken versus verunglücken ersetzt. Wo es jedoch kein falsch oder richtig gibt, bedeutet dies für die hier skizzierte Ästhetik der Performativität die Auflösung der tradierten Idee der Repräsentation in der Architektur; denn sie ist es, die ohne eine klare Abgrenzung von falsch und wahr nicht denkbar ist.

In Übertragung von Austins Theorie der Sprechakte wäre die Frage, inwiefern Architektur nicht nur Dinge herstellt, so wie Sprache nicht nur zur Beschreibung dient, also nur deskriptiv oder im Falle der Architektur konstruktiv und repräsentativ ist, sondern inwiefern sie selbst als Handlungsvollzug zu verstehen wäre. Eine Verbindung zu Austins Sprechakttheorie wird dort sichtbar, wo diese mit der "Lehre von den Unglücksfällen" eine gewisse Unabgeschlossenheit der Sprache oder "Leerstelle der Kommunikation" als eine ihrer entscheidenden Voraussetzungen benennt. In der Performativität der noch nicht immer schon propositional besetzten Sprache findet diese Leerstelle der Kommunikation ihre Entsprechung in der weiter oben eingeführten "exzentrischen Offenheit des Menschen". Sie ist, wie Gamm feststellt, auch als "unbestimmbare dezentrierte Mitte" des Sprechers schon präsent. Den "konstitutiven Leerstellen" der Sprache scheint mehr nur als in einer einfachen, sprachlichen Analogie das Nicht-Ineinanderaufgehen von Körper und Subjekt, also dessen konstitutive Exterritorialität zu entsprechen.

Im Bruch mit dem klassischen "double-bind von Figuration und Defiguration"[38] tritt mit der hier sich abbildenden Unabschließbarkeit der Architektur das Prinzip der Dynamik hervor. Im sich abzeichnenden Verfahrenscharakter der Architektur führt dies direkt zur Verschiebung des double-bind von figurativ und konstativ zugunsten von konstativ und performativ. Nach dem oben Gesagten wäre demnach die Architektur der Stadt durch die "Präsensform" des performativen Aktes charakterisiert, und nicht mehr in erster Linie durch die Vergangenheitsform der Repräsentation. Architektur der Performativität unterscheidet sich von der Architektur der Repräsentation dadurch, dass sie "kein Bericht, keine Beschreibung, keine Information über einen konkreten Sachverhalt oder ein Ereignis"[39] sein will. Wenn der Niedergang der Episteme der Repräsentation eine Wende vom Bewusstsein zur Sprache, von der Denotation zur Performativität, von der kategorialen Behauptung zum Sprechakt oder speechact führt, so wäre nach dessen Äquivalent in der Architektur oder, mit Horst Bredekamp, für die Architektur nach einer Theorie des sketchacts zu fragen.

 

 

Architektur als “Technik des Körpers”

Aus dem hier Dargestellten folgt, dass eine Theorie der Performativität in der Architektur im Übergang vom speechact zum sketchact im Kontext der Digitalisierung und Medialisierung der zeitgenössischen Kultur ihre Aktualität zu entwickeln hätte. Ihr Urbild dagegen findet sie gleichsam in ihrer mythischen Urform: im Labyrinth. In seiner nicht linearen, gebrochenen Narrativität und latenten Offenheit steht das Labyrinth paradigmatisch für eine Spielart der Performativität in der Architektur. Darauf hinzuweisen wäre, dass, wenn vom Labyrinth die Rede sein soll, nicht in der üblichen, missverständlichen Form eine ungeordnete, chaotische Figur gemeint ist, in der man sich verliert, sondern die Urform des Labyrinths als kreisförmig konzentrische oder als rechteckige, vielfach abknickende, aber doch konsequent auf ein Zentrum hinführende Wegefigur. Entscheidendes Erfahrungsmoment im Labyrinth und seinem Mauersystem ist, dass hier in der Unübersichtlichkeit und bedrängenden Enge der Bewegung eine Konzentrierung auf den Körper stattfindet. In dem schon unmittelbar nach dem Betreten sich einstellenden Verlust der Orientierung ist es, ähnlich zum Fall von Freuds Agoraphobie, dass die Erfahrung einer räumlichen, architektonischen Figur von höchster rationaler Ordnung direkt ins Körperliche umschlägt. Mit einer Formulierung von Nietzsche wird Ästhetik hier zur ”angewandte[n] Physiologie”.

Es ist jetzt mehr als nur irritierend, dass als Gefängnis für Minotaurus ein geschlossener, vielleicht viereckiger Bau, wie Harald Lemke richtig feststellte, die Funktion des Einsperrens viel besser hätte erfüllen können als jenes gewundene und offene Wegesystem des Labyrinths, das der Sage nach Daidalos erfunden hatte. Warum aber, so wäre zu fragen, die vielbahnige Konstruktion, die exzentrische, halb offene und doch geschlossene Objekthaftigkeit und die in der Zielstrebigkeit aufgehaltene Bewegung? Tatsächlich verweist die Umwegigkeit und verschlungene Unabschließbarkeit des Labyrinths auf dessen dem Mythos nach zweiten Ursprung: als Tanzplatz der Ariadne. Auch ihn soll Daidalos nach der Überlieferung in Homers Ilias[40] für Ariadne entworfen und gebaut haben; dieses Mal aber nach der Tötung des Minotaurus durch Theseus und dessen Selbstbefreiung aus dem Labyrinth. Ariadne trägt nicht umsonst den Namen “Herrin des Labyrinths”. Pausanias berichtet, dass in Knossos ein solcher ”choros” des Daidalos noch bis ins 2. Jahrhundert zu besichtigen gewesen sein soll. Choros bezeichnet dabei sowohl den Ort des Tanzes wie auch die auf dem Tanzplatz selbst aufgezeichneten, ineinander verschlungenen, kreisförmigen Tanzfiguren[41]. Die dritte Referenz für die Herkunft des Labyrinthes benennt dagegen den Palast von Knossos, der in seiner Unübersichtlichkeit aus schierer, stadtähnlicher Größe von labyrinthischer Art gewesen sein soll. Implizit steht damit den Begriffen von Minotaurus, Menschenopfer und Labyrinth die Trias von Tanz, Architektur und Stadt[42] gegenüber, mit denen bis heute, wie Hermann Kern berichtet, volkstümliche Überlieferungen in Europa die Idee des Labyrinths assoziieren.

Das Labyrinth ist, um noch einmal auf Nietzsche zurückzukommen, Tatort der ”Zerreissung des principii individuationis”[43]; in dessen engen und viel gewundenen Gängen herrscht nach Nietzsche nicht mehr die hehre Klarheit des Wortes und der Vernunft, sondern alleine die ”leibliche Symbolik”[44]; hier wird Ästhetik zur ”angewandte[n] Physiologie”[45]. Wo der Mythos selbst oszilliert zwischen Minotaurus, Menschenopfer und Labyrinth verschlingt sich der Mythos interessanterweise selbst in einem performativen Akt, gleichsam nach Lemke zwischen Rhetorik und Dialektik. In ihm hat sich das Figurenpaar von wahr und falsch schon lange zugunsten von glücken und verunglücken aufgelöst, so wie es Austin in seiner Sprechakttheorie formuliert hatte. Ihm entspricht eine Dialektik aus perlokutivem und illokutivem Sprechakten, also die Unterscheidung zwischen Sprechakten mit expliziter Intentionalität, die auf direkten Handlungsvollzug abzielen und jenen, die sich im Bewirken von oberflächlichen Effekten erschöpfen. Während die perlokutiven Sprechakte zu physischer Handlung führen, bleiben die illokutiven Sprechakte auf der Ebene symbolischer Form. Generell wird aufgrund seiner "existentiellen Unumgänglichkeit"[46] und seiner im Exzess der Rationalität sich selbst verlierenden d.h. in die reine Körperlichkeit der Erfahrung verlierenden Figur das Labyrinth zum Inbegriff eines situativen Sprechaktes. In der Dialektik zwischen Umwegigkeit und Wegbarmachung des Umwegigen erfährt das Erzählen seinen Sinn, "indem es das Erzählte im Fortgang des Erzählens erst ent-wickelt."[47] In der labyrinthischen Sprechaktsituation geht es folglich alles andere als um das Hervorgebrachte oder eine Teleologie des Erzählten, "sondern um das Tun, also um den Vollzug des Erzählens selber."[48] Worte sind Taten, wie sich in den einfachen Worten von Karl Kraus hier bestätigend anmerken ließe.

Letztendlich wäre auf die Verbindung von Opferplatz und Tanzplatz in der Figur des Labyrinths hinzuweisen. Zwischen beiden Figuren findet gleichsam der Umschlag statt von der archaischen Form des Menschenopfers zum Tieropfer und weiter zum ritualisierten Opfer- und Freudentanz. Historisch ergibt sich dies daraus, dass mit der Etablierung des minoischen Herrschaftssystems das übliche Stieropferritual durch eine Art Stiertanz ersetzt wurde. Unter Verzicht auf die rituelle Tötung eines Stieres, aber trotzdem unter Todesgefahr, war es bei diesem Tanz das Ziel, den vorgeführten Stier bei den Hörnern zu packen und durch dessen kraftvolle Kopfbewegung über dessen Rücken zu springen. Im unmittelbaren, körperlichen Kontakt aus der kraftvollen Bewegung des Stieres heraus sollte die animalische wie göttliche Kraft des Stieres direkt auf den Menschen übergehen. Hat das Labyrinth zusätzlich noch einen weiteren Ursprung im Choros von Ariadnes Tanzplatz, also im Opfertanz nach der Tötung des Minotaurus durch Theseus, so wird darüber hinaus sichtbar, dass dort, wo im Tanz die anfänglich rationale choreographische Figur ins tänzerisch Ekstatische führt, das Labyrinth als Opferplatz, erst des Menschen und später des Stieres, wie auch als Tanzfigur als dialektische Figur existiert: sowohl als labyrinthisch-traumatische, die physische Existenz des Menschen direkt betreffende wie auch lustvoll-tänzerische Verdichtung menschlicher Lebenserfahrung. Nur in der am Umschlagpunkt der rationalen choreographischen Figur zur ekstatischen Figur des rituellen Tanzes ist es, dass die Selbstmächtigkeit menschlicher Vernunft umschlägt ins Physiologische, dass im Labyrinth die Körperlichkeit mit der figurhaften Objekthaftigkeit sich performativ durchdringt.

Wo sie die Exzentrizität von Körper und Objekt zur Voraussetzung wie zu ihrem Endpunkt hat zielt die Architektur als "Technik des Körpers" in den hier grob skizzierten Vorüberlegungen zu einer Ästhetik der Performativität in der Architektur auf ein Verfahren, das mit den etablierten konstruktiven Hierarchien architektonischer Ordnung, sowohl technischer wie auch bildhaft-symbolischer Art bricht. Im Zeitalter ihrer digitalen Doppelung der Architektur wäre der Ort des performativen Verfahrenscharakters einer Architektur als "Technik des Körpers" an jener Schnittstelle auszumachen zwischen ihrer medialen, bildlich-zeichenhaften Präsenz einerseits und ihrer materiell-konstruktiven Erscheinung andererseits.

 

Anmerkungen: 


[1] Jean Baudrillard, Der Geist des Terrorismus, in: Lettre international 11/2001, S. 12.

[2] Tatsächlich verstand sich das World Trade Center vom ersten Moment seiner Planung an in der Tradition des Westwerkes romanischer Basiliken oder der Doppelturmfassaden gotischer Kathedralen. Das Spitzbogenmotiv, mit dem die einzelnen strukturellen Fassadenelemente in den unteren Geschossen zusammengeführt wurden, lässt hier keine Zweifel aufkommen. Abgesehen davon ist Downtown New York (Gotham City) mit der Prädominanz neogotischer Hochhäuser wie dem Woolworth Building oder der Brooklyn Bridge unmissverständlich gotisch denotiert.

[3] Aleida Assmann, Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 1999, S. 242.

[4] Konrad Paul Liessmann, Von Toni nach Moor. Ästhetische Potenzen – nach der Postmoderne, in: Die Zukunft der Moderne, Kursbuch 122, Dezember 1995, S. 28.

[5] Jean Baudrillard, Der Geist des Terrorismus, a. a. O., S. 11.

[6] Maurice Merleau-Ponty, Das Sichtbare und das Unsichtbare, hrsg. v. C. Lefort, München 1986, S. 299.

[7] Vgl. das Kapitel "Die Entdeckung der Landschaft, in: Kojin Karatani, Der Ursprung der japanischen Literatur, Basel 1996, S. 13-46.

[8] Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, Frankfurt/M. 1993, S. 72.

[9] Vgl. dazu Werner Hofmann, Zur Geschichte und Theorie der Landschaftsmalerei, in: Caspar David Friedrich. Kunst um 1800, hrsg. v. Werner Hofmann, München 1974, S. 9-29.

[10] Gernot Böhme, Atmosphäre, Frankfurt/M. 1995, S. 156.

[11] Vgl. dazu Hans-Joachim Aminde u. Eckhart Ribbeck, Weltstadt und Hüttenmetropole, in: StadtBauwelt 36/02, S. 18.

[12] Le Corbusier, Leitsätze des Städtebaus, in: Programme und Manifeste zur Architektur des 20. Jahrhunderts, hrsg. v. Ulrich Conrads, Braunschweig u. Wiesbaden 1981, S. 89.

[13] Sigmund Freud, Das Unheimliche, in: ders., Gesammelte Werke, Frankfurt/M. 1966, 12. Bd., S. 248.

[14] Ders., Das Unbehagen an der Kultur (1930), in: ders., Studienausgabe, Frankfurt/M. 2000, Bd. IX, S. 93.

[15] Vgl. dazu Sigmund Freud, Analyse der Phobie eines fünfjährigen Knaben, in: ders., Studienausgabe a. a. O., Bd. VIII.

[16] Hermann Czech u. Wolfgang Mistelbauer, Das Looshaus, Wien 1968, S. 31.

[17] Wilhelm Worringer, Abstraktion und Einfühlung. Ein Beitrag zur Stilpsychologie, Leipzig u. Weimar 1981, S. 6.

[18] Charles Baudelaire bezeichnete den modernen Maler als einen ”ewigen Rekonvaleszenten” und ”geistig beständig im Zustand des Genesenden” Befindenden. Charles Baudelaire, Der Maler des modernen Lebens, in: Charles Baudelaires Werke in deutscher Ausgabe, hrsg. v. Max Bruns, Minden in Westfalen 1906, 4. Bd, S. 279.

[19] Ebd., S. 268.

[20] Theodor W. Adorno, Funktionalismus heute, in: ders., Gesammelte Schriften, Darmstadt 1998, Bd. 10.2, S. 383.

[21] Vgl. dazu Sigmund Freud, Das Unbehagen in der Kultur (1930), a. a. O.

[22] Friedrich Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches I, in: ders., Kritische Studienausgabe, hrsg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München 1999, (Im Folgenden zitiert als KSA gefolgt von der Bandangabe) Bd. 2, S. 218.

[23] Vgl. dazu Zygmunt Bauman, Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit, Frankfurt/M. 1996.

[24] Thomas Friedrich, Kleopatra im Supermarkt. Ein Beitrag über die Semiotisierung der Lebenswelt, in: Würzburger. Magazin für Kommunikation und Gestaltung, 3/99, S. 19.

[25] Maurice Merleau-Ponty, Das Auge und der Geist, in: ders., Das Auge und der Geist. Philosophische Essays, Hamburg 1984, S. 21.

[26] Vgl. dazu Walter Schulz, Philosophie in der veränderten Welt, Pfullingen 1972.

[27] Gerhard Gamm, Im Zeitalter technischer Reproduzierbarkeit. Zur Grammatik menschlicher Würde, in: Rückblick auf die Postmoderne, hrsg. v. Gerhard Schweppenhäuser u. Jörg H. Gleiter, Weimar 2002, S. 25.

[28] Lars Spuybroek zitiert nach Kari Jormakka, Flying Dutchmen. Motion in Architecture, Basel, Boston u. Berlin 2002, S. 80.

[29] Maurice Merleau-Ponty, Das Auge und der Geist, a. a. O., S. 39.

[30] Vgl. dazu Lambert Wiesing, Die Sichtbarkeit der Bilder. Geschichte und Perspektiven der formalen Ästhetik, Reinbek bei Hamburg 1997, S. 226.

[31] Gernot Böhme, Atmosphäre, a. a. O., S. 157.

[32] Maurice Merleau-Ponty, Das Auge und der Geist, a. a. O., S. 39.

[33] Ebd., S. 40.

[34] Ders., Der Philosoph und sein Schatten, in: ders., Das Auge und der Geist, a. a. O., S. 52.

[35] Den Begriff des "sketchact" als Grundbegriff für eine Theorie der Performativität der visuellen Künsten verdanke ich einem Gespräch mit Horst Bredekamp.

[36] John L. Austin, Zur Theorie der Sprechakte (How to do things with Words), Stuttgart 1998, S. 35.

[37] Elisabeth Strowick, Wiederholung und Performativität. Rhetorik des Seriellen, http://www.thealit.dsn.de/serialitaet/teil/strowick/strowick_druck.html.

[38] Bettine Menke, Dekonstruktion – Lektüre: Derrida literaturtheoretisch, in: Neue Literaturtheorien, hrsg. v. Klaus-Michael Bogdal, Opladen 1997, S. 260.

[39] John L. Austin, Zur Theorie der Sprechakte (How to do things with Words), a. a. O., S. 77.

[40] Homer, Ilias 18, 592.

[41] Hermann Kern, Labyrinthe, München 1999, S. 51.

[42] Ebd., S. 110.

[43] Friedrich Nietzsche, Die Geburt der Tragödie, KSA 1, S. 33.

[44] Ebd.

[45] Ders., Nietzsche contra Wagner, KSA 6, S. 418.

[46] Harald Lemke, Die labyrinthische Sprechsituation, in: Vom Parergon zum Labyrinth. Untersuchungen zur kritischen Theorie des Ornaments, hrsg. v. Gérard Raulet u. Burghart Schmidt, Wien 2001, S. 189.

[47] Ebd., S. 193.

[48] Ebd.


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